Intelligenzentwicklung und Intelligenzmessung - Reinhild Sporleder-Kirchner - E-Book

Intelligenzentwicklung und Intelligenzmessung E-Book

Reinhild Sporleder-Kirchner

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Beschreibung

Freud forderte eine gewisse Intelligenz für die Durchführung einer Psychoanalyse. Wie viel Intelligenz braucht Psychotherapie, bei der es doch im Wesentlichen um Gefühle geht? Intelligenz zeigt sich im Gebrauch der Sprache und in der Beziehung, daher wird nicht nur in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen ein Minimum an Sprachverständnis vorausgesetzt. Die psychische Struktur bildet sich mit Hilfe von Intelligenzfunktionen, der Symbolisierung, der Sprache, der Organisation, Regulation und Integration. Korrekturen emotionaler Fehlentwicklungen werden durch Fühlen, Denken und Handeln in neuen Beziehungserfahrungen angestoßen und benötigen intelligente Funktionen, um wirksam zu werden.

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Die Autorin

 

Reinhild Sporleder-Kirchner, Ausbildung zur Steuerfachgehilfin, Studium der Betriebswirtschaft (FH), anschließend längere berufliche Tätigkeit als Anwendungsprogrammiererin und -beraterin im IT-Bereich. Studium der Psychologie mit einer abschließenden Diplomarbeit bei Dr. Sabina Pauen im Bereich der Säuglings- und Entwicklungsforschung mit einem Thema zur frühkindlichen Unterscheidung von belebten von unbelebten Objekten. Mitarbeit in der Instituts- und Ausbildungsambulanz am Psychoanalytischen Institut Stuttgart e. V. mit dem Schwerpunkt Testdiagnostik und gleichzeitige Ausbildung zur analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Niedergelassen in eigener Praxis. Dozentin am Psychoanalytischen Institut Stuttgart e. V.

Reinhild Sporleder-Kirchner

Intelligenzentwicklung und Intelligenzmessung

Ihre Bedeutung in psychodynamischen Therapien mit Kindern und Jugendlichen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032321-6

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032322-3

epub:   ISBN 978-3-17-032323-0

mobi:   ISBN 978-3-17-032324-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

Vorwort

1 Einleitung

2 Dummheit und Intelligenz – eine Einführung

2.1 Was macht dumm? Was macht schlau?

2.2 Intelligenz und psychodynamische Denkprozesse

2.3 Kognitive Prozesse und Symbolisierung

2.4 Sprache, Sprachverständnis und Veränderungsfähigkeit

3 Was verstehen wir unter Intelligenz?

3.1 Intelligenz – eine allgemeine geistige und soziale Fähigkeit

3.2 Unterschiedliche Arten von Intelligenz

3.3 Besondere Begabungen

3.4 Hirnforschung und Psychoanalyse

3.5 Denken und Handeln

3.6 Intelligenz, ein dynamischer Lernprozess

4 Intelligenzmessung

4.1 Theoretische Grundlagen der Intelligenzmessung

4.1.1 Grundintelligenz – der g-Faktor

4.1.2 Fluide und kristalline Intelligenz

4.2 Allgemeine Intelligenztests

4.2.1 Wechsler Intelligence Scale for Children – Fifth Edition (WISC-V), Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – Third Edition (WPPSI-III) und Wechsler Adult Intelligence Scale – Fourth Edition (WAIS-IV)

4.2.2 Kaufman – Assessment Battery for Children – Second Edition (KABC-II)

4.2.3 Adaptives Intelligenz Diagnostikum 3 (AID 3) 6;0 bis 15;11 Jahre;Monate

4.3 Sprachfreie Intelligenztests

4.3.1 Raven Standard Progressive Matrices SPM

4.3.2 Culture Fair Intelligence Test – Grundintelligenztest CFT

4.3.3 Snijders-Oomen Nonverbaler Intelligenztest SON-R

4.4 Intelligenzschätzung

4.4.1 Eignungs- und Leistungstests basierend auf Intelligenztheorien

4.4.2 Rorschach – eine besondere Herangehensweise

4.4.3 Mann-Zeichen-Test (MZT) von Ziler

5 Die Anfänge der Intelligenzentwicklung

5.1 Anlage, Reifung, Umwelt und Beziehungsprozesse

5.2 Grundlagen der Intelligenz entwickeln sich im Mutterleib

5.3 Angeborene Kompetenzen und erste Aktivitäten

5.4 Autonomie, Affekte, Motivation und Selbstregulation

5.5 Beziehung und Intelligenz

6 Psychodynamik und Intelligenzentwicklung

6.1 Strukturbildung und Intelligenzentwicklung

6.2 Bedingungen zur Förderung von Intelligenzentwicklung

6.3 Intelligenz braucht Symbolisierung

6.4 Intelligenz, ein ständiger Anpassungsprozess

6.5 Rolle der Intelligenz bei Krisen und Konflikten

6.6 Normalität, Regelhaftigkeit, Phasen

7 Psychotherapie und Intelligenz

7.1 Intelligenz in der psychotherapeutischen Beziehung

7.2 Intelligenz als Voraussetzung für Psychotherapie

7.3 Sprachverständnis ist notwendig

7.4 Intelligenzalter des Patienten

7.5 Psychische Erkrankungen und Intelligenz

7.6 Veränderungsfähigkeit und Beziehungsintelligenz

7.7 Spielräume und Sicherheit

8 Abschließende Bemerkungen

8.1 Zur Intelligenz der Psychotherapeuten

8.2 Kann Intelligenz vor psychischer Erkrankung schützen?

8.3 Förderung von Intelligenz

8.4 Auswirkungen der Digitalisierung auf Intelligenzentwicklung

Literatur

Testverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

 

