Ins Freie - Joshua Ferris - E-Book

Ins Freie E-Book

Joshua Ferris

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Beschreibung

Vor allem kann man davonlaufen. Nur nicht vor den Dämonen des eigenen Ichs

Der Anwalt Tim Farnsworth hat alles, was man sich wünschen kann im Leben: Er ist glücklich verheiratet, liebt seine pubertierende Tochter, hat ein schönes Haus und ziemlich viel Erfolg in seinem Beruf. Und doch steht er eines Tages auf und geht fort. Nicht, weil er möchte, sondern weil er muss, weil ihn etwas treibt, das stärker ist als sein Körper, sein Geist und sein Wille. Er macht sich auf den Weg hinaus ins Freie, ohne Rücksicht auf Wetter, Familie oder Job, läuft oft meilenweit, bevor er wieder zu sich kommt. Und er kann sich nicht erklären, warum er zerstört, was er am meisten liebt.

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Seitenzahl: 426

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Aus Freude am Lesen

Der New Yorker Anwalt Tim Farnsworth hat alles, was man sich wünschen kann im Leben: Er ist glücklich verheiratet, liebt seine pubertierende Tochter, hat ein schönes Haus und ziemlich viel Erfolg in seinem Beruf. Und doch steht er eines Tages auf und geht fort. Nicht, weil er möchte, sondern weil er muss. Etwas treibt ihn an, das stärker ist als sein Körper, sein Geist und sein Wille. Er macht sich auf den Weg hinaus ins Freie, ohne Rücksicht auf Wetter, Familie oder Job, läuft oft meilenweit, bevor er vor Erschöpfung zusammenbricht und nach nie gekanntem tiefem Schlaf wieder zu sich kommt. Und trotz aller Mühen, dagegen anzukämpfen, trotz aller Ärzte und Therapien kann er sich nicht erklären, was ihn antreibt – und warum er zerstört, was er liebt ...

JOSHUA FERRIS wurde 1974 in Illinois geboren. Sein erster Roman »Then We Came to the End«, dt. »Wir waren unsterblich« , (2007) erschien in 24 Ländern, wurde mit dem Hemingway Foundation/PEN Award ausgezeichnet und für die Shortlist des National Book Award nominiert. Mit seinem zweiten Roman »Ins Freie« kam Joshua Ferris 2010 auf die prestigeträchtige Auswahlliste »20 Under 40« des Literaturmagazins The New Yorker. Beide Romane wurden von der Kritik hoch gelobt und waren internationale Bestseller Joshua Ferris lebt mit Frau und Kind in New York.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungSelbstläufer
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28
Bleierne Stunde
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16
Kältestarre
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6
LoslassenMit besonderem Dank anCopyright

Für Chuck Ferris und Patty Haley

Selbstläufer

1

Es herrschte brutalster Winter. Wütende Winde fegten vom Wasser her über die Stadt. Hagelkörner, die sich anfühlten wie Giftpfeile. Allein im Januar hatte es vier schwere Blizzards gegeben, und die geräumten Schneemassen gefroren zu grauen, abweisenden Schanzwerken, die an einen Frontverlauf denken ließen. Auf den Friedhöfen versanken Grabsteine unter Weiß, parkende Autos wurden unzerkaut geschluckt. Kein Mensch redete mehr über die weiteren Aussichten oder gar Tauwetter, stattdessen war die Versorgung von alten gebrechlichen Personen plötzlich das große Thema. Nur die Kinder hatten es gut – und wochenlang schulfrei. Fast der gesamte Frachtverkehr kam zum Erliegen, dafür quollen an Tagen mit normalem Flugbetrieb die Lagerhäuser über. Vor den Supermärkten bildeten sich lange Schlangen. Die Nerven lagen blank, die Leute stellten sich nur widerwillig auf die neue Situation ein. Zugleich reagierten einige städtische Behörden höchst öffentlichkeitswirksam auf die Sorgen und Nöte ihrer Bürger, indem sie Wärmestuben einrichteten, beheizte Turnhallen freigaben, ehrenamtliche Helfer für Hausbesuche organisierten. Die Kälte machte erfinderisch, aber sie war eine erbarmungslose Lehrmeisterin.

Die Fahrt nach Haus verlief schnee- und verkehrsbedingt schleppend. Normalerweise studierte er in der trüben Innenbeleuchtung des Taxis noch unerledigte Akten, aber an diesem Tag nahm er sich keine Arbeit mit, sondern saß nur still in seiner Ecke des Fahrzeugs, ohne Schriftsatz, ohne Stift in der Hand. Sie warteten bereits auf ihn, aber das wussten sie nicht. Im Radio lief 1010 WINS mit den üblichen Staumeldungen alle zehn Minuten. Eisfrei war in diesem Moment allenfalls der Atlantik oder der tiefe Süden, aber hier in New York wirbelten Schneeflocken gegen die Windschutzscheibe wie weißer Ascheregen nach einer Sternenexplosion. An seinen Fingerspitzen und Zehen machten sich die Erfrierungen bemerkbar. Er löste den Sicherheitsgurt und legte sich quer auf die Rückbank. Was der Fahrer von ihm dachte, war ihm egal. Als sich sein Ohr an das verschlissene Leder schmiegte, wurde das Radio schlagartig leiser. Er streckte die Hand aus und strich mit kribbelnden Fingerspitzen über die Splittkörnchen, die sich im Autoteppich festgesetzt hatten. Er hatte zu Hause noch nicht Bescheid gesagt, denn er hatte sein Handy verloren. Sie warteten auf ihn, aber sie hatten noch keine Ahnung.

Der Fahrer weckte ihn, als sie das Haus erreichten.

Er würde dieses Haus nicht halten können. Das Haus nicht, die Einrichtung nicht, gar nichts. Keine luxuriöse Badewanne mehr, keine dekorativen Kupfertöpfe über der Kochinsel, keine Familie. Erneut würde er seine gesamte Familie verlieren. Er stand in der Diele und kalkulierte den zu erwartenden Verlust. Alles hatte er für selbstverständlich gehalten. Wie konnte das passieren? Dabei hatte er sich geschworen, nichts mehr für selbstverständlich zu halten. Jetzt wusste er nicht einmal, wann dieser Vorsatz im alltäglichen Einerlei untergegangen war. Vermutlich gar nicht in einem einzigen Moment, sondern schleichend, unmerklich. Er legte sein Schlüsselbund auf den Beistelltisch unter dem Spiegel und zog auf dem langen persischen Läufer, den Jane und er in der Türkei gekauft hatten, die Schuhe aus, was sonst nicht seine Art war. Eine Woche Türkei, eine in Ägypten, ihre letzte Reise. Und die nächste war schon geplant, eine Safari in Kenia. Die würden sie jetzt wohl verschieben müssen. Auf Socken tappte er in die Küche. Seine Hand glitt über den matt erleuchteten Frühstückstresen. Er liebte diese Küche mit den antiken Hängeschränken, den marokkanischen Dekorkacheln rund um die Spüle. Er ging weiter ins Esszimmer, wo sie regelmäßig Mandanten der Kanzlei bewirteten. An dem langen Tisch fanden insgesamt zwölf Personen Platz. Er erreichte die Wendeltreppe und erklomm, die Hand an der eichenen Mittelsäule, Stufe um Stufe. Familienfotos an der Wand begleiteten seinen Aufstieg. Im Wohnzimmer tickte die alte Standuhr, aber das beruhigende Geräusch wurde von der Lachkulisse einer Fernsehshow abgelöst, die aus dem Schlafzimmer am Ende des Flurs drang.

