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Joshua ist ein Krimineller mit Migrationshintergrund. Jedenfalls ist das der Stempel, der ihm aufgedrückt wird. Er selbst hat sich nichts davon ausgesucht. In Berlin geboren und aufgewachsen, versucht er seinen Namen Iosua ebenso wie seine rumänische Herkunft zu verdrängen. Aber sein Vater ist der brutale Kopf einer Diebesbande und Joshua steckt tief in einem Strudel von Unterdrückung und Gewalt. Als Taschendieb trifft er auf Isabelle. Wie ein Hoffnungsschein dringt sie in seine Welt voller Dunkelheit. Er erfährt zum ersten Mal Momente des Glücks und ein erbitterter Kampf für seine Freiheit beginnt. Ein sozialkritischer Gesellschaftsroman mit einer fesselnden und berührenden Geschichte, die den Leser in Berlins Schattenwelt entführt. Ausgezeichnet mit dem Innocent Award "Buch des Jahr 2021"
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Epilog
Wenn Kindern die Zukunft fehlt
DANKSAGUNG
Über die Autorin
IOSUA
Über das Buch: Joshua ist ein Krimineller mit Migrationshintergrund. Jedenfalls ist das der Stempel, der ihm aufgedrückt wird. Er selbst hat sich nichts davon ausgesucht. In Berlin geboren und aufgewachsen, versucht er seinen Namen Iosua ebenso wie seine rumänische Herkunft zu verdrängen. Aber sein Vater ist der brutale Kopf einer Diebesbande und Joshua steckt tief in einem Strudel von Unterdrückung und Gewalt. Als Taschendieb trifft er auf Isabelle. Wie ein Hoffnungsschein dringt sie in seine Welt voller Dunkelheit.
Über die Autorin: Annemarie Bruhns ist Jahrgang 1985 und lebt in Brandenburg. Dank Selfpublishing erfüllt sie sich den Wunsch, ihren Debütroman „Iosua“ selbst zu veröffentlichen. Am Schreiben fasziniert sie die Erschaffung von Romanfiguren mit ihren ganz eigenen Gefühlen, Träumen und Zweifeln. Es ist ein einzigartiges Erlebnis, die Charaktere für die Leserinnen und Leser zum Leben zu erwecken.
Annemarie Bruhns
IOSUA
Roman
Copyright © 2020 Annemarie Bruhns
c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
www.annemariebruhns.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-7521-4071-2
Covergestaltung: Claudia Meine
unter Verwendung eines Fotos von Annemarie Bruhns
Lektorat, Korrektorat: Susanne Schwartz, Text & Gestalt Berlin
Autorinnenfoto: Marco Riedel
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und jeder Nachdruck, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Genehmigung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.
Es war ein lauer Herbstabend. Der Wind trieb die Wolken vor sich her und ließ die gefärbten Blätter heruntersegeln. Der nächste Schauer würde nicht lange auf sich warten lassen, die Regenpausen waren in diesen Tagen immer nur kurz.
Joshua und Isabelle gingen eng umschlungen auf dem schmalen, asphaltierten Pfad am östlichen Ufer der Panke entlang. Sie überquerten die kleine Brücke, durch die Wasser in ein Becken abfließen konnte, wenn der Pegel des Flüsschens stieg. Trotz der ständigen Niederschläge der letzten Tage führte das unscheinbare Gewässer nur wenig Wasser. Die Sonne war bereits hinter der Gartenkolonie auf der anderen Uferseite untergegangen und das restliche Licht ließ den Himmel um die aufgetürmten Wolkenberge in einem intensiven Blau leuchten. Eine Zeit, zu der man auf diesem Weg nur selten Fußgängern begegnete.
Joshua hielt Isabelles Hand. Er fühlte ihre Wärme durch die ineinander verschränkten Finger und war glücklich. Ihr Wollschal kitzelte, wenn sie sich an ihn schmiegte. Es war Freitag und er hatte eine ruhige Woche hinter sich. Keine Aufträge, keine bösen Überraschungen. Seit dem Tod seines Vaters war es ruhiger geworden. Joshua genoss es, hier zu sein. Die abgeschiedenen Wege entlang der Panke waren immer sein Rückzugsort gewesen. Man konnte direkt ans Flussufer gelangen, und es gab einige schwer einsehbare Plätze, an denen er viele Tage verbracht hatte. Der einzige Ort, den er Isabelle nennen konnte, als sie nach seinem Lieblingsplatz gefragt hatte. Isabelle hatte ihn überredet, sie dorthin zu führen. Er verschwieg ihr so viel von seiner Vergangenheit, dass er ihr diesen Wunsch nicht hatte abschlagen können.
Stumm gingen sie durch den stillen Abend. Die ersten von den Buchen gefallenen Blätter bildeten einen rötlich schimmernden, feuchten Teppich, der ihre Schritte dämpfte. Der Lärm der Großstadt erreichte sie hier nicht. Gemeinsam waren sie in ihrer eigenen kleinen Welt unterwegs, als Joshua plötzlich von einer unerklärlichen Angst ergriffen wurde. Er spürte eine Präsenz, die nicht hierher gehörte. Die nur hier war, um zu zerstören, was er gerade hatte. Es war zu spät, die Flucht zu ergreifen, er würde es nicht schaffen, Isabelle in Sicherheit zu bringen.
„Es tut mir leid“, wisperte er und zog Isabelle an sich, um sich einen letzten innigen Kuss zu stehlen. Nebenbei glitt seine freie Hand in die Jackentasche. Er wählte ohne viel Hoffnung den Notruf.
Einen Moment später wurde er weggerissen. Er spürte ihre Hände auf seinen Schultern und löste sich möglichst sanft von Isabelle. Für mehr als ein letztes entschuldigendes Lächeln war keine Zeit.
„Lauf!“, flüsterte er ihr zu.
Er schenkte den Angreifern, die ihn umzingelten, keine Beachtung, sondern hatte nur Augen für Isabelle. Sie kam seiner Bitte nicht nach. Sie stieß einen kurzen Panikschrei aus. Sie wollte nicht flüchten, sondern zu Joshua rennen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht.
„Wen haben wir denn da?“, mischte sich eine ihm wohlbekannte Stimme ein.
Pepe trat hinter Isabelle aus dem Schatten. Nur seine Augen waren für Joshua sichtbar. Den Rest des Gesichtes verbarg er hinter einer tief heruntergezogenen Kapuze, und ein Schlauchschal verdeckte Nase und Mund. Die Maskerade des Anführers und seiner Komplizen beruhigte Joshua. Für ihn mussten sie ihre Identität nicht verschleiern, aber es sicherte Isabelles Überleben. Sollte sein Notruf nicht erfolgreich sein, gäbe es trotzdem Hoffnung für sie. Eigentlich war sie nicht in Gefahr. Isabelle Gewalt anzutun, war zu riskant. Sein Tod würde höchstens in einer kleinen Anzeige im Lokalblatt erwähnt werden. Aber wenn eine einheimische Studentin mitten in der Stadt angegriffen wurde, würde die Polizei ermitteln und Fragen stellen. Joshua wusste, dass sie hier waren, um ihn zum Schweigen zu bringen. Für eine kurze Zeit hatte er gedacht, es wäre vorbei. Er hatte sich erlaubt zu hoffen, dass er den Ausstieg geschafft hatte. Aber jetzt rissen sie ihn brutal in die Realität zurück. Die Chance auf einen endgültigen Ausweg war verschwindend gering gewesen. Deswegen akzeptierte er sein Scheitern. Er bedauerte nur, dass Isabelle – Bella – es mit ansehen musste. Sie war das Licht in seinem Leben gewesen. Auch wenn es nur für wenige Monate die Dunkelheit, die ihn umgab, erhellt hatte, bereute er nichts. Bella – Wunderschöne – der Kosename konnte nicht im Mindesten ausdrücken, was sie für ihn bedeutete. Aber mehr hatte er nicht zu bieten gehabt. Er hatte nur der unscheinbare, dunkle Schatten an ihrer Seite sein wollen. Und jetzt hielt Pepe sie in einer eisernen Umarmung. Wie eine Schraubzwinge umschlossen seine Hände ihre Unterarme. Blass, zart und zerbrechlich wirkte sie in seinem stählernen Griff, aber umso verzweifelter kämpfte sie, sich daraus zu befreien.