Intelligenz umschreibt als Oberbegriff alle psychischen Anpassungsfähigkeiten und spielt bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen eine große Rolle. Eine psychotherapeutische Beziehung erfordert daher eine gewisse Intelligenz vom Patienten und auch vom Therapeuten. Ein grundlegendes Sprachverständnis als wichtige intelligente Fähigkeit ist Voraussetzung für die sogenannte »sprechende« Medizin oder die »Redekur«, wie Freud die Psychoanalyse bezeichnete.

Der Begriff Intelligenz wird in der psychoanalytischen Literatur eher selten oder nur am Rande erwähnt, das verwundert, da die kognitiveIntelligenz als ein notwendiger und wichtiger Bestandteil innerhalb der Strukturentwicklung und der Ich-Funktionen benannt wird (Rudolf, 2004, S. 66). Obwohl bei nahezu allen psychischen Anpassungsleistungen integrative, das heißt intelligente dynamische Prozesse ablaufen, werden die Zusammenhänge zwischen kognitiver Intelligenzentwicklung und psychischer Strukturentwicklung selten genauer beleuchtet. Intelligentes Denken wird häufig vom Unbewussten und von Gefühlen beeinflusst und zeigt sich auch in der Psychodynamik als Abwehrmechanismus oder Widerstand.

Intelligente Fähigkeiten entstehen in der Auseinandersetzung mit der Realität, besonders in der frühen Zeit innerhalb von Beziehungen. Intelligenz betrifft die Selbststeuerung und die Regulation der Verbindungen von Denken und Handeln, Vernunft und Affekten, AutonomieundBindung, Lust und Unlust. Intelligenz erweist sich damit als notwendige Voraussetzung für psychische Entwicklung. Da mit einer psychischen Erkrankung häufig Einschränkungen der Intelligenz einhergehen, brauchen wir Psychotherapeuten ein grundlegendes Wissen über die Einflüsse auf die Entwicklung und Veränderung von Intelligenz und ihre Wirkung auf die Entstehung von Anpassungsstörungen und anderen psychischen Erkrankungen. Der Patient kann dann seine Intelligenz nicht mehr einsetzen, ist blockiert in seinem Denken und Fühlen. In solchen Fällen kann er pseudodebil wie im »Fall Dominique« (Dolto, 1973) regredieren. Oder seine neurotische Anpassung zwingt ihn zu einer pseudoprogressiven Lösung, wie im »Drama des begabten Kindes« beschrieben (Miller, 1981).

Praktisch und psychisch relevant wird Intelligenz in der Verarbeitung der wahrgenommenen Realität, indem sie hilft, alte und neue Erlebnisse zu erkennen, zu differenzieren, zu organisieren und in bereits bestehende geistige Verbindungen zu integrieren. Intelligenz beschreibt zum einen innere Verarbeitungsprozesse, welche zu rational begründeten und emotional beeinflussten Entscheidungen führen und sich in Ergebnissen zeigen, und zum anderen wirken intelligente Selbstregulationsprozesse entscheidend mit bei der Integration von Affekten und damit bei der Entwicklung und dem Aufbau der inneren psychischen Struktur. Die sich bildende Intelligenz wird bestimmt von den angeborenen Intelligenzfähigkeiten, vom erlebten Austausch in einer Beziehung, der Verarbeitung von Wahrnehmungen und der Art und Weise des Aufbaus der inneren Verknüpfungen mit emotionalen Erfahrungen. Gleichzeitig wird die Auswahl der Reaktionen auf die Umwelt und die Entscheidung für eine emotional sichere oder für eine neurotische Abwehr wesentlich mitbeeinflusst vom Entwicklungsstand der psychischen Struktur, der Ausprägung und der bisherigen Entwicklung der intelligenten Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Häufig wird unter Intelligenz lediglich das Ergebnis eines Intelligenztests, der Intelligenzquotient (IQ), verstanden. Ein IQ gibt einen gemessenen Wert aus einer Reihe kognitiver Aufgaben an und bestätigt die Fähigkeit, diese Denkaufgaben lösen zu können. Das Ergebnis eines Intelligenztests macht eine Aussage zur Fähigkeit kognitiver Verarbeitung und ermöglicht einen Vergleich mit der Schul- oder Altersgruppe. Beim Vorhandensein einer durchschnittlichen Intelligenz kann von einem »gewisse(n) Niveau von Intelligenz« ausgegangen werden, wie es schon Freud in »Zur Psychotherapie der Hysterie« (1975b, S. 59) als Voraussetzung für die Durchführung einer psychoanalytischen Kur empfahl. Jedoch auch bei verminderter Intelligenz kann unter der Voraussetzung des Vorhandenseins eines Sprachverständnisses eine Psychotherapie zur Bearbeitung emotionaler Störungen durchgeführt werden.