Jane war immer noch wunderschön. Sie trug eine überdimensionierte Pop-Art-Lesebrille, ein witziges Designermodell mit einem rot, blau und gelb getupften Gestell. Die Spaghettiträger ihres seidenen Nachthemds betonten ihre schlanken Oberarme, und unterhalb des sommersprossigen Ausschnitts mit ihren zarten Schlüsselbeinen zeichneten sich feste Brüste ab. Sie war mit einem Kreuzworträtsel beschäftigt. Wann immer sie nicht weiterwusste, blickte sie auf den Flachbildschirm an der Wand und tippte mit dem Kuli gegen ihre Schneidezähne, als wollte sie so ihr Hirn wachrütteln. Sie sah ihn überrascht an, als er ins Zimmer trat. So früh kam er sonst nicht nach Hause. »Hallo, Banana«, sagte sie. Er entledigte sich seines Jacketts, als wäre es ein T-Shirt, also über den Kopf, und zog dabei die Ärmel auf links. Anschließend riss er es, beginnend am Rückenschlitz, mitten durch, was nicht auf Anhieb gelang. Sobald aber die erste Naht nachgab, war es erstaunlich einfach. Verblüfft öffnete Jane den Mund, war aber offenbar sprachlos. Er ließ das zerfetzte Jackett fallen, stieg aufs Bett und kauerte sich dort zusammen, als ginge in nächster Nähe gleich eine Bombe hoch. »Was ist?«, fragte sie. »Tim, was hast du?« Er schob seinen Kopf unter die Arme, suchte Deckung. »Tim?«, sagte sie. Sie beugte sich vor und umklammerte ihn wie ein Ringer. »Tim, was ist passiert?«

Er sagte, er habe es in dem Gebäude nicht mehr ausgehalten und sei auf die Straße gelaufen. An der Dreiundvierzigsten, Ecke Broadway habe er sich ein Taxi herangewunken, in der Hoffnung, dass es ihn wieder ins Büro brachte. Das Taxi hielt, er öffnete den Schlag und ging dann einfach weiter. Der Fahrer, ein Sikh mit pinkfarbenem Turban, hupte und beobachtete ihn wahrscheinlich im Rückspiegel. Warum hielt auch jemand ein Taxi an, wenn er dann doch nicht einsteigen wollte? Unweit des Union Square versuchte er, sich einen Krankenwagen zu rufen, eine Maßnahme, die sie sich beim letzten Mal überlegt hatten. Er sprach bereits mit der Zentrale, als er auf einer Eisfläche ausrutschte und dabei das Handy fallen ließ. »Mein Handy!«, rief er noch, als er sich wieder gefangen hatte. »Bitte, ich habe mein Handy ...« Bei dem Beinahe-Sturz hatte er sich verrissen, gekrümmt ging er weiter. »Bitte, kann jemand mein Handy ...« Niemand beachtete ihn, und sein Blackberry lag mitten auf der Straße, schutzlos dem heranbrausenden Verkehr ausgesetzt. Er war dann einfach weitergegangen, wusste aber noch alles, konnte ihr alle neuerdings eingerüsteten Gebäude nennen, sämtliche gefährlichen Situationen schildern, denen er knapp entronnen war, den Strom der anonymen Gesichter. Er berichtete, wie er dann müde geworden war, müde auf die bekannte Art, sein Körper wollte einfach nicht mehr, irgendwo am East River. Und wie er sich dort auf eine Bank gesetzt, seinen Mantel zu einem Kissen gerollt und sogar die Krawatte abgenommen hatte, denn er schwitzte trotz der Kälte. Und wie er erst eine Stunde später voller Entsetzen aufgewacht war.

»Es geht wieder los«, sagte er.

2

Als Allererstes musste sie ihm etwas anziehen, auch wenn sie wusste, dass er sich innerlich dagegen wehrte. Er wollte nur unter die Dusche und dann ins Bett – schlafen, als wäre nichts passiert. Bloß die normalen Abläufe nicht durchbrechen, vielleicht half es ja. Zähne putzen, Licht aus. Doch er kauerte noch immer in dieser merkwürdigen Schutzhaltung auf dem Bett, die Hände über dem Kopf, den Hintern nach oben gereckt, als flögen Granatsplitter durch die Luft. Seine vollen dunklen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Diese Haare waren nur das auffälligste Merkmal eines, der gut aussah, vor Gesundheit strotzte und so gnädig alterte wie ein gefeierter Schwerenöter auf einer Boulevardbühne. »Tim«, sagte sie und suchte von der Seite seinen fernen glasigen Blick. »Du musst dir etwas anziehen.«

Er rührte sich nicht. Jane stand auf, ging ins Bad und schlüpfte in einen schwarzen Bademantel mit Waffelmuster. Ihr Blick blieb an den Lotions, Seifen, Cremes und Deos hängen, die selbstzufrieden um das Waschbecken herumstanden. Es waren gewöhnliche Pflegeprodukte, aber sie schienen sie mit ihren rosaroten Verheißungen nachgerade zu verhöhnen. In Gedanken stellte sie die Ausrüstung zusammen und fing an, von überall her die benötigten Sachen heranzuschaffen. Aus der Kommode holte sie Thermounterwäsche und eine wattierte Hose, aus dem Wandschrank Sweatshirt und Fleecejacke, dazu den dicken Daunenanorak, eine Mütze, Handschuhe und Schal. In die Taschen des Anoraks stopfte sie eine Sturmhaube und mehrere Einweg-Heatpacks, wobei sie hoffte, dass sie noch nicht abgelaufen waren, was sich aber nirgendwo feststellen ließ. Sie nahm sich vor, gleich am nächsten Tag Nachschub zu besorgen. Vor der Wasch-Trocken-Maschine wäre sie fast in Tränen ausgebrochen. Sie holte das GPS-Ortungsgerät sowie den Rucksack aus dem Keller. Der Rucksack war schnell gepackt: ein Regenponcho, Augentropfen, Hautcreme, ein aufblasbares Kissen, ein Erste-Hilfe-Set, eine Tüte Studentenfutter, neuerdings »Trail Mix« genannt, ein paar Energy-Riegel und die Trinkflasche von Nalgene mit einem Iso-Getränk. Sie legte noch eine Schachtel Streichhölzer dazu – warum, wusste sie nicht. Dann zog sie den Reißverschluss zu und ging mit dem Rucksack nach oben.

Im Schlafzimmer drehte sie ihren Mann auf den Rücken, als wäre er ein Kleinkind. Sie öffnete den Gürtel, zog ihm Hose und Boxershorts aus, danach das Hemd. Er ließ alles widerstandslos über sich ergehen, half allerdings kein bisschen mit. Bald lag er nackt vor ihr. Sie schmierte Gesicht und Hals sowie Unterleib mit Vaseline ein, denn das half nicht nur gegen die Kälte, sondern auch gegen Druckstellen. Dann zog sie ihm die bereitgelegten Kleidungsstücke an, zuletzt die atmungsaktiven Socken und die wasserdichten Stiefel. Den Rucksack positionierte sie neben der Tür, wo er nicht zu übersehen war, und legte sich wieder zu ihm ins Bett.

»Aber verschone mich mit Dr. Bagdasarian«, sagte er. »Ich brauche keinen Arzt.«

»Okay«, sagte sie.

»Im Ernst«, sagte er. »Ich spiele nie wieder das Versuchskaninchen.«

»Wie du willst, Tim.«

Sie schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher aus.

»Habe ich dich auch als selbstverständlich angesehen, Jane?«

Die Frage hinterließ ein riesiges Schweigen. Er lag auf dem Rücken, eingepackt wie ein Kind an einem Wintertag. Sie beobachtete ihn von der Seite. Sein Blick war nicht mehr so verstört, und seine Atmung hatte sich beruhigt.

»Bitte nicht.«

»Was meinst du?«

»Keine Selbstvorwürfe, bitte, das bringt nichts.«

Er drehte sich zu ihr. »Also habe ich dich für selbstverständlich gehalten.«

»Das machen doch alle«, sagte sie. »So läuft das in Beziehungen, das ist Bestandteil des Deals.«

»Und du? Was ist an mir selbstverständlich?«

»Vieles, Tim.«

»Sag mir ein Beispiel.«

»Wo soll ich da anfangen?«, sagte sie. »Okay, ein Beispiel. Es war der schönste Urlaub, den wir je gemacht haben, mir fällt nur beim besten Willen nicht mehr ein, wie die Insel heißt.«

Er lächelte. »Scrub Island«, sagte er.

»Ohne dich hätte ich das nie gemacht.«

»Ja, aber das heißt nicht, das du mich für selbstverständlich hältst.«

»Scrub Island«, sagte sie. »Der Name passt irgendwie. Es war so ungeheuer sauber dort. Komisch, dass ich mir den Namen nicht merken kann.«

»Möchtest du mal wieder dorthin?«, fragte er.

