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"Irrgarten unter roter Sonne" nimmt uns mit auf eine Reise in die Zeit, in die frühen neunziger Jahre, und durch Raum - nach Japan. Dorthin verschlägt es Martina im Zuge ihres eigentlich heiß ersehnten Auslandsstipendiums an der Kyushu-Universität in Fukuoka, wenn, ja, wenn sie nicht wenige Monate vor ihrer Abreise Peter kennengelernt hätte. Marie Bullocks Roman lässt uns teilhaben an Martinas Liebeskummer, ihrer Beziehung zur dominanten Mutter, ihrem aufregenden Studienaufenthalt, ihren Fragen an das Leben. Doch für wen wird sie sich entscheiden? Für ihre Liebe Peter, den interessanten Künstlertyp, weit entfernt im heimischen München, oder wird jemand aus ihrem neuen Leben ihr Herz erobern?
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Seitenzahl: 470
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Kapitel – Die Jahresausstellung
Kapitel – Das erste Bild
Kapitel – Die Gefahr
Kapitel – Kein schönes Paar
Kapitel – Die Ablehnung
Kapitel – Die Halluzination
Kapitel – Das Auswahlgespräch
Kapitel – Vernunft und Ideal
Kapitel – Der Abschied
Kapitel – Der Umzug
Kapitel – Das Ankommen
Kapitel – Die Orientierung
Kapitel – MitbewohnerInnen
Kapitel – Balkongespräche
Kapitel – Der Ausflug
Kapitel – Einsamer Sonntag
Kapitel-Rot-gelb-blaue Ampeln
Kapitel – Klammeraffen
Kapitel - Ausstellungsbesuch
Kapitel – Der Briefwechsel
Kapitel – Die Versuchung
Kapitel – Ertappt
Kapitel – Zweifel
Kapitel – Die Fettnäpfchen
Kapitel - Die Aussprache
Kapitel – Headbanging
Kapitel – Besuch in Tokyo
Kapitel – Das Omen
Kapitel - Der Heimatbesuch
Kapitel – Der Schock
Kapitel – Das Experiment
Kapitel – Die Enttäuschung
Kapitel – Der One-Night-Stand
Kapitel – Golf mit Philipp
Kapitel – Rockband-Groupie
Kapitel – Andy
Kapitel – Saturday Night Fever
Kapitel-Karmische Begegnung
Kapitel - Ratschlag
Kapitel – Malen in Saga
Kapitel – Hongkong
Kapitel – Vereitelt
Kapitel – Ausflug nach Lantau
Kapitel – Ausgeheckt
Kapitel – Kolonialismus
Kapitel – Hochzeitskleider
Kapitel – 24 Jahre später
„Das ist schon alles ganz interessant hier, aber langsam werd ich müde. Wie wär’s mit der News Bar?“, schlug Erika vor.
„Hey, schau mal“, sagte Martina, ohne auf ihren Einwand einzugehen, und zog Erika am Blusenärmel näher zu sich heran. „Das Bild hier ist doch super.“ Das eher kleine Gemälde hing auf Augenhöhe in einer Ecke von Raum 1.06 der Kunstakademie in München, wo gerade die Jahresausstellung 1993 stattfand.
„Ist das ’ne Fotografie oder ’n Bild?“ Erika kniff die Augen zusammen und neigte ihren Kopf zur Seite.
„Für ’n Foto sind die Farben viel zu intensiv. Aber ich muss zugeben, es ist schon extrem realistisch gemalt. Normalerweise steh ich da ja nicht so drauf, aber das hier ist megageil.“
„Es ist ’n blaues Auto vor ’nem Berg“, sagte Erika.