Die drei Angreifer umkreisten Joshua. Sie bewegten sich langsam und ohne Hast. Mit wildem Blick kosteten sie die Vorfreude aus. Die Verzögerung sollte ihn zermürben. Aber Joshua ignorierte sie stoisch und versuchte Isabelles Blick einzufangen. Er wollte ihr signalisieren, dass sie sich nicht wehren sollte. Sie sollte die Augen schließen und sämtliche Sinne abschalten. In sich selbst flüchten, damit die Szene, die sich gleich abspielen würde, sie nicht ewig verfolgte. Aber Joshuas Schonfrist endete, bevor er zu Isabelle durchdringen konnte. Sie attackierten ihn in absurdem Einklang. Er gab sich keine Mühe, ihren Schlägen auszuweichen und ging unweigerlich zu Boden. Wozu sollte er das Unausweichliche hinauszögern? Er wollte ein schnelles Ende. Vor allem für Isabelle. Er hörte ihre Schreie und spürte ihre Verzweiflung. Ihr nicht helfen zu können, war schlimmer als die körperlichen Schmerzen, die er erlitt.
„Hände hoch, Polizei!“
Joshua wusste nicht, ob seine Sinne ihn täuschten oder sein Notruf wirklich erfolgreich gewesen war, da hörte er erneut die Stimme des Polizisten.
„Hände hoch!“
Die Angreifer ließen von Joshua ab und fokussierten den Eindringling. Joshua regte sich nicht. Er erlaubte sich noch keine Freude. Es war eine willkommene Unterbrechung, und er nutzte sie, um seine Kräfte zu sammeln. Aber er hörte nur die Stimme eines Beamten. Keine Sirenen. Keine Kavallerie. Das war zu wenig. Ein Polizist allein würde nichts gegen die Angreifer ausrichten können. Pepe würde den Sieg nicht so einfach hergeben.
„Ich würde eher sagen, dass Sie Ihre Hände hochnehmen“, antwortete Pepe eisig und bestätigte Joshuas Vermutung. „Waffe fallen lassen und mit dem Fuß rüberschieben!“
Einer der Angreifer verließ seinen Posten und folgte einer Anweisung Pepes. Joshua war nur noch von zwei Aufpassern umstellt. Flüchtig überlegte er, ob ein Gegenangriff Erfolg bringen könnte. Es war verlockend und er wollte dem Polizisten helfen. Er wollte ihm eine Möglichkeit geben, das Ungleichgewicht ein wenig umzuverteilen, aber er war zu schwach. Wieder hörte Joshua Schritte und wurde im nächsten Moment grob hochgerissen. Schwankend kam er auf die Beine und fühlte, dass ihm ein Gegenstand in die Hand gepresst wurde.
„Erschieß ihn!“, raunte Yasin Joshua zu. Joshua brauchte die markante Narbe auf dem Gesicht des Hünen nicht zu sehen, um zu wissen, wer ihm den Befehl gegeben hatte. Er konnte die perverse Freude spüren, die sein Peiniger dabei empfand, ihn in diese ausweglose Lage zu bringen. Diese Wendung hatte Joshua nicht vorhergesehen, als er den Notruf wählte. Sie würden ihn zum Mörder machen. Er blinzelte schwach und versuchte, die Lage zu analysieren. Der Polizist stand schutzlos vor ihm. Er widerstand dem Drang, zu Isabelle zu blicken. Er wollte nicht das Entsetzen in ihren Augen sehen.
Schwach hielt er die Pistole. Ihr Gewicht fühlte sich falsch an. Joshua schluckte schwer und sah mitleidig auf den Polizisten, der ihn entgeistert anstarrte. Er schien nicht viel älter als er selbst zu sein. Joshua erwog seine Chancen, Pepe mit der Kugel außer Gefecht zu setzen, aber er schützte sich mit Isabelles Körper. Joshua hatte keine Erfahrung mit Schusswaffen und wollte nicht riskieren, sie zu treffen. Er überlegte, ob es etwas bringen würde, wenn er die Waffe gegen sich selbst richtete. Niemand würde ihn wohl von einem Selbstmord abhalten, aber was passierte dann mit Isabelle? Und wie er Pepe einschätzte, würde das den Polizisten nicht retten. Ihm blieb keine Wahl. Zitternd hob er seinen Arm. Er zielte, schloss die Augen und drückte ab. Der Knall hallte noch nach, als der Beamte wie in Zeitlupe zusammensackte.
Äußerlich erschien die Wunde unbedeutend, kaum größer als der Abdruck eines Daumens, doch innerlich war der Schaden unumkehrbar. Das Neun-Millimeter-Projektil war in den Bauchraum und die Eingeweide eingedrungen.
Sie waren wieder allein. Pepe, Yasin und die beiden anderen vermummten Gestalten hatten sich lautlos zurückgezogen. Ihr Schock saß zu tief, um reagieren zu können. Aber sofort nutzte Isabelle die wiedergewonnene Freiheit und stürzte zu Joshua. Er war noch bewaffnet und zögerte, ob er nicht die Chance nutzen sollte, es selbst zu Ende zu bringen. Hier und jetzt. Doch wieder war es der Gedanke an Isabelle, der ihn zurückhielt, sich selbst zu richten. Er ließ die Waffe sinken und öffnete die verkrampften Finger.
„Bitte, lass dich nicht mit mir verhaften. Du musst verschwinden!“
Es waren die einzigen Worte, die über seine Lippen kamen. Er hoffte, sie würde seinem Wunsch nachkommen. Auch wenn die Chance gering war, musste er es wenigstens versuchen. Noch im Schock zitternd, schüttelte Isabelle den Kopf. Was er von ihr verlangte, war ungeheuerlich. Sie war Zeugin einer unvorstellbaren Gräueltat geworden, und jetzt sollte sie dem den Rücken kehren? Wie konnte er von ihr verlangen, ihn im Stich zu lassen? Sie war die Einzige, die für ihn würde aussagen können.
Joshua schleppte sich zu dem Streifenpolizisten, der blutend am Boden lag. Der Regen hatte wieder eingesetzt und die rote Pfütze um seine leblose Gestalt wuchs. Joshua zog ungelenk seine Jacke aus, kniete sich neben den Beamten und drückte den Stoff auf die Wunde. Egal wie gering die Chance war, ihn zu retten, er musste etwas tun. Er konnte nicht untätig abwarten und er konnte sich nicht Isabelle stellen.
Es dauerte nicht mehr lange, bis die Verstärkung eintraf. Die Sirenen der Rettungsfahrzeuge, die gleichzeitig eintrafen, zerrissen die gespenstische Stille und das langsame Stakkato der blauen Rundumleuchten erhellte die Dunkelheit hinter den Bäumen. Auf einmal hatten sie Aufmerksamkeit und eine ganze Gruppe von Beamten stürmte den Park. Joshua taumelte von dem Verletzten zurück und machte den Weg für die Sanitäter frei. Sofort wurde er von Polizisten gepackt und gewaltsam zu Boden gedrückt. Mit einem Knie auf dem Rücken fixierten sie ihn und legten ihm Handschellen an, bevor sie ihn abführten.
Isabelle lief unruhig auf und ab. Ihre durchweichten Schuhe hinterließen kleine Pfützen auf dem Boden, aber das bemerkte sie nicht. Die Rettungsdecke, die sie von den Sanitätern erhalten hatte, bevor sie in einen Streifenwagen gestiegen war, hing noch über ihren Schultern und sie klammerte sich daran fest. Die kahlen Wände des Verhörzimmers spiegelten ihre Verzweiflung wider und warfen sie ungefiltert zu ihr zurück. Sie wollte unbedingt, dass jemand durch die Tür käme. Sie wollte wissen, wo Joshua war. Die Ungewissheit nagte an ihr. Was würden sie mit ihm tun? Der Schock saß noch tief. Es war alles so schnell gegangen, und trotzdem sah sie vor ihrem inneren Auge in Zeitlupe, wie die Schläge auf Joshua eingeprasselt waren. Sie war das erste Mal ungefiltert Zeugin von Gewalt geworden. Ihr war schlecht und sie hatte noch den Geruch von Blut in der Nase. Isabelle versuchte sich an Details des Aussehens der Täter zu erinnern, aber sie konnte nichts Brauchbares für eine Beschreibung finden. Alle drei hatten Joshua um mindestens einen Kopf überragt und waren von breiter Statur gewesen, aber das half nicht, sie zu identifizieren. Sie hatte keine Einzelheiten, die einem Phantombildzeichner helfen würden.
Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie fühlte noch die Hände ihres Peinigers auf ihrem Körper. Sie spürte die Mündung der Waffe an ihrer Schläfe und hörte den Knall. Übrig blieb eine bodenlose innere Leere, und es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ungeduldig wartete sie auf die Chance, Joshua zu verteidigen. Er durfte nicht angeklagt werden. Er war doch selbst ein Opfer. Aber ein kleiner Teil von ihr wusste bereits, dass sie ihn nicht einfach freisprechen würden.
Plötzlich verließ sie alle Kraft. Sie stolperte mehr rückwärts, als dass sie ging, und ließ sich an der Wand zu Boden gleiten. Sie zog die Decke noch fester um sich und flüchtete sich in Gedanken zu ihrer ersten Begegnung mit Joshua.
ΦΦΦ
Fünf Monate zuvor
Die letzte Vorlesung war endlich zu Ende und gemeinsam mit ihren Kommilitonen ließ Isabelle sich aus dem Saal treiben. Das Journalismusstudium hatte sie sich aufregender vorgestellt und sich selbst schon als rasende Reporterin gesehen. Stattdessen paukte sie stumpf Grundlagenwissen zu Recherche und Satzbau. Presserecht nicht zu vergessen. Aber da mussten in den ersten Semestern wohl alle durch. Sie musste sich noch etwas gedulden und hoffte auf ein spannendes Praktikum. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie sich beeilen musste. Yvonne, ihre beste Freundin und Mitbewohnerin, wartete bestimmt schon ungeduldig und mit knurrendem Magen in ihrem Stammcafé. Im Gegensatz zu Isabelle schien Yvonne eine innere Uhr zu haben, war sie doch noch nie zu spät gekommen.
Isabelle eilte die Treppen hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie trat aus dem historischen Gebäude der privaten Hochschule und reihte sich in den Strom aus Studenten und Touristen ein. Unweit der Gedenkstätte an der Berliner Mauer war die Gegend sehr belebt. Vor allem an einem milden Frühsommertag, wenn es in der Großstadt noch nicht schwül und stickig war. Obwohl Isabelle in Berlin aufgewachsen war, liebte sie die touristischen Highlights. Jetzt steuerte sie zu ihrem Lieblingscafé mit Blick auf ein berühmtes Stück der traurigen Geschichte der ehemals geteilten Stadt. Wie erwartet, saß Yvonne bereits an dem Ecktisch und nippte an ihrem Kaffee.
„Ein neuer Rekord! Nur zehn Minuten zu spät“, begrüßte Yvonne sie und schaute kurz von ihren Notizen auf. Sie kannten sich schon seit frühester Kindheit, ihre kleinen Schwächen und Marotten waren ihnen gut vertraut. Trotzdem stichelten sie gerne einmal damit. Isabelle revanchierte sich, indem sie ihre Freundin mit ihrem übertriebenen Sinn für Ordnung aufzog. Bei Yvonne musste alles einer gewissen Reinheit und Geometrie unterworfen werden, genau wie jetzt der Stapel mit ihren Notizen korrekt an der Tischkante ausgerichtet vor ihr lag.
„Wie gut, dass du schon bestellt hast. Soll ich dir ein Panini mitbringen?“
Yvonne nickte lächelnd, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Sie studierte an der gleichen Hochschule wie Isabelle, allerdings im Studiengang Medien und Wirtschaftspsychologie. Nicht selten wurde Isabelle Opfer ihrer Analysen, aber das gehörte ebenfalls zu ihrer Freundschaft.
Auf dem Weg zum Tresen stieß Isabelle mit einem jungen Mann zusammen. Er murmelte eine Entschuldigung und ihre Blicke trafen sich flüchtig. Sein schwaches Lächeln hatte etwas Gequältes und erreichte seine Augen nicht. Trotz seines dunklen Teints sah er müde und irgendwie gehetzt aus. Bevor Isabelle etwas erwidern konnte, war er schon verschwunden. Sie konnte nicht anders, als ihm hinterherzusehen. Obwohl er so unauffällig war, dass sie kaum ein Detail wahrgenommen hatte, faszinierte sie irgendetwas an ihm. Sie wunderte sich noch über den ungewöhnlichen Zusammenstoß, als sie ihre Bestellung aufgab.
„Zwölf Euro achtzig“, holte sie die Bedienung aus ihren Gedanken, und sie griff in ihre Handtasche nach ihrem Portemonnaie. Ihre Hand fasste ins Leere. Sie bevorzugte kleine Umhängetaschen, damit sie nicht immer erst suchen musste, deswegen half auch ein zweiter Griff nicht. Das große Portemonnaie aus Leder mit den vielen Fächern für diverse Karten war definitiv nicht da. Ich habe es doch eingesteckt, dachte sie verwirrt.
„Warten Sie kurz“, bat sie die Bedienung und ignorierte, wie diese mit den Augen rollte.
„Yvonne?“ Sie trat fragend an ihren Tisch zurück. „Du müsstest mal …“
Weiter kam sie nicht, da hatte Yvonne ihr schon einen Zwanzig-Euro-Schein zugeschoben.
„Hast du es schon wieder zu Hause liegen lassen? Wie gut, dass dein Kopf angewachsen ist.“
Isabelle zuckte entschuldigend die Achseln, obwohl sie sich wirklich sicher war, es nicht vergessen zu haben. Sie bezahlte bei der Bedienung, die schon ungeduldig wartete, und setzte sich mit der Bestellung zu ihrer Freundin an den Tisch. Während sie das vegetarische Panini aß und Yvonne von den Neuigkeiten am Campus erzählte, vergaß sie den Zusammenstoß.
ΦΦΦ
Joshua drückte das Handtuch gegen seine Schläfe. Er wollte am liebsten die Handschellen abstreifen und sich auf dem steinernen Fußboden zusammenrollen. Ausruhen. Einfach emotional flüchten. Vergessen, was gerade passiert war, und nicht daran denken, was unweigerlich folgen würde. Aber er tat nichts davon. Stattdessen versuchte er mit umständlichen Bewegungen seine kinnlangen dunklen Haare zu trocknen und das geronnene Blut von Gesicht und Hals zu wischen. Nicht nur die Handschellen behinderten ihn, sondern auch die Schmerzen, die in seinen gesamten Körper ausstrahlten. Yasin und seine Schläger hatten nicht genug Zeit gehabt, ihn vollständig außer Gefecht zu setzen, aber die Tritte und Schläge hatten nicht nur in seinem Gesicht Spuren hinterlassen. Jetzt wartete er darauf, dass einer der diensthabenden Beamten durch die Tür kommen und das Verhör beginnen würde. Aber sie würden ihn erst einmal warten lassen. Wahrscheinlich standen sie auf der anderen Seite des verspiegelten Glases und stritten sich, wer ihn sich vorknöpfen durfte.
Er hatte einen der Ihren erschossen.
Er war mit Isabelles Leben erpresst worden und er würde die gleiche Entscheidung wieder treffen. Ohne mit der Wimper zu zucken, stellte er ihr Leben über seines. Aber das änderte nichts an seiner Tat. Nichts an seiner Schuld. Er hatte ihr Leben auch ohne mit der Wimper zu zucken über das des jungen Beamten gestellt.