»Ich dachte, wir fahren demnächst nach Afrika.«

Dabei wussten sie beide, dass Afrika fürs Erste gestrichen war. Und nicht nur fürs Erste, sondern auf absehbare Zeit.

»Wir könnten uns auf Scrub Island ein Häuschen kaufen«, sagte er. »Außerdem isst man dort sehr gut. Und weißt du noch, auf der Straße damals, das kleine Mädchen im Hochzeitskleid?«

»Sie dürfte mittlerweile erwachsen sein.«

»Und der Mann mit der Straußenherde. Wie er sie mit seiner Peitsche zusammengetrieben hat. Willst du das nicht noch einmal sehen?«

»Ja«, sagte sie. »Sobald du wieder gesund bist.«

»Mir ist warm«, sagte er.

Sie stand auf und riss beide Fenster auf. Die nackte Kälte fuhr ins Zimmer. Sie wollte gerade wieder ins Bett, als ihr die Handschellen einfielen.

Sie ging zum Nachttisch und holte die Handschellen aus der Schublade. »Was ist damit?«, fragte sie und stellte sich vor ihn hin.

Sein Blick kehrte aus der Unendlichkeit zurück. Er blickte auf die Handschellen, als gehörten sie einem Verstorbenen, über dessen Nachlass er jetzt zu befinden hatte. Er schürzte die Lippen, kopfschüttelnd, und starrte wieder an die Decke. Sie legte die Handschellen in die Schublade zurück.

3

Sie schlief unruhig und reagierte auf die kleinste Bewegung. Als Becka nach Hause kam, wachte sie auf und dann noch einmal, als Tim zu pfeifen begann. Tim schnarchte nicht, aber wenn er auf dem Rücken lag, gab er nach einiger Zeit einen asthmatischen Pfeifton von sich. Es war so kalt im Zimmer, dass sie in der kurzen Wachphase zwischen zwei surrealen Träumen sogar ihren eigenen Atem sehen konnte. Tim dagegen lag so, wie er war, unter dem Mondlicht und hatte sich nicht einmal zugedeckt, in seinem Polarforscher-Outfit war das nicht nötig. Mindestens einmal pro Stunde in dieser endlosen Nacht wachte sie auf und vergewisserte sich, dass er noch da war.

Welch langen Weg sie gemeinsam zurückgelegt hatten, dachte sie.

Als die Dunkelheit durchlässig wurde und das erste Tageslicht ins Zimmer sickerte, schlug sie die Augen auf und stellte fest, dass er fort war. Sie ärgerte sich über sich selbst, aber hätte sie ihn wirklich aufhalten können?

Eilig zog sie sich an und verließ das Haus. Am Gartentor spähte sie links und rechts die Straße hinunter. Trotz Erschließung hatte sich die Gegend ihren landschaftlichen Charakter in all den Jahren erhalten können, viele Häuser standen zurückversetzt auf kleinen Anhöhen oder an Teichen und waren durch alten Baumbestand vor neugierigen Blicken geschützt. Fuhr man nachts durch die Straßen, hätte man meinen können, man sei auf dem Land. Jetzt, an diesem frühen Morgen, war alles still und menschenleer, wie erstarrt in einer Eiszeit. Nicht einmal die rüstigen Gassigeher und notorische Frühaufsteher wie Broker und Banker ließen sich sehen. Die schwarzen Bäume ringsum streckten ihre Äste von sich wie verschmorte Dendriten. Sie suchte nach Fußspuren im Schnee und ging dann zurück.

Sie setzte sich ins Auto und wendete auf der Einfahrt. Doch schon an der Einmündung zur Straße überfiel sie die bekannte Angst. Sie wusste nicht einmal, ob sie rechts oder links fahren sollte. Er hatte vergessen, das GPS einzuschalten. Frustriert schlug sie auf das Lenkrad ein.

Zorn auf Gott war nicht nur nervig und sinnlos, sondern auch so typisch menschlich, so klein und entwürdigend. Sie hatte geglaubt, sie sei über dieses Reaktionsmuster hinweg, doch ihr Zorn hatte nur geschlummert und regte sich jetzt in alter Heftigkeit. Sie war dieses Kampfes müde, zumal sie sich wieder so unvorbereitet damit konfrontiert sah. Aber welcher Vorsatz, welche Lektion von früher hätte sie davor schützen können? Genieße den Tag und denk nicht an morgen? Oder: Man soll das Grillfest nicht vor dem Abend loben, weil es Gott dem Herrn nämlich gefallen könnte, es regnen zu lassen auf Gerechte wie Ungerechte und alles zu versauen? Sie bog links ab und rollte geräuschlos die Straße entlang. Sie war sich bewusst, wie warm und geschützt sie in diesem Wagen aufgehoben war, auch wenn die Heizung nur langsam in Gang kam. Er dagegen lief schon seit Stunden durch diese Eiseskälte.

Schmutziggraue Schneewälle flankierten die Einfahrten der anderen Häuser, die Spurrillen dazwischen waren vereist oder schwarz vom gerebelten Laub des Vorjahrs. Sämtliche Rasenflächen bedeckte eine Eisschicht von kristalliner Sprödigkeit. Die Torpfosten trugen Schneehauben. Festbeleuchtung auf dem Anwesen des Basketball-Stars, das mit seinen falschen Gaslaternen aussah wie ein von Frank Lloyd Wright entworfenes Raumschiff. Sie wendete und folgte der lang gestreckten Kurve zur Zubringerstraße, die sie in beiden Richtungen absuchte. Sie fand ihn endlich Meilen entfernt in einer ganz anderen Gegend.

Er lag in einem kleinen Gehölz zwischen zwei Häusern, in einer Senke hinter ein paar Linden, wodurch er zumindest nicht auf die Straße rollen konnte. Sie hielt auf der Gegenfahrbahn, rammte den Wahlhebel auf P und kletterte die Böschung hinauf. Sie war froh, dass er sich den Rucksack als Kissen untergelegt hatte. Die schwarze Sturmhaube verlieh der reglos daliegenden Gestalt etwas Bedrohliches. Gut möglich, dass ein Gassigeher später die Polizei gerufen hätte. Sie kniete sich neben ihn und spürte den Bodenfrost durch ihre Jeans. »Tim«, sagte sie und zog ihm die Maske vom Kopf. »Tim.« Unschuldig wie ein Kind schlug er die Augen auf und blickte umher.

»Ich bin wohl eingeschlafen«, sagte er.

»Ja.«

»Ich wollte eigentlich zurück, aber ich war zu müde.«

»Schon gut, immerhin hast du den Rucksack mitgenommen.«

»Ich habe noch besser geschlafen als beim letzten Mal«, sagte er.

4

Wider Willen gab er sich diesen narkoleptischen Anfällen hin. Es war ein radikaler, frühkindlich anmutender Schlaf, der ihn irgendwann überwältigte und seinen ziellosen Wanderungen ein vorläufiges Ende setzte. Er konnte sich dann nur noch an Ort und Stelle zusammenrollen. Es erinnerte ihn an Becka als Baby. Neidisch konnte er werden, wenn er damals dieses kleine rosige Gesichtchen sah, das sich so unbelastet dem Nichts anvertraute. Ihm selbst jagten ganze Filme durch den Kopf, sobald er nur die Augen schloss. Beim Einschlafen setzte er Anträge auf. Und wenn er träumte, dann waren es Alpträume, in denen er sich fruchtlose Debatten mit gegnerischen Anwälten lieferte. Aber diese Ohnmachten, diese Umnachtungen nach stundenlangem Gehen mit hohem Energieverbrauch und nachfolgend stark verlangsamten Stoffwechselprozessen, sie schenkten ihm eine bis dahin nicht gekannte Erholung, aus der er völlig klar erwachte. Sogar in dieser trüben Winterlandschaft mit smoggeschwängertem Schnee lag alles hell und deutlich vor ihm. Er sah das Astwerk der Bäume bis in die letzte Verzweigung, hörte die scharrenden Krähenfüße auf den Hochspannungsleitungen, roch die Kompostierungsprozesse in der mulchigen Erde. Es verschaffte ihm eine kurze Atempause, ehe er sich fragen musste, wo er nun wieder gelandet war.