„Es ist ein Fahrzeug, das im Begriff scheint, in die Richtung der bizarren Felswände einer Prärie zu fahren. Die Fahrertür hier aber“ – Martinas Zeigefinger kam gefährlich nah an das Bild heran – „also die Tür hier ist offen, so als ob jemand gerade aussteigen will und sich aufmacht, zu den Bergen zu gehen.“ Sie zog die Hand zurück und legte den Zeigefinger an ihr Kinn. „Ob man über die Berge gehen kann oder ob man sonst einen Weg um das Hindernis findet?“
„Meinst du nicht, dass der Fahrer mal kurz für kleine Jungs in die Büsche gegangen ist?“
Martina rollte gekünstelt empört mit den Augen. „Kein Wunder, dass du so schlecht in Textanalyse bist, liebe Germanistikstudentin.“
Zwei junge Männer saßen oder besser gesagt hingen gelangweilt auf Stühlen in einer Ecke des Ausstellungsraumes. Einer war eher unauffällig, er hatte leicht gewellte, dunkelblonde Haare und trug der sommerlichen Wärme entsprechend ein weißes T-Shirt und grüne Shorts zu Birkenstockpantoffeln. Er trank Cola aus der Dose. Der andere dagegen fiel nicht nur aufgrund der schulterlangen rotblonden Haare auf, sondern auch wegen seiner schwarzen Kluft und seinen stechenden braun-grünen Augen. Trotz der hohen Temperatur im Raum steckte er in einem bodenlangen schwarz glänzenden Ledermantel.
„Entschuldigung, ich hätte eine Frage“, wandte sich Martina an die beiden. „Diese Bilder sehen alle sehr konkret aus. Ich hab aber von jemandem gehört, dass man heutzutage an Kunstakademien nur noch abstrakte Bilder malen darf. Aber das sieht hier doch alles sehr realistisch aus.“
„Dürfen tun wir hier alles“, sagte der Unauffällige.
„Wir sind in der Klasse Becker und hier malen wir vor allem realistisch, aber nicht nur. In der Klasse Müller nebenan machen sie mehr Abstraktes“, übernahm der Dunkle das Wort. Dabei sah er Martina mit seinen fesselnden Augen freundlich an. Wenn Husky-Hunde grün-braune Augen hätten, dann hätten sie diese Augen.
Martina nickte verstehend und sah sich im Raum um. Diese Augen machten sie verlegen. „Aha, dann hat man mir etwas Falsches gesagt.“ Sie strich sich mit der linken Hand die langen mausblonden Haare übers Ohr. Als Kind war sie weißblond gewesen. „Wer hat eigentlich das Bild gemalt? Einer von euren Kommilitonen? Das da mit dem Auto in der amerikanischen Landschaft. Das würde ich am liebsten kaufen.“ Sie deutete lächelnd mit dem Zeigefinger auf das Gemälde. Der Dunkle setzte sich abrupt auf und verlor mit einem Schlag alle studentische Lässigkeit.
„Das ist nicht zu verkaufen. Das habe ich gemacht.“ Seine Augen leuchteten noch mehr.
„Echt?“
Er stand auf, ging zu einem niedrigen Tischchen, oder besser gesagt zu einer Gabelstaplerpalette, die als Unterlage für Visitenkarten und ein paar Ordner mit Bildern diente. Er nahm eine Karte, kam zurück zu Martina und reichte sie ihr. „Ich kann gerne mal ein Bild für dich malen, das du kaufen kannst. Ruf mich einfach an.“
Sie nahm die Karte in die Hand. Neben einer handgezeichneten Skizze von einem schwarzen Bären stand ‚Peter Hausmann‘ gedruckt, daneben eine Münchner Telefonnummer.
Sie zögerte, weil sie nicht wusste, ob sie diese in ihren Rucksack oder in ihre Jeanstasche stecken sollte, entschied sich dann aber für die rechte Hosentasche. Verlegen steckte sie die Karte weg, während er sie von Kopf bis Fuß zu untersuchen schien.
Erst jetzt erinnerte sie sich, dass Erika die ganze Zeit neben ihr ausgeharrt hatte. Fragend sah Martina Erika an. Erika grinste in ihre Richtung und schien sie mit dem Blick einer wohlmeinenden Anstandsdame zu irgendetwas ermuntern zu wollen.
„Ich heiße Martina. Martina Wirth. Ich habe leider keine Visitenkarte“, sagte Martina schließlich zu Peter. „Das mit dem Bild, das würde mir gefallen.“
„Ich steh im Telefonbuch. Erika Melis. M-E-L-I-S“, buchstabierte Erika. Martina verstand nicht. „Wir wollen in der News Bar was trinken gehen. Habt ihr Zeit? Kommt ihr mit?“, setzte Erika hinzu.
Martina verstand noch weniger. Gerade wollte Erika mit Kunst doch so wenig wie möglich zu tun haben. Sie musste es auf die Männer abgesehen haben.
„Nein danke, das ist nett. Wir müssen noch hierbleiben. Wir haben heute Aufsicht“, sagte Peter, sah dabei aber Martina an, nicht Erika.