Während meiner jahrelangen testdiagnostischen Tätigkeit in einer psychoanalytischen Institutsambulanz für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene wurde bei der Erstellung einer psychodynamischen Psychodiagnostik meist nur bei Lernstörungen eine Intelligenzmessung durchgeführt. Aufmerksamkeit bekommt Intelligenzdiagnostik in der Regel bei extremer Abweichung von der Normalität, bei der Vermutung vonHochbegabungoder Minderbegabung. Wenn schulische Lern- und Leistungsprobleme nicht durch den Wert des Intelligenzquotienten zu erklären sind, wird ein Blick auf die Intelligenzentwicklung, die Ich-Struktur und die Psychodynamik der Beziehungsentwicklung erforderlich. Ebenso sollte verfahren werden, wenn gravierende psychische Anpassungsstörungen, wie zum Beispiel soziale Probleme, bei niedrigem oder hohem IQ auftreten. In beiden Fällen kann die Intelligenzmessung einen Hinweis auf Widersprüche zwischen den intellektuellen und den affektiven Verarbeitungsfähigkeiten geben.

In psychotherapeutischen Behandlungen mit Kindern und Jugendlichen oder mit jungen Erwachsenen und auch mit Säuglingen und ihren Müttern treffen wir auf sehr unterschiedliche Entwicklungsstadien der Intelligenz und müssen unsere Behandlung an die aktuell gezeigte Intelligenz des Patienten anpassen. Die Entscheidung für die Durchführung einer Psychotherapie wird sich immer am aktuellen Entwicklungsalter, dem Sprachverständnis und der Veränderungsbereitschaft orientieren. Da ein IQ immer auch vom aktuellen psychischen und emotionalen Zustand beeinflusst wird, sagt er wenig aus über die für eine Psychotherapie benötigten intelligenten Anpassungsfähigkeiten, das Denken, Fühlen und die Motivation.

Im psychischen Befund wird immer eine Aussage zur Intelligenz gefordert, diese kann auf einem oder mehreren Tests oder auf der Einschätzung des Psychotherapeuten beruhen. Unter Einbeziehung des Intelligenzquotienten sollten die intelligenten Fähigkeiten der Verarbeitung der Wahrnehmungen und die Anpassungen an die äußere und innere, rationale und emotionale Realität eingeschätzt werden. Zur Basis psychodynamischer Diagnostik gehört das Wissen über den Einfluss der Entwicklung der intelligenten Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Denkens auf die Psychodynamik der Erkrankung. Die engen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen der Entstehung intelligenten Denkens in Beziehungen und der Dynamik der psychischen Strukturentwicklung, der Entwicklung des Selbstempfindens und des Ichs sollten innerhalb der Diagnostik und während einer Therapie immer wieder zur Beurteilung derVeränderungsfähigkeit und Prognose herangezogen werden.

Abschließend noch ein Hinweis: Trotz des besseren Wissens, dass 85 % der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten weiblich sind, wird zugunsten eines besseren Leseflusses nur die männliche Form verwendet. Natürlich meine ich immer Frauen und Männer.

1          Einleitung

 

 

 

 

Das Problem mit der Welt ist,

dass die Dummen voller Selbstgewissheit

und die Intelligenten voller Zweifel sind.

(Bertrand Russel, 1872–1970, britischer Philosoph und Mathematiker)

Intelligenz, Psyche und Entwicklung

Intelligenz und ihre Messung, dargestellt in einem Intelligenzquotienten, werden regelmäßig in den Medien diskutiert und mitunter heftig kritisiert (z. B. Der Spiegel Wissen Intelligenz, 2017). Niemand möchte auf eine Zahl reduziert werden, sagt diese doch nichts über die wirklichen Fähigkeiten eines Menschen aus. Jeder möchte als besonders intelligent gelten. Zu den durchschnittlich Intelligenten will aber keiner gehören, das wird schon als kränkend erlebt. Intelligenz, insbesondere wenn durch einen hohen Intelligenzquotienten untermauert, dient einerseits als bewundernde Beschreibung von abstrakter Denkfähigkeit oder geschicktem Handeln, andererseits aber auch als entwertende Zuschreibung von gefühlskaltem, sachlichem Denken und Reagieren. Der zerstreute Professor oder der perfekte Techniker werden eher als intelligent beschrieben als der schlaue Bauer oder der geschickte Handwerker. Weder ein gemessener hoher noch ein niedriger Intelligenzquotient gelten als Voraussetzung für ein geglücktes Leben. Ein hoher Intelligenzquotient scheint eine gute Prognose für beruflichen Erfolg zu sein (Der Spiegel Wissen Intelligenz, 2017). Eine hohe Intelligenz schützt jedoch nicht vor Ängsten, Depressionen und Burn-out. Psychische Erkrankungen zeigen sich auch bei guter Intelligenz. Menschen mit einem niedrigeren Intelligenzquotienten bekommen jedoch häufiger psychische Probleme (Rost, 2013, S. 366).

