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Wenn ihre Welt um sie zerbricht, wem kann sie trauen? »Insight – Dein Leben gehört mir« von Bestseller-Autorin Antonia Wesseling ist ein süchtig machender Mix aus Romance und Thrill um eine junge Influencerin, Stalking, Skandale, falsche Freunde und einen attraktiven Polizisten. Valerie Sophie ist eine der größten Influencerinnen Deutschlands, jung, schön, reich und unglaublich beliebt. Dass sie dafür einige Abgründe überwunden und eine schwierige Vergangenheit hinter sich gelassen hat, weiß kaum jemand – und das soll auch so bleiben. Als ein Stalker in ihr Leben tritt, der droht, ihr »kleines Geheimnis« zu verraten, gerät ihre Welt ins Wanken. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an Paul, einen ehemaligen Mitschüler, der inzwischen Polizist ist und verspricht, ihr zu helfen. Dabei kommen sie sich unerwartet nahe. Was Paul allerdings nicht ahnt, ist, dass auch er nur einen Teil der Geschichte kennt … Mitreißender New-Adult-Lesestoff mit Thrill Romance und Spannung, Lügen, Geheimnisse und eine Welt, in der nichts so ist, wie es scheint – all das findet sich in »Insight – Dein Leben gehört mir«. Der erste romantische Spannungsroman von Bestseller-Autorin Antonia Wesseling, die bisher für ihre sehr erfolgreichen und tiefgehenden New-Adult-Liebesromane bekannt ist. »Antonia Wesseling weiß genau, wie man Brustkörbe knackt, um Herzen freizulegen, mit ungefilterter Echtheit, aber stets voller Liebe und Feingefühl. Das nun also gepaart mit einem Ausflug in die Spannung – Toni, ich bin dir hemmungslos verfallen.« Romy Hausmann
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Seitenzahl: 526
Antonia Wesseling
Dein Leben gehört mir
Roman
Knaur eBooks
Wenn ihre Welt um sie zerbricht, wem kann sie trauen?
Valerie Sophie ist eine der größten Influencerinnen Deutschlands, jung, schön, reich und unglaublich beliebt. Dass sie dafür einige Abgründe überwunden und eine schwierige Vergangenheit hinter sich gelassen hat, weiß kaum jemand – und das soll auch so bleiben. Als ein Stalker in ihr Leben tritt, der droht, ihr »kleines Geheimnis« zu verraten, gerät ihre Welt ins Wanken. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an Paul, einen ehemaligen Mitschüler, der inzwischen Polizist ist und verspricht, ihr zu helfen. Dabei kommen sie sich unerwartet nahe. Was Paul allerdings nicht ahnt, ist, dass auch er nur einen Teil der Geschichte kennt ...
»Antonia Wesseling weiß genau, wie man Brustkörbe knackt, um Herzen freizulegen, mit ungefilterter Echtheit, aber stets voller Liebe und Feingefühl. Das nun also gepaart mit einem Ausflug in die Spannung – Toni, ich bin dir hemmungslos verfallen.«
Romy Hausmann
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Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Erstvorstellung
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
Sitzung am 15.04.2011
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
Sitzung am 17.05.2011
26. Kapitel
27. Kapitel
Sitzung am 08.06.2011
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
Sitzung am 16.06.2011
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Sitzung am 28.06.2011
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
Sitzung am 09.07.2011
Epilog
2. Epilog
Danksagung
Für alle, die häufig in die Vergangenheit zurückschauen. Sie entscheidet nicht darüber, wer wir sind. Ganz im Gegenteil. Sie zeigt uns, wer wir aufgehört haben zu sein.
Die Konkurrenz schläft nie
Happy Sunday, ihr wunderbaren Menschen da draußen.
Es ist die letzten Tage etwas stiller in meinen Stories, und ich vermisse euch sehr <3
Allerdings tut sich hinter den Kulissen einiges, und ich kann es kaum abwarten, dass ihr an alldem teilhaben könnt.
Wie geht es euch? Vermisst ihr den Sommer auch schon, oder seid ihr bereits im Mood für schicke Wintermäntel?
#sundaymood #cozy #busy #bestlife #behappy #goodvibesonly
»Ich habe gute Nachrichten!«
»Sind sie gut genug, dass du mich dafür am Sonntag anrufen musst?«, reagiere ich mürrisch auf den telefonischen Überfall meines Managers. Mit einer Hand schiebe ich den Laptop von meinem Schoß aufs Sofa und klappe ihn zu.
»Sie sind sogar so gut, dass du am besten gleich bei mir vorbeikommst.« Ich muss keinen Videocall mit Tizian machen, um sein unverschämtes Grinsen vor Augen zu haben. Es passt so gut zu seiner selbstgefälligen Art.
»Ich warne dich …«
»Gegen fünfzehn Uhr?«
»Meinetwegen.« Damit beende ich unser Gespräch.
Missmutig lasse ich mein Smartphone sinken und lege es auf der Glasplatte des Wohnzimmertisches ab. Klasse gelaufen! Dabei wollte ich mir heute doch endlich mal eine kurze Auszeit gönnen, eine Runde mit meinem Dackel Bella Gassi gehen oder zumindest so tun, als könnte ich mich in Ruhe einem Buch widmen.
Mein Blick fällt auf die Kartons, die eng aneinandergereiht neben meinem Sofa stehen. Ende letzten Jahres ist meine eigene Kosmetikmarke auf den Markt gekommen. Das schlichte Design war sofort in meinem Kopf, ein goldenes V zur Wiedererkennung, erschwinglicher Preis, jedoch nicht zu günstig, um als Billigmarke abgestempelt zu werden. Unser Konzept war brillant. Auch wenn wir kurz vor dem Launch meiner ersten Produkte in großen Stress geraten sind, um auf höchstem Level zu liefern, am Ende hat es sich gelohnt. Das Design sieht einfach toll aus! Seitdem gibt es allerdings kaum noch ruhige Momente.
Sofort muss ich an die Unmengen Arbeit der letzten Tage denken, und das Stressgefühl ist wieder da. Würde mich nicht wundern, wenn mein Kopf irgendwann mit einem lauten Knall platzt. Wie ein prall gefüllter Luftballon, auf den zu viel Druck ausgeübt wird.
Innerlich höre ich eine Stimme, die verdächtig nach Tizian klingt und die in vorwurfsvollem Ton sagt: »Du kannst froh sein, wenn V-Line an seinen letzten Erfolg anknüpft. In deiner aktuellen Lage ist das nicht selbstverständlich.«
So schmerzhaft die Worte auch klingen mögen: Sie sind wahr. Die Dinge haben sich geändert seit dem Ende der #couplegoals-Zeiten von mir und Alex. Und um ehrlich zu sein, ist es genau das, was mich völlig ausbrennt: die Angst vor einem erneuten Absturz. Einem, der mir vielleicht sogar endgültig das Genick brechen würde.
Dass mich solche Zweifel beschäftigen, kann allerdings niemand sehen, weil ich Valerie Sophie bin. Mein Gesicht ist eine perfekte Maske. Niemand erahnt hinter meinem teuren Highlighter auch nur ansatzweise, dass es mich jeden einzelnen Nerv gekostet hat, mit den neuen Produkten den Ansprüchen meiner Kundinnen gerecht zu werden. Insgeheim weiß ich, dass das Erreichen der bisherigen Qualität das Mindeste ist, was ich tun kann. Denn ein geschwächter Kanal bedeutet eine geschwächte Marke.
Wieder pulsiert die Stimme von Tizian, meinem Manager und größten Kritiker, dem der Titel für »Ich-mache-dir-am-meisten-Druck« gebührt, in meinem Kopf. »In einer schnelllebigen Zeit musst du nachliefern. Bäm, bäm, bäm. Gerade jetzt darfst du nicht an Relevanz verlieren. Das willst du doch nicht, oder? Sonst ist V-Line schneller ein Thema von gestern als die MeToo-Bewegung.«
Arschloch. Tizian ist der überheblichste, sexistischste Kerl, den ich kenne. Doch es würde mich ein Vermögen kosten, mich aus dem Vertrag mit seiner Agentur in diesem Jahr noch rauszukaufen. Grund genug, bei seinen Kommentaren ein paar Monate länger auf Durchzug zu stellen. Also stecke ich jede Kraft in unseren neuen Dusch- und Haarschaum und warte brav, bis ich ihn vertragsgerecht aus meinem Leben verbannen kann.
Ganz gleich, ob trocken oder fettig, glatt oder kraus. UnsereKampagne läuft nach dem Motto: Jeder soll sich wohlfühlen! Natürlich auch eine Sache, der Tizian niemals zugestimmt hätte, könnte er nicht in der Öffentlichkeit damit prahlen, besonders woke zu sein.
Wie man es dreht und wendet, mit einer Sache hat er dennoch recht: Vergessen zu werden wäre das Todesurteil von Valerie Sophie. Nicht das von mir als Person, aber das meines gleichnamigen Accounts. Meiner gesamten Online-Existenz. Valerie Sophie Ehrmann ist ein Symbol in der deutschen Instagram-Szene. Zumindest war sie das bis vor einem nicht allzu langen Zeitpunkt noch. Mein Name stand für Eleganz, Selbstbewusstsein, Erfolg und Emanzipation. Denn alles, womit ich heute mein Geld verdiene, habe ich selbst erschaffen. Umso erschreckender war es, zu sehen, wie wenig es von außen brauchte, um diesen Erfolg ins Straucheln zu bringen. Weil ich weiß, dass ich mich diesem Thema spätestens in Tizians Büro stellen muss, schiebe ich den Gedanken beiseite.