Bella – die Gedanken an sie verursachten ihm weitere Schmerzen. Ihr trauriger, entsetzter Blick verfolgte ihn. Er hatte sie angefleht zu fliehen. Sie sollte nicht für ihn aussagen müssen. Er wollte sie in Sicherheit wissen. Aber sie war stur bei ihm geblieben. Wahrscheinlich saß sie ein paar Türen weiter, und er hoffte inständig, dass sie nur als Zeugin vernommen werden würde. Er würde gestehen. Um ihre Prozedur so einfach wie möglich zu machen und weil die Beweise sowieso gegen ihn sprachen. Seine Fingerabdrücke waren auf der Schusswaffe und mittlerweile bestimmt schon analysiert. An seinen Händen waren Schmauchspuren, die bestätigten, dass er den Schuss abgegeben hatte. Seine Verletzungen bewiesen auch, dass es Angreifer gegeben hatte, aber was sollten diese anderes getan haben, als nach einer Schlägerei die Flucht vor der Polizei zu ergreifen? Zwar konnte der Notruf seinem Telefon zugeordnet werden, aber das würden sie bestimmt ebenfalls gegen ihn zu verwenden wissen. Allein seine polizeiliche Akte und seine Herkunft machten ihn zum perfekten Sündenbock. Seine Eltern waren Rumänen, sein Vater zudem ein Verbrecher. Automatisch hatte er dadurch den Stempel eines Kriminellen mit Migrationshintergrund. Es zählte nicht, dass er versucht hatte, den größtmöglichen Abstand zu den Geschäften seines Vaters zu haben, und dass er noch nie einen Fuß in irgendein anderes Land gesetzt hatte. Rumänien war für ihn nur ein Umriss auf einer Landkarte, aber der leicht dunkle Teint, die markanten Gesichtszüge, die schwarzbraunen Haare und die schmale Augenpartie verrieten seine Vorfahren vom Balkan. Es hatte ihn immer zum Außenseiter gemacht. Die anderen zugewanderten Jugendlichen hatten ihn gemieden, weil er keine ihrer Sprachen sprach, und für die Deutschen war er trotzdem die Zielscheibe des Spottes und zu oft auch ihres Hasses gewesen. „Zigeuner“ war noch das Netteste, was er zu hören bekommen hatte. Nur Isabelle hatte sich nicht täuschen lassen.
Joshua seufzte und verdrängte den Gedanken an sie. So, wie die Dinge standen, würde er sie nicht wiedersehen, und das war wahrscheinlich auch besser. Er hatte eine intensive Zeit mit ihr gehabt, aber diese war vorbei und würde nicht wiederkommen. Dass er noch am Leben war, änderte nichts daran, dass er keine Zukunft hatte.
Joshua nahm das Kühlpad, das sie ihm als einzige medizinische Versorgung gegeben hatten, und wickelte es in das Handtuch. Vorsichtig presste er es auf seine geprellten Rippen und gab sich den Schmerzen hin. Er konnte nur weiter abwarten und dachte daran zurück, wie alles angefangen hatte.
ΦΦΦ
Fünf Monate zuvor
„Was ist denn das hier für eine Müllhalde?“, schimpfte Radu zur Begrüßung. „Hatte ich dir nicht befohlen, Ordnung zu schaffen?“
Joshua rollte genervt mit den Augen.
„Vielleicht solltest du dich selbst mal darum kümmern und die Finger vom Alkohol lassen“, antwortete er schnippisch.
Radu blickte ihn wütend an. Auf seiner hohen Stirn pulsierte eine Ader im Takt zu seinem Gezeter und die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. Wie konnte sein Sohn es wagen, ihm zu widersprechen? Er duldete keinen Ungehorsam und konnte und wollte sich Widerworte nicht gefallen lassen. Er hechtete auf Joshua zu, mit dem Ziel, ihn an die Wand zu pressen. Aber Joshua wich ohne Probleme zur Tür aus und Radu fasste ins Leere. Er war stark alkoholisiert. Ein Zustand, der in letzter Zeit zu häufig geworden war. Sein Misserfolg steigerte seine Wut nur noch mehr und rötliche Flecken traten auf seinen gedrungenen Hals. Aber es nützte ihm nichts.
„Iosua!“, brüllte Radu.
Joshua zuckte kurz zusammen, als sein Vater ihn bei seinem richtigen Namen rief. Normalerweise nannte er ihn Bastard oder Abschaum. Immer wenn er seinen Zorn nicht körperlich entladen konnte, attackierte Radu Joshuas mentalen Schutzschild. Nur seine Mutter hatte ihn Iosua genannt, und der Klang dieses Namens riss jedes Mal alte Wunden auf.
Joshua setzte seine Flucht fort. Er verließ die Wohnung und ließ Radu zeternd zurück. Er verabscheute es, an dieses Loch hier gebunden zu sein, aber ohne eine Anstellung gab es keinen Mietvertrag und andersherum. Zur Auswahl standen also nur ein Bett inmitten eines Mienenfeldes oder ein Schlafplatz unter der Brücke. Trotzdem wusste er, dass es nicht ewig so weitergehen konnte. Seit seine Mutter sie vor drei Jahren verlassen hatte, hatten die Alkoholeskapaden seines Vaters zugenommen. Er hatte vorher schon gerne und viel getrunken, aber so extrem war es noch nie gewesen. Zu sagen, ihr Verhältnis war nie besonders gut gewesen, wäre untertrieben. Joshua hasste seinen Vater und Radu sah in seinem Sohn nur eine lästige Fliege, die er zerquetschen wollte. Häufig zweifelte Joshua daran, dass er wirklich Radus Sohn war. Er konnte nicht verstehen, wie man sein eigenes Kind misshandeln konnte.
Radus gehöriger Zuspruch zu hochprozentigen Getränken brachte für Joshua noch eine weitere akute Gefahr. Unter dem Alkohol litt nicht nur Radus Gesundheit, die Joshua ziemlich egal war, sondern es litten auch seine Geschäfte. Er leitete eine Gruppe von Handlangern, die in der näheren Umgebung für verschiedene Delikte verantwortlich war. Dazu zählten Einbruch, Autodiebstahl und vereinzelt auch Körperverletzung. Schon immer war Radu jähzornig und unberechenbar gewesen und hatte sich auf seine spezielle Art Respekt verschafft. Der Genuss von Alkohol erhöhte nun zwar seine Wutausbrüche, aber seine Durchsetzungsfähigkeit war dadurch stark eingeschränkt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sein Auftraggeber auf die Idee kommen würde ihn auszutauschen. Für Joshua bedeutete das höchste Vorsicht. Er stand unter ebenso strenger Beobachtung, darüber war er sich im Klaren.
Er hatte versucht Abstand zu halten, aber das war ihm nur schlecht gelungen. Als kleiner Junge hatte er es als Ehre empfunden, mitmachen zu dürfen. Er hatte gehofft, dass sein Vater ihn dann respektieren würde, und das hatte Radu schamlos ausgenutzt. Als Joshua nach dem Jugendrecht strafmündig wurde, hatte Radus Interesse stark nachgelassen. Aber Joshuas Akte war bis dahin schon gut gefüllt gewesen. Nun wurde er weiterhin gezwungen, seine Fähigkeiten für die niederen Zwecke der Bande einzusetzen. Nichts, worauf er stolz war, aber er konnte nahezu unsichtbar überall hinein und wieder heraus. Er schaffte es, überall aufzutauchen, ohne wirklich gesehen zu werden, und Radu hatte früh dafür gesorgt, dass kein Schloss ein Hindernis für ihn war.
Er konnte nicht entkommen. Anders als seine Mutter. Sie hatte einen endgültigen Schlussstrich gezogen, und Joshua war bitter enttäuscht, dass sie auch ihn aufgegeben hatte. Obwohl er jeden Preis bezahlt hatte, um sie vor Radus Wutausbrüchen zu beschützen, hatte sie ihn im Stich gelassen. Er war nur Ballast gewesen. Nach ihrem Verschwinden hatte er aufgehört zu rebellieren und sich in seine Rolle gefügt. Er war nun nicht mehr als ein Gegenstand. Ein zu gutes Werkzeug für Einbruch und Diebstahl, das sie nicht aus ihren Fängen ließen.