Basis der Intelligenztests sind Intelligenztheorien, wie sie von D. Rost im Handbuch Intelligenz (2013) hervorragend dargestellt und auf ihre wissenschaftlichen Grundlagen überprüft werden. Die Fähigkeiten des Gedächtnisses, des Rechnens und der Geschwindigkeit, der Wahrnehmung, des logischen Schlussfolgerns, des verbalen Ausdrucks, der Wortflüssigkeit und der Raumwahrnehmung bilden in vielen Theorien die Grundlage für die Umsetzung in Intelligenztests (Rost, 2013, S. 32). Als sinnvoll hat sich darüber hinaus auch die Annahme einer fluiden Grundintelligenz herausgestellt. Dieser Generalfaktor oder g-Faktor beschreibt einen stark genetisch begründeten Anteil. Offensichtlich kann von einer gewissen Stabilität dieser Grundintelligenz ausgegangen werden. Diese sogenannte fluide Intelligenz entwickelt sich bis zum Alter von ungefähr elf Jahren und steigt noch bis zum Ende der Schulzeit weiter an. Die im Laufe des Lebens dazugewonnenen Fähigkeiten und Fertigkeiten aus Erfahrungen und Erleben werden als kristalline Intelligenz bezeichnet.

Im psychischen Befund eines Berichts zum Psychotherapieantrag wird eine Aussage zur Intelligenz gefordert. Als Therapeuten stehen wir vor der Frage, ob eine exakte psychometrische Intelligenzmessung oder -schätzung notwendig ist, oder ob die aus einem oder mehreren Gesprächen gewonnenen Erkenntnisse für die Einschätzung der Veränderungsfähigkeit innerhalb einer Psychotherapie ausreichen. Zur Diagnostik einer psychischen Erkrankung vor einer Psychotherapie gehört zwingend die Beurteilung der Intelligenz des Patienten. Zur Beurteilung, ob eine Unter- oder Überforderung vorliegt, wird in der Regel ein Intelligenztest durchgeführt. Als Entscheidungshilfe für die Durchführung einer Psychotherapie reicht ein solcher Intelligenztest allein aber nicht aus. Es braucht mehr, um das für Psychotherapieprozesse benötigte Verstehen und die Entwicklungsfähigkeit beschreiben und abschätzen zu können. Da Intelligenzprozesse eine wesentliche Basis für die Bewältigung der äußeren und inneren Realität bilden, umfassen sie auch die damit einhergehenden psychischen Anforderungen und Konflikte. Als Psychotherapeuten brauchen wir ein sehr genaues Wissen über die Funktion der Intelligenz bei der Regulierung der Affekte. Kognitive Intelligenzprozesse werden stärker dem strukturierenden Sekundärprozess zugeordnet und beinhalten nicht nur die Fähigkeit, die äußere Realität wahrzunehmen und Wissen zu speichern, sondern sie betreffen auch die inneren Denk- und Lernprozesse und die Schlussfolgerungen aus diesen. Zusätzlich unterliegt Intelligenz, wie alle psychischen Entwicklungsprozesse, immer auch der Psychodynamik bewusster und unbewusster Prozesse und den lust- und unlustbetonten Einflüssen des Primärprozesses. Intelligenzfunktionen tragen wesentlich zum Aufbau der psychischen Struktur bei, daher können Kenntnisse über die gezeigte oder gemessene Intelligenz bei der Beurteilung des aktuellen Entwicklungsstands helfen. Dieses Wissen über den Stand der Intelligenzentwicklung, insbesondere im Vergleich zum Lebensalter, informiert über die möglichen Anpassungsfähigkeiten und trägt zur Beurteilung der Strukturreife bei.

Intelligenz entwickelt sich in Auseinandersetzungen innerhalb äußerer und innerer Beziehungen. Für die psychodynamisch denkenden Therapeuten ist es deshalb selbstverständlich, Intelligenz auch innerhalb der Übertragung und Gegenübertragung wiederzufinden. Trotzdem kann die Beurteilung von Anpassungsfähigkeit und Flexibilität des Denkens nicht durch Umschreibung mit allgemeinen Begriffen wie Begabung, Klugheit, Talent oder Weisheit erfolgen. Die gezeigte Intelligenz sollte in der Art und Weise der Verarbeitung von Wahrnehmungen, ergänzt um die Psychodynamik von Emotionen und Affekten, Objektbeziehungen und der sozialen Umgebung beschrieben werden. Die Ergebnisse eines Intelligenztests oder einer Intelligenzschätzung bilden eine wichtige Ergänzung der Psychodiagnostik, aber erst durch die Einbeziehung der Psychodynamik der psychischen Erkrankung kann die Nutzung oder Einschränkung der intelligenten Fähigkeiten umfassend beurteilt werden.

