Irrgarten des Todes - Philip K. Dick - E-Book

Irrgarten des Todes E-Book

Philip K. Dick

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Beschreibung

Der unbewohnte Planet Delmak-O ist Schauplatz eines perfiden Experiments, dem 14 Personen ausgesetzt werden. Das Einzige, was sie verbindet, scheint das »Buch von Specktowsky« zu sein, das alle im Gepäck haben. Als kurz nach ihrer Ankunft ein Mord geschieht, beginnt ein Wettlauf gegen einen unsichtbaren und übermächtigen Feind, der weitere Opfer fordert. Philip K. Dick erweckt mit ›Irrgarten des Todes‹ einen Albtraum zum Leben und lässt die Leser atemlos zurück mit dem verstörenden Gefühl, dass man sich nie sicher sein kann, was Realität und was Illusion ist.

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Seitenzahl: 268

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Philip K. Dick

Irrgarten des Todes

Roman

Aus dem Amerikanischen von Yoma Cap, durchgesehen und vollständig überarbeitet von Alexander Martin

FISCHER E-Books

Inhalt

Für meine beiden Töchter, [...]Vorbemerkung des AutorsEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehn

Für meine beiden Töchter,

Laura und Isa

Vorbemerkung des Autors

Das theologische System in diesem Roman spiegelt keines der bisher bekannten wider. Es hat seine Wurzeln in dem Versuch von William Sarill und mir, ein abstraktes, logisches System religiösen Denkens zu entwickeln, das auf der völlig willkürlichen Annahme basiert, dass Gott existiert. Ich sollte hinzufügen, dass der verstorbene Episkopalbischof James A. Pike mich in unzähligen Gesprächen mit einem Reichtum an theologischem Wissen versorgte, das mir zuvor gänzlich unbekannt war.

Maggie Walshs Erfahrungen nach ihrem Tod in dem Roman reflektieren exakt meine Erfahrungen, die ich mit LSD gemacht habe.

Die erzählerische Herangehensweise in ›Irrgarten des Todes‹ ist voll und ganz subjektiv. Damit meine ich, dass die Wirklichkeit nicht direkt beschrieben wird, sondern indirekt, aus dem Blickwinkel der Charaktere. Dieser Blickwinkel verändert sich von Kapitel zu Kapitel, obwohl die meisten Ereignisse so beschrieben werden, wie Seth Morley sie sieht.

Die Passage, die sich auf Wotan und den Tod der Götter bezieht, basiert auf Richard Wagners Version des ›Ring des Nibelungen‹, nicht auf dem ursprünglichen Mythos.

Alle Antworten auf die Fragen, die dem Tench vorgelegt werden, stammen aus dem ›I Ching‹, dem chinesischen ›Buch der Wandlungen‹.

›Tekel upharsin‹ ist aramäisch für ›Er wurde gewogen und für zu leicht befunden‹. Aramäisch war die Sprache, in der Jesus gesprochen hat. Es sollte mehr wie ihn geben.

Eins

Sein Job langweilte ihn schon seit geraumer Zeit. Also hatte er sich vor einer Woche zum Schiffssender begeben und die in seine Zirbeldrüse implantierten Elektroden an das Gerät angeschlossen. Vom Sender wurde sein Gebet zum nächstgelegenen Relaisnetz weitergeleitet und von dort in die Galaxis ausgestrahlt. Und irgendwann – so hoffte er wenigstens – würde es auf einer der Gottwelten ankommen.

Das Gebet war kurz und einfach gewesen: »Die elende Inventurkontrolle steht mir bis dahin! Bloße Routinearbeit. Dieses Schiff ist viel zu groß und außerdem völlig überfüllt. Ich bin hier absolut fehl am Platz. Kannst du mir nicht zu einer interessanteren und kreativeren Arbeit verhelfen?« Natürlich hatte er sein Gebet an den Mittler gerichtet, aber er hätte sich auch direkt an den Schöpfer gewandt, wäre es wirkungslos geblieben.

Doch es war nicht wirkungslos.

»Mr. Tallchief«, sagte Bens Vorgesetzter, als er die Inventureinheit betrat, »Sie werden versetzt. Was sagen Sie dazu?«

»Oh, ich werde sofort ein Dankgebet aussenden.« Ben spürte, wie sich Genugtuung in ihm ausbreitete; es war einfach wunderbar, so schnell Erhörung zu finden. »Wann kann ich hier weg? Bald?« Er hatte seinem Vorgesetzten gegenüber nie verhehlt, wie wenig ihn seine Arbeit befriedigte – und jetzt hatte er erst recht keinen Anlass mehr dazu.

»Ach ja, Ben Tallchief – unsere Gebetsmühle«, sagte sein Vorgesetzter mit einem spöttischen Stirnrunzeln.

»Beten Sie denn etwa nicht?«, erwiderte Ben erstaunt.

»Nur, wenn mir nichts anderes mehr übrigbleibt. Ich bin eher dafür, dass jeder aus eigener Kraft mit seinen Problemen fertigwird.« Sein Vorgesetzter klatschte ein Dokument auf Bens Schreibtisch. »Hier, die Erhörung Ihrer Gebete: Versetzung in eine kleine Kolonie auf einem Planeten namens Delmak-O. Mehr weiß ich auch nicht, aber ich nehme an, Sie werden schon alles Nötige erfahren, wenn Sie hinkommen.« Er musterte Ben nachdenklich. »Sie können eine unserer Einwegkapseln benutzen. Gegen eine Gebühr von drei Silberdollar.«

»Einverstanden.« Ben stand auf und drückte das kostbare Dokument an sich.