Ziemlich erschöpft stopfe ich die wichtigsten Sachen in meine Tasche und lege Bella an die Leine. Wenn Tizian sich so spontan meldet, muss er damit leben, dass meine Dackeldame mitkommt.
Als ich in meinen Wagen steige, frage ich mich zum wiederholten Mal, wie Tizian das mit seinen anderen Klienten regelt. Die meisten von ihnen wohnen nicht in der Stadt, und ich würde meine gesamte Taschensammlung darauf verwetten, dass keiner für ein kurzes Update extra nach Köln fährt. Schon gar nicht, wenn man sich in der Innenstadt dermaßen durch den Verkehr quälen muss. Ich atme erleichtert aus, als ich es endlich zu Tizian geschafft habe, sehe mich nach rechts und links um, bevor ich die Autotür aufstoße und die Sonnenbrille aufsetze. In den letzten Monaten ist sie für mich zu einer Art Schutzschild geworden. Ein Schutzschild, von dem ich nie dachte, es einmal zu brauchen.
Tizians Workspace befindet sich im dritten Stock eines Co-Working-Gebäudes, ausgerechnet in der wuseligen Innenstadt Kölns. Er hat hier vor einigen Monaten eine ganze Etage für sich und seine Mitarbeitenden gemietet und hält sich seitdem für den coolen Boss aus einem amerikanischen Teeniefilm.
Im Aufzug betrachte ich mich im Spiegel. Meine langen blonden Haare reichen weit über die Brust. Die enge weiße Balenciaga-Jeans spannt sich wie eine zweite Haut über meine Beine. Meine wohlgemerkt ziemlich langen Beine, die endlich wieder in Konfektionsgröße 36 passen. Kommentare wie »Jetzt lass dich nach der Trennung mal nicht so gehen« oder »Da greift aber jemand zur Frustschokolade« werden nichtsdestotrotz noch eine Weile in mir nachhallen.
Bei dem Gedanken, dass es dieselben Leute sind, die zuerst von Selbstliebe gesprochen haben, mir dann eine Diät andrehen wollten und jetzt nach meinem ach-so-tollen Stoffwechsel fragen, würde ich vor Wut am liebsten die teuren Overknee-Stiefel aus dem dritten Stock werfen. Doch das wäre fast so schade wie die Tatsache, dass ich sie gerade bei einem Besuch im Management entjungfere.
»Endlich«, begrüßt Tizian mich am Eingang mit diesem albernen Küsschen rechts, Küsschen links und setzt dabei ein breites Grinsen auf. Sein viel zu strenges Aftershave dringt in meine Nase, sodass ich ihm am liebsten auf das hellblaue Jackett niesen würde. Oder dieses ordentlich gebügelte weiße Hemd darunter. Es würde mich nicht wundern, käme eines Tages heraus, dass diesen Job noch immer seine Mutter übernimmt.
Tizian ist Mitte dreißig und damit ungefähr zehn Jahre älter als ich, hat dunkelblonde kurze Haare und diese Art von Gesicht, das eigentlich attraktiv aussehen könnte, es aber niemals sein wird, sobald man seinen Charakter auch nur ein bisschen näher kennt.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sage ich ironisch, lege mir den Mantel über den Arm und folge ihm in sein Büro.
»Man könnte fast denken, das meinst du gar nicht so.«
»Sagen wir so, ich hätte mir mein Wochenende schöner vorstellen können.«
Er verzieht gespielt beleidigt das Gesicht. »Oh, Valerie. Sollte ich das persönlich nehmen?«
»Bevorzugst du die Wahrheit?«
Obwohl Tizian auflacht, bin ich mir sicher, dass er genau weiß, wie ernst ich das gemeint habe. »Sind wir heute zickig?« Er lässt sich auf den Bürostuhl hinter seinem Schreibtisch sinken und wirft einen Blick aus dem Fenster. »Dabei haben wir doch herrliches Wetter, findest du nicht? Außerdem siehst du bezaubernd aus. Fast wie dein altes Selbst.«
Tizian nutzt jede Chance, die er hat, um mich an meiner Achillesferse zu treffen.
»Also?«, frage ich und setze mich ihm gegenüber auf den Stuhl. Bella hockt sich brav neben meine Füße. »Was gibt es nun so Wichtiges zu besprechen?«
»Alles der Reihe nach … Dreimal darfst du raten, wem ich das Privileg eines exklusiven Pappaufstellers in Lebensgröße in allen deutschen Drogeriemärkten besorgt habe … Keine Frau in diesem Land wird Tampons kaufen können, ohne von deinem strahlenden Lächeln entzückt zu werden.«
Ich verkneife mir einen bissigen Kommentar und sehe ihn möglichst unbeeindruckt an. Irgendeinen Vorteil muss seine Existenz für mich ja eines Tages haben, und obwohl Tizian mich am liebsten unterwürfig auf den Knien sehen würde (Gott, nicht so, wie es klingt … obwohl, wohlmöglich würde er auch das Angebot nicht ausschlagen!), weiß ich, dass er viel zu scharf auf die Kohle ist, um meine Kooperationen nicht bestmöglich zu verhandeln.
Mein Erfolg ist auch sein Erfolg.
Zumindest, solange dieser Vertrag noch gültig ist.
»Was sagst du dazu?«
»Klingt gut.«
»Das klingt nicht nur gut, sondern hervorragend. Zumindest dann, wenn du auf den Fotos ein wenig freundlicher guckst als jetzt.«
»Solange du sie nicht von mir machst, sollte das machbar sein.« Ich beuge mich zum Schreibtisch vor. »Wo soll ich unterschreiben? Deshalb bin ich doch hier, oder?«
»Natürlich«, erklärt er und stützt die Hände auf die Tischplatte. Ich widerstehe dem Drang zu fragen, ob wir die Angelegenheit nicht auch per E-Mail hätten regeln können.
»Was hast du diese Woche vor?«, fragt er und schaltet den Drucker ein.
»Ein Meeting für eine Kooperation. Ich könnte das Werbegesicht für eine Dating-App werden.«
»Oh, ich bin mir sicher, du würdest dich da bestens für eignen.« Tizians Blick streift meinen Körper, und ich spüre, wie sich alles in mir zusammenzieht.
Warnend funkele ich ihn an.
»Was ist? Darf man heutzutage keine Komplimente mehr machen?« Tizians Lächeln ist so aufgesetzt, dass allein sein Anblick etwas in mir zum Kochen bringt.
»Ich würde es vorziehen, wenn wir professionell miteinander umgehen.«
»Natürlich. Es ist nur … Ich erinnere mich an Zeiten, zu denen du diesen Blick einmal gemocht, nein, regelrecht genossen hast.« Sein Lächeln wird zu einem breiten Grinsen.
»Intelligente Menschen lernen aus ihren Fehlern.«
Darauf entgegnet Tizian nichts mehr, sondern wirft kurz einen Blick auf den Computer und sieht dann wieder mich an. »Hast du mir den Link zu deinem Beitrag für das Krümelcafé zukommen lassen? Ich wollte später die Rechnung abschicken.«
Vor einigen Tagen ist ein neuer Werbepost auf meinem Account online gegangen. Darin werbe ich für ein Café, das ganz neu ins Influencer-Marketing eingestiegen ist. Auf dem entstandenen Bild halte ich eine goldverzierte Gabel in der rechten Hand und führe mir den ersten Bissen Kürbiskuchen genüsslich zum Mund. Der knallrote Lippenstift passt perfekt, genau wie der beige Wollpullover, der hervorragend mit meinen goldblonden Haaren harmoniert.
»Erledige ich noch«, antworte ich und greife bereits ungeduldig nach einem Kugelschreiber.
»Am besten mit Screenshot von der Reichweitenanalyse im Anhang. Ich hoffe, der Post ist besser gelaufen als deine letzten dieser Art.«
»Ist er.«
»Ich werde es ja sehen. Seit es keinen Couple-Content mehr von dir gibt, ist echt der Wurm drin. Gibt es denn so gar nichts Aufregendes in deinem Leben, das du teilen könntest?«
»Du tust ja gerade so, als würden deine anderen Klienten in ihren Stories mit einem Löwen kämpfen, während ich mich vierzehn Tage lang nicht von der Couch bewege.«
»Sachte, sachte … von Löwen war hier nie die Rede. Aber du könntest dir schon etwas einfallen lassen, was die Leute interessiert.«
»Ich hatte eine harte Zeit. Was verstehst du daran nicht?«
Tizian schnaubt. »Eine harte Zeit kann man sich im Notfall zwei Wochen erlauben, keine acht Monate. Es geht dabei nicht um mich. Ich dachte, dass es in deinem Interesse ist, wenn uns nicht auch noch die nächsten Sponsoren flöten gehen.«
Ich beiße die Zähne fest zusammen, um nichts Unüberlegtes zu sagen. Knapp vierzigtausend Likes, mehrere Hundert Kommentare unter meinem vorletzten Posting. Es geht wieder bergauf. Das weiß ich. Dass Trennungen auf Instagram für Aufmerksamkeit, danach aber auch für einen rasanten Absturz sorgen können, ist selbst unter Laien kein Geheimnis mehr. Konnten wir aber deshalb irgendetwas an der Situation ändern?