Er kroch unter den Bäumen hervor. Sie klopfte Schnee und Laub von seinem Anorak. Er blickte die Straße entlang. »Da kommt Barb Miller«, sagte er.

Da der Wagen schräg und entgegen der Fahrtrichtung dastand, sah es nach einem Ausweichmanöver aus. Sie verharrten still wie Rehe und sahen die Nachbarin in ihrem Geländewagen näher kommen. Barb Miller bremste, und das Seitenfenster schnurrte herunter.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie. Ihre Worte bildeten weiße Wölkchen in der kalten Luft. Auf dem Beifahrersitz saß Butch Miller.

»Ja«, sagte Jane. »Nichts passiert. Nur irgendetwas stimmt mit dem Wagen nicht.«

Butch lehnte sich hinüber und winkte. »Hallo«, sagte er aus der Tiefe des Wagens.

»Hallo, Butch«, sagte Tim.

»Sollen wir jemanden verständigen?«

»Danke, nicht nötig. Der Pannendienst ist schon unterwegs.«

»Trotzdem danke, Barb«, sagte Tim.

»Ich kann euch auch nach Hause fahren, wenn ihr wollt. Ihr braucht nicht in der Kälte zu warten.«

»Sie sagten, sie kämen sofort«, sagte Jane.

Barb nickte lächelnd. Alle winkten sich zum Abschied, und Barb fuhr wieder los. Nur Butch drehte sich um und starrte noch eine ganze Weile durch das getönte Rückfenster. Sie beobachteten, wie der Geländewagen hinter einer Bodenwelle verschwand, und sahen sich eher erschöpft als erleichtert an. Pannendienst? Waren sie schon wieder so weit? Da sie den Millers ihr Problem nicht mitteilen konnten, wurde deren Hilfsbereitschaft sofort zur Belastung. Die Frage war bloß, wie lange sie der Welt so abweisend begegnen konnten. Das war doch kein Leben. Jane ging zur Fahrerseite, und beide stiegen sie ein. Synchron schlugen die Türen zu.

Sie fuhren nach Hause. In der Garage stellte Jane den Motor ab. Als in dem stillen Raum nur noch das Knacken des erkaltenden Metalls zu hören war, sagte Tim: »Ich muss wieder zurück.«

Sie war überrascht, denn das hatte sich abends zuvor noch ganz anders angehört. Nie wieder Versuchskaninchen. Sie fragte sich allerdings, wen genau er konsultieren wollte. Bagdasarian? Copter in der Mayo-Klinik? Oder dachte er gar an die Schweiz?

Erst dann begriff sie ihren Irrtum. Er wollte zurück an seinen Schreibtisch.

»Das halte ich für keine gute Idee.«

»Janey, mir geht’s gut. Ich bin vollkommen erholt. Ich muss wieder zurück.«

Am Abend zuvor hatte sie, um ihn zu beruhigen, alle langfristigen Fragen wie etwa die nach seiner beruflichen Zukunft einfach ausgeklammert. Jetzt, bei Tageslicht, sah die Sache schon anders aus, und sein Sinneswandel hätte für sie eigentlich absehbar sein müssen.

»Nimm wenigstens heute frei«, sagte sie.

»Nein, dann kann ich mich gleich ...«

»Aber wir müssen das ernst nehmen.«

»... dann kann ich mich gleich beerdigen lassen.«

»Aber, Tim, was heißt hier beerdigen lassen? Es ist, wie es ist. Das nennt man Realität.«

»Ich kann meinen Fall nicht liegenlassen ...«, sagte er.

»Ach, scheiß auf den Fall!«, sagte sie. »Es geht wieder los, Tim, das hast du selbst gesagt. Es geht von vorne los.«

Im Wageninneren war es merklich kühler geworden. Eingehüllt in Fleece und Daunen, starrte er auf die Regalbretter an der Stirnseite der Garage, wo Reservekanister und Farbtöpfe, Verlängerungskabel und Gartenschläuche lagerten. Alte Nummernschilder aus Vermont schmückten die Wand. Jane drehte sich von ihm weg, und so saßen sie schweigend in der Stille. Binnen einer Minute wurde ihr Atem sichtbar. Sie wartete auf seinen nächsten Satz und legte sich schon einmal ein Gegenargument zurecht. Unmittelbar nach dem Aufwachen war ein subjektives – und trügerisches – Erholungsgefühl bei ihm die Regel, doch es zerrann binnen weniger Stunden. Danach dauerte es nicht lange, und er begab sich erneut auf Wanderschaft. Aber wo sollte es enden, wenn er bei dieser Kälte und mit den bereits vorhandenen Erfrierungen durch Manhattan und Gott weiß wohin irrte und dabei nichts weiter am Leib trug als seinen Anzug? Das wollte sie ihm ins Gedächtnis rufen, aber er kam ihr zuvor, indem er mit der Faust auf das Handschuhfach einprügelte. Sie schrie auf und wich ans kalte Fenster zurück. Schließlich lehnte er sich nach hinten und trat so lange dagegen, bis die Klappe aufsprang, trat immer weiter zu, mitten hinein, als wollte er den Motorblock zertrümmern. Irgendwann brach ein Scharnier, und die Klappe glich plötzlich einer traurigen, viel zu tief hängenden Sonnenblende. Der Schaden sollte in der Folgezeit nie mehr behoben werden.

Als alles vorbei war, zog er den Fuß aus dem Handschuhfach, und ein Schwall Papiertaschentücher folgte. Sein Stiefel hatte die Betriebsanleitung sowie Checkheft und Versicherungskarte zerfetzt. Die Situation hatte sich eindeutig beruhigt, aber noch immer vermied er jeden Blickkontakt.

»Ich muss wieder zurück«, sagte er abschließend.

Auf einmal bekam sie diese lodernden Augen.

»Okay«, sagte sie, »dann tu das.«

»Was ich damit nur sagen will: Ich fühle mich im Grunde gut.«

»Ich packe deine Wintersachen in den Rucksack. Nur für den Fall. Den Rucksack kannst du wenigstens mitnehmen.«

»Ich muss zurück«, wiederholte er.

»Schon verstanden.«

Er drehte sich zu ihr. »Wirklich?«

»Ja«, sagte sie.

5

Becka saß bereits angezogen am Küchentisch und aß Cornflakes. Sie war siebzehn, trug einen silbernen Nasenring und hielt nicht viel von Haarewaschen. Sie wunderte sich, als sie ihre Eltern durch die Garagentür kommen sah, denn sie hatte sie im Obergeschoss vermutet. Wortlos und gereizt betraten die beiden die Küche. Ihr Vater glich einer wandelnden Zwiebel, so viele Schichten trug er übereinander, und ihre Mutter war blass vor Angst.

»Was ist denn mit euch los?«, fragte sie.

Als sie darauf keine Antwort erhielt, war es ihr klar.

Sie stand auf und nahm ihren Dad in den Arm, was sonst nur selten vorkam. Sie legte sogar ihren Kopf an seine Schulter. Er wiederum drückte sie ganz fest am Oberarm.

»Es ist noch nicht hunderprozentig sicher«, sagte er.

»Es ist sicher«, sagte ihre Mutter. »Hundertpro.«

Becka war neun Jahre alt gewesen, als es zum ersten Mal geschah. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihrer Mutter in die Stadt gefahren war. Schon die stumme, hektische Fahrweise machte ihr Angst. Außerdem wusste sie zunächst weder, wozu sie bereits an der Schulbus-Haltestelle abgeholt wurde, noch, wohin sie fuhren oder was überhaupt geschehen war. Im Stau auf der Brücke streichelte ihr die Mutter den Kopf, sagte aber kein Wort. Deshalb dachte Becka, dass sie nur ihren Vater aufgabeln wollten, der jeden Moment an einer Straßenecke stehen musste, mit seiner Aktentasche, dem beigen Regenmantel, der zerknitterten Zeitung unterm Arm. Stattdessen hielten sie vor einer kleinen dreieckigen Grünfläche mit einem einzelnen, von einem Gitterrost eingefassten Baum, ein paar Mülleimern, einer Telefonzelle und etwa vier bis fünf Holzbänken. Ihre Mutter parkte am Straßenrand, schaltete die Warnblinkanlage ein und sagte, sie solle im Wagen warten. Taxis rauschten vorbei, als ihre Mutter ausstieg. Becka sah zu, wie sie zu einer Bank ging und sich nach unten beugte. Sie fasste den Mann an, der dort auf der Bank lag, und der Mann erhob sich sofort. Wer der Mann war, erkannte Becka erst, als er sich dem Wagen näherte.