 

Mit dem Expresslift fuhr er hinauf in den Senderaum. Die Anlage war, wie erwartet, gerade mit offiziellen Übermittlungen ausgelastet. »Habt ihr vielleicht später mal ein bisschen Luft?«, fragte er den Cheffunker. »Ich würde gern ein Dankgebet rausschicken, aber wenn ihr zu viel zu tun habt …«

»Haben wir«, sagte der Cheffunker. »Hör’n Sie mal, erst letzte Woche haben wir ein Gebet für Sie durchgegeben. Ist das nicht genug?«

Nun, wenigstens habe ich’s versucht, dachte Ben, als er die hektische Atmosphäre des Senderaums hinter sich ließ und in seine Kabine ging. Falls je die Sprache darauf kommt, kann ich sagen, ich hätte mein Möglichstes getan, aber wie so oft seien eben alle Kanäle mit amtlichen Angelegenheiten besetzt gewesen.

Seine freudige Erregung wuchs. Endlich eine andere, eine kreativere Arbeit, und genau jetzt, wo er das am meisten brauchte. Noch ein paar Wochen mit dieser idiotischen Beschäftigung, dachte er, und ich wäre wieder an der Flasche gehangen, so wie damals. Deshalb haben sie wohl auch die Versetzung bewilligt – sie wussten, wie nahe ich inzwischen einem Zusammenbruch bin, dass ich über kurz oder lang in der Ausnüchterungszelle gelandet wäre und dann auf der Psychostation. Wie die anderen. Wie viele waren es wohl jetzt? Vielleicht zehn. Für ein Schiff dieser Größe mit einem ziemlich strengen Reglement war das nicht mal viel.

Aus dem obersten Fach seines Kleiderschranks zog er eine noch unangebrochene Flasche Scotch, Marke Peter Dawson, hervor, riss das Siegel auf und schraubte die Verschlusskappe ab. Ein kleines Trankopfer, sagte er sich, während er einen Plastikbecher füllte. Man muss das Ereignis ja schließlich feiern. Außerdem schätzen die Götter das Zeremoniell. Er leerte den Becher und schenkte nach.

Um das Zeremoniell zu vervollständigen, ging er nach kurzem Zögern zum Bücherregal und griff nach dem Buch: A.J. Specktowskys ›Wie ich in meiner Freizeit von den Toten auferstand und wie Ihnen das auch gelingen kann‹, eine billige Taschenbuchausgabe zwar, aber das einzige Exemplar des Buches, das er je besessen hatte und an dem er daher mit einer gewissen Sentimentalität hing. Er öffnete es an einer beliebigen Stelle (eine weithin empfohlene Methode) und las einige Absätze aus der Apologia pro sua vita dieses großen kommunistischen Theologen des 21. Jahrhunderts.

»Gott ist kein übernatürliches Wesen. Er ist vielmehr die erste und natürlichste Form des Seins, die entstand.«

Stimmt, dachte Ben, während er sich auf das Bett setzte. Wie spätere theologische Untersuchungen bewiesen haben! Specktowsky war nicht nur ein herausragender Logiker gewesen, sondern auch ein Prophet: Alles, was er vorausgesagt hatte, war früher oder später eingetroffen oder hatte sich als richtig erwiesen. Natürlich gab es noch eine Menge ungeklärter Fragen – so fehlte etwa eine kausale Erklärung für die Existenz des Schöpfers (wenn man sich nicht mit Specktowskys Ansicht zufriedengab, dass sich Wesen dieser Art selbst schufen und außerhalb der Zeit und damit auch der Kausalität standen) –, doch im Wesentlichen stand alles hier, auf diesen millionenfach vervielfältigten Seiten.

»Als sich die Kreise der Urschöpfung ausweiteten, nahmen Gottes Macht, Güte und Wissen ab – wie die Feldstärke mit der Entfernung von einer Ladungsquelle abnimmt –, so dass an der Peripherie des äußersten Kreises seine Güte zu schwach und sein Wissen zu gering war, um das Auftreten des Formenzerstörers wahrzunehmen, der als Reaktion auf Gottes Formenschöpfung entstand. Der Ursprung des Formenzerstörers selbst entzieht sich unserer Kenntnis; es ist unmöglich festzustellen, ob er (a) von Anfang an eine von Gott getrennte Wesenseinheit war, die nicht von Gott geschaffen wurde, sondern wie Gott von sich selbst, oder ob (b) der Formenzerstörer nur ein Aspekt Gottes ist, wobei man nicht …«

Ben ließ das Buch sinken, nahm einen Schluck Scotch und rieb sich dann müde die Stirn. Er war zweiundvierzig und hatte das Buch schon etliche Male gelesen. Ansonsten hatte er es in all diesen Jahren nur zu wenig gebracht, bis jetzt jedenfalls. Er hatte nie das Gefühl gehabt, in seinen zahllosen Jobs etwas Richtiges geleistet zu haben. Aber vielleicht kann ich ja nun etwas Richtiges leisten, dachte er. Vielleicht ist das endlich meine große Chance.