»Ganz ruhig, meine Liebe. Das war doch kein persönlicher Angriff«, versucht Tizian den Brand zu löschen, den er selbst gelegt hat. Er zieht die Brauen zusammen und winkt ab. »Die Leute lieben dich immer noch. Und schon bald werden sie vielleicht auch diesen viel zu süßen Kürbiskuchen lieben.«
»Der war nicht zu süß«, widerspreche ich und stehe endlich auf. Bella sieht mich verwirrt an, als hätte sie gerne noch eine Weile länger auf dem Boden geschlafen.
»So, der Vertrag ist unterschrieben. Ich bin dann jetzt weg.«
Tizian lacht laut auf. »Oh, Valerie, du weißt genau, du bist hier jederzeit ein willkommener Gast.«
Ich schenke ihm ein spöttisches Lächeln und schlüpfe zurück in meinen Mantel.
»Bevor du gehst …« Tizian bewegt sich auf seinem Schreibtischstuhl zur Fensterfront und durchsucht einen ziemlich chaotischen Haufen.
»Ja?«, frage ich und knöpfe den Mantel zu.
»Du hast deine Post der letzten Tage noch nicht mitgenommen. Einen Umschlag habe ich heute erst aus dem Briefkasten geholt.«
Seufzend zucke ich mit den Schultern. »Hast du sie durchgesehen?«
»Bin noch nicht dazu gekommen. Sieht aber nach Fanpost aus. Vielleicht schreibt dir ja auch jemand Liebesbriefe.«
»Ich habe keine Verehrer.«
»Oh, daran hege ich meine Zweifel.« Amüsiert überreicht er mir einen Stapel, den ich hastig in meine Tasche stopfe.
Ich brauche die ganze Autofahrt, um mich von dem kurzen Besuch bei Tizian zu erholen. Selbst als ich zwanzig Minuten später den Wohnungsschlüssel klirrend in die Glasschale auf meinem Sideboard lege, steht mein Körper noch unter gewaltiger Anspannung.
Bella lässt sich in dem Korb neben unserem Eingang nieder. Ihr kleines Köpfchen fällt in den weichen Stoff, und sie schließt die Augen, als habe sie vollstes Verständnis für meinen Mangel an Energiereserven.
»Hey, Schlafmütze«, sage ich leise und tausche die Stiefel gegen meine rosa Chanel-Pantoletten. Abgesehen von einem Sanseviera-Trio auf dem Wohnzimmertisch sind diese Hausschuhe einer der wenigen bunten Flecken, die es in meiner Wohnung gibt. Für mich geht nichts über einen cleanen Einrichtungsstil in gedeckten Farben. Beige. Grau. Weiß. Zu sehen, wie jedes Teil an seinen Platz gehört, erfüllt mich mit einer vielleicht schrägen Genugtuung. »Noch nicht schlappmachen. Wir zwei sollten uns noch ein Abendessen gönnen.« Schnell krame ich ein paar gesunde Zutaten aus dem Kühlschrank und werfe sie auf der Küchentheke zusammen. Natürlich könnte ich auch jeden Abend beim Lieferdienst bestellen, mir mit Fast Food den Magen vollhauen, doch das passt nicht zu meinem Lebensstil. Nicht mehr. Valerie Sophie hat ihr Leben wieder im Griff. Nach jeder Tiefphase kommt ein Hoch. Nach jedem Gewitter die ersten Sonnenstrahlen. Und auf die hässlichen Kommentare in der Kommentarspalte folgt nun eben auch ein heftiges Glow-up, für das mir kein Preis der Welt zu hoch ist.
Ich koche eine große Portion Kartoffeln, nehme Brokkoli aus dem Tiefkühlfach und unterhalte mich währenddessen mit Bella. Hin und wieder zuckt sie zumindest mit den Augenlidern, als sei es die einzige Reaktion, die man heute noch von ihr erwarten könnte. Es gibt nichts, was ich mehr verstehen kann. Dieser Hund ist meine nichtbiologische Zwillingsschwester. Oder vielleicht eine Art Seelentier.
Mein Telefon vibriert. Ich nehme den Deckel vom Topf, damit mir nicht noch etwas überkocht, und eile zum Esszimmertisch. Meine braune Prada-Tasche steht noch unberührt auf dem vordersten Stuhl. Hastig wühle ich mich durch die Post, die mir Tizian eben gegeben hat, finde mein Handy und nehme das Gespräch entgegen.
»Val.« Es ist Linnea, die mir ganz aufgeregt ins Ohr flötet. Wir sind das, was manche Menschen möglicherweise als Freundinnen bezeichnen würden. Ich tue mich in unserer Branche jedoch schwer mit diesem Begriff. Weil ich weiß, dass wir uns in einem Haifischbecken bewegen. Während du am Anfang glaubst, in einer Art Symbiose zu leben, wirst du früher oder später auf schmerzhafte Art und Weise realisieren, dass der einzige Grund, weshalb du noch nicht gefressen wurdest, darin besteht, dass andere dich als perfekt hergerichteten Nachtisch sehen. Ein Nachtisch, zu dem du dich im Zweifelsfall selbst gemacht hast.
»Hast du es gesehen?«
»Was?«, hake ich nach und klemme mir das Telefon unter die Schulter, um die Post in die Küche zu tragen.
»Na, die Ankündigung von Rosa«, wirft Linnea ein, als sollte mir das irgendwas sagen.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Bin gerade erst durch die Tür gekommen.« Doch schon die Erwähnung von Rosas Namen bringt mein Herz dazu, schneller zu klopfen. Nicht gut. Gar nicht gut. Niemand sollte die Macht haben, etwas Derartiges in mir auszulösen.
»Oh-oh«, macht Linnea. »Girl, was macht eigentlich dein Management? Verschlafen die die YouTube-Trends? Rosa hat eben ein Video hochgeladen, in dem sie ihre neuen Duschschäume präsentiert.«
»Bitte was?« Genervt stoße ich Luft aus, stelle mit der freien Hand den Herd eine Stufe runter und verdrehe dabei innerlich mehrfach die Augen. »Kann diese Frau auch mal etwas Eigenes machen?« Rosa ist, genau wie Linnea und ich, in der Social-Media-Bubble unterwegs. »Es muss ihr doch irgendwann mal peinlich sein.« Abwesend stelle ich den Anruf auf Lautsprecher und lege das Telefon beiseite. Ich muss das Wasser aus dem Topf abschütten, sonst kann ich den Brokkoli gleich trinken. Vielleicht auch eine moderne Form von Diät: warten, bis das Essen so beschissen schmeckt, dass man es lieber ganz ausfallen lässt. Tizian würde diese Idee sicher zu gut gefallen. »Sie muss doch wissen, dass sie sich damit ein Eigentor schießt.« Es ist in der Bloggerszene schon wiederholt diskutiert worden: Rosa habe Videos oder ganze Formate ungefragt von anderen kopiert und Fotos nachgestellt. Natürlich konnten wir es bisher schlecht beweisen, aber Freunde hat sie sich dadurch nicht gemacht.
»Val, es ist anders, als du denkst«, unterbricht Linnea meine Gedanken. »Sie muss von deinen Ideen Wind bekommen haben. Die Produkte sind fast identisch, und sie bringt ihre Linie schon vor Weihnachten raus.«
Ich brauche einen Moment, um die Bedeutung von Linneas Worten zu verstehen, doch dann zucke ich erschrocken zusammen. »Was?«
»Ja, das bedeutet, sie ist vor dir draußen.«
»Ich weiß, was das bedeutet«, entfährt es mir. Dabei gilt meine Verärgerung natürlich eigentlich nicht Linnea. Don’t shoot the messenger!
»Alle werden denken, dass du ihre Produkte nachgemacht hast.«
Das ist eine Katastrophe. Wer Inhalte von Rosa Neuer stiehlt, ist auf Social Media wirklich ganz tief gesunken.
»Und jetzt?«, haucht Linnea in den Hörer. Ich ahne, dass sie als Nächstes etwas sagen will, das aufbauend oder tröstend gemeint ist. Doch davon will ich nichts hören. Allein der Gedanke eines mitleidigen Lächelns löst eine widerliche Beklemmung in mir aus. Mitleid ist etwas, das in meinem Leben nichts zu suchen hat. Nicht mehr.
»Ich muss auflegen.« Ich schaffe es gerade noch, ein »Danke« hervorzupressen, bevor ich das Telefonat wie erstarrt beende. Unfähig, zu sagen, was ich gerade überhaupt fühle. Wut? Sorge? Angst, dass Rosa Neuer mit der Nummer durchkommt und uns die ganze Show stiehlt?
Schlichtweg unbegründet, beschließe ich gedanklich.
Ich schicke Tizian kommentarlos den Link zu Rosas Video, das ich mir nur zur Hälfte ansehen kann, ohne vor Wut zu kochen. Mein Essen ist schon fast kalt geworden, sodass ich es Bella zu fressen gebe.
Während ich auf Tizians Antwort warte, öffne ich die ersten Briefe. Das Glückwunschschreiben von einem Kooperationspartner zerreiße ich noch beim Lesen. Mein Geburtstag ist drei Monate her, und ich habe keine Ahnung, ob der standardisierte Brief so lange in der Post gehangen oder in Tizians Büro für eine Weile abgetaucht ist. Wundern würde mich beides nicht. Die nächsten beiden Umschläge enthalten normale Fanpost, die zu beantworten ich mittlerweile leider nur noch selten schaffe. Zumal ich in jeder Kontaktaufnahme Fragen zu der Situation zwischen Alex und mir vermuten muss. »Wieso hast du ihm nicht verziehen?« – »Sorry, aber seitdem ihr euch getrennt habt, ist dein Kanal voll langweilig geworden.« All diese Bemerkungen hat es bereits gegeben. Wenn Liebeskummer sich anfühlt, als würde man in einem brennenden Haus stehen, lässt sich eine öffentliche Trennung am besten mit der Explosion einer Bombe vergleichen.