Merke: Bei der Beurteilung des aktuellen Entwicklungsstands und der Veränderungsfähigkeit vor Aufnahme einer Psychotherapie hilft das Wissen über den Stand der Intelligenzentwicklung. Es gibt Auskunft über die Anpassungsfähigkeit an die Realität, über die Beziehungsfähigkeit und über die Strukturreife. Ergebnisse von Intelligenztests helfen, Beeinträchtigungen der Intelligenzentwicklung durch die psychische Erkrankung zu beurteilen.

Psychotherapie und Veränderung

Durch die neurophysiologische Erforschung des Gehirns zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde dessen Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeit im gesamten Lebenslauf von der Schwangerschaft, über den kompetenten Säugling, die Kindheit und Jugend bis ins hohe Alter bestätigt. Die Sicht der wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie hat sich durch diese Erkenntnisse erweitert. Auch die Wirkung von Psychotherapie und -analyse als Möglichkeit der Veränderung in einer korrektiven Beziehung wurde im Nachhinein wissenschaftlich bestätigt. Eine Veränderung des inneren Erlebens psychisch Kranker mithilfe einer Psychotherapie braucht als Basis eine Grundintelligenz. Diese wird definiert durch ein minimales Verstehen von Sprache und eine einfache Denkfähigkeit, wie sie schon kleine Kinder besitzen. Psychotherapie kann und will nicht die Intelligenz beeinflussen, sondern das emotionale Erleben, unbewusste Konflikte und die äußeren und inneren Beziehungen bearbeiten. Auch bei wenig intellektuell geschulten Menschen sind Veränderungen und Bewertungen des emotionalen Erlebens in einer Beziehung möglich. Grenzen für Psychotherapie bestehen daher lediglich bei völliger Einschränkung der sprachlichen Kommunikation, wie bei demenziellen Erkrankungen und starken geistigen Behinderungen (Heinemann & Hopf, 2012, S. 311). Veränderungen sind auch noch im hohen Alter möglich. Spitzer (2015, S. VIII) beschreibt, dass sich täglich bis zu 1.400 Nervenzellen in Gehirnregionen bilden können, die für das Einspeichern von Inhalten im Gedächtnis verantwortlich sind. Wahrnehmungen, Emotionen, Beziehungen, äußere und innere Veränderungen regen das Gehirn an, verändern es stetig und ermöglichen Verstärkungen der neuronalen Speicherprozesse. Diese Prozesse tragen somit zu einer verbesserten Gesamtnutzung des Gehirns bei und können zur Erhöhung kognitiver Intelligenzleistungen führen.

Merke: Die psychische Veränderungsfähigkeit wird stark mitbestimmt von den intelligenten Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten. Die Beeinflussung der psychischen Entwicklung in einer psychotherapeutischen Behandlung braucht kognitive und emotionale Wahrnehmung und Verarbeitung in einer Beziehung.

2          Dummheit und Intelligenz – eine Einführung

 

 

 

 

»Dumm ist, wer dumme Dinge tut!«

Forrest Gump (1994)

Wenn der vaterlos aufgewachsene Forrest Gump in dem gleichnamigen Film diesen Satz sagt, wirkt er wenig intelligent. Er wiederholt einen Satz seiner Mutter, weist damit auf seine enge Bindung an diese hin und zeigt eine an konkretem Handeln orientierte Sicht auf das Leben. Im Verlauf des Films zeigen sich seine emotionale Gebundenheit, seine innere Sicherheit und ein an die Realität angepasstes, zielorientiertes Verhalten. Wie können wir es verstehen, wenn ein Mensch, dessen gemessener Intelligenzquotient (IQ) angeblich mit 75 IQ-Punkten stark unter dem Durchschnitt liegt, mit einer solchen Lebensklugheit handelt? Dieser Film erzählt eine rührende – möglicherweise teilweise auf Realität beruhende – Geschichte über die Fähigkeit zu flexiblem Reagieren auf die Überraschungen und Herausforderungen des Lebens. »Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel«, zitiert Forrest Gump seine Mutter. Bei einem solchen Beispiel eines Entwicklungsverlaufs sagt der gemessene niedrige Intelligenzquotient nichts über die Fähigkeit aus, zu lieben, sich anzupassen und erfolgreich zu handeln. Es besteht kein gesicherter Zusammenhang zwischen dem Intelligenzquotienten und einem geglückten und erfolgreichen Leben. Andererseits gibt es einen Zusammenhang zwischen reduzierter Intelligenz und der Häufigkeit des Auftretens kinderpsychiatrischer Probleme bzw. Verhaltensstörungen (Rost, 2013, S. 394).