Zweiundvierzig. Sein Alter brachte ihn immer wieder aus der Fassung. Jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, was aus dem schlanken jungen Mann um die zwanzig geworden war, musste er feststellen, dass unbemerkt ein weiteres Jahr verronnen war und eine Summe vergrößert hatte, die schon lange nicht mehr mit dem Bild in Einklang stand, das er von sich selbst hatte. Er sah sich immer noch als jungen Mann, und wurde er, etwa durch ein Foto, mit seinem wirklichen Äußeren konfrontiert, hatte das meist einen Zusammenbruch zur Folge. Das war auch der Grund, warum er sich seit einiger Zeit elektrisch rasierte – weil er nicht mehr die Nerven hatte, sich selbst im Badezimmerspiegel gegenüberzutreten. Jemand hat mir meinen Körper weggenommen, dachte er von Zeit zu Zeit, und das an seine Stelle gesetzt. So war das Leben. Er seufzte.

Von all seinen mehr oder minder schäbigen Jobs hat er nur einen einzigen wirklich genossen. 2105 war das. Damals war er auf einem riesigen Kolonistenschiff, das zu einer der Deneb-Welten unterwegs war, für den musikalischen Hintergrund verantwortlich. In der Phonothek fand er sämtliche Beethoven-Symphonien, außerdem Streicherversionen von ›Carmen‹ und verschiedene Stücke von Delibes. Zuerst ließ er die ›Fünfte‹, sein Lieblingswerk, über das Audiosystem des Schiffes laufen – immer wieder, Tausende von Malen – und erfüllte damit jeden Winkel, jede Kabine, jeden Arbeitsraum des Schiffes. Sonderbarerweise beschwerte sich niemand, und so blieb er bei Beethoven, ging zur ›Siebenten‹ über und dann, während der letzten Monate, die das Schiff unterwegs war, in einem Taumel der Euphorie zur ›Neunten‹ – der er bis zum Ende treu blieb.

Vielleicht brauche ich einfach nur Schlaf, dachte er jetzt. Schlaf, ein Leben in ewiger Dämmerung, im Hintergrund nur die Musik Beethovens. Alles Übrige nebelhaft, undeutlich, friedvoll … Nein, ich will leben! Ich will handeln, etwas leisten. Das ist wichtig. Und mit jedem Jahr wird es wichtiger. Aber mit jedem Jahr, das vorübergeht, auch schwerer.

Der Schöpfer, ging es ihm durch den Kopf, kann alles erneuern. Er kann dem Zerfallsprozess Einhalt gebieten, indem er ein zerfallendes Objekt durch ein neues ersetzt, dessen Form ohne Makel ist. Und dann zerfällt auch das, der Formenzerstörer bekommt es in seine Gewalt, und schließlich wird es wieder vom Schöpfer ersetzt. Wie in einem Bienenstock – wenn die alten Bienen erschöpft sind und sterben, treten neue an ihre Stelle. Aber bei mir geht das nicht: Ich zerfalle, und der Formenzerstörer ergreift von mir Besitz. Für mich gibt es keine Erneuerung.

Hilf mir, Gott!

Aber nicht, indem du mich ersetzt. Von einem kosmologischen Gesichtspunkt aus betrachtet, wäre das natürlich das Beste, nur will ich nicht aufhören zu existieren – und vielleicht hast du das ja verstanden und deshalb mein Gebet erhört.

Der Alkohol machte ihn schläfrig, beinahe wäre er eingenickt. Er musste zusehen, dass er wieder munter wurde. Er sprang auf, ging zu seinem Vidiprojektor und legte eine willkürlich ausgewählte Disk ein. Die gegenüberliegende Wand erhellte sich, Umrisse zeichneten sich ab: Figuren, die sich bewegten, aber unnatürlich flach wirkten. Er regulierte die Tiefenschärfe, die Figuren wurden dreidimensional. Dann stellte er den Ton an.

»… Legolas hat recht. Wir dürfen einen alten Mann nicht ungewarnt und ohne Anlass töten, welche Befürchtungen und Zweifel uns auch dazu treiben mögen. Wartet ab und seht!«

Die kraftvollen Worte des alten Epos wirkten tatsächlich aufmunternd. Ben setzte sich wieder hin und nahm sich das Dokument vor, das ihm sein Vorgesetzter gegeben hatte. Stirnrunzelnd studierte er die codierten Informationen, versuchte, ihrer Bedeutung auf die Spur zu kommen. Irgendwo in diesen Ziffern und Buchstaben verbarg sich ein neues Leben, auf einem neuen Planeten.

»… Du sprichst wie einer, der Fangorn gar wohl kennt. Ist es so?«

Die Vididisk lief weiter, aber er hörte nicht mehr richtig hin, zu sehr beschäftigt damit, dem Code einen Sinn abzugewinnen.

»Was hast du zu sagen, das du bei unserem letzten Treffen noch nicht sagtest?«

Er blickte auf und sah sich einer grau gekleideten Gestalt gegenüber: Gandalf. Und einen Augenblick lang schien es ihm, als spräche der Zauberer zu ihm, Ben Tallchief, als fordere er Rechenschaft von ihm.

»Oder wünschst du, etwas ungesagt zu machen?«

Ben ging zum Projektor und schaltete ihn aus. Ich kann dir jetzt nicht antworten, Gandalf, dachte er. Ich habe zu tun – reale Dinge. Ich habe keine Zeit, mich mit einer mystischen Gestalt zu unterhalten, die vermutlich nie existiert hat. Die alten Werte bedeuten mir nichts mehr, mir liegt jetzt vor allem daran, diese verdammten Zahlen und Buchstaben zu durchschauen.