Als ich den vierten Brief in die Hand nehme, bin ich für ein paar Sekunden verwundert. Kein Absender. Ungeduldig reiße ich den Umschlag auf und ziehe ein beiges Blatt Papier heraus, das wie die meiste Fanpost handbeschrieben ist. Ich überfliege die ersten Zeilen und verspüre in Sekundenschnelle Gänsehaut am ganzen Körper, sodass ich mir wünsche, diese Post nie geöffnet zu haben.
Wie man’s macht, macht man’s verkehrt
Ich bin nicht prüde oder verklemmt. Aber meines Erachtens sollte keine Frau dieser Welt solche Fantasien über sich lesen müssen, sofern sie nicht danach gefragt hat.
Das Problem an Social Media ist, dass viele Männer Fotos mit rotem Lippenstift, freizügige Bilder am Strand oder ein hübsches Lächeln als eine Art Ja interpretieren, das niemals existiert hat. Das ist etwas, womit Tizian auf gewisse, traurige Weise recht hat: MeToo wurde vergessen. Allerdings nicht von allen. Sondern von denjenigen, für die es Übergriffe an Frauen sowieso nur in den abendlichen Nachrichten gibt und für die der Gaffer von nebenan, der stets den Frauen hinterherpfeift, nur ein freundlicher Nachbar mit alternativem Humor ist. Für die meisten jungen Frauen bleibt Belästigung die Realität, mit der sie sich abfinden sollen.
Das tun viele. Die allermeisten sogar.
Ich tue es nicht.
Meine erste Anzeige eines Penisbildes liegt ein Dreivierteljahr zurück. Seitdem tue ich so etwas häufiger. Ich will für Gerechtigkeit sorgen und gleichzeitig diesen Perverslingen klarmachen, dass Valerie Sophie Ehrmann eine selbstbestimmte Frau ist und keine Wichsvorlage.
Der Brief von gestern Abend enthielt kein Dickpic. Auch kein anderes Foto. Und trotzdem habe ich in der vergangenen Nacht von einem schmierigen Grinsen geträumt, das überaus deutlich zeigt:
Die unheimlichen Zeilen haben mich mehr beschäftigt, als mir lieb ist.
Jeden Abend denke ich an dich, während ich mir den Schwanz massiere und mich frage, wie feucht deine Fotze wäre, wenn ich es dir besorgen würde.
Ich brauche mir nur diesen kurzen Auszug des Textes in Erinnerung rufen, und schon ist sie wieder da: die stechende Übelkeit, die sich in meinem Magen wie eine Zecke festbeißt. Ich mag mir überhaupt nicht vorstellen, wer, wann und warum jemand wirklich glaubt, mir mit diesen Zeilen einen Gefallen zu tun.
Bist du beim Lesen geil geworden?
Ganz im Gegenteil. Hätte ich vorgehabt, mich an diesem Abend selbst zu befriedigen, wäre mir spätestens nach dieser Frage der Vibrator aus der Hand gefallen. Ich habe kein Problem mit Dirty Talk. Alex hat auf so was gestanden. Irgendwann stöhnte mein Ex beim Sex, ich solle ihm schmutzige Begriffe zuflüstern, ihm sagen, wie dringend ich von ihm gefickt werden wolle. Ich fand es ungewöhnlich, und es kam mir im ersten Moment etwas komisch vor. Doch auch wenn ich es niemals direkt ausgesprochen habe, war der darauffolgende Orgasmus einer der überwältigendsten, den ich je erlebt habe. Die Kontrolle abzugeben. Vielleicht geht es darum für mich beim Sex. Für einige Minuten eine Rolle zu spielen, die man im echten Leben niemals haben kann. Darf. Oder will. Seitdem haben wir es öfter gemacht. Dinge ausprobiert, die von der Realität abwichen, und Limits getestet. Und obwohl jeder Gedanke an Alex die mühsam geflickten Risse in meinem Herzen zum Ziehen bringt, kann ich an dieser Stelle nicht behaupten, er habe sie jemals überschritten. Meine Grenzen. Das entscheidende Wort. Grenzen, die mit diesem Brief hier definitiv außer Gefecht gesetzt wurden.
Und genau aus diesem Grund sitze ich nun auf der Polizeistation und warte darauf, Anzeige erstatten zu können. Den Brief habe ich in eine Folie gelegt, falls Fingerabdrücke festgestellt werden sollen.
»Frau Ehrmann?« Ich werde von einem grauhaarigen Polizisten aufgerufen, der sicher kurz vor dem Ruhestand steht. Das letzte Mal habe ich hier einen ehemaligen Mitschüler meines Bruders Theo getroffen, der mittlerweile Polizist ist. Paul. Wir haben Hallo gesagt, obwohl ich mir zuerst nicht einmal sicher gewesen bin, ob er mich noch von damals kannte.
Normalerweise halte ich mich fern von alten Kontakten. Alles, was aus meinem früheren Leben stammt, könnte meinem heutigen Image schaden. Zum Glück haben wir nicht über Theo oder darüber, was aus ihm geworden ist, gesprochen. Doch erkannt hat er mich trotzdem. Hat gefragt, wie es mir geht, was ich so mache, und natürlich meine Anzeige dokumentiert. Dabei hat er fassungslos den Kopf geschüttelt und gesagt: »Es tut mir jedes Mal leid, dass so viele Frauen sich das ansehen müssen.«
Ich habe gelächelt. Er hat gelächelt. Und mir fiel ein, dass wir in Schulzeiten sicher waren, dass Paul schwul wäre.
»Kein Typ, der so heiß ist wie er, wäre sonst noch Single. Bei den ganzen Tussis, die auf ihn stehen«, das hat zumindest meine Freundin Tina damals behauptet.
»Vielleicht interessiert ihn auch einfach keine von hier«, hat die alte Valerie geseufzt. Die, die naiv war und kein Selbstbewusstsein hatte.
Heute scheint Paul leider nicht da zu sein. Ich hätte lieber mit ihm gesprochen. Stattdessen folge ich dem anderen Polizisten in ein Zimmer, in dem wir vermutlich die Anzeige aufnehmen. Zumindest hoffe ich, dass wir heute noch dazu kommen werden, denn diese alten Computer haben sich das letzte Mal ständig aufgehängt. Sollte einer dieser Klötze also noch mal eine E-Mail für mich versenden müssen, würde ich dem Beamten vorschlagen, sie lieber persönlich vorbeizubringen. Diesen Gedanken behalte ich jedoch für mich.
»Sie möchten also Anzeige erstatten?« Der Polizist setzt sich auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch und blickt mich an.
»Ja.« Ich ziehe den Brief aus meiner Tasche. »Den hier habe ich gestern bekommen. Ich hielt ihn zunächst für gewöhnliche Fanpost.« In wenigen Worten erzähle ich ihm von meiner Social-Media-Tätigkeit. »Doch dann habe ich mich erschreckt.«
Der Polizist nimmt mir die Folie mit dem Brief aus der Hand und überfliegt die Zeilen. Es ist mir unangenehm, ihn dabei direkt anzusehen, deshalb streife ich mit dem Blick über die Bürowände.
Werbung für einen Vortrag nächsten Samstag. Eine Comic-Zeichnung, die vermutlich lustig sein soll, es aber kaum ist. (Einbrecher mit Pistole: »Kohle her«, Mann im Nachthemd: »Habe nur Gasheizung«.)
Der Polizist räuspert sich. »Und Sie sind sicher, dass der nicht von einem …« Er sucht nach den richtigen Worten. »… Freund von Ihnen ist?«
Kurz glaube ich, mich verhört zu haben. »Einem Freund?«
»Nun, Sie wissen schon … So was schreiben sich heute ja viele junge Menschen. Ich halte das nicht für unwahrscheinlich.«
Ich schüttele schnell den Kopf. »Ganz sicher nicht. Ich kenne niemanden, der mir so etwas schicken würde.«
Der Polizist lächelt. »Denken Sie mal nach. Vielleicht ein One-Night-Stand, eine Freundschaft plus … Das sind neumodische Verbindungen, die schnell mal fehlinterpretiert werden.«
»Fehlinterpretiert?«, wiederhole ich zunehmend fassungslos und spüre, wie ein Gefühl von Wut in mir hochkocht. Doch schnell zwinge ich mich zur Beherrschung. »Das können Sie doch nicht ernsthaft glauben.« Noch immer will mein Hirn nicht vollends begreifen, worauf dieser Beamte hinauswill.
»Es spielt keine Rolle, was ich glaube.« Ein Stirnrunzeln.
»Also werden Sie die Person finden, die mir das geschickt hat?«
Der Polizist seufzt. »Hören Sie mal, in dieser Nachricht steht weder eine Drohung noch irgendetwas, das darauf hindeutet, dass Sie Opfer einer Straftat werden.«
Genau in diesem Moment reißt hinter mir jemand die Tür auf, und ich schwöre, keine Sekunde länger hätte ich es alleine mit diesem Kerl in einem Raum ausgehalten.