Dumm sein und damit dumme Dinge tun, steht hier für ein Tun oder ein Nicht-Tun, über welches weder vorausschauend noch einfühlend nachgedacht wurde. Auch Menschen mit einem hohen oder durchschnittlichen Intelligenzquotienten (IQ) machen »Dummheiten«. Sie handeln, ohne nachzudenken, zu schnell oder gar nicht. Manchmal hemmen sie sich durch zu viel Nachdenken, sind unsicher, verstehen nicht, nehmen nicht alles wahr, können ihre Affekte nicht steuern. Solche intuitiv und schnell getroffenen, dummen Entscheidungen sind häufig nicht rational zu begründen. Erst im Nachhinein können sie sich trotzdem als emotional richtig erweisen. Solche scheinbar falschen Entscheidungen sind ebenfalls intelligente Anpassungen. Wirkliche Intelligenz zeigt sich häufig erst im Nachdenken und Verstehen, im Annehmen oder Korrigieren von Fehlern, in einer Flexibilität der Anpassung. Welche Ursachen gibt es für eine solche Unfähigkeit, intelligent zu handeln? Psychische Erkrankungen, Reifungsdisharmonien, emotionale Zurückweisungen, Traumata können psychische Entwicklung hemmen oder auch forcieren und damit die Intelligenzentwicklung beeinflussen. Destruktive, aggressive Handlungen, wie zum Beispiel antisoziale Tendenzen, sind dumm. Sie entspringen inneren Denkprozessen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht nachvollziehbar sind. Sie werden verständlich, weil sie von einem » benachteiligten Kind, das im Übrigen hoffnungslos, unglücklich und schuldlos ist«, ausgeführt werden, welches noch eine gewisse Hoffnung entwickelt hat und in seinem Reifungsprozess stecken blieb (Winnicott, 1985, S. 135).

Nicht jede Handlung ist rational begründet und steuerbar. Intelligente Entscheidungen sind abhängig von der Stärke oder Reife der psychischen Struktur. Wenn sich die Lösung von Armutsproblemen in Diebstahl zeigt, so wird eine schnelle, lustbetonte, »dumme« Lösung bevorzugt. Das intelligente Nachdenken über die möglichen Konsequenzen und die Schädigung der anderen wird ausgeblendet. Ob dabei die Armut zur geringen Intelligenz beigetragen hat oder die Not zum Handeln drängte, darüber kann spekuliert werden. Intelligenzentwicklung und Affekte stehen in einem sehr engen und direkten Zusammenhang. Das beschrieb schon Piaget (1995, S. 17). Affektivität ist entweder beschleunigend oder störend für das intelligente Handeln und kann sich auf die Entwicklung der Struktur der Intelligenz auswirken. Ergänzt um die Psychodynamik unbewusster Einflüsse zeigt sich darin die Komplexität von Intelligenzentwicklung.

Was beschreibt eine gelungene Intelligenzentwicklung? Innerhalb psychischer Entwicklung kann es keine einfachen Ursache-Wirk-Zusammenhänge, keine einfachen Kausalitäten geben. Eine komplexe Dynamik bewusster, unbewusster, innerer und äußerer Faktoren beeinflusst Intelligenz, macht ihre Beschreibung und Messung so schwierig. Eine ideale Entwicklung ermöglicht es einem Kind, sich in einer Beziehung und in sich selbst sicher zu fühlen. Insbesondere durch seine Beziehungserfahrungen kann es emotional reifen und Lust oder Freude am Denken und Handeln entwickeln. Zum Glück haben die meisten Kinder die Möglichkeit, in Ruhe zu reifen und ihre Intelligenz und Affektsteuerung gut und optimal zu entwickeln, und erlangen trotz hoher Belastungen und Risikofaktoren eine hohe Widerstandskraft, gute Problemlösefähigkeiten, Copingstrategien oder Resilienz.

Bei der Diagnose einer Lese-Rechtschreib-Schwäche zeigt sich immer wieder der psychische Einfluss auf die Intelligenz. Die Diagnose dieser Erkrankung erfordert notwendig die Feststellung eines Intelligenzquotienten mit einem mindestens durchschnittlichen Ergebnis, um eine Lernunfähigkeit auszuschließen (ICD-10 F81.0, S. 390). Jahrelang wurde diese Diagnose zu häufig gestellt, da die Intelligenztests nicht das angestiegene Wissen und die Übung berücksichtigten. Es wurden regelmäßig zu hohe Intelligenzquotienten festgestellt und es gab viele Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwäche (Rost, 2013, S. 393).

Beispiel

Als Tonja, 17 Jahre, wegen einer Depression nach dem Tod des Vaters zur Therapie kam, war ihre Lese-Rechtschreib-Schwäche immer wieder Thema. Sie hatte Vorteile bei der Benotung, aber ihr Selbstwert war sehr gering. Sie litt unter ihrer Schwäche und entwertete sich als dumm. In Gedanken flüchtete sie sich in innere Welten, die sie erst später mit dem Trauma der Totgeburt eines kleinen Bruders in Zusammenhang bringen konnte. Interessant war die genaue Beschreibung ihrer Wahrnehmung und ihres Erlebens. Sie übersprang beim Lesen Buchstaben und Wörter und füllte diese Lücken mit ihren Fantasien. Sie konnte dadurch ihre Wahrnehmung und ihr Denken nicht in Einklang bringen, obwohl ihre Sprache und Symbolisierungsfähigkeit sehr gut entwickelt waren. Ihr schienen bei der Verarbeitung innerer Halt und emotionale Begleitung zu fehlen. Die Traumata zeigten sich in der Unterbrechung ihrer Wahrnehmungsverarbeitung. Diese war durch unbewusste, verdrängte Inhalte in ihrer Struktur geschwächt. Die Wahrnehmung wurde durch schmerzhafte Affekte gestört und die Anpassung an die Realität verweigert.