Langsam kam er drauf: Er würde sich allein auf den Weg machen, in einer Kapsel, wie es hier hieß. In der Kolonie würde er dann auf das übrige Team stoßen, einem guten Dutzend Leute aus den verschiedensten Bereichen. Qualifikationsstufe 5. Ein Projekt der C-Klasse mit Gehaltsstufe K-4. Maximale Verpflichtung: zwei Jahre. Volle Pensionsberechtigung und Krankenkasse vom Zeitpunkt seines Eintreffens in der Kolonie an. Löschung sämtlicher früherer Instruktionen – das hieß, er konnte sofort aufbrechen und brauchte seine Arbeit hier nicht abzuschließen.

Und die drei Silberdollar für die Kapsel habe ich auch, dachte er, also kann nichts mehr schiefgehen. Außer …

Es war unmöglich, herauszufinden, woraus seine Arbeit bestehen würde. Die Buchstaben und Ziffern schienen darüber nichts auszusagen – aber vielleicht lag das auch an seiner mangelnden Übung im Entschlüsseln. Jedenfalls gab der Code genau jene Information nicht preis, an der ihm am meisten gelegen war.

Dennoch sah die Sache gut aus. Ich bin zufrieden, dachte er, diese Stelle ist genau das Richtige für mich. Und wenn du es genau wissen willst, Gandalf: Ich wünsche nichts ungesagt zu machen. Gebete werden nur selten erhört, ich wäre ein Dummkopf, wenn ich das hier nicht annehmen würde. Laut sagte er: »Gandalf, du existierst nicht mehr, außer in den Gedanken der Menschen, und ich habe hier etwas, das mir die Eine, Wahre, Lebendige Gottheit gewährt hat, die ewig und vollkommen existiert. Mir bleibt nichts zu wünschen übrig.« Stille. Gandalf war verschwunden, Ben hatte das Vidi ausgeschaltet. »Vielleicht werde ich es eines Tages ja bereuen, es eines Tages ungesagt machen wollen. Aber jetzt nicht. Noch nicht. Verstehst du?« Er verstummte und ließ die Stille in sich einsickern. Er wusste, die Berührung eines Schalters würde sie sofort beenden.

Zwei

Seth Morley schnitt bedächtig den Gruyère auf seinem Teller und verkündete dabei: »Ich gehe fort.« Mit dem Messer hob er ein dickes keilförmiges Stück Käse auf und führte es zum Mund. »Morgen Abend. Der Tekel-Upharsin-Kibbuz kriegt mich nie wieder zu sehen.« Er grinste triumphierend.

Fred Gossim, der Chefingenieur der Siedlung, schien für diese Freude nur wenig Verständnis zu haben – er legte seine Stirn in tiefe Falten, seine Missbilligung erfüllte den Büroraum.

Mary Morley sagte ruhig: »Mein Mann hat bereits vor acht Jahren um diese Versetzung nachgesucht. Wir hatten nie die Absicht, hierzubleiben. Das wussten Sie.«

»Und wir gehen auch«, stotterte Michael Niemand aufgeregt. »Das habt ihr davon, dass ihr einen erstklassigen Meeresbiologen hierhergelockt habt und ihn in diesem gottverdammten Steinbruch arbeiten lasst. Uns steht das bis hierher.« Er stieß seine etwas klein geratene Frau Claire an. »Stimmt doch, oder?«

»Da es auf diesem Planeten weder Meere noch Seen gibt, sehe ich nicht, wie wir einen Meeresbiologen adäquat beschäftigen sollten«, erwiderte Gossim gereizt.

»Sie haben aber vor acht Jahren ausdrücklich einen Meeresbiologen angefordert«, bemerkte Mary. »Es war also Ihr Fehler.«

Gossims Miene verfinsterte sich noch mehr. »Aber hier ist doch eure Heimat. Wir alle« – seine Geste schloss die an der Tür stehende Gruppe von Kibbuzleuten mit ein –, »haben das hier gemeinsam aufgebaut.«

»Nun, der Käse hier ist jedenfalls schauderhaft«, sagte Seth Morley. »Kein Wunder, diese Quakkip, die ziegenähnlichen Kreaturen, die wie die Unterwäsche des Formenzerstörers riechen, können eben nichts Genießbares liefern. Was werd ich froh sein, sie samt ihrem Käse los zu sein.« Er schnitt sich ein zweites Stück von dem teuren – da importierten – Gruyère ab. Dann wandte er sich den Niemands zu. »Ihr könnt gar nicht mitkommen. Erstens: Nach unseren Instruktionen sollen wir mit einer Einwegkapsel reisen. Zweitens: In einer Kapsel haben nur zwei Leute Platz. Ihr seid also genau zwei Leute zu viel.«

»Wir nehmen eine eigene Kapsel«, erwiderte Michael Niemand.

»Ihr habt weder Instruktionen noch die Genehmigung, nach Delmak-O zu gehen«, murmelte Morley, den Mund voll Käse.