Immer öfter, bis zu viermal pro Woche, mussten sie ihn auf diese Weise einsammeln. Ihr Vater war allerdings nie an derselben Stelle zu finden. Wenn Becka schulfrei hatte, begleitete sie ihre Eltern zum Arzt und harrte mit ihrer Mutter stundenlang in Wartezimmern aus. Irgendwann wurden auch sie ins Sprechzimmer gebeten. Ihr Vater saß meistens auf dem Untersuchungstisch mit dem Einmallaken. Becka hörte mit, was der Arzt sagte, und sie hörte die Fragen, die ihr Vater und ihre Mutter dazu hatten, aber sie begriff nicht, worum es ging. Im Prinzip wurde immer nur gesagt, was es alles nicht war. Allgemein herrschten Mut- und Ratlosigkeit, und es wurde endlos geredet. Sie stand auch zusammen mit ihrer Mutter hinter der Glasscheibe, als ihr Vater in die schaurige Röhre des Tomographen geschoben wurde. Auf der Rückfahrt wurde nicht geredet, ihr Vater war sowieso nicht ansprechbar.

Manchmal kam sie von der Schule nach Hause, und das Auto war weg, und keiner war da. Dann guckte sie Fernsehen, bis es dunkel wurde, und stopfte sich wahllos mit allem voll, was da war, denn ein Abendessen gab es nicht. Später musste sie ihr Vater auf dem Sofa wecken und ins Bett tragen. Sie fragte ihn, ob er krank sei, was er bejahte. Sie fragte auch, ob er wieder gesund würde, und auch da sagte er ja.

Er blieb immer öfter zu Hause, was sie noch nie erlebt hatte. Einmal nach der Schule hörte sie ihre Eltern im Schlafzimmer, die Tür stand halb offen. Sie schlich sich näher und sah, wie ihre Mutter über ihm stand. Anders als sonst trug er keinen Anzug, sondern Jogginghose und T-Shirt, und er war mit Handschellen an das Kopfteil des Bettes gekettet. Er lag auf dem Rücken. Die Arme waren, wie auf einer Folterbank, weit nach hinten gerenkt, und seine Beine traten unsichtbare Pedale in der Luft. Es glich fast einer Übung beim Mädchenturnen, nur dass er die Beine viel niedriger hielt und die Bewegung nicht gleichmäßig ablief, sondern zuckend. Das Spannbetttuch war von der Matratze gerutscht, und das ganze Bettzeug lag zerwühlt um ihn herum. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und das T-Shirt schweißnass. Becka zog sich schnellstens zurück.

Kurz darauf kam ihre Mutter nach unten und erschrak über ihre Tochter, als wäre sie einem Eindringling begegnet. Sie sagte ihr, sie solle sich still verhalten, weil der Vater oben schlafe.

»Sag mal, ist Daddy drogenabhängig?«

Jane stand an der Spüle und ließ gerade Wasser in einen Topf. »Wieso denn das?«

»Wir hatten das mal in der Schule. Sie haben da so ein Video gezeigt.«

»Daddy ist krank«, sagte Jane und drehte den Hahn zu.

»Wegen Drogen?«

»Nein, Schatz, natürlich nicht wegen Drogen.«

»Weswegen dann?«

Jane stellte den Topf auf den Herd und sagte erst gar nichts. Sie ging zur Vorratskammer, holte Reis und nahm auf dem Rückweg das Fleisch aus dem Kühlschrank. Dann bückte sie sich nach dem Schneidbrett. Becka wartete nach wie vor auf eine Antwort, aber ihre Mutter war vor dem Unterschrank in die Hocke gegangen, hielt sich an der Schranktür fest und sah Becka nicht an. Da war sie nicht die Einzige, Becka wurde in jüngster Zeit oft übersehen. Normalerweise war ihre Mutter einfach zu müde. Es reichte gerade dazu, Becka zu sagen, sie solle ihr Zimmer aufräumen oder draußen spielen. Noch nie war es im ganzen Haus so still gewesen. Stille, zerteilt vom Stundenschlag der Standuhr und unterbrochen höchstens, wenn ihr angeketteter Vater hilflos mit den Füßen zappelte.

»Warum ist er dann ans Bett gefesselt?«, fragte sie.

Endlich stand ihre Mutter wieder auf. Sie hatte das Schneidbrett in der Hand und blickte sie an. »Hast du Daddy in Handschellen gesehen?«

Becka nickte vom Tisch aus.

»Daddy will auf keinen Fall aus dem Haus«, sagte Jane, legte das Schneidbrett auf die Arbeitsplatte und griff nach dem Fleisch. »Wir wollen nur sichergehen, dass er dableibt.«

Aber Becka wollte gar nicht, dass er dablieb. Manchmal hörte sie, wie er nachts so Geräusche machte, als müsste er zentnerschwere Lasten stemmen. Außerdem hörte sie das Rasseln der Handschellen. Er konnte sehr laut fluchen, und selbst sein Gemurmel drang noch durch jede Wand. Manchmal hörte sie aber auch gar nichts. Einmal schlich sie sich auf Zehenspitzen zum elterlichen Schlafzimmer und steckte den Kopf durch die Tür. Er war ans Bett gefesselt und starrte in die Luft. Dann entdeckte er sie und rief nach ihr, aber sie flüchtete sofort. »Becka, komm zurück!«, rief er. »Bitte sprich mit mir.« Sie rannte die Treppe hinunter. »Becka«, rief er, »bitte!« Sie aber wollte nur weg.

Diese Anfälle gingen schließlich so schnell vorüber, wie sie gekommen waren, und er fuhr wieder zur Arbeit. Nach wenigen Monaten war die Erinnerung an die Handschellen verblasst. Man sprach auch nicht darüber, man sprach über anderes. Er besuchte wieder ihre Auftritte, kam morgens in ihr Zimmer, um sie zu wecken, machte Frühstück und ließ es sich nicht nehmen, abends noch einmal anzurufen, bevor sie ins Bett ging. Jane schlief morgens länger, war dafür abends für sie da. So war es von jeher Brauch gewesen in dieser Familie, und diesen Brauch setzte man wieder ein.

6

War sie bereit dazu? Sie lag im Bett und sah im schrägen Mondlicht dem eigenen Atem hinterher. Wirklich bereit? Jede Ehe war ein Langstreckenlauf und vollzog sich in Etappen. Einer Etappe Mundgeruch folgte eine Etappe mit neu erwachter Leidenschaft. Es gab Perioden der kleinen Ausflüchte und Perioden, die aussahen wie das Ende. Dann wieder Abschnitte voller Theater- und Restaurantbesuche, mit langen Gesprächen bis spät in die Nacht. Das waren die Zeiten, in denen sie merkten, warum sie immer noch zusammen waren. Gleichwohl konnte sie sich schwarz ärgern, wenn er am Mittwoch die Mülltonne nicht vor die Tür stellte. So gesehen ein ständiges Hin und Her, ein ewiger Kampf. Das Eheversprechen, die Sache mit den guten und den schlechten Tagen, ihre Rolle als allzeit verfügbare Versorgerin bei Krankheit und Tod, das alles war Kinderkram. Denn wenn es hart auf hart kam, dachte man nicht lange nach, sondern handelte. Wie jetzt.