Joshua ließ sein Feuerzeug aufflammen und zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte tief und schlug die Richtung zur Panke ein. Ein eher unscheinbares, langsames Gewässer, aber es floss durch seinen Kiez und es verirrten sich kaum Menschen an das Ufer. Dort konnte er einfach sitzen und in der Abgeschiedenheit nachdenken. Was er zurzeit fast täglich tat. Auch weil er sich immer weniger dazu aufraffen konnte, mit Taschenspielertricks sein Essen zu verdienen und die Rechnungen zu bezahlen, für die Radu nicht aufkam. Gestern war der Hunger zu groß gewesen und er war zu einem der nahen Touristenziele gegangen, um ein paar Fremde um ihr Geld zu erleichtern. Dabei hatte er sie getroffen. Anders als die meisten seiner Opfer hatte sie ihn nicht beschimpft oder eine abfällige Bemerkung gemacht, als er sie absichtlich angerempelt hatte. Er musste immer wieder an sie denken. Er konnte ihr Geld nicht nehmen und er wollte ihr auch all die nötigen Behördengänge ersparen, die der Verlust ihrer Papiere mit sich brachte. Bevor er es sich anders überlegen konnte, änderte er die Richtung und lief zur U-Bahn-Station Osloer Straße. Er würde zu ihr fahren, ehe ihn der Mut verließ.
Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen und kam sich vor dem renovierten Altbau nahe der Zionskirche fehl am Platz vor. Kein Vergleich zu dem schmucklosen Sozialbau, den er vor einer halben Stunde verlassen hatte. Er konnte immer noch einen Rückzieher machen. Er konnte die Geldbörse einfach in den Briefkasten werfen und verschwinden. Still und heimlich. So wie er normalerweise jeden Tag seines Leben verbrachte, wenn sie ihn ließen. Aber ihr Gesicht verschwand nicht aus seinem Kopf. Ihr schüchterner Blick, gerahmt von schulterlangen, braunen Haaren. Sie hatte gewirkt, als wollte sie sich für den von ihm provozierten Zusammenstoß entschuldigen. Es war nicht nur das schlechte Gewissen, das ihn hergeführt hatte. Er wollte sie wiedersehen. Er atmete noch einmal tief durch und klingelte. Wahrscheinlich war sie sowieso nicht zu Hause.
„Ja?“, tönte eine weibliche Stimme aus der Gegensprechanlage.
„Isabelle?“, fragte er verunsichert. Er hatte sich ihre Stimme anders vorgestellt.
Statt einer Antwort erklang der Türsummer und er trat ein. Die Position der Klingel deutete auf den dritten Stock und er nahm zögernd die Stufen nach oben. Nervös fuhr er mit den Fingern durch seine Haare, versuchte sie in Form zu bringen und strich sie sich hinters Ohr. Eine frische Rasur hätte ihm auch nicht geschadet, aber es war zu spät, sich über sein Äußeres Gedanken zu machen.
„Isabelle, für dich“, rief eine hochgewachsene, kräftige Frau und musterte ihn durch den Türspalt. Ihr Blick unter dem rot und schwarz gefärbten fransigen Pony war offen und neugierig. Joshua erinnerte sich, sie ebenfalls im Café gesehen zu haben. Sie hatte an einem Ecktisch am Fenster gesessen und an etwas gearbeitet. Er beobachtete immer genau die Umgebung, in der er tätig wurde. Um mögliche Gefahrenquellen frühzeitig zu entdecken, prägte er sich die Gesichter ein und verschaffte sich einen Überblick über die Ausgänge. Isabelles Freundin war exzentrisch, sodass sie ihm sofort aufgefallen war, aber er hätte nie vermutet, dass sie zusammen wohnten. Sie wirkten so unterschiedlich, jedenfalls nach seiner ersten äußerlichen Einschätzung.
Die Gerufene steckte ihren Kopf durch den Türspalt und schaute in den Flur. Sie sah Joshua verwundert an. Es dauerte einen Augenblick, aber dann trat Erkennen in ihren Blick.
„Du?“, war das Einzige, was sie sagte. Trotz des unerwarteten Überfalls lächelte sie, und ihr Lächeln hatte etwas leicht Spöttisches, aber auch Neugieriges und Freundliches.
„Du hast etwas verloren.“
Isabelle blieb stumm.
„Es lag vor dem Café auf dem Gehweg“, fügte er schnell hinzu.
„Und jetzt ist dir aufgefallen, dass es mir gehört?“
Auf den Mund gefallen war sie nicht. Wahrscheinlich vermutete sie, dass er sie anlog und er sollte schleunigst verschwinden. Aber er hörte nicht auf seine innere Stimme.
„Ich bin Joshua. Ich dachte, es gibt vielleicht einen Finderlohn, deswegen bin ich persönlich vorbeigekommen“, versuchte er sie mit Dreistigkeit aus dem Konzept zu bringen.
„Möchtest du reinkommen? Dann kannst du dich drinnen überzeugen, dass es nichts von Wert gibt, das einen Einbruch lohnen würde.“
Sie sagte es so trocken, dass Joshua die Luft wegblieb. Sie ahnte wahrscheinlich nicht einmal, wie nahe sie der Wahrheit kam. Nicht, dass er vorhatte sie auszurauben, aber viel zu oft hatte er es bei anderen getan.
„Komm rein. Gibst du dich mit einem Kaffee als Dank zufrieden?“, sagte sie diesmal und ließ die vorherige Bemerkung unkommentiert.
Immer noch leicht verunsichert, folgte er ihr in den Flur. Er fühlte sich eingeschüchtert von den hohen Decken und der aufgeräumten Wohnung. Es gab kein Kleiderchaos und kein Staubkorn. Ungewöhnlich für eine Studenten-WG, selbst wenn hier nur Studentinnen wohnten. Vom Flur ging es nach rechts in die Küche. Auch hier gab es keine Unordnung, keinen Stapel mit schmutzigem Geschirr und die verchromte Spüle glänzte, der Herd war blank geputzt.
„Setz dich!“, sagte sie und zeigte auf einen der Barhocker, die vor dem Küchentresen standen. „Wie trinkst du deinen Kaffee?“
„Einfach schwarz, bitte.“
Joshua beobachtete, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um an den Hängeschrank zu kommen. Sie nahm zwei bunte Tassen heraus und drückte den Knopf der Kaffeemaschine. Eine Strähne ihres seidigen, zimtbraunen Haares fiel ihr immer wieder ins Gesicht, und sie strich sie zurück hinters Ohr. Mit den Fingern trommelte sie auf der Arbeitsfläche, während sie wartete, dass die Kaffeemaschine betriebsbereit war. Joshua konnte nicht erkennen, ob sie nervös war, ungeduldig oder nur einer inneren Melodie folgte. Es verwirrte ihn, dass er sie überhaupt nicht lesen konnte. Das Geräusch des Mahlwerks holte ihn zurück aus seinen Gedanken.
„Also dann. Danke, dass du mir mein Portemonnaie zurückgebracht hast.“
Ihre grünen Augen blitzten schelmisch, während sie die Tasse vor ihm abstellte.
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Ich hätte nicht so egoistisch sein dürfen, dachte Joshua bitter. Seinetwegen war Isabelle Zeugin eines Gewaltverbrechens geworden. Weil er seine Sehnsucht nach einem normalen, glücklichen Leben nicht gezügelt hatte.
Die Tür des Verhörzimmers öffnete sich und ein Beamter trat ein. Joshua richtete sich auf. Der Beamte war in Zivil gekleidet. Es gab keine Abzeichen, an denen man seinen Rang erkennen konnte, aber er strahlte die Autorität eines Oberkommissars aus. Am Schritt konnte Joshua erahnen, wie es in ihm brodelte. Er schob den Stuhl geräuschvoll zurück und setzte sich ihm gegenüber. Aus der Akte zog er zwei Fotos und legte sie vor Joshua auf den Tisch.
„Polizist Hamp. 28 Jahre alt. Er hatte eine Frau und eine fünfjährige Tochter.“
Joshua zwang sich hinzusehen. Es war zu dunkel gewesen, um das Gesicht wiedererkennen zu können, aber jetzt brannte sich ihm jedes Detail des jugendlichen Streifenpolizisten ein. Das Bild des Tatortes kannte er nur zu gut, da brauchte er keine Gedächtnisstütze. Der Kommissar sprach in der Vergangenheitsform. Also war der Schuss tödlich gewesen. Joshua war kein guter Schütze. Er hatte nicht einmal Übung im Gebrauch von Waffen. Er hatte mit geschlossenen Augen abgedrückt und bedauerte, zu gut getroffen zu haben. Auch mit dem vielen Blut an den Händen hatte er bis zum Schluss auf ein Wunder gehofft.