»Ihr wollt uns also nicht dabeihaben.«

»Niemand will euch dabeihaben«, meldete sich Gossim wieder. »Meiner Ansicht nach wären wir ohne euch besser dran. Aber dass die Morleys für ein derart sinnloses Unternehmen hier weggeholt werden …«

Morley musterte ihn. »Unser Auftrag wird also a priori als sinnlos bezeichnet.«

»Ach, es handelt sich doch nur um eine Art Versuchsprojekt, soweit ich das feststellen kann. Ein ziemlich kleines außerdem, bloß dreizehn oder vierzehn Leute. Ihr werdet euch dabei vorkommen wie in der Anfangszeit von Tekel Upharsin. Wollt ihr wirklich noch einmal eine solche Aufbauarbeit mitmachen? Wisst ihr nicht mehr, wie lange wir gebraucht haben, um an die hundert tüchtige Mitarbeiter zusammenzubekommen? Und da Sie schon den Formenzerstörer erwähnten: Ihre schäbige Desertion ist der Form unserer Gemeinschaft äußerst abträglich.«

»Und Tekel Upharsin meiner«, sagte Morley mehr zu sich selbst. Er spürte, wie seine Zuversicht zu bröckeln begann; Gossim und sein Gerede waren nicht ohne Wirkung. Der Chefingenieur konnte seit jeher gut mit Worten umgehen – was bei einem Ingenieur eigentlich überraschend war; vor allem damit hatte er sie all die Jahre bei der Stange gehalten. Aber zumindest für die Morleys hatten diese Worte ihre Überzeugungskraft verloren. Oder etwa nicht? Irgendwo war da noch ein nagender Zweifel – dass der behäbige, dunkeläugige Ingenieur vielleicht doch recht haben könnte.

Nein, wir werden fortgehen, dachte Morley. Am Anfang war die Tat, wie Goethe im ›Faust‹ geschrieben hat. Die Tat und nicht das Wort – eine prophetische Vorwegnahme der Existentialisten des 20. Jahrhunderts.

»Ihr werdet zurückkommen wollen«, sagte Gossim mit fester Stimme.

»Hmm«, brummte Morley.

»Und wisst ihr, was ich dann mache? Wenn ich ein Gesuch erhalte, dass ihr beide in den Tekel-Upharsin-Kibbuz zurückwollt, werde ich sagen: Wir brauchen keinen Meeresbiologen. Wir haben nämlich kein Meer. Und wir werden dafür sorgen, dass euch nicht mal eine Pfütze einen legitimen Grund liefert, wieder hier zu arbeiten.«

»Ich habe nie eine Pfütze verlangt.«

»Aber Sie hätten gern eine.«

»Ich hätte gern irgendeine Form von Gewässer, egal welcher Größe. Darum geht es uns. Das ist der Grund, warum wir nicht hierbleiben wollen – und auch nicht mehr zurückkommen werden.«

»Und Sie sind natürlich überzeugt, dass es auf Delmak-O irgendeine Form von Gewässer gibt.«

»Ja, ich nehme an …«

»Genau das haben Sie auch im Fall von Tekel Upharsin angenommen. Und damit begannen Ihre Schwierigkeiten.«

»Aber wenn sie einen Meeresbiologen suchen …« Morley seufzte. Es war aussichtslos, Gossim etwas erklären zu wollen, aussichtslos und ermüdend: Der Chefingenieur und Leiter des Kibbuz war für die Meinungen anderer Leute unzugänglich. »Lasst mich wenigstens in Ruhe meinen Käse essen.« Er nahm sich ein weiteres Stück, war inzwischen jedoch des Geschmacks überdrüssig – er hätte nicht so viel davon essen sollen. »Ach, zur Hölle damit«, sagte er schließlich und ließ das Messer fallen. Er war irritiert und überzeugt davon, dass Gossim daran schuld war. Er konnte Gossim nicht ausstehen, und überhaupt lag ihm nichts an einer Fortsetzung dieses Gesprächs. Sein einziger Trost war, dass Gossim, egal, was er darüber dachte, die Versetzung nicht annullieren konnte, weil darin ausdrücklich eine Löschung sämtlicher früherer Verpflichtungen enthalten war. Mochte er doch in die Luft gehen – tun konnte er nichts!

Gossim sah ihn nun mit finsterem Blick an. »Ich habe nur Verachtung für Ihr Verhalten.«

»Ganz meinerseits«, gab Morley zurück.

»Na, jetzt seid ihr ja wohl quitt«, sagte Michael Niemand. »Wenn Sie es doch nur einsehen würden, Gossim. Sie können uns nicht zum Bleiben zwingen. Keinen von uns.«

Wutentbrannt stürmte Gossim zur Tür, drängte sich durch die dort Stehenden und verschwand. Im Raum breitete sich Stille aus, Seth Morley atmete auf.

»Diese Streitereien ermüden dich«, sagte seine Frau zu ihm.

»Ja. Insbesondere mit Gossim. Ich bin schon von diesem einen Streit erschöpft, gar nicht zu reden von den zahllosen anderen in den acht Jahren hier … Wie auch immer, ich suche uns jetzt eine Kapsel aus.« Morley stand auf, verließ das Büro und trat hinaus in die Mittagssonne.

 

So eine Kapsel ist schon ein verrücktes Ding, dachte er, während er über die Reihen der geparkten Flugmaschinen blickte. Zum einen waren sie außerordentlich billig – er konnte für weniger als vier Silberdollar eine bekommen. Zum anderen handelte es sich um Einweg-Beförderungsmittel – weil sie einfach zu klein waren, um auch noch Treibstoff für den Rückweg mitzuführen. Man konnte damit nur einmal von einem Raumschiff oder von einem Planeten starten und musste hoffen, dass man auch bis zu seinem Ziel kam. Aber dennoch waren die Dinger sehr nützlich. Alle intelligenten Rassen der Galaxis verwendeten sie: Wie Samenkapseln trugen die kleinen Schiffe Leben von einer Welt zur anderen.