Schon zweimal hatte sie für ihn Krankenschwester gespielt, insgesamt über einen Zeitraum von achtzehn Monaten ihrer gemeinsamen Ehe. Beim zweiten Mal war schließlich ein Vierundzwanzigstundendienst daraus geworden. Aber was zählten angesichts der Dimension der Gefahr all die kleinen zwischenmenschlichen Misshelligkeiten? Die Lage war einfach zu ernst, er konnte jederzeit da draußen sterben. Also hatte sie sich der Aufgabe gestellt und war mittlerweile Expertin im Aufspüren vermisster Personen, wusste, wie man den Körper am besten wieder auf Normaltemperatur brachte und welche Nahrung erforderlich war. Entscheidend war immer der Zeitfaktor. Sie hatte Überlebenshandbücher gewälzt und seinen Rucksack entsprechend ausgestattet. Und wenn sie zur Abwechslung einmal nicht nach ihm suchte oder seinen Rucksack überprüfte, eskortierte sie ihn zu Arztterminen, die sie selber für ihn vereinbart hatte. Auf jeder Heimfahrt vom Arzt mutierte sie zum Echoraum für seinen Zorn, seine Verwirrung, seine Frustration. Und wenn nicht zum Echoraum, dann wurde sie zum Cheerleader und Motivationstrainer, der ihn aus dem Sumpf des Selbstmitleids zog. Auch wenn sie es nie laut aussprach, so sagte doch ihre bloße Anwesenheit: Keine Angst, ich bin bei dir, du bist nicht allein. Aber es zehrte natürlich an ihr, es fraß ihr ganzes Leben auf. Schon zweimal hatte sie sich dem Terror der vollen Verantwortung für sein Wohlergehen ausgesetzt, oft zu Lasten von Becka. War es dann geschafft, gab es nichts Wichtigeres für ihn, als wieder zur Arbeit zu gehen. Den ersten Bürotag stellte er als etwas völlig Alltägliches und reine Routine dar. Es war seine Art, Anschluss an sein altes Dasein zu finden – während sie völlig geschreddert in der Ecke saß und nicht einmal wusste, welcher Tag überhaupt war. Wo, in welcher Etappe ihrer Ehe waren sie eigentlich stehengeblieben? Wie sollte sie nach so vielen nächtlichen Suchaktionen, nach all den Auseinandersetzungen mit Ärzten und Krankenhäusern ihr voriges Leben zurückgewinnen? Er war wieder ganz der Alte, fast so, als wäre nie etwas passiert. An ihr hingegen war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Ihr war das Lebensziel abhanden gekommen. Und es war keiner da, der sagte: Keine Angst, du bist nicht allein. Sie warf ihm das nicht vor, im Gegenteil, sie beneidete, bewunderte ihn sogar. Er war mit ganzer Seele Anwalt und als Partner bei Troyer, Barr zweifellos nur mit wichtigen Aufgaben betraut. Und sie? Nutzte es irgendwem, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse derart ignorierte? Sie wünschte sich etwas von dem, was er ganz selbstverständlich besaß. Etwas, das noch existierte, wenn die Rettung des Patienten gelungen war. Sonst blieb sie am Ende auf sich selbst zurückgeworfen und hatte ... nichts. Sie brauchte ein Ziel, das sich nicht im Allroundservice für Mann und Kind erschöpfte. Deshalb belegte sie einen Kurs, erwarb ihre Maklerzulassung und vertrieb seitdem Wohnimmobilien.

War sie also wirklich bereit für eine dritte Runde? Falls ja, musste sie ihren Job kündigen. Wie sollte sie ihre Besichtigungstermine wahrnehmen, wenn er gleichzeitig durch die Weltgeschichte irrte? Die Frage war aber auch: Was geschah später, wenn alles vorüber war? Wobei es fast schon keine Rolle spielte, wie lange es dauerte. Am Ende stünde sie garantiert wieder mit leeren Händen da, ohne eigene Existenz in der realen Welt, in die sie zurückkehren könnte.

Jane stand auf, das Schlafzimmer war ein Eisschrank. Sie ging durch den Flur zu Beckas Zimmer. Hinter der Tür waren traurige Blues-Akkorde zu hören, zu denen Becka mit einer Inbrunst sang, die Jane nicht mehr begriff. Die Musik verstummte, sobald sie die Tür öffnete.

»Sag mal, muss man in diesem Haus nicht mehr anklopfen?«

Vorbei die Zeiten, in denen sich Becka ehrlich bemühte, den Anforderungen der amerikanischen Werbewirtschaft an ein junges modernes Leben zu genügen. Joggingschuhe? Lagen in der Ecke. Schaumfestiger? Ersatzlos abgeschafft. Es tat einem in der Seele weh, wie sie sich, das heißt den Kampf gegen ihre Pfunde, aufgegeben hatte und sich hinter ihrer Akustikgitarre versteckte. Sie war jetzt im letzten Jahr auf der Highschool, aber ihre Position im allgemeinen Beliebtheitswettbewerb war ihr egal, sie wollte auch das Jahrbuch nicht haben. Sie trug ein altes Flanellhemd, dazu das T-Shirt von Roxy Music und ihre schwarze Schlabberhose. Was sonst.

Sie warf einen schonungslosen Blick auf das Zimmer ihrer Tochter. Berge von Wäsche, die man nur noch verbrennen konnte. Schreibtisch und Nachtschränkchen vollgemüllt mit abgegessenem Geschirr. Alles roch eindringlich nach sich selbst. »Ich sehe, Sie haben neue Bakterienkulturen angesetzt, Madame Curie. Irgendwelche bahnbrechenden Entwicklungen?«, fragte sie.

»Mom, bitte, ich übe gerade ...«

»Reicht eine Schutzimpfung oder doch lieber zwei?«

»Witz, komm raus ...«

»Was treibst du eigentlich um ein Uhr in der Früh?«

»Und du?«

»Ich konnte nicht schlafen.«

Beckas Frisur bestand aus zehn Dreadlocks, die ihr vom Kopf baumelten wie Textilstreifen in der Autowaschanlage, grau und schwer. Die rabiate Bündelung der einzelnen Strähnen legte auf der Kopfhaut nackte Schneisen frei, andererseits bildeten die Dreadlocks auch ein sanftes Ruhekissen. So wie jetzt, als sie sich gegen das Kopfteil des Betts zurücklehnte. »Glaubst du, er zieht nur eine Show ab, Mom?«

»Eine Show?«

»Hast du es jemals gegoogelt? Gib es mal bei Google ein und guck, was kommt.«

»Was soll ich denn googeln?«

»Tja, damit geht’s schon los.«

»Und was kommt?«

»Dass Pferde von bestimmten Wiesenkräutern krank werden.«

»Ich verstehe den Zusammenhang nicht.«

»Na gut, vielleicht ist es nicht direkt Show«, sagte sie. »Aber ... Keine Ahnung, er ist irgendwie psychomäßig drauf.«

»Inwieweit bei dieser Erkrankung die Psyche beteiligt ist, dar über streiten die Experten. Er selber glaubt eher nicht. Er meint, es liegt an seinen ...«

»Ich weiß, ich weiß, er meint, es wären die Beine. Angeblich tun sie es von selbst, super. Aber ehrlich, mir kann er das nicht erzählen. Ich glaube, er hat richtig einen an der Klatsche.«

»Bitte nicht diesen Ton.«

»Wenn er wirklich wollte, hätte er alles im Griff.«

»So wie du dein Gewicht im Griff hast, meinst du?«, sagte Jane.

Ein Schlag ins Gesicht. Noch ehe sich Vorwürfe und Tränen sammeln konnten, starrten sie sich verblüfft und wortlos an und wussten im selben Moment, welche gemeinen Waffen selbst nach Wochen der Gleichgültigkeit stets griffbereit lagen. Becka warf mit dem Plektron nach ihr. »Raus!«

»Entschuldige, ich hätte das nicht sagen sollen.«

»Raus hier!«

»Ich will doch nur, dass du die Dinge auch mal mit seinen Augen ...«

»Hau! Ab!«

Das Zimmer war kalt, aber sie war froh, dass er wenigstens noch da war, wenngleich er in seinem dicken Daunenanorak so aussah, als hätte er sich nur kurz hingelegt. Er atmete schwer und schwitzte in unruhigen Träumen.