Eine Frau im Alter meiner Mutter tritt ein. Sie ist ebenfalls Polizistin, wie ich anhand ihrer Uniform erkenne, und hält einen Ordner in der Hand. »Ich müsste einmal an meinen Computer«, sagt sie und presst sich an mir vorbei an den zweiten Schreibtisch, dem ich bisher noch keinerlei Beachtung geschenkt habe.
Vielleicht kann sie mir helfen? »Entschuldigung! Könnten Sie sich, also, wäre es möglich, dass Sie hierauf auch einen Blick werfen könnten?«, setze ich an, sodass die Polizistin den Kopf hebt und mir direkt in die Augen sieht.
»Was denn?« Nach wenigen Sekunden verändert sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Sie sind doch diese Influencerin, die sich meine Tochter immer ansieht.«
»Oh, das kann sein.« Es passiert mittlerweile fast überall, dass mich jemand erkennt. Anfangs ist es befremdlich gewesen, heute habe ich mich daran gewöhnt. »Bestellen Sie ihr gerne schöne Grüße.«
Die Polizistin ignoriert mich, sieht stattdessen ihren Kollegen an. »Seitdem sie all die Videos anschaut, gibt sie ihr Taschengeld auf einmal für Nagellack und das ganze Zeug aus. Kannst du dir das bei Klara vorstellen?«
Es ist, als wäre ich unsichtbar. Der Polizist grunzt und schiebt ihr den Brief über den Tisch zu. »Schau dir das mal an. Kam gestern per Post an die junge Dame.«
»Nun ja, eigentlich hat mein Manager diesen Brief bekommen«, korrigiere ich. »Meine Adresse findet man nicht so leicht heraus. Ich bin sehr vorsichtig bei so etwas.«
Immer wieder werden Geschichten von Influencern geteilt, denen Fans zu Hause auflauern. Mein persönlicher Albtraum. Es gibt nichts, was ich mehr brauche als meinen Rückzugsort. Einen Ort zum Atmen. Einfach ich sein, ohne zu liefern.
Die Polizistin überfliegt den Brief, sieht dann auf und schüttelt langsam den Kopf. »Und genau aus diesem Grund möchte ich nicht, dass meine Tochter so viele Bilder von sich ins Netz stellt. Ist ja kein Wunder, dass das dann solche Fantasien nur anstachelt.«
Ich starre die Frau an, brauche einen Augenblick, um zu verstehen, welche Bedeutung ihre Worte haben. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass das meine Schuld ist?«
Schnell schüttelt sie den Kopf. »Junge Dame, jetzt drehen Sie mir aber die Worte im Mund herum. Von Schuld hat hier niemand gesprochen. Aber als Person des öffentlichen Lebens muss man mit Verehrern rechnen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Und mal unter uns, Sie können mir nicht sagen, dass Ihre Beiträge nicht auch zu so etwas … nun ja, ich möchte es nicht auffordern nennen, aber zumindest etwas provozieren. Ich rate Ihnen dringend, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt, etwas vorsichtiger bei Postings zu sein.«
Eine dicke Faust hat sich in meinen Magen gegraben. Meine Stimme ist ruhig. Ich wahre die Fassung, obwohl ich am liebsten ausrasten würde. Aber das kann ich mir als Valerie Sophie Ehrmann nicht leisten.
»Am besten beobachten Sie das Ganze, sprechen mit Ihren männlichen Kollegen. Vielleicht stellt sich alles als Spaß heraus. Solange keine Drohung vorliegt, können wir jedenfalls nichts unternehmen.« Der Polizist zwingt sich zu einem höflichen Lächeln. »Und mal im Ernst: Vielleicht sieht er am Ende ja nicht einmal schlecht aus, hm?«
Abrupt stehe ich auf, reiße der Polizistin meinen Brief aus der Hand und mache auf dem Absatz kehrt. Das hier ist das Unverschämteste, was ich in den letzten Monaten erlebt habe, und übertrumpft selbst Tizians Verhalten.
Genau in dem Augenblick, in dem ich den Raum verlasse, klingelt mein Telefon, und sein Name erscheint auf dem Display.
Ich stöhne, klicke aber im selben Moment auf annehmen. Nichts ahnend, dass ich meinen Tag damit direkt noch einmal schlimmer mache.
Aller Anfang ist schwer
Find beauty in the little things!
Hoffentlich startet ihr – genau wie ich – motiviert in den Tag. Ich kann es kaum erwarten, heute mal wieder mein Team zu treffen. Vergesst nie, wie wichtig es ist, dass ihr einer Arbeit nachgeht, die euch vollends erfüllt.
Weil ihr das letzte Mal so häufig gefragt habt: Meine Hose und das wunderschöne cozy Oberteil sind von @xfitversion. Mit meinem Rabattcode »valerie10« könnt ihr wieder einmal etwas sparen ;)
Fühlt euch gedrückt!
Eure Valerie Sophie
#oufitoftheday #busylife #thankful #happy
»Hey, sieh mal einer an, dir gefällt es aber, dass ich anrufe«, spielt Tizian auf mein Stöhnen an.
»Man kann die Welt auch so sehen, wie man sie sehen will.«
»Reizend, Val. Absolut reizend. Ich habe das Video angeguckt, das du mir gestern geschickt hast.«
Video? Ich bin noch ganz durch den Wind von dem aufwühlenden Gespräch eben.
»Wir sollten dringend darüber sprechen. Rosa könnte deinem Ruf wirklich schaden.«
Ah! Dieses Video. Der Ärger wegen Rosa Neuer ist seit der Sache mit dem Brief fast schon untergegangen. Dabei sollte ich mir darum viel mehr Gedanken machen. Denn die Wahrheit ist: Rosa könnte meinem Ruf nicht nur schaden. Sie könnte aus mir eine Nachmacherin machen. Eine Verliererin. Jemanden, der es nötig hat, sich auf ihr Niveau herabzubegeben. Und komme, was wolle, das werde ich nicht zulassen.
»Hast du auch schon eine bahnbrechende Idee, wie wir das verhindern können?«
»Ich schlage vor, dass ich dein hübsches Köpfchen heute im Büro sehe. Was hältst du von fünfzehn Uhr? Die anderen werden da sein.« Es war so klar, dass er den Termin bereits geblockt hat, ohne vorher mit mir zu sprechen.
»Muss schauen, was sich machen lässt.« Heißt so viel wie: Ich werde da sein.
»Das Büro« beschreibt die Räumlichkeiten, die ich angemietet habe, um mit V-Line richtig durchzustarten. Zwölf verdammte Monate sind seitdem vergangen. Zwölf Monate, in denen ich es nicht geschafft habe, meinen kompletten Schreibtisch einzuräumen. Gäbe es meine Mitarbeiter nicht, hätte es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmal das goldene V-Line-Logo an die Wand geschafft. Seit ein paar Wochen hängt es über dem langen Tisch im Besprechungsraum und erinnert uns an die Vision, die ich einst zu V-Line gehabt habe.
Unser Team besteht seit Alex’ Ausscheiden aus noch knapp zwanzig Leuten, darunter außer meinem Fotografen und guten Freund Fred, Tizian und mir natürlich die Zuständigen für Marketing, Design und Vertrieb. Sie alle sind bereits versammelt, als ich mit Fred den Raum betrete.
Tizian ist der Einzige, der fehlt. Doch das ist nicht ungewöhnlich, denn er ist meistens unpünktlich. Zum Glück habe ich heute Bella nicht dabei. Sie würde allen durch die Beine wuseln und die Unruhe vergrößern. Ich lasse sie derzeit häufig bei meiner Nachbarin Charlotte, die weitestgehend im Homeoffice arbeitet.
»Wir müssen einen Plan B überlegen«, erklärt Fred und nimmt mich zur Seite. Er kippt eines der bodentiefen Fenster und hält die Nase in den Wind, als würde er hier sonst ersticken. Ich kann es ihm nicht verübeln. Zum einen ist es an Tagen, an denen niemand im Homeoffice sitzt, tatsächlich etwas eng. Zum anderen ist auch die Stimmung im Team erdrückend. Sie alle wissen, was Rosas Ankündigung für uns bedeutet. Und seien wir mal ehrlich, die Vorstellung, dass wir uns monatelang umsonst den Arsch aufgerissen haben, kann nicht einmal die alberne Grinsekatze weniger beschissen wirken lassen. Und trotzdem guckt mich dieses Gesicht auf dem Stand-by-Bild des Beamers genauso dämlich an wie sonst.
»Was hat Tizian bisher gesagt?«
»Noch nicht viel. Er ist ja auch noch nicht da. So typisch.« Ich fahre mit der Handinnenfläche über die lauwarme Heizung und werfe erneut einen Blick zur Tür.
»Wir könnten auch ohne ihn anfangen. So wie ich ihn kenne, wird er eh erst einmal einen Vortrag über Verschwiegenheit halten.«
»Womit er auch recht hat. Ich wüsste zu gerne, wer hier geplaudert hat«, raune ich, darauf bedacht, dass keiner meiner anderen Mitarbeiter etwas mitbekommt. Gerade scheint es mir allerdings sowieso, als sei der neue Kaffeevollautomat für sie weitaus wichtiger, als unsere Gespräche abzufangen.