Auf Nimmerwiedersehen, Tekel Upharsin, sagte sich Morley und grüßte stumm zu den Orangenbüschen hinüber, die am Rande des Parkbereichs wuchsen.

Welche Kapsel sollen wir nehmen?, überlegte er dann. Sie sehen alle gleich schäbig aus: rostzerfressen, verschlissen. Wie das Angebot auf einem terranischen Gebrauchtwagenmarkt. Was soll’s, ich nehme die erste, deren Name mit M beginnt. Er inspizierte die Namen der Kapseln, die jeweils am Bug angebracht waren.

Die Morbide Mücke. Na gut. Nicht sehr transzendental, aber irgendwie passend, behaupteten doch einige Leute, einschließlich Mary, er hätte einen morbiden Charakterzug. Aber das stimmt nicht, dachte er. Ich mache nur gerne sarkastische Bemerkungen – die natürlich meist missverstanden werden.

Er sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass er noch genügend Zeit hatte, der Verarbeitungsanlage für Zitrusprodukte einen Besuch abzustatten.

Dort angekommen, sagte er zu einem der Angestellten in der Versandabteilung: »Ich brauche zehn Dosen Orangenmarmelade, Klasse 1A.« Jetzt oder nie, dachte er.

»Sind Sie sicher, dass Ihnen noch zehn zustehen?« Der Angestellte musterte ihn skeptisch – offenbar erinnerte er sich ähnlicher Gelegenheiten.

»Sie können den Stand meines Marmeladenkontingents ja überprüfen«, erwiderte Morley. »Na los, rufen Sie bei Joe Perser an.«

»Hab keine Zeit.« Der Angestellte holte zehn Dosen mit dem Hauptprodukt des Kibbuz und überreichte sie Morley in einer Tragetasche, nicht in einem Karton.

»Haben Sie keinen Karton?«

»Verschwinden Sie bloß.«

Morley fischte eine Dose heraus, um sich zu vergewissern, dass er wirklich 1A-Qualität bekommen hatte. Er hatte. ›Orangenkonfitüre vom Kibbuz Tekel Upharsin‹, verkündete das Etikett. ›Aus echten Sevilla-Orangen (Mutationsuntergruppe 3-B). Ein Glas voll spanischer Sonne in Ihrer Küche!‹

»Gut«, sagte er. »Danke.« Vorsichtig trug er die vollgepackte Tragetasche hinaus in die grelle heiße Mittagssonne.

Das einzig Genießbare, was in diesem Kibbuz produziert wird, dachte er, während er kurze Zeit später eine Dose nach der anderen im Laderaum der Morbiden Mücke verstaute. Ich fürchte, das werde ich wirklich vermissen.

Er aktivierte seine Halskette und rief Mary an. »Ich habe eine Kapsel ausgesucht«, informierte er sie. »Komm rüber, dann zeig ich sie dir.«

»Bist du sicher, dass sie die Richtige ist?«

»Du weißt doch, dass du dich auf meine technischen Fähigkeiten voll und ganz verlassen kannst«, erwiderte Morley etwas gekränkt. »Ich habe das Triebwerk, den Steuermechanismus und sämtliche Versorgungssysteme überprüft. Es ist alles in Ordnung.« Er befestigte die letzte Dose an einer der Magnetklammern und schloss die Klappe des Laderaums.

Seine Frau tauchte ein paar Minuten später auf, schlank, sonnengebräunt, in Hemd, Shorts und Sandalen. »Puh«, sagte sie und sah die Morbide Mücke misstrauisch an, »das Ding sieht mir etwas heruntergekommen aus. Aber wenn du sagst, es ist in Ordnung, wird’s wohl so sein.«

»Ich habe schon mit dem Einladen begonnen.«

»Einladen wovon?«

Er öffnete die Ladeklappe und zeigte ihr die zehn Marmeladedosen.

Nach einer längeren Pause sagte Mary: »O Gott.«

»Was ist?«

»Du hast die Steuerung und den Antrieb überhaupt nicht überprüft. Dir ging es lediglich darum, so viel von dieser verdammten Marmelade zu hamstern, wie du nur konntest.« Sie knallte die Klappe wütend zu. »Manchmal denke ich, du bist völlig verrückt! Unser Leben hängt davon ab, dass diese Kapsel funktioniert. Angenommen, die Sauerstoffversorgung fällt aus oder das Heizungssystem. Oder der Rumpf ist undicht oder …«

»Dann lass doch deinen Bruder das Ding begutachten«, unterbrach er sie. »Ihm vertraust du ja offenbar mehr als mir.«

»Er ist beschäftigt. Das weißt du ganz genau.«

»Offensichtlich. Sonst wäre er natürlich hier, um uns eine Kapsel auszusuchen. Er – und nicht ich.«

Seine Frau sah ihn zornig an; es schien, als wollte sie ihm ins Gesicht springen. Dann plötzlich seufzte sie, halb belustigt, halb resignierend. »Das Komische ist, dass du so erstaunliches Glück hast, ich meine, im Verhältnis zu deinen sonstigen Talenten. Höchstwahrscheinlich ist das wirklich die beste Kapsel. Aber nicht, weil du den Unterschied feststellen könntest – sondern weil du eben so verdammtes Glück hast.«