„Also, wie gesagt, ich überlege …“ Martina wurde von einer heranschwirrenden jungen Frau unterbrochen. Sie hatte ihre dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, an den Seiten hingen Strähnen herunter. Die etwas hervorstehenden Augen waren mit dickem Kajal umrundet, eine schwarze spitzenbesetzte Tunika reichte bis zur Mitte ihrer Schenkel, die in Bluejeans steckten. „Hi, Peter“, sagte sie und drückte dem noch immer stehenden hochgewachsenen Dunklen einen Kuss auf die Lippen. Sein schwarzer Mantel umhüllte ihn wie einen Magier. Peter lächelte die Neuangekommene an, ließ den Kuss aber mehr geschehen, als dass er ihn erwiderte. Martina sah, wie Erika kurz die Augen schloss und leise seufzte.
„Dann stören wir nicht weiter. Tschüs.“ Martina nahm Erika am Arm und ging mit ihr zur Tür hinaus.
„Mensch, scheiße.“ Erika schlug leicht mit einer Faust auf ihren Oberschenkel, als sie im von der Nachmittagssonne durchfluteten Korridor zum Ausgang der Akademie steuerten.
„Was scheiße? Hat dir der … wie hieß er …“, Martina nahm die Visitenkarte aus ihrer Jeanstasche und warf einen Blick darauf, „hat dir der Peter Hausmann gefallen?“
„Du verstehst auch gar nichts. Du hast ihm gefallen. Zumindest dachte ich am Anfang, du würdest ihm gefallen. Aber dann kam diese Tussi … jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Für mich sah es auf alle Fälle so aus, als ob … Na ja, wie sagt man doch immer: Eine Freundin ist ein Grund, aber kein Hindernis. Oder so ähnlich.“
„Ach, jetzt komm. Der will doch nur ’n Bild verkaufen. Für so einen bin ich doch viel zu sehr ’n Normalo.“ Sie sah an sich herunter. Bequeme schwarze Halbschuhe, um möglichst schnell von einem Japanologieseminar zu einer BWL-Vorlesung und zurück zu hechten. Leicht ausgewaschene Bluejeans. Eine kurzärmelige beigefarbene Sommerbluse, darüber ein schwarzes Halstuch.
„Ihr teilt auf jeden Fall eine Vorliebe für Schwarz, du hast eine schwarze Bikerjacke, einen schwarzen Wintermantel und viele schwarze Hosen.“
„Das ist nur, weil es mich schlank macht. Aber ich steh auf eleganteres Schwarz.“
„Wie du meinst. Aber jetzt ab in die News Bar. Ich brauch jetzt echt ’nen Kaffee – und unsere treue Nina wartet bestimmt schon auf uns.“
„Takanobu kommt auch“, sagte Martina.
„Takanobu? Ach, du meinst den japanischen Jurastudenten? Vielleicht können wir den ja mit Nina verkuppeln“, grinste Erika und hüpfte ausgelassen die Treppe zum Erdgeschoss hinunter.
„Du denkst doch immer nur an das eine, liebe Theologiestudentin“, seufzte Martina und schüttelte den Kopf. Erika studierte Deutsch und Religion auf Lehramt an Gymnasien und Nina war im Magisterfach Germanistik eingeschrieben.
„Übrigens, Nina ist seit einem Monat fest mit dem Physiker Michael zusammen.“
„Nur wir sind die ewigen Singles.“ Erikas Stimme war leiser geworden. „Aber davon lassen wir uns nicht entmutigen. News Bar – wir kommen.“ Erika stapfte mit großen Schritten dem Ausgang entgegen.
Zwei Tage später klingelte das Telefon in Ottobrunn, wo Martina bei ihren Eltern lebte. Mit S- und U-Bahn konnte sie bequem zur Uni pendeln.
Martina nahm den Hörer ab.
„Martina Wirth.“
„Hi, ich bin’s. Erika. Du wirst nicht glauben, wer mich gerade angerufen hat.“
„Wer?“
„Peter Hausmann.“
„Peter? Wer …? Ach, du meinst den Mann aus der Ausstellung in der Kunstakademie?“
„Exactly. Und er hat mich gefragt, ob ich ihm deine Nummer geben könnte, weil … er möchte nämlich ein Bild für dich malen. Ich hab ihm gesagt, ich muss dich erst fragen, ob es dir recht ist. Bist du noch interessiert?“
Martina überlegte kurz. „Interessiert wär ich zwar schon, aber ich müsste halt erst wissen, wie viel es kostet. Ich hab fast mein ganzes Sparkonto für die Japanreise letztes Jahr abgeräumt.“
„Frag ihn doch einfach. Sicher lässt er mit sich handeln. Also, darf ich ihm deine Nummer geben? Oder hast du noch seine Karte?“
Martina nestelte an ihrer Hosentasche herum. Tatsächlich. Da war sie noch. Sie hatte sie ganz vergessen.