„Es tut mir leid. Ich wollte das nicht“, brachte er tonlos hervor.
Nicht, dass seine Entschuldigung helfen würde oder für den Kommissar von Bedeutung war, aber er wollte es trotzdem sagen und meinte es auch so.
„Sie geben es zu?“, fragte der Kommissar eine Spur schärfer.
Joshua nickte abwesend.
„Laut und deutlich fürs Protokoll!“, fuhr der Polizist ihn mit schneidender Stimme an.
„Ja.“
Joshua schaute von den Fotos auf und blickte seinem Gegenüber direkt in die Augen.
„Ja, ich habe die Waffe abgefeuert. Aber …“
Weiter kam er nicht. Der Kommissar schlug die Handflächen auf die Tischplatte und stützte sich hoch. Bedrohlich baute er sich vor Joshua auf.
„Es gibt ein Aber? War es eine spontane Selbstentladung? Wolltest du nur einen Warnschuss abgeben?“
Ehe Joshua etwas erwidern konnte, redete der Polizist weiter.
„Sie wählen den Notruf und locken einen Kollegen in die Falle! Sie richten ihn mit seiner eigenen Waffe hin!“
Joshua schloss die Augen und ließ müde den Kopf sinken. Es war, wie er erwartet hatte. Er war bereits verurteilt. Es war egal, was er sagte. Er überlegte, ob er um einen Rechtsbeistand bitten sollte, aber das würde ihm nicht helfen. Es würde den Beamten nur noch wütender machen und sie vielleicht zu Isabelle treiben, während sie warten mussten. Das würde er unter keinen Umständen riskieren.
„Ich habe den Notruf gewählt, weil wir überfallen wurden. Mein Handy war in der Jackentasche greifbar und ich hoffte, Sie würden den Anruf bekommen und orten können“, begann Joshua so ruhig wie möglich zu erzählen. Er würde nah bei der Wahrheit bleiben. Auf keinen Fall wollte er Isabelle in Schwierigkeiten bringen, also mussten sich die Details seiner Aussage mit ihren decken. Er konnte aber verschweigen, was sie nicht wusste. Sie würden alles gegen ihn verwenden, also würde er so wenig wie möglich sagen.
Frau Reuter?“
Isabelle war so in sich versunken, dass sie die Stimme der Polizistin erst hörte, als diese schon im Raum stand.
„Ja?“, fragte sie unsicher.
„Sie können nach Hause gehen. Verlassen Sie bitte nicht die Stadt und halten Sie sich für Fragen zur Verfügung.“
Isabelle verstand nicht. Sollte keine Aussage aufgenommen werden? Sie hatten sie bis jetzt nicht befragt. Keiner war bei ihr gewesen.
„Nein, bitte. Ich möchte zu Iosua, Iosua Branco.“
„Das ist leider nicht möglich“, erklärte die Polizistin distanziert.
„Bitte, Sie müssen mir zuhören! Er wurde gezwungen. Wir wurden überfallen und …“
Isabelle verstummte.
Die Polizistin starrte stur geradeaus und hielt die Tür offen. Ihre Haltung verdeutlichte, dass sie nicht mit Isabelle reden würde.
Isabelle trat zögernd aus dem Verhörraum.
„Wie geht es Ihrem verletzten Kollegen?“, fragte sie und drehte sich noch einmal um.
„Verschwinden Sie!“, zischte die Beamtin, bevor sie die Tür schloss.
Tränen traten Isabelle in die Augen. Sie war sprachlos. Die unverhohlene Wut der Polizistin sagte ihr, dass sie noch um ihren Kollegen bangte. Oder konnte es bedeuten, dass er seinen Verletzungen erlegen war? Hatte Joshua einen Menschen erschossen? Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte Joshua nicht allein zurücklassen. Nicht, wenn er eines Mordes beschuldigt wurde. Ein dicker Kloß saß ihr im Hals. Es fühlte sich an, als würde sie Joshua nie wieder sehen.
Das Polizeirevier schien wie ausgestorben. Als hätten sich alle Beamten zurückgezogen. Sie schaute durch die wenigen Fenster, die vom Flur abgingen und einen Blick in die Büros erlaubten, in der Hoffnung Joshua irgendwo zu sehen. Aber natürlich sah sie ihn nicht. Wenn sie ihre Aussage nicht brauchten, hatte er dann bereits gestanden? Sie hatte das Gefühl für die Zeit verloren, während sie wie ohnmächtig gewartet hatte, dass jemand käme. Es waren wohl Stunden vergangen und Joshua war sicher bereits anderswohin gebracht worden.
Das Chaos ihrer Gedanken verursachte Isabelle einen Schwindelanfall und sie tastete nach der Wand, um aufrecht bleiben zu können. Sie schlich geschlagen durch den Flur zum Ausgang und die Treppe hinunter. Krampfhaft umklammerte sie den Handlauf, um nicht zu stürzen. Am Fuß der Treppe erblickte sie Yvonne, und im ersten Moment dachte sie an eine optische Täuschung. Eine Wunschvorstellung, wenn ihr größter Wunsch doch nicht erfüllt werden konnte.
„Süße!“, rief Yvonne erleichtert und kam ihr auf den letzten Stufen entgegen, um sie zu stützen. Nein, es war keine Einbildung. Ihre Freundin schloss sie in die Arme. Ohne nachzufragen, begleitete sie Isabelle aus dem Gebäude und auf die Straße.
„Verzeih mir, aber ich hab mir Sorgen gemacht. Dein Handy hat mir verraten, wo du bist, und da hab ich mir noch mehr Sorgen gemacht und musste kommen.“
Isabelle nickte stumm. Sie war dankbar, dass Yvonne da war. Sie hatte nicht vermutet, dass die Standortfreigabe ihres Telefons wirklich einmal zum Einsatz kommen würde. Yvonne hatte darauf bestanden, als sie für das Studium zusammengezogen waren. „Man kann nie vorsichtig genug sein“, waren ihre Worte gewesen.
„Lass uns nach Hause gehen!“, hauchte Isabelle.
Sie war nicht mehr allein. Aber sie konnte noch nicht mit Yvonne über die Geschehnisse reden. Auch ohne psychologische Interpretation wusste ihre Freundin zum Glück, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, Fragen zu stellen. Yvonne nickte und sie gingen schweigend nebeneinander die Straße entlang. Yvonne war einen guten Kopf größer als Isabelle und bot ihr eine starke Schulter zum Anlehnen. Isabelle nahm das Angebot stumm an und stützte sich schwer auf ihre Freundin. Sie fühlte sich wie in einer Dunstwolke gefangen, als hätte sie zu viel getrunken und der Alkohol würde ihre Gedanken vernebeln. Ihre Sinne ließen sich nicht kontrollieren. Sie wollte schreien und weinen, konnte ihrem Schmerz aber keinen Ausdruck verleihen. Die Luft duftete noch nach einem abgeklungenen Schauer und es war merklich frischer geworden. Der feuchte Asphalt glitzerte im Schein der Straßenlaternen. Der Himmel war finster und wirkte erdrückend und bedrohlich.
Isabelles Trauer hatte sich mit Wut gemischt. Sie wusste nicht wohin damit. Nur eines war ihr klar: Irgendetwas musste sie sich einfallen lassen. Sie war sich sicher, dass es kein zufälliger Überfall gewesen war. Joshua hatte ihr Bruchstücke seiner Vergangenheit offenbart, als ihre Beziehung begonnen hatte ernst zu werden, aber sie hätte nie gedacht, dass diese Vergangenheit sie so brutal einholen würde.
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Dreieinhalb Monate zuvor
„Guten Morgen, Bella“, begrüßte Joshua Isabelle und hielt ihr eine Tüte mit frischen Brötchen hin. Amüsiert schüttelte die Angesprochene den Kopf und gab ihm einen Kuss zur Begrüßung.
„Du sollst mich nicht so nennen!“
„Du bist aber wunderschön, also werde ich damit nicht aufhören“, konterte er.
Es war Teil ihres Spiels. Sie trafen sich jetzt seit ein paar Wochen. Erst flüchtige, wie zufällige Begegnungen zu einem Spaziergang oder Kaffee. Kaum wahrnehmbar wurden daraus kleine Rituale. Ein gemeinsames Picknick in Isabelles Mittagspause im Humboldthain-Park und Freiluftaktivitäten an lauen Abenden. Unverfänglich und unkompliziert. Joshua blieb nie über Nacht, tauchte aber an den Wochenenden pünktlich zum Frühstück mit Brötchen auf. Er hatte sich durch das Sortiment von Croissants, Hörnchen und Mohnschnecken probiert, bis er Isabelles und Yvonnes Lieblingsgebäck kannte. Aber heute schien die Stimmung getrübt.
„Ist etwas passiert?“
Joshua sah Isabelle fragend an. Er hörte Yvonne aufgeregt telefonieren. Sie versuchte offenbar, die Person am anderen Ende der Leitung zu beruhigen. Zügig folgte er Isabelle in die Küche, weil er Yvonne mit seiner Anwesenheit nicht stören wollte.
„Sie hat ihre Mutter am Telefon. Sie ist total fertig, weil letzte Nacht eingebrochen wurde.“
Joshua sah erschrocken auf, aber Isabelles Redestrom sprudelte weiter und sie bemerkte seine Reaktion nicht.
„Sie haben oben geschlafen, während unten die Wertsachen ausgeräumt wurden. Gruselig, wenn man nicht mal mitbekommt, was im eigenen Haus vorgeht! Dieses Gefühl, ausgeliefert zu sein, ist das Schlimmste, weswegen ihre Mutter auch so fertig ist. Und dann natürlich der emotionale Wert der gestohlenen Sachen.“
Isabelle musterte Joshua verwundert. Ihr war jetzt doch aufgefallen, wie sämtliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen war.
„Puh, ich muss rüberfahren.“
Yvonne kam hereingerauscht und zog Isabelles Aufmerksamkeit auf sich. Joshua grüßte sie nur flüchtig mit einem zerknitterten Lächeln.
„Mama ist komplett aufgelöst. Ich bring sie erst mal im Hotel unter und sorge dafür, dass im Haus Ordnung gemacht wird, bevor sie dahin zurückkehrt. Papa scheint genug mit der Polizei zu tun zu haben.“
Isabelle drückte ihre Freundin und wünschte ihr viel Erfolg.
„Alles in Ordnung mit dir?“, wandte sie sich wieder Joshua zu, nachdem Yvonne aus der Tür war.
Joshua schüttelte müde den Kopf. Er trat auf den Balkon und zündete sich eine Zigarette an. Isabelle folgte ihm bis zur Balkontür und blieb, an den Türrahmen gelehnt, abwartend stehen.
„Wo war der Einbruch?“, fragte Joshua tonlos. Er vermied jeglichen Blickkontakt.
„Rosenthal.“
Sie sah, wie seine Schultern noch ein Stück tiefer sanken.
„Warst du das?“
Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze, aber Isabelle wusste nicht, ob sie die Frage nur als Scherz gemeint hatte. Obwohl sie versuchte heiter zu klingen, wusste sie nicht, was sie denken sollte. Ihre Treffen waren über die Wochen intensiver geworden. Sie genoss Joshuas Nähe, auch wenn er rätselhaft blieb. Im Grunde wusste sie nichts über ihn. Nicht einmal Geringfügigkeiten wie seine Arbeit oder seinen Wohnort. Sie respektierte, dass er noch nicht bereit war, seine Lebensgeschichte mit ihr zu teilen, auch wenn sie ungeheuer neugierig war. Auch war sie nicht so blauäugig, zu denken, dass es bei so viel Geheimniskrämerei keine dunklen Flecken gab. Bis Joshua so weit war, die Lücken zu füllen, dachte Isabelle sich ihn als einsamen Wolf, der den größten Teil seiner Zeit auf den Straßen Berlins verbrachte. Und sie vermutete auch, dass nicht alle seine Aktivitäten legal waren. Yvonne hatte mehrfach versucht, ihr ins Gewissen zu reden, dass sie zu leichtsinnig im Umgang mit ihm war, aber sie wollte ihrem Gespür vertrauen. Sie wusste einfach, dass er nicht falsch war.
„Nein, aber ich weiß, wer es war“, gab Joshua zu und warf sie damit aus dem Konzept. Sie suchte seinen Blick, aber er wich aus und sah stur geradeaus in den Hinterhof. Er fühlte sich so schuldig, als wäre er selbst bei dem Einbruch dabei gewesen.
„Mein Vater kontrolliert die Bande, die dahintersteckt.“
Joshua wartete auf ihre Reaktion. Er wollte das Entsetzen in ihren Augen nicht sehen, wenn sie erkannte, wer er war. Wen sie in ihre Wohnung, in ihr Leben gelassen hatte. Er glaubte nicht daran, sie nach dem heutigen Tag wiederzusehen, deswegen holte er sich noch einmal alle Erinnerungen, die er festhalten wollte, vor sein inneres Auge.
„Also hast du mich bestohlen bei unserem Zusammenstoß“, stellte sie nach einer endlos scheinenden Pause fest.
Unfähig zu antworten, nickte er nur.
„Dein Vater räumt mit seinen Leuten Häuser aus und du verdienst ein wenig mit Taschendiebstahl?“
Isabelle schaffte es, ohne Ärger zu sprechen, als wäre sie nur neugierig. Sie war sich sicher, dass noch mehr dahintersteckte, aber sie versuchte sich vorsichtig heranzutasten.
Er nickte wieder. Er wollte sich nicht verteidigen, da er selbst hasste, was er tat. Und noch mehr hasste, was sein Vater tat. Es war nur ein Teil der Wahrheit, aber es reichte, um aus ihm einen Kriminellen zu machen. Dass er zu mehr als Taschendiebstahl gezwungen wurde, verdrängte er auch sich selbst gegenüber.
„Entschuldige, ich gehe jetzt besser.“
Joshua drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und wollte an Isabelle vorbei in die Wohnung, aber sie versperrte ihm den Weg.
„Wo willst du hin? Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen, nachdem du so eine Bombe hast platzen lassen!“
„Möchtest du die Polizei rufen und mich verhaften lassen?“
Es war keine Provokation. Er würde das akzeptieren und warten, bis er abgeführt werden würde. Alles, was sie in Sicherheit wiegte, würde er über sich ergehen lassen.
„Was? Nein!“, reagierte sie aufbrausend und fügte wütend hinzu: „Ich könnte ihnen ja nicht mal deinen Namen nennen.“
Joshua trat bedächtig ein paar Schritte zurück. Auch wenn er sich nach ihrer Nähe sehnte, war das jetzt nicht angebracht. Isabelle hatte allen Grund aufgebracht zu sein, und sie hatte recht mit ihrer Anschuldigung. Langsam griff er in seine Gesäßtasche und zog ein kleines ledernes Etui heraus. Er nahm seinen Ausweis aus einem Fach und hielt ihn ihr hin.
„Iosua Branco“, wisperte Isabelle. „Also hast du mich belogen!“
Traurig schüttelte Joshua den Kopf, steckte seinen Ausweis wieder ein und versuchte sich zu erklären.
„Nein! Wenn ich könnte, würde ich meinen Namen offiziell ändern. Iosua ist die rumänische Form von Joshua, aber ich will nicht jeden Tag an etwas erinnert werden, was mich belastet. Meine Herkunft bedeutet mir nichts, vielmehr ist sie mir im Weg.“
„Woran hindert sie dich?“, fragte Isabelle leise. Sie hatte ihm aufmerksam zugehört und versuchte seine Beweggründe zu verstehen. Joshua fuhr sich unschlüssig mit der Hand durch die Haare. Er wollte es ihr gerne erklären, aber wie? Wie sollte er ihr verdeutlichen, welchem Zwang er unterlag.
„Zu leben, ohne als Krimineller abgestempelt zu werden. Einfach eine Chance zu haben.“
Er zündete sich erneut eine Zigarette an. Ihm fehlte die Redegewandtheit, um auszudrücken, was er wirklich sagen wollte. Es war anmaßend zu sagen, dass er nicht als Verbrecher angesehen werden wollte, wo er doch offensichtlich einer war. Ihm blieb nur abzuwarten, ob Isabelle seine Erklärung irgendwie nachvollziehen konnte.
„Erzählst du mir mehr von deinem Vater?“, fragte sie zögernd.
„Da gibt es nichts zu erzählen“, antwortete Joshua schroff. „Er ist das Paradebeispiel eines kriminellen Rumänen und bedient die Vorurteile gegen Migranten. Ich bin nicht stolz auf das, was ich tue oder in der Vergangenheit unter seinem Befehl tun musste. Ich hasse, wofür er steht, und ich arbeite nicht mehr für ihn.“ Es war ihm wichtig, das Letztere zu betonen. „Ich habe einmal versucht, ihn auffliegen zu lassen, und gab der Polizei einen anonymen Hinweis zu seinem Lager. Die Beute wurde konfisziert, aber es gab keine Beweise, die ihn damit in Verbindung brachten. Einige Handlanger, Kids aus dem Kiez, wurden anhand der Fingerabdrücke verhaftet, aber mehr passierte nicht. Außer dass mein Hinweis nicht anonym genug war und ich als Warnung, das nicht nochmal zu versuchen, im Krankenhaus landete.“
Isabelle fuhr zusammen. Die Worte trafen sie wie ein Schlag. Joshua dagegen klang vollkommen unbeteiligt und redete einfach weiter.
„Seitdem versuche ich, seinen Geschäften aus dem Weg zu gehen. Ich nehme Gelegenheitsjobs an, sobald sich etwas bietet, aber viel gibt es da bei meinen Vorstrafen nicht. Ich will mich nicht rechtfertigen, aber manchmal, wenn das Geld zu knapp ist, erleichtere ich ein paar Touristen.“
Joshua drückte auch die zweite Zigarette im Aschenbecher aus und sah Isabelle an. Er fürchtete sich vor dem Ausdruck in ihren Augen. Er erwartete Abscheu oder Mitleid, und beides würde er nicht ertragen können. Er hatte bei ihr jemand anderer sein können, jemand, den er selbst gerade erst entdeckte, und er hätte gern mehr Zeit gehabt. Er wäre gern geblieben, aber es war nicht möglich, der Realität auf Dauer zu entfliehen. Sie musste ihn irgendwann einholen.
„Ich wollte dich nicht täuschen.“
Joshua hätte gern noch mehr gesagt, ausgedrückt, was ihm die Zeit mit ihr bedeutet hatte, aber er fand keine Worte dafür. Er senkte den Kopf und versuchte erneut, die Flucht zu ergreifen.
„Bleib!“, hauchte Isabelle.
Sie stand unter Schock. Seine Beichte ließ sie innerlich zittern, aber sie hatte keine Angst vor ihm. Wenn er sie hätte bestehlen wollen, hätte er viele Gelegenheiten dazu gehabt. Angefangen damit, dass er ihr die Geldbörse nicht hätte zurückgeben müssen. Aber er hatte es getan und ihr auch danach keine Gelegenheit gegeben, an seinen Absichten zu zweifeln. Selbst jetzt war er schonungslos ehrlich. Er hätte sich nicht selbst belasten müssen. Er hätte die Beteiligung seines Vaters am Diebstahl im Haus von Yvonnes Eltern verschweigen können. Isabelle wollte ihn nicht gehen lassen. Ihre Beziehung stand noch ganz am Anfang, aber sie wollte nicht, dass sie zu Ende ging. Schmetterlinge regten sich in ihrem Bauch, wie immer, wenn sie an ihn dachte. Sie wollte ihn nicht verlieren. Im Gegenteil, sie wollte mehr.
„Bitte, Iosua, bleib! Ich will nicht, dass du gehst.“
Sie mochte den Klang seines Namens. Ihre Stimme klang fester, und um ihre Entscheidung deutlich zu machen, zog sie ihn an sich und küsste ihn.
Yvonne war nicht so einfach von Joshuas Aufrichtigkeit zu überzeugen. Sie hatte den ganzen Tag versucht, ihre Mutter zu beruhigen und ihrem Vater den Papierkrieg abzunehmen. Ihre Eltern sollten jetzt im Hotelzimmer ein wenig zur Ruhe kommen und sie selbst war mit einer weiteren Überraschung konfrontiert worden. Dabei war ihr Bedarf an unerwarteten Nachrichten für heute mehr als gedeckt. Joshua hatte darauf bestanden, dass sie ebenfalls eingeweiht wurde, da er nicht wollte, dass Isabelle ihr etwas verheimlichen musste. Er wollte auf keinen Fall zwischen den beiden Freundinnen stehen. Joshua hatte nie eine vergleichbar enge Bindung erfahren, aber umso mehr respektierte er die zwischen den beiden Freundinnen. Und er respektierte Yvonne. Sie war ihm nie mit Misstrauen begegnet, obwohl sie gerade nach der durchschaubaren Aktion mit der Brieftasche allen Grund gehabt hätte. Jetzt wollte er ihr Vertrauen rechtfertigen.
„Wenn du möchtest, verrate ich dir, wo das Lager ist. Du kannst es der Polizei melden. Wenn du willst, sag ich es ihnen. Es wird leider nicht reichen, der Bande das Handwerk zu legen, aber vielleicht ist von den Sachen deiner Eltern noch etwas zu retten“, bot Joshua an.
Es war kein leichtfertiges Friedensangebot. Er meinte es vollkommen aufrichtig und wusste um die Konsequenzen, die für ihn folgen konnten.
Der Vorschlag besänftigte Yvonne, aber Isabelle ging dazwischen.
„Das hast du doch schon einmal erfolglos versucht.“
Erst ein paar Stunden zuvor hatte er ihr erzählt, welche Reaktion es auf seinen letzten Versuch gegeben hatte. Aber Joshua zuckte nur die Schultern. Er war bereit, das Risiko einzugehen. Auch Yvonne schüttelte den Kopf.
„Im Lager sind nur noch die Wertsachen, oder? Was passiert mit dem, was mitgenommen wurde, aber wertlos ist?“
Joshua wusste, worauf sie hinauswollte.
„Modeschmuck und andere Dinge werden direkt entsorgt. Eigentlich sind die Täter angehalten, nicht zu viel mitzunehmen, aber es passiert leider. Tut mir leid, wenn wertvolle Erinnerungsstücke verloren gegangen sind.“
Yvonne nickte traurig.
„Meine Mutter hatte von meiner Oma eine Kette geerbt. Das ist so ein Erinnerungsstück. Sie trug die Kette täglich und nahm sie abends immer ab und ließ sie im Bad liegen. Die Kette ist nur aus einfachem Silber genau wie der Anhänger …“
„… aber er ist ihr Glücksbringer“, beendete Joshua den Satz. „Hast du ein Bild von der Kette?“
„Was hast du vor?“, fragte Isabelle ängstlich, während Yvonne nach einem Bild in der Bildergalerie ihres Smartphones suchte.
Joshua reagierte nicht darauf und war in Gedanken versunken. Er betrachtete aufmerksam den Anhänger, den Yvonne ihm schließlich zeigte.
„Ein keltisches Amulett mit einer gewissen mythischen Bedeutung. Nicht das Material ist etwas wert, aber es könnte sein, dass sie die Kette trotzdem behalten haben.“
Ein Hoffnungsschimmer keimte in Yvonne auf und man sah ihn in ihrem Blick.
„Meinst du, du kommst noch daran?“
„Nein!“, fuhr Isabelle erschrocken auf.
„Ja“, reagierte Joshua stattdessen ruhig. „Ich kann dir nichts versprechen, aber ich versuche es gern.“
„Stopp! Du wirst nicht in das Lager deines Vaters spazieren und die Nadel im Heuhaufen suchen.“
Diesmal ließ Isabelle nicht zu, dass sie ignoriert wurde und verschaffte sich Gehör.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich geh rein, wenn keiner da ist, und verschwinde wieder, ohne dass es einer mitbekommt.