»Nicht Glück. Urteilsfähigkeit.«

»Ach, dass ich nicht lache. Du besitzt nicht die geringste Urteilsfähigkeit, jedenfalls nicht in der üblichen Bedeutung des Wortes. Aber was soll’s, nehmen wir eben diese Kapsel und hoffen, dass dein Glück uns wie üblich vor einem Schlamassel bewahrt. Aber wie kannst du so leben, Seth?« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Das ist nicht sehr fair mir gegenüber.«

»Ich hab uns doch bis jetzt gut durchgebracht, oder?«

»Du hast uns hier in diesem Kibbuz vertrocknen lassen. Acht lange Jahre!«

»Und jetzt bringe ich uns fort von hier.«

»Ja, vom Regen in die Traufe vermutlich. Was wissen wir denn schon über diesen neuen Job? Nicht mehr als Gossim, und er weiß es nur, weil er sämtliche ein- und ausgehenden Nachrichten liest, von uns allen. Er hat damals dein Gebet gelesen. Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich wusste, es würde dich nur …«

»Dieser Bastard!« Morley spürte heiße Wut in sich aufsteigen, Wut und zugleich Hilflosigkeit. »Es ist unmoralisch, die Gebete anderer Leute zu lesen.«

»Er ist der Boss hier. Und meint, er muss sich um alles kümmern. Nun, wenigstens das hat für uns bald ein Ende. Gott sei Dank! Komm schon, beruhige dich, es nützt jetzt doch nichts mehr – er hat’s schon vor Jahren gelesen.«

»Hat er etwas darüber gesagt? Hält er es für ein gutes Gebet?«

»Fred Gossim würde so etwas nie aussprechen. Aber ich denke doch, dass es gut war. Immerhin hast du die Versetzung erreicht.«

»Ja, ich glaube auch, es war gut. Weil Gott nicht viele Gebete von Juden erhört – das hat mit diesem Bund zu tun, damals, in den Zeiten vor dem Erscheinen des Mittlers, als die Macht des Formenzerstörers so groß war und unsere Beziehungen zum Schöpfer darunter litten.«

»Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie du dich damals verhalten hättest. Du hättest dich bitter beklagt, über alles, was der Schöpfer getan und gesagt hätte.«

»Nein, ich wäre ein großer Dichter gewesen. Wie David.«

»Ach, ein kleiner Angestellter wärst du gewesen, so wie jetzt.« Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und marschierte davon.

In Morley wuchs das Gefühl der Hilflosigkeit, wurde ein würgender Druck in seiner Kehle. »Bleib hier«, rief er ihr nach. »Oder ich fliege ohne dich!«

Sie ging weiter, sah sich nicht um, antwortete nicht.

 

Den Rest des Tages verbrachte Morley damit, ihre Besitztümer in die Morbide Mücke zu laden. Mary tauchte nicht mehr auf. Als es Zeit zum Abendessen war, wurde ihm bewusst, dass er die ganze Arbeit allein machte. Wo bleibt sie?, dachte er. Das ist verdammt ungerecht!

Seine vor den Mahlzeiten übliche Depression stellte sich ein. Lohnte sich das alles überhaupt? Einen miesen Job gegen einen anderen einzutauschen? Ich bin ein Versager, ging es ihm durch den Kopf. Mary hat recht: Beim Aussuchen der Kapsel habe ich versagt, und jetzt versage ich beim Einladen dieses verdammten Krams … Missmutig starrte er auf die Ansammlung von Kleidern, Büchern, Vididisks, Küchengeräten, Medikamenten, Bildern, Couchüberzügen, Tonbändern – Kram, nichts als Kram! Was haben wir in den acht Jahren hier erworben? Nichts Brauchbares. Nichts Wertvolles. Nur Kram! Außerdem brachte er ohnehin nicht alles in der Kapsel unter. Eine Menge Sachen würde er wegwerfen oder anderen überlassen müssen. Am besten wäre es, sie zu zerstören, dachte er verbittert. Die Vorstellung, dass ein anderer davon Gebrauch machen könnte, war ihm zuwider. Genau, ich werde jedes einzelne Stück verbrennen. Einschließlich all dieser knallbunten Kleider, die Mary da angesammelt hat in ihrer Elsternmanier – alles, was bunt und auffallend ist, muss sie haben … Nein, ich werde einfach ihr Zeug hier draußen aufstapeln und nur meine Sachen einladen. Ihre eigene Schuld – sie sollte hier sein und mir helfen. Wie komme ich dazu, ihren Kram einzuräumen?

Als er gerade, beide Arme voll Kleidung, aus der Kapsel stieg, bemerkte er, wie im fahlen Licht der Dämmerung eine Gestalt näher kam. Wer war das? Angestrengt starrte er ins Halbdunkel. Es war nicht Mary. Es schien ein Mann zu sein. Eine großgewachsene, breitschultrige Gestalt in einer Robe. Und lange, dunkle Haare. Plötzlich hatte Morley Angst. Es ist der Erdenwanderer, erkannte er. Er kommt, um mich zur Verantwortung zu ziehen! Zitternd bückte er sich und legte das Kleiderbündel ab. Das Gewissen begann ihn zu quälen, er fühlte, wie ihn die Last all seiner schlechten, falschen, dummen Handlungen niederdrückte. Monate, Jahre – er hatte den Erdenwanderer so lange nicht gesehen. Die Last wog schwer, die Last, die niemand von ihm nehmen konnte. Niemand außer dem Mittler.