»Glaubst du wirklich, es war jemand von uns?«
»Was ich glaube, tut nichts zur Sache. Fest steht, wenn wir einen Maulwurf in unserem Team haben, können wir zukünftige Projekte vergessen.«
Ich bin noch immer etwas aufgewühlt von dem Besuch bei der Polizei, versuche aber, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Auch wenn mich dieser Brief anekelt, ist es nun einmal nichts weiter als eine Spinnerei. Eine widerliche und perverse Fantasie, die am besten in meinem Papierkorb aufgehoben ist.
»Lasst uns schon mal beginnen«, leite ich unser Meeting ein und trete an den Versammlungstisch. »Ihr habt sicher alle die E-Mail gelesen, die Tizian heute Morgen verschickt hat.«
Ein Tuscheln geht durch den Raum.
»Das kann sie doch nicht ernsthaft wollen«, sagt Pia, eine junge Frau aus dem Marketing. Sie arbeitet erst seit zwei Monaten für V-Line. »Ich meine, jeder aus der Szene weiß doch, dass sie kaum eigene Ideen umsetzt.«
Fred nickt. »Mal ganz im Ernst, so befördert sie sich noch weiter ins Abseits.« Er spricht ebenfalls von Rosa. Die Information, dass sie all unsere Arbeit mit einem Mal zunichtemachen kann, liegt uns allen im Magen.
»Das ist jemandem wie Rosa egal«, werfe ich ein. »Sie weiß, dass sie unter den anderen Influencern verrufen ist. Aber ihre Fans sind, was sie angeht, vollkommen verblendet. Sie werden die Produkte kaufen und lieben, weil sie Rosa loyal zur Seite stehen. Und das ist alles, was unterm Strich zählt.«
Genau in diesem Moment taucht Tizian endlich im Türrahmen auf. Schwarze Jeans, weißes Hemd, diesmal ein beiges Jackett. Er hat die Teile wirklich in allen Farben.
»Sorry für die Verspätung. Ich hatte noch ein spontanes Telefonat. Gibt es schon etwas Neues?«
»Was soll sich geändert haben? Valeries neue Produkte wurden kopiert, und V-Line wird in einem miserablen Licht dastehen. Wir müssen den Launch abblasen«, schnauft Fred.
Tizian hebt seinen Blick. »Das ist der Entschluss, zu dem ihr gekommen seid?« Er lacht. »Das ist hoffentlich ein Scherz.«
»Ich glaube, niemand hier ist in der Stimmung, Witze zu reißen.«
»Aber wir können uns das doch nicht gefallen lassen.« – »Kann man nicht gegen Rosa klagen?« – »Das ist Diebstahl geistigen Eigentums!« Alle sprechen plötzlich wild durcheinander. Jeder möchte etwas dazu sagen, selbst unser neuer Praktikant, der George im Design zur Seite gestanden hat, sieht ziemlich fertig aus. Kein Wunder. Wir haben für diese neuen Produkte alles gegeben.
»Moment mal!«, sage ich laut. »Ich habe tatsächlich wenig Lust, Rosa das Geschäft zu überlassen, für das wir monatelang gearbeitet haben.«
»Streng genommen ist es nur ein Duschschaum. Vielleicht ist unserer viel besser«, überlegt Olivia aus dem Vertrieb. Ich schüttele knapp den Kopf. »Natürlich ist unser Duschschaum besser. Daran habe ich keinen Zweifel. Und trotzdem werde ich mir von Rosa nicht den großen Release zerstören und mich in den Schatten stellen lassen. Rosa veröffentlicht ihre Produkte Anfang Dezember. Wir haben jetzt Ende September. Wenn wir uns beeilen, können wir im November auf den Markt gehen. Mit einem Riesenknall, ohne große Vorankündigung. Rosa wird aus allen Wolken fallen, und wieder einmal wird den Leuten da draußen klar sein, dass sie keine eigenen Ideen hat. Und jeder weiß, V-Line produziert hochwertig. Wir werden uns abheben. Wenn Rosa immer noch vorhat, ihre Produkte nachzuschieben, haben sie keine Chance gegen unsere.«
Für einen kurzen Moment herrscht Schweigen, bis plötzlich alle über mich herfallen. »Valerie, wie stellst du dir das vor?«
»Das sind keine sechs Wochen mehr!«
»Wir schaffen das nicht!«
Ich verdrehe innerlich die Augen, lasse meinen Blick über den Tisch wandern. Einzig und allein Tizian sieht zuversichtlich aus. Ein langsames Nicken seinerseits bestätigt diese Vermutung.
»Ich finde, Valerie hat recht. Wir sollten uns unsere Arbeit auf keinen Fall kaputt machen lassen. Entweder die Produkte erscheinen im November oder gar nicht. Ach, was rede ich da. Sie erscheinen definitiv im November. Wenn irgendjemand Zweifel hat, dass wir das schaffen, möge er seine Sachen packen und aufgeben. Wir brauchen hier sowieso niemanden, der nicht bereit ist, alles für unseren größtmöglichen Erfolg zu tun. Alle anderen werden ab sofort im doppelten Tempo arbeiten. Kommt schon, Leute. Es wird sich lohnen. Denkt an den Weihnachtsbonus!«
Ausnahmsweise bin ich Tizians Meinung. Wir können uns Frust und Zweifel einfach nicht erlauben.
»Die Produktfotos wollten wir sowieso zeitnah machen. Dafür brauche ich dich, Fred«, sage ich. »Das Team vom Vertrieb kümmert sich am besten schon einmal um die Läden. Wollt ihr in den Drogeriemärkten anfragen, ob sie die Ware früher in den Regalen platzieren können?« Ich warte keine Antwort ab. »Und was ist mit der Produktion? Wann können wir loslegen?«
»Hoffentlich bald. Wir warten noch auf die letzten Testergebnisse«, wirft Felix ein.
Tizian verspricht, bei der Firma nachzufragen, die für die Qualitätsprüfung verantwortlich ist. Wir verbleiben mit dem Versprechen, jeweils unser Bestes zu geben, damit alles nach unserem neuen Plan läuft. Und obwohl mir das Team bisher noch mehr als skeptisch erscheint, bin ich auf einmal felsenfest davon überzeugt, dass es klappen kann.
Beim Hinausgehen spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. »Wenn du hier wartest, hole ich eben die Post für dich aus dem Auto.« Es ist Tizian.
»Post?«, frage ich erstaunt. »Ich habe sie doch erst gestern mitgenommen.«
Tizian grinst. »Du hast treue Fans. Es ist aber nur ein kleines Paket.«
Ein Gefühl von Unbehagen breitet sich in meiner Brust aus. Dabei gibt es eigentlich keinen Grund, besorgt zu sein. Ich bekomme regelmäßig Post. Die letzten Jahre ist es zwar tendenziell weniger geworden, weil die meisten Fans ihre Nachrichten über Instagram statt analog verschicken, aber dennoch ist ein einfaches Päckchen nichts, was mich in Sorge versetzen sollte.
»Okay«, sage ich also, verschränke die Arme vor der Brust und beobachte, wie Tizian über die Straße zu seinem Wagen eilt.
»Einen Moment noch. Ich muss schauen, wo ich es verstaut habe«, ruft er und verschwindet mit dem Oberkörper auf dem Rücksitz. Es ist ganz schön frisch draußen geworden. Ich fröstle. Kurz überlege ich, das Paket einfach das nächste Mal mitzunehmen und stattdessen direkt nach Hause zu fahren. Wer weiß, ob Tizian es noch findet. Er tut ja gerade so, als sei der schmale Sportwagen ein Bus mit tausend Nischen.
»Hast du es gefunden?«, frage ich, doch meine Stimme wird von dem Aufbrummen eines Motorrades verschluckt, das wenige Sekunden später über die Straße rast.
»Ich habe es!« Tizian klemmt sich das kleine Paket unter den Arm und läuft, ohne nach rechts und links zu sehen, wieder zurück zu mir auf die andere Straßenseite.
»Willst du nicht mal aufpassen?«, warne ich. »Hier sind überall Autos!«
»Machst du dir etwa Sorgen um mich?« Er grinst. Dabei finde ich die Situation überhaupt nicht lustig. Es muss an der Anspannung liegen, die sich seit gestern noch stärker als sonst durch meine Muskeln frisst.
»Höchstens um mein Paket«, erwidere ich und strecke die Hände danach aus. Ich nehme das Päckchen entgegen und ertappe mich in einem kurzen Moment der Erleichterung. Ein Absender. Eine stinknormale Adresse. Ich vermute hinter dem Frauennamen einen Fan. Siehst du, Valerie, du machst dich ganz umsonst verrückt.
Ich setze mein kühles Lächeln auf, das ich in den letzten Jahren perfektioniert habe. »War’s das dann?«
»Hey, ein wenig mehr Dankbarkeit wäre angebracht. Und gewöhn dir doch mal dieses Stirnrunzeln ab! Sonst hast du mit dreißig mehr Falten als meine Großmutter.« Durch das eine Ohr rein. Durch das andere wieder raus.
»Hab einen wunderschönen Tag, Val.«
Du nicht. Arschloch.
Ich hole Bella noch bei Charlotte ab, bevor ich mit dem Aufzug in meine eigene Wohnung fahre. Lotte wohnt eine Etage unter mir. Sie ist Informatikerin. Seit einiger Zeit arbeitet sie von zu Hause aus. Auch wenn ich mich persönlich mit Computersystemen alles andere als auskenne, finde ich es faszinierend, wie sie es schafft, mit den vielen Zahlen und Buchstaben etwas anzufangen.
Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist der einzige Mensch außerhalb meiner eigenen Bubble, mit dem ich mich über albernen Small Talk hinaus unterhalten kann. Vielleicht ist sie deshalb auch einer der wenigen Menschen, die ich aufrichtig mag.
»Diese Dackeldame ist die beste Mitarbeiterin der Welt.« Lottes hellbraune Locken kräuseln sich auf ihren Schultern und sehen toll zu dem beigefarbenen Strickkleid aus, das sie heute trägt. Sie grinst, als Bella bei meinem Anblick erfreut mit dem Schwanz wedelt und über das Parkett zu mir schlittert.
»Hey, vorsichtig!«, rufe ich, gehe in die Knie und öffne die Arme, um meinen kleinen Dackel zu begrüßen. Jedes Mal tut Bella so, als hätten wir uns ein ganzes Jahr nicht gesehen.
»Danke fürs Aufpassen! Ich schulde dir alles!«, sage ich zu Charlotte und bleibe noch einen Moment im Flur stehen. »Wie geht’s dir?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Mal so, mal so. Ich bin froh, wenn Bella mir ein wenig Gesellschaft leistet.«
»Jederzeit gerne. Ich bin ja selbst dankbar für deine Unterstützung.«
Mit einem Lächeln verabschiede ich mich. In meiner Wohnung angekommen, möchte ich mich zuallererst abschminken. Kurz überlege ich, die Heizung einzuschalten, weil es frisch geworden ist. Ein kalter Luftzug bereitet mir eine Gänsehaut. Aber dann entscheide ich mich dagegen. Es ist September. Da sollte eine Decke reichen.
Bella flitzt voraus die Treppe hinunter und wartet im Wohnzimmer auf mich. »Na, Schönheit. Hast du Interesse an einem Mädelsabend?« Ich wuschle meiner Dackeldame über den Kopf, als ich mich in Jogginghose und mit hochgebundenen Haaren zu ihr setze.
Bella hebt den Kopf, was ich eindeutig als Ja interpretiere.
Ich schalte den Fernseher ein und warte, bis Netflix lädt.
»Bin gleich wieder da, ich hole nur noch etwas zu trinken.« Ich stehe noch einmal auf, um mir einen Tee zu kochen, als es mir erneut auffällt: ein Luftzug. Habe ich oben im Bad das Fenster geöffnet? Daran kann ich mich eigentlich nicht erinnern. Ich bin sehr vorsichtig, was das Thema Sicherheit angeht. Erst vor drei Monaten haben irgendwelche Halbstarken die Adresse eines Streamers herausgefunden und sind abends scheinbar über den Nachbarbalkon in dessen Penthouse-Wohnung gelangt. Mag halb so wild klingen, wenn man vergisst zu erwähnen, dass die Kerle ein Messer dabeihatten und zu fünft kamen. Wegen zweier verdammter Rolex.
»Bleib!«, befehle ich Bella und laufe zügig die Treppe wieder hinauf. Zuerst überprüfe ich das Badezimmer, doch weder dort noch im Schlafzimmer ist ein Fenster offen. Außerdem kam es mir draußen nicht windig genug vor, als dass die Luft bis ins Wohnzimmer ziehen würde.
Langsam steige ich die Stufen wieder hinunter und spüre erneut eine kalte Brise. Rechts von der Treppe gibt es eine schräge Fensterfront, die ich nur selten öffne. Wozu auch? Gleich daneben führt eine Tür direkt auf meine Dachterrasse. Von der linken Seite kann die Kälte allerdings auch nicht kommen, denn dort befinden sich nur der Flur und ein Stück Wand.
Ich klammere mich vorsichtig ans Geländer und nehme die letzten Stufen, als ich bemerke, dass das oberste Fenster der Front undicht ist. Kleine Regenperlen haben sich am Rahmen angesammelt und tropfen mir geradewegs auf meinen schicken Holzboden. Vorsichtshalber lege ich ein großes Handtuch darunter und beschließe, gleich morgen dem Vermieter Bescheid zu geben. Ich kann nur hoffen, dass sich endlich jemand um die Schäden in meiner Wohnung kümmert, denn langsam summieren sie sich. Und so was nennt sich dann Luxuswohnung. Schon seit sechs Wochen warte ich darauf, dass jemand mein zu lockeres Dachterrassengeländer repariert. Lotte hat es neulich »das selbstmörderische Todesgerüst« getauft. Etwas makaber, aber gar nicht mal weit hergeholt.
»Alles gut«, sage ich zu Bella und drehe das Wasser auf. »Nur ein undichtes Fenster, kein Grund zur Beunruhigung.« Die Kälte hat allerdings dafür gesorgt, dass ich mich statt nach Netflix eher nach einem Bad sehne. Als ich vor einem guten halben Jahr hier in die Penthouse-Wohnung eines Kölner Neubaus eingezogen bin, habe ich mir eigentlich vorgenommen, öfter zu baden. »Graue Fliesen, eine frei stehende Badewanne, zwei große Fenster, die zwar eine Sicht nach draußen ermöglichen, jedoch von außen verspiegelt sind. So haben Sie genug Privatsphäre.« Irgendwie so hatte der Makler das Badezimmer beschrieben und die entsprechenden Fotos bereitgestellt. »Ein romantischer Platz für Zweisamkeit oder eine Auszeit vom Alltag«, nannte er es später bei der Besichtigung. Vielleicht wäre das etwas, das man in dem frühen Stadium einer Beziehung machen sollte. Samstagmorgens ein gemeinsames Bad, bei dem man sich gegenseitig die Erdbeeren in den Mund schiebt und das süße Aroma mit einem Kuss teilt.
In der Realität würde man sich jedoch eher um die Temperatur des Badewassers streiten. So wäre es zumindest zwischen Alex und mir gewesen. Selbst in der Zeit, als wir noch ein glückliches Pärchen waren. Ein Pärchen, das von allen geliebt und beneidet wurde. Eines, bei dem sich niemand vorstellen konnte, dass die schöne Glücksblase eines Tages platzt. Peng.
Ein Dreivierteljahr ist das her. Ein Dreivierteljahr, in dem mein Sexleben mehr restriktiv als leidenschaftlich und mein Herz unberührt und kühl wurde. Doch zumindest Ersteres ist nichts, was Frau nicht auf ihre Art lösen könnte. Die Sache mit der Liebe wiederum scheint für mich abgehakt und geklärt.
Langsam lasse ich mich in die frei stehende Wanne sinken, schließe die Augen und genieße das Gefühl der wohltuenden Wärme, die auf meiner Haut prickelt. Was für ein Tag! Nach wenigen Minuten kann ich die Ruhe allerdings schon nicht mehr aushalten, taste nach meinem Smartphone, das auf dem Handtuch neben der Badewanne liegt, um meine Benachrichtigungen zu überprüfen. Sofort springt mir eine ins Auge:
Liebe Valerie,
nach langem Überlegen habe ich mich jetzt endlich dazu entschlossen, dir diese Nachricht zu schreiben. Obwohl wir uns nur ein einziges Mal – sehr kurz – auf einer Messe begegnet sind, hast du so viel in meinem Leben verändert. Ich muss es dich einfach wissen lassen. Vor sechs Monaten habe ich es endlich geschafft, mich von meinem Mann zu trennen. Dass ich diesen Schritt gegangen bin und damit mein jahrelanges Elend beenden konnte, habe ich nur dir zu verdanken. Deine Real-Talk-Videos und die Tipps für mehr Selbstbewusstsein haben mir die Augen geöffnet und gezeigt, dass ich der wichtigste Mensch in meinem Leben bin. Bitte mach weiter so! Du bist mein Vorbild!
Deine Susanna
Ich atme tief durch und antworte ihr, wie viel mir diese Worte bedeuten und wie stolz sie auf sich sein kann.
Mit der rechten Hand stütze ich mich an der Marmorwand ab und erhebe mich, während ich mit der anderen Hand mein iPhone festhalte. 20:40 Uhr. Wahrscheinlich habe ich keine fünf Minuten in der Wanne gelegen. Aber das spielt keine Rolle. Ich könnte. Ich dürfte den ganzen Tag darin liegen, denn es gibt niemanden, der über mein Leben bestimmt. Außer mir. Und rund drei Millionen Follower, die keine Ahnung haben, wer Valerie Sophie wirklich ist.
Mit der Tür ins Haus fallen
Die neuen Aufnahmen mit Herbstlaub im Hintergrund verändern das Farbschema in meinem Feed. Die Bilder wirken dunkler, kontrastreicher. Statt der Pastelltöne, die ich im Sommer benutzt habe, leuchten die Fotos jetzt in einem Orange, sodass es mich einige Filter kosten wird, um den Übergang halbwegs passabel zu gestalten.
»Also? Was sagst du?« Freds Frage lässt mich zusammenzucken. Ich habe ihn auf Freisprecher gestellt und bin beim Scrollen so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mehr an ihn gedacht habe.
»Sie sind wirklich toll.« Zu einer weiteren Aussage komme ich nicht, denn Fred sprudelt nur so über. Ich rutsche von meinem Sofa, lasse das Telefon auf laut und tigere nervös durchs Wohnzimmer.
»Für den Winter habe ich auch schon einige Fotoideen gespeichert, die wir umsetzen können, sobald die erste Weihnachtsdekoration hängt. Wir besuchen dafür den Weihnachtsmarkt. Am besten machen wir das alles auch etwas davon abhängig, ob es dieses Jahr schneit.«
»Wird es nicht«, werfe ich ein.