Merke: Emotionale Entscheidungen sind nicht immer intelligent und rational begründet. Sie werden häufig intuitiv getroffen. Handlungen können auf den ersten Blick dumm erscheinen, obwohl sie sich emotional als durchaus sinnvoll und damit trotzdem als intelligent erweisen. Affektivität, intelligente Entwicklung und psychische Struktur hängen eng zusammen, sodass keine einfachen Ursache-Wirk-Zusammenhänge festgestellt werden können.

2.1       Was macht dumm? Was macht schlau?

»Manchmal ist man gerne dumm, wenn einem das erlaubt, etwas zu tun, was einem die Klugheit verbietet«

John Steinbeck, Jenseits von Eden (1953).

In unseren Praxen erleben wir Kinder und Jugendliche sowohl aus armen als auch aus reichen Familien. Diese Kinder haben ein gutes Sprachverständnis, aber sie können oder dürfen ihre guten Intelligenzfähigkeiten nicht zeigen. So zeigen sie sich dumm, können nicht denken. Sie haben die Lust amDenkenverloren, sie vermeiden die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit der Realität, verhindern Autonomieentwicklung und selbstständiges Denken. Wie äußere Ursachen und Risiken die Entwicklung von Intelligenz hemmen können, beschreibt Spitzer (2016) in seinem Artikel »Armut macht dumm«. Er stellt den Zusammenhang zwischen Intelligenz und sozialem Status dar. Wenn zum Beispiel die wirtschaftlichen Ressourcen knapp werden, löst diese Belastung Stress aus. Die kognitive Leistungsfähigkeit verringert sich dadurch. Dies liegt offensichtlich nicht an ungünstigen Genen oder an einer geringeren Begabung. Hier zeigt sich der große Einfluss der sozialen Umgebung, welcher durchaus auch auf die Schulbildung und das erworbene Wissen wirkt. Die negative Wirkung von Stress auf das Gehirn und damit auch auf die Entwicklung der Intelligenz ist bekannt.

Äußere Bedingungen, wie Armut, Krankheiten, emotionale Belastungen und Beziehungslosigkeit, aber auch unbewusste Konflikte wirken auf die Entwicklung intelligenter Fähigkeiten. Wenn Handlungen im Wesentlichen von den äußeren Anforderungen diktiert werden und es wenig Zeit zum Nachdenken gibt, besteht die Gefahr schneller, affektgesteuerter Aktivitäten. Diese können sich bei nachträglicher Betrachtung als dumm herausstellen, das heißt, sie führen nicht zum gewünschten oder fantasierten Ziel. Umgekehrt kann positiv Erlebtes eine Stärkung der Möglichkeiten des Denkens und des intelligenten Handelns bewirken.

Ähnliche Feststellungen macht der Neurobiologe Hüther (1999, S. 27), wenn er beschreibt, wie aus »Stress Gefühle werden« und wie sich dies als Hemmung oder Anspannung im Gehirn niederschlägt. Ohne Stress genauer zu beschreiben, gehen wir von äußeren und inneren Überforderungen aus. Zu den Stressfaktoren, welche Intelligenz stark beeinflussen können, gehören insbesondere innerpsychische Vorgänge wie die transgenerationale Weitergabe von ungelösten Konflikten oder die Nichtbewältigung von Krisen und Konflikten (Hüther, 2015, S. 116; Taubner, 2015, S. 125). Der schädliche Einfluss emotionaler Anspannung zeigt sich in der Hemmung von Entwicklung und der Einschränkung von Lernprozessen. Hinzu kommt, dass in unserer durchökonomisierten Welt der Vollzug selbstständigen Denkens immer stärker durch Werbung und Medien geprägt wird. Stiegler (2008, S. 58) beklagt eine Verdummung. Sie führe zu einem Verlust, sodass das Reflektieren und die Mündigkeit der Individuen drohe verlorenzugehen.

Stressbewältigung bedeutet, Affekte regulieren und Problemlösungsstrategien entwickeln zu können. Eine emotional gute Anpassung kann innere Bedürfnisse mit der äußeren Realität in Einklang bringen. Wichtigste Bedingung zum Erlernen von intelligenten Anpassungsstrategien findet der Säugling in der Sicherheit und Ruhe einer schützenden Mutter-Kind-Beziehung. Sie ermöglicht ihm eine sichere emotionale Entwicklung im Hin-und-Her einer Beziehung (Hobson, 2003, S. 141). Der Mensch braucht ein Gegenüber, das mit ihm fühlt und denkt. Durch gemeinsames Fühlen, Denken und Verstehen kann die Dummheit des schnellen oder zu langsamen Handelns, des eingeschränkten Spürens und Denkens überwunden werden. Es kann zu emotional intelligenten Anpassungen und Problemlösungen kommen. Die Anfänge des Denkens lernt ein Kind, wenn es in der Lage ist, sich emotional »bewegen« zu lassen. Eine solche Bewegung bedeutet noch nicht verstehen im Sinne von Intelligenz, sondern schafft die Basis für die weiteren Prozesse. Symbolisieren, Sprechen und Denken werden nur möglich, weil Menschen auf eine spezifische Art in emotionale Beziehung zueinander treten und dabei eine gemeinsam erfahrene Welt entsteht (Hobson, 2003, S. 107).

Psychotherapie schafft das Abbild einer solchen Beziehung, in der die Gefühle gespürt werden dürfen und in Sicherheit und Ruhe verstanden werden können.

Beispiel

Der 10-jährige Pablo sagt zu mir: »Wir sind nicht arm, wir haben nur kein Geld«. Damit zeigt er seine Fähigkeit, mit Worten und Bedeutungen umzugehen. Außerdem versucht er, seine Scham über das Leben in einer Hartz-IV-Familie zu verbergen. Der Belastung der fünfköpfigen Familie durch Krankheit, Arbeitslosigkeit und Armut wird mit einem solchen intelligenten Gedanken begegnet, der gleichzeitig geistige und emotionale Lösungsstrategien anzeigt.

Merke: Positive Wirkung auf die Entwicklung von Intelligenz haben das Denken und Fühlen in einer Sicherheit, Schutz und Halt gebenden Beziehung. In einer solchen sicheren Bindungsbeziehung können emotionale Belastungen und Konflikte gemeinsam bewältigt werden. Äußere, eventuell traumatische Bedingungen sowie schwer zu bewältigende und Hilflosigkeit auslösende Ereignisse wie Armut, Stress, innere und äußere emotionale Belastungen beeinflussen die Intelligenzentwicklung eher negativ.

2.2       Intelligenz und psychodynamische Denkprozesse

Die Entwicklung der Intelligenz verläuft nach Regeln und in Phasen, wie sie von vielen Psychologen und Psychoanalytikern beschrieben werden. Schwierigkeiten zeigen sich in der Beschreibung der komplexen Zusammenhänge und Einflüsse der Psychodynamik auf die intelligenten Anpassungsprozesse. Durch genetische Bedingungen, das Erleben in der Schwangerschaft und bei der Geburt, den Verlauf der Säuglings- und Kleinkindzeit, der Kindheit, Jugend und Adoleszenz bildet sich eine individuelle psychische Struktur heraus. Sie kann nicht ohne die Basis intelligenter Fähigkeiten und Prozesse entstehen. Gleichzeitig benötigt Intelligenz die jeweils altersentsprechenden strukturellen Fähigkeiten, um sich weiter zu entwickeln. Intelligenzentwicklung undStrukturbildung erscheinen als untrennbare, parallel ablaufende, sich ergänzende Prozesse.

Beispiel

Die einjährige Charlotte entdeckt durch wiederholtes Schlagen mit ihrem Löffel auf den Tisch nicht nur ihre Selbstwirksamkeit bei der Produktion von Geräuschen. Sie bemerkt die Reaktion der Bezugspersonen. Es kann sein, sie sprechen mit ihr, nehmen ihr den Löffel ab, geben ihr etwas zu essen oder tun gar nichts. Jede der vier Handlungen zeigt dem Kleinkind verschiedene Reaktionsmöglichkeiten des Gegenübers und lösen ein Einordnen in ihre bisherigen Erfahrungen und unterschiedlichen Gefühle aus. Da Charlotte noch nicht sprechen kann, erfordert jede dieser Antworten oder Handlungen eine besondere Entscheidung und Anpassung. Die schwierigste scheint die Nichtreaktion zu sein. Diese kann einerseits zu eigenem Denken und einer Änderung der Strategie führen oder bei ständiger Nichtbeachtung zu einer traurigen Leere.

Entwicklung von Intelligenz wie auch von Struktur zeigt sich nicht als einfache und gerade Linie, sondern in Schwankungen und Stabilisierungen. Entwicklung wird immer begleitet von Krisen, Konflikten und Affekten, immer wieder wird sie gestoppt und Bewältigung wird eingefordert. Eng gebunden an Beziehungen wird psychische Entwicklung bestimmt vom Erleben von Abhängigkeit und der Suche nachAutonomie. Ein Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten der Selbstregulierung bildet sich heraus, welches zu allgemeinen oder sehr spezifischen, mehr oder weniger intelligenten Handlungen, zu geistiger Verarbeitung und zu selbstständigem Denken führt. Insbesondere wenn Entwicklungskrisen gemeistert und unbewusste Konflikte bewältigt werden müssen, kann Entwicklung immer wieder ins Stocken geraten. Bei der Bewältigung solch kritischer Prozesse spielt die emotionale Sicherheit eine wichtige stabilisierende Rolle, sie ist die Grundlage für die Fähigkeit, zu denken und zu handeln, um die wichtige Aufgabe der Regulation von Affekten zu bewältigen. Die Ergebnisse solcher Lösungsprozesse werden als Lernen in einer strukturellen und intelligenten Weiterentwicklung sichtbar.

Da Kinder mit im Mutterleib erworbenen intelligenten Basisfähigkeiten auf die Welt kommen, sprechen wir schon gleich nach der Geburt von einem kompetenten Säugling