„Ja, ich hab sie noch. Und der hat sich echt deinen Namen gemerkt und dich im Telefonbuch gefunden. Ist ja süß – ich meine – cool.“
„Nicht? Find ich auch. Dann ruf ihn am besten gleich an. Er ist gerade zu Hause. Tschüs.“
Als der Besetztton anzeigte, dass Erika aufgelegt hatte, stand sie zuerst unschlüssig mit dem Telefonhörer an ihrem Herzen im marmorgetäfelten Hausgang. Dann gab sie sich einen Ruck und legte die Karte neben das Telefon, um die Nummer sehen zu können. Sie tippte diese in das grüne Tastentelefon.
„Helmut Weber“, sagte eine Männerstimme.
„Hallo, eh, Entschuldigung, ist dort nicht Peter Hausmann?“
„Doch, der wohnt auch hier. Ich hol ihn schnell.“
Sie hörte ein Klacken, Schritte, Klopfen, eine gedämpfte Männerstimme sagte: „Hey, Peter, Anruf für dich.“ Peter Hausmann wohnte wohl in einer WG.
„Ja?“ Es war die Stimme, zu der die unglaublichen Augen gehörten.
„Hier ist Martina Wirth. Hast du gerade bei Erika angerufen? Sie meinte, ich soll dich anrufen.“
„Ja, habe ich. Schön, dass du dich meldest. Also, ich wollte auf dein Angebot zurückkommen und ein Bild für dich malen. Das Motiv kannst du dir aussuchen.“
„Ein Motiv? Das is’ ’n bisschen schwierig, ich hab noch nie ein Bild in Auftrag gegeben. Hm … Überhaupt, wie viel würde das kosten?“
„Nichts.“
„Wie bitte?“
„Es würde nichts kosten. Das ist ein Geschenk für dich, für meine erste Sammlerin.“ Er lachte.
„Nee, das kann ich nich’ annehmen. Sagen wir, 150 Mark?“
„50 Mark – und ein paar Tuben Ölfarbe sowie eine Leinwand.“
„Also gut, 50 Mark plus Sachwerte. Und als Motiv – vielleicht eine kleine Variation des Präriethemas?“ Auf die Schnelle fiel ihr nichts Besseres ein, aber es war auch wirklich das, was sie haben wollte.
„Okay, inwieweit variiert?“
„Hm, das überlass ich deiner künstlerischen Freiheit.“
„Okay, dann fang ich damit an und meld mich wieder, wenn ich was Erkennbares auf der Leinwand habe. Könntest du mir vielleicht deine Nummer geben?“
Sie diktierte die elterliche Telefonnummer.
„Wo wohnst du eigentlich?“, hakte Peter nach.
„In Ottobrunn. Und du?“
„In der Schraudolphstraße. Fast an der Ecke Schellingstraße.“
„Dann hast du’s ja nicht weit zur Akademie.“
„Nee.“ Ein paar Sekunden sagten beide nichts.
„Gut“, unterbrach Peter die Stille. „Dann meld ich mich bald wieder. Tschüs.“
„Tschüs.“
„Wer war das denn?“ Martinas Mutter steckte ihren Kopf durch einen Türspalt aus der Küche.
„Ach, ein Maler, ein Kunststudent.“
„Du kennst einen Maler?“
„Nicht richtig. Ich hab ihn vor ein paar Tagen bei der Abschlussausstellung an der Kunstakademie kennengelernt. Dort wollte ich ein Bild von ihm fast mit nach Hause nehmen; es war aber leider nicht verkäuflich. Deswegen hat er mir angeboten, ein Bild für mich zu malen, aber keine Angst, es kostet nur ungefähr 50 Mark.“
Mutter schüttelte den Kopf. „50 Mark für ein Bild. Als bräuchtest du nichts dringender.“ Martinas Begeisterung für die Kunst, die vor ein paar Jahren erste Knospen