»Wer weiß? Auf den Fotos würde das super aussehen.«
»Wir hatten seit Jahren keine weißen Weihnachten mehr. Was ich gar nicht schade finde. Es ist jetzt schon viel zu kalt.« Wobei … extreme Wetterumstürze erfordern im besten Fall auch extreme Shoppinghauls, und an ein neues Paar Louis-Vuitton-Stiefel könnte mein Schuhschrank sich bestimmt gewöhnen. Ach, machen wir uns nichts vor … am Ende werde ich sie mir sowieso kaufen. Schnee hin oder her.
»Ansonsten habe ich schon einige Lichterketten für den Hintergrund bestellt, mit denen kann man auch immer was zaubern.«
Es ist mittlerweile Anfang Oktober. Erst Anfang Oktober, könnte man meinen, doch Fred ist genauso ein Strukturjunkie wie ich. Vielleicht passen wir deshalb beruflich so gut zusammen.
Ich mag es, gut auf die kommenden Wochen vorbereitet zu sein, zu wissen, wann ich welchen Post veröffentliche, und dafür jede Bildunterschrift im Vorfeld zurechtgelegt zu haben.
Es ist eine der wichtigsten Regeln auf Social Media: Tauchst du ab, bist du nach wenigen Wochen irrelevant. Willst du eine Rolle spielen, dann zeige dich. Am besten authentisch, aber trotzdem professionell. Bodenständig, aber dennoch auf eine Art und Weise, für die man zu dir aufsieht. Sei positiv, aber mit dem gewissen Etwas an Ernsthaftigkeit, sonst kauft man es dir nicht ab. Und vor allem: Zeige, wie viel Spaß es dir bereitet, rein zufällig zu jedem Zeitpunkt des Tages inspiriert, dankbar, achtsam und motiviert zu sein.
»Was ist dein Favorit?« Ich klicke mich noch einmal durch die Ergebnisse von gestern.
Fred hat mich zwischen lauter Kürbissen fotografiert. Auf dem Bild, das ich gerade betrachte, trage ich meinen kurzen grünen Cordrock und ein lässiges Holzfällerhemd in Oversize.
Für das nächste Bild, das ich anklicke, haben wir länger gebraucht. In einer lockeren Jeans und einem schicken Trenchcoat stehe ich mitten auf einer unbefahrenen Straße an einer Staffelei und deute an, die große Linde zu zeichnen, die gerade ihre Blätter verliert.
»Hm, schätze, wir haben den gleichen.«
»Ich habe dir meinen doch noch gar nicht verraten«, stelle ich verwundert fest.
»Das musst du auch nicht. Val, ich arbeite seit drei Jahren für dich. Ich kenne deine Mimik wahrscheinlich besser als jeder Experte.«
Ein Lächeln schleicht sich in meine Mundwinkel. »Drei Jahre … Wie habe ich das vorher nur ohne dich geschafft? Ich weiß nicht mal jetzt, wo mir der Kopf steht.«
»Hoffentlich bei deinen neuen Produkten. Das wird der absolute Renner.«
»Wenn die Zahlen in den nächsten Wochen nicht wieder abschmieren.« Ich rede ungern über dieses Thema. Doch es wäre nicht fair, Fred etwas vorzuspielen. Mit den Schwankungen auf meinem Account lebe nicht nur ich in einem ständigen Risiko des freien Falls. Als mein persönlicher Fotograf wird Fred nicht schlecht bezahlt. Im Umkehrschluss heißt das aber eben auch, dass wir liefern müssen.
»Rede dir so etwas nicht ein! Menschen, die sich wie du ihre Existenz komplett selbst aufgebaut haben, schaffen es im Leben immer wieder. Die kann man nicht kurz umstoßen und sicher sein, dass man sie los ist. So einfach ist das nicht.«
»Ich hoffe, du hast recht.«
»Und wie ich das habe. Weißt du auch, warum? Wenn du dich selbst hoch an die Spitze gekämpft hast, weißt du, wie es geht. Du kennst die Route, den Fahrplan, das Rezept zum Erfolg. Das ist mehr wert als alles andere auf der Welt.«
»Hast du das von Pinterest?« Obwohl ich weiß, dass es stimmt, was er sagt, fällt mir diese Art von Zuversicht aktuell alles andere als leicht. Wenn Alex meinen Platz an der Spitze ins Kippeln gebracht hat, könnte Rosa Neuer mit ihren intriganten Plänen die Stecknadel in meiner Rettungsweste sein.
»Wie dem auch sei, wenn du unser Shooting die nächsten Tage wiederholen möchtest, melde dich. Du weißt ja, wie du mich erreichst. Für dich hat mein Tag fünfundzwanzig Stunden. Mindestens.« Es ist Freds Art von Humor. Er hat auch schon behauptet, mich im nächsten Leben heiraten zu wollen, damit er wenigstens mal eine Frau an der Seite hat, die er regelmäßig sieht.
»So gerne ich das erwidern möchte: Meiner scheint aktuell nicht mal mehr die Hälfte zu haben.« Ich gebe mir Mühe, amüsiert zu klingen.
»Tief durchatmen und nur an den Aufstieg denken. An die Spitze, die du dir mehr als verdient hast.«
»Aye, aye, Sir. Ich melde mich bei dir.« Mit diesen Worten beenden wir das Telefonat. Fred ist das, was die Menschen da draußen als Karma bezeichnen würden. Karma im guten Sinne. Er ist der Versuch einer ausgleichenden Gerechtigkeit für all das, was in meinem Leben so richtig schiefgegangen ist.
Er ist ein Schatz, der es immer und überall gut mit mir meint. Davon gibt es nicht viele auf der Welt. Schon gar nicht in meiner eigenen. Als ich das iPhone in die Gesäßtasche schiebe, ertappe ich mich dennoch bei einem erleichterten Atemzug, der meine Lungen mit unbezahlbarer Ruhe versorgt. Oder zumindest einem Hauch davon. Denn ich weiß zu gut, dass meine Prioritäten gerade ganz woanders stehen.
Wie zur Bestätigung spüre ich in diesem Moment bereits wieder eine Vibration durch meine Hose. Solange die neuen Produkte für V-Line nicht in den Regalen stehen, werde ich kaum zur Ruhe kommen. In jeder freien Minute beantworte ich eintrudelnde Mails, viel zu häufig ertappe ich mich allerdings auch dabei, meinen Namen in die Promiflash-Suchzeile einzugeben. In der ersten Zeit nach der Trennung von Alex gab es Tage, an denen ich froh war, meinen Namen nicht auf der Startseite zu sehen. Jetzt kann ich die Reaktionen, sobald die neuen Produkte angekündigt werden, kaum erwarten.
Auch in den nächsten Tagen bin ich ständig damit beschäftigt, Telefonate zu führen. Wir klären ab, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um sechs Wochen früher in den Läden zu erscheinen, ich überprüfe, ob alle ihre Aufgaben erfüllen, und lasse mir von Tizian zusätzlich noch zwei Termine für zukünftige Kooperationen geben.
Ich produziere zwei Videos und schaffe es sogar tatsächlich, mich an einem Vormittag mit Linnea in der Stadt zu treffen. Wir machen ein paar Geschäfte unsicher, Linnea überredet mich, einen sündhaft teuren Blazer zu kaufen, den ich wahrscheinlich in nächster Zeit sowieso nicht tragen werde.
»Diese hellen Töne machen dich blass, Val. Warte lieber auf den Sommer«, hat Fred erst am Wochenende im Stadtpark gesagt. »Oder versuch es mit Selbstbräuner. Aber das kann schnell nach hinten losgehen.« Wir haben noch weitere Herbstbilder geschossen. Das letzte in meinem Feed kam gut an. Lauter rote Herzen blinken auf meinem Bildschirm auf, sobald ich langsam durch die Kommentare scrolle. Es ist ein beinahe berauschendes Gefühl, von dem ich nicht genug bekommen kann.
So wundert es mich nicht, dass ich an einem Dienstagabend müde und verschlafen vor meinem Computer sitze und den Kaffeeduft, den die Tasse neben mir verströmt, wie Sauerstoff inhaliere. Ich werde die halbe Nacht kein Auge zubekommen.
Aus irgendeinem Grund fällt mir die E-Mail als Erstes ins Auge, als ich mein Postfach öffne. Vielleicht ist es der Betreff »Miss World«, vielleicht die nichtssagende E-Mail-Adresse des Absenders: »[email protected]«. Möglicherweise ist es auch einfach das flaue Gefühl, das sich in meinem Magen ausbreitet, als die Computermaus über den Bildschirm fährt.
Öffne sie nicht! Lass sie einfach zu.
Du könntest noch einmal zur Polizei gehen, sagt eine Stimme in mir.
Und was werden sie tun? Dich auslachen? Dich nicht ernst nehmen? Valerie, es ist nur eine E-Mail. Du hast sie nicht einmal gelesen. Die zweite Stimme in meinem Kopf ist viel lauter, dominanter. Es ist die, die mich mein ganzes Leben schon antreibt und mich zu der Valerie gemacht hat, die ich heute bin: eigenständig. Unabhängig. Frei.
Ich halte den Atem an, während ich die Mail anklicke, spüre, wie mein Puls in die Höhe schießt und sich mein Hals zusammenzieht. Es ist, als wolle mich jemand mit bloßen Händen erwürgen.
Hi Valerie,