Sie kroch unter die Decke. Die Kälte kümmerte sie wenig, eigentlich mochte sie es kühl. Das war einmal anders gewesen, früher, als sie noch jung war. Die Probleme kamen praktisch von jetzt auf gleich: Hitzewallungen, Nachtschweiß, Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen. Und es zeigte sich bald, dass hier eine biologische Grenze verlief, welche ein Verständnis oder gar Mitleiden so gut wie unmöglich machte. Ihr Mann war außerstande zu begreifen, was sich in ihrem Körper abspielte. Ihre Frauenärztin verstand sie, ihre Freundinnen verstanden sie. Aber ein Wort wie »Hitzewallung« prallte praktisch an ihm ab. Sie konnte sich daher gut vorstellen, wie es sein musste, angesichts konkreter Beschwerden als Spinner abgetan zu werden oder Symptome schildern zu müssen, von denen noch nie jemand gehört hatte. In ihrem Fall war das auch nicht nötig, es gab genügend Schicksalsgenossinnen, die wussten, wovon die Rede war. Und die Pharmaindustrie investierte Milliarden, um Linderung zu schaffen. Zwar hatte sie die Hitzewallungen nach wie vor allein durchzustehen, aber sie war damit nicht allein auf der Welt.

Letztlich bewirkten ihre Erfahrungen aus der Menopause, dass sie sich hütete, ihren Mann für verrückt zu halten. Sie suchte überhaupt nicht mehr nach Gründen. Schön, sie wusste nicht, was ihn quälte, konnte es nicht wissen, und es war ihr auch egal. Er verstand ihre Hitzewallungen nicht, und sie verstand nicht, wie seine Füße sich auf diese Weise selbständig machen konnten. Sie beide waren wie zwei Kugeln, die sich an einer Stelle berührten, aber nie durchdrangen. Sie glaubte ihm gern, wenn er behauptete, sein Zustand sei nicht die Folge einer Geistesstörung, sondern einer Fehlfunktion des Körpers.

Die Spezialisten waren anderer Ansicht, vermuteten sogenannte »inhaltliche Denkstörungen«, Halluzinationen oder gar eine multiple Persönlichkeit. Er aber bestand darauf: »Ich kenne mich, ich habe mich doch sonst unter Kontrolle.« Sein Verstand war intakt, sein Verstand war unantastbar. Wenn er trotzdem die Herrschaft über seinen Körper verlor, dann unmöglich durch »sein« Zutun. Es handelte sich seiner Meinung daher auch nicht um eine Besessenheit im paranormalen Sinn, sondern um eine Fremdsteuerung bestimmter Koordinationsabläufe, die gleichwohl in der Lage war, den ganzen Menschen mit auf Horrortrip zu nehmen. Seine angstgelähmte Seele, eingesperrt im Bremserhäuschen eines blind dahinrasenden Zuges aus reiner Physis – das war er. Das war ihr Mann. Sie tastete in der Dunkelheit nach seiner atmenden Masse.

7

Die Kundengespräche am folgenden Morgen erledigte sie wie betäubt. Sie nahm Angebote entgegen und vereinbarte Besichtigungstermine für die zweite Wochenhälfte. Sie versuchte, ihn in der Kanzlei zu erreichen. Wenn er abnahm, dann sofort, die Sekretärin hingegen ließ es immer erst dreimal klingeln. Daher legte Jane spätestens nach dem zweiten Rufton auf und probierte es später erneut. An diesem Tag legte sie sehr oft nach dem zweiten Rufton auf, wollte ihn keinesfalls via Sekretärin unter Druck setzen. Sie wollte auch nicht wissen, ob er überhaupt in der Kanzlei war, denn so konnte sie sich einbilden, er säße zusammen mit seinen Partnern im feinen Zwirn rund um den Tisch im wohlklimatisierten Konferenzraum, vor sich einen zivilisierten Latte, und erörterte die Einlassungen der Gegenpartei. Mehr als dieses sozietäre Idyll verlangte er nicht, aber auch nicht weniger. Das hatte das Handschuhfach zu spüren bekommen. Es ging um die stete Wiederkehr, um die Rituale des Alltäglichen. Lang lebe das Einerlei.

Am späten Nachmittag versuchte sie es abermals, doch er nahm wieder nicht ab. Der Grund dafür war, dass er gerade durch die Tür des Maklerbüros spaziert kam. Sie sah hoch, und da war er. Er hatte sogar Blumen mitgebracht.

»Tut mir leid wegen gestern«, sagte er. »Ich wollte das Handschuhfach nicht kaputtmachen.« Er reichte ihr die Blumen, und sie gingen zusammen essen.

Es war sicher nicht der beste Italiener in New York, trotzdem war das Essen außerordentlich gut. Der weinrote Rokoko-Teppich und die individuellen Lichter an jedem Tisch schufen jene diskrete Atmosphäre, die sich für Heiratsanträge und Trennungsgespräche gleichermaßen eignete. Sie saßen ganz hinten in einer heimelig illuminierten Nische und dippten Weißbrot in Oliventapenade. Draußen hatte es angefangen zu schneien, und der schmutzige Altschnee erhielt eine Auffrischung.

Sie waren übereingekommen, dass der Notfallrucksack im Auto bleiben konnte.

»Ich hätte ja nie gedacht, dass du es einmal vor fünf Uhr aus dem Büro schaffst«, sagte sie. »Und dann noch mit Blumen, alle Achtung. Dabei bin ich nicht einmal an Krebs erkrankt.«

Er starrte sie an, als würde ihr Zusammensein von Vollzugsbeamten überwacht. Jeden Moment konnten sie kommen und ihn in seinen Haftraum zurückbringen, während Jane auf den Parkplatz lief und im Auto weinte. Seine Miene war ernst wie im Angesicht Gottes, und so stellte sie sich darauf ein, irgendeine Art Entschuldigung zu hören. Für die vielen Überstunden, die verpassten Glücksmomente, die Leerzeiten, die jede Ehe notgedrungen hervorbrachte. Doch er nahm nur lächelnd das Glas in die Hand und sagte: »Das war das letzte Mal. Es kommt nicht wieder vor.«

»Was kommt nicht wieder vor?«

»Es ist jetzt zwei Tage gutgegangen. Es kommt nicht wieder.«

Der Kellner erschien. Tim lehnte sich zurück, um Platz für den Teller zu schaffen. Normalerweise strich sie sich jetzt die Haare nach hinten und ergriff das Besteck, diesmal jedoch schob sie den Teller beiseite und beugte sich auf den Ellbogen nach vorn, sah ihn eindringlich an.

»Tim, genau so war es schon zweimal.«

»Du hättest mich sehen sollen heute.«

»Ich habe dich gestern in der Früh unter diesem Baum gefunden, schon vergessen?«

»Ich habe ganz friedlich an meinem Schreibtisch gesessen – und bin da geblieben.«

»Trotzdem, du weißt so gut wie ich, dass es jederzeit wieder ...«

»Hast du keinen Hunger?«

Sie blickte auf ihren Teller. »Nein«, sagte sie.

»Warum gehen wir dann in dieses Restaurant, wenn du nichts essen willst?«

Ihr war nicht nach Streit, deshalb griff sie nach der Gabel. Er schob sich den ersten Bissen in den Mund.

»Aber wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es ...« Sie stockte. »Und was dann? Was dann?«

Er ließ es sich schmecken und sagte kauend, das Glas in der Hand: »Dann kaufe ich eine Knarre und schieße mir eine Kugel in den Kopf.«

Er trank. Sie nahm ihre Ellbogen vom Tisch und setzte sich kerzengerade hin. Hatte sie richtig gehört? Ungerührt aß er weiter seine Penne. Konnte jemand wirklich derart neben der Spur sein? Ihre anfängliche Entgeisterung verwandelte sich in Wut. Was sollte dieser Spruch: »Dann schieße ich mir eine Kugel in den Kopf«? Er tat so, als ginge es nur ihn allein etwas an. Alle anderen existierten für ihn nicht. Dabei war er wahrlich nicht der einzige Betroffene hier! Sie stand auf und rannte aus dem Lokal.

In Filmen warf jetzt der Held einen Geldschein auf den Tisch, aber er hatte kein Geld dabei. Er war aufgesprungen, weil er sich zwar eine emotionale Reaktion gewünscht hatte, aber eben nicht diese. Hilflos hinterließ er seine Kreditkarte und lief ihr nach. Sie war bereits auf dem footballfeldgroßen Parkplatz, der wegen seiner Nähe zur umgebenden Shoppingzeile entsprechend voll war. »Jane«, rief er noch in der Tür, und die Gäste am Fenster drehten sich interessiert um und gafften.

Die Schneeböen trafen ihn von der Seite und heulten in seinen Ohren. »Janey!«, rief er und versuchte, sie einzuholen. Sie hatte nicht einmal ihren Mantel mitgenommen. Den Kopf gesenkt, die Arme frierend vor die Brust geschlagen, lief sie immer weiter. Sie entzog sich ihm, als sie in Reichweite war, indem sie einen Haken zwischen zwei geparkte Autos schlug, und schüttelte sich, sobald sie seine Hand auf der Schulter spürte. »Bitte, Jane ...« Sie fuhr herum und versetzte ihm einen Schlag mit der Faust. Sie traf ihn empfindlich unterhalb des Schlüsselbeins, und er verzog schmerzhaft das Gesicht. »Du dämliches Arschloch!«, rief sie. Wütende Tränen bahnten sich ihren Weg. »Du sagst mir nie wieder so eine Scheiße?« Was sich seltsamerweise wie eine Frage anhörte, auf die er aber keine Antwort hatte. Letztlich waren beide mit der Situation überfordert und nicht mehr in der Lage, irgendetwas Sinnvolles zu sagen, nur ihr weißer Atem wogte in der Enge zwischen den Autos hin und her. Ihre gespreizten Hände stießen ihn weg, er taumelte zurück, hielt sie dabei an den Handgelenken fest. Erneut riss sie sich los.

»Das war unbedacht von mir«, sagte er.

»Nach allem, was wir für dich getan haben, müssen wir uns so eine Scheiße anhören?«

»Ich würde das doch sowieso nie tun«, sagte er.

»Nicht? Woher soll ich das wissen?«

Ein Mann mit einem Einkaufswagen rasselte vorbei. Er wollte sie drücken, aber ihre verschränkten Arme blieben hart.

»Nie im Leben würde ich das tun«, sagte er.

8

Tags darauf fuhr sie in die Stadt, genauer gesagt in die Bronx zu einem Ladenlokal mit roter Markise und dem Schriftzug African Hair Weaving. Sie parkte davor und stieg aus, gerade als ein Räumfahrzeug durch die heruntergekommene Straße donnerte. Erodiertes Mauerwerk überall, grau und entstellt. Jeder Stein bestätigte das Ghetto, und der Wind trieb Abfall vor sich her. Der Maschendrahtzaun vor einer Grundstücksbrache war an einem Ende aufgebogen wie der Deckel einer Sardinendose.

Jane überprüfte noch einmal die Anschrift. Das mit einer roten Lichterkette umkränzte Schaufenster war flächendeckend mit vergilbten Frisurenseiten aus Trendmagazinen tapeziert, ebenso die Tür. Was sich drinnen abspielte, entzog sich dem Blick: Zwei schwarze Friseusen, eine davon mit Albinismus, bedienten zwei schwarze Matronen. Sie trugen schwere blaue Schürzen und hielten inne, als die Tür aufging. Überall lagen bunte Bindfäden. Bindfäden, Spraydosen und verstaubte Plastikpflanzen verdoppelten sich in der Spiegelwand. Sie entdeckte ihn im hinteren Teil des Salons, er schlief dort auf einer Reihe Klappstühle.

Ein Windstoß sprengte die Tür auf.

»Fest zuknallen«, rief die weiße Schwarze.

Jane tat wie befohlen. Als sie sich umdrehte und die Frauen zum zweiten Mal anblickte, zwang sie sich zu einem Lächeln; wieder einmal war es so weit, dass sie unerwartet in einer randständigen Umgebung auftauchte und sich wie ein Eindringling fühlte. »Das ist mein Mann«, sagte sie und zeigte auf ihn im Hintergrund.

Die Rückfahrt verlief weitgehend schweigend. Hinter der Stadtgrenze sagte er: »Sie waren richtig nett in dem Laden. Ich habe ihnen vierzig Dollar angeboten, aber das wollten sie nicht nehmen.«

»Warum haben sie dich überhaupt reingelassen?«

»Ich sagte, ich hätte Schmerzen in der Brust. Ich wollte ihnen Geld geben, nur um mich kurz bei ihnen auszuruhen, aber das haben sie abgelehnt.«

»Und trotzdem durftest du dich setzen.«

»Man rechnet ja eher mit Ablehnung«, sagte er. »Aber dann geben sie dir einen Stuhl und rufen die Ehefrau an.«

»Darauf würde ich mich nicht immer verlassen«, sagte sie.

Sie fuhr in die Garage und stellte den Motor ab. Keiner von beiden rührte sich. Sie zählte fest darauf, dass er nach der Episode bei African Hair Weaving endlich zu sich käme, aber er schwieg, und so würde sich wohl nichts ändern. Das Minutenlicht in der Garage ging aus. Wie zwei verliebte Highschool-Kids saßen sie in der verstockten Dunkelheit, unfähig, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Das Auto war nicht der rechte Ort, um Streitigkeiten dieser Art auszutragen.

»Was hast du eigentlich gedacht, als du die schwarze Albino-Frau gesehen hast?«

»Die hat sicher kein leichtes Leben«, sagte sie.

Er starrte nach vorn durch die Scheibe. »Glaube ich auch.«

9

Bei seinem zweiten Schub war Becka dreizehn Jahre alt.

Ihre Pubertät war die Hölle. Alle erwarteten, dass sie in dieser Zeit ihren Babyspeck verlieren würde, aber das geschah nie. Sie nahm zwar nicht zu, nicht dramatisch jedenfalls, aber schlanker wurde sie auch nicht.

Schon mit zehn hatte sie von ihrer Mutter wissen wollen, was der Unterschied zwischen Proteinen und Kohlehydraten war. Regelmäßig zu Weihnachten und ihrem Geburtstag wünschte sie sich spezielle Fitness- und Figurratgeber. Ihre Eltern fragte sie: »Warum bin ich so dick? Warum bin nur ich so dick? Keiner in unserer Familie ist so dick.«

Sie sahen der Entwicklung beileibe nicht tatenlos zu. Sie suchten Ernährungsberater auf, sogar Endokrinologen, versuchten es mit Akupunktur. Sie kauften Joggingklamotten und meldeten sie in Frauen-Fitness-Studios an. Bestellten im Shoppingsender sperrige Trainingsgeräte und Elektro-Bauchweg-Gürtel. Nichts half.

Und Tim log ihr konsequent etwas vor. Für ihn war und blieb sie das schönste Mädchen der Welt, wenngleich er sich im Stillen fragte, warum sie nicht wenigstens ein bisschen abnehmen konnte. Er und Jane sprachen darüber etwa so häufig wie über ihre auffallend guten Noten und ihre unerklärlichen Launen. Sie hatten einfach Angst, dass sich dahinter eine massive Essstörung verbarg, aber sie täuschten sich, so einfach machte es ihnen ihre Tochter nicht. In ihr Lunchpaket kam lediglich ein Tofu-Sandwich, und sie verlangte nach einem Wecker, damit sie vor dem Frühstück noch eine Runde laufen konnte. Ein Mädchen von zwölf Jahren (siebte Klasse), das in aller Frühe den Pyjama gegen Fleece-Weste und Funktions-Laufhose tauschte, um das tägliche Pensum von drei Meilen herunterzureißen. Und damit sie richtig ins Schwitzen kam, schnitt sie drei große Löcher in einen Müllbeutel und trug ihn als eine Art Unterhemd, direkt auf der Haut. Sie stellte sich vor, wie mit dem Schweiß auch Fettmoleküle der Doppelrahmstufe aus dem qualligen Organismus geschwemmt wurden. Das schmatzende Geräusch dieser wenig atmungsaktiven Kleidungsschicht war zwar unangenehm, aber mit einem phantastischen Versprechen nach »purzelnden« Pfunden verbunden. Dies war vor dem Nasenpiercing, vor den Dreads, vor den nächtlichen Übergriffen auf die Sprühsahne im Kühlschrank.