Die Gestalt blieb vor ihm stehen. »Mr. Morley.«

»Ja.« Morley spürte, dass ihm Schweiß auf der Stirn stand. Er wischte mit dem Handrücken darüber. »Ich bin müde. Ich habe stundenlang gearbeitet, um diese Kapsel zu beladen. Das ist eine anstrengende Sache.«

Der Erdenwanderer sagte: »Diese Kapsel, die Morbide Mücke, wird Sie nicht nach Delmak-O bringen. Deshalb muss ich eingreifen, mein Freund. Sie verstehen?«

»Ja.«

»Wählen Sie eine andere aus.«

»Ja, das tue ich.« Morley nickte. »Und danke, danke vielmals! Sie … Sie haben uns das Leben gerettet.« Er starrte auf das Gesicht des Erdenwanderers, versuchte zu erkennen, ob dessen Miene vorwurfsvoll war. Aber das Gesicht des Fremden war nur ein dunkler Schattenfleck im blassen Dämmerschein.

»Es tut mir leid«, sagte der Erdenwanderer, »dass Ihre ganze Mühe umsonst war.«

»Aber das ist doch nicht der Rede …«

»Ich werde Ihnen beim Umladen helfen.« Der Erdenwanderer hob einen Stapel Kartons auf, schritt die Reihe der Kapseln entlang und blieb schließlich neben einer stehen. »Ich würde diese hier empfehlen. Sie sieht zwar nicht sehr vertrauenerweckend aus, doch technisch ist sie einwandfrei.«

»Aber …«, stotterte Morley, mit einem hastig zusammengerafften Stapel Kleider nachkommend. »Ich meine, danke! Auf das Aussehen kommt es ja nicht an. Was zählt, ist das Innere. Bei Menschen genauso wie bei Kapseln, nicht wahr.« Er lachte, doch als er merkte, wie schrill und hysterisch es klang, verstummte er abrupt. Der Schweiß auf seiner Stirn wurde eiskalt.

»Es gibt keinen Grund, sich vor mir zu fürchten«, sagte der Wanderer.

»Nun, rein intellektuell betrachtet weiß ich das«, erwiderte Morley kleinlaut.

Sie arbeiteten schweigend weiter, trugen einen Behälter nach dem anderen zur neuen Kapsel hinüber. Morley versuchte die ganze Zeit über krampfhaft, ein Gesprächsthema zu finden, irgendetwas, was er hätte sagen können, doch die Furcht lähmte seine Gedanken. Sein sonst so schneller Verstand, auf den er eigentlich große Stücke hielt, ließ ihn schäbigerweise im Stich.

»Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich einer psychiatrischen Behandlung zu unterziehen?«, fragte der Wanderer schließlich.

Morley hielt inne. »Nein.«

»Ruhen wir uns einen Augenblick aus. Unterhalten wir uns ein wenig.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich will nichts hören.« Morleys Stimme war schwach vor Furcht. Er wusste um diese Furcht, erkannte sie in all ihrer Borniertheit, und doch klammerte er sich daran wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz. »Ich weiß ja, dass ich nicht vollkommen bin. Aber ich kann mich nicht ändern, verstehen Sie? Und ich bin zufrieden, so zu sein wie ich bin.«

»Sie haben es unterlassen, die Morbide Mücke zu überprüfen.«

»Aber Mary hatte recht. Ich meine, als sie sagte, dass ich normalerweise immer Glück habe.«

»Sie wäre auch umgekommen.«

»Sagen Sie das ihr.« Nicht mir, fügte Morley in Gedanken hinzu. Bitte, sag mir nichts mehr. Ich will es nicht wissen!

Der Wanderer sah ihn einen Augenblick lang schweigend an. Dann fragte er: »Gibt es irgendetwas, über das Sie mit mir sprechen möchten?«

»Ich bin dankbar. Wirklich. Für Ihr Eingreifen.«

»In den letzten Jahren dachten Sie oft darüber nach, was Sie mir sagen würden, wenn Sie mir wieder begegnen. Viele Dinge fielen Ihnen ein.«

»Ich … ich kann mich nicht mehr erinnern.«

»Darf ich Sie segnen?«

»Natürlich«, erwiderte Morley mit immer noch unsicherer Stimme, fast flüsternd. »Aber warum? Was habe ich getan?«

»Ich bin stolz auf Sie, das ist alles.«

»Stolz? Warum?« Morley verstand nicht – er hatte Tadel erwartet.

»Vor Jahren besaßen Sie einen Kater, den Sie sehr gern hatten. Er war verfressen und hinterhältig, aber Sie liebten ihn doch. Eines Tages starb er an einer Magenblutung, verursacht durch die Knochensplitter eines marsianischen Wurzelbussards, den er aus einem Mülleimer gefischt hatte. Sie waren traurig darüber. Seine Gier hatte ihn umgebracht – und dennoch betrauerten sie ihn. Sie hätten viel dafür gegeben, ihn wieder ins Leben zurückrufen zu können, und zwar so, wie er gewesen war, gierig und verschlagen, so wie Sie ihn liebgewonnen hatten, unverändert. Verstehen Sie jetzt?«

»Ich habe damals gebetet, aber es kam keine Hilfe. Der Schöpfer hätte die Zeit zurückdrehen und ihn mir wiedergeben können.«

»Wollen Sie ihn immer noch zurück?«

»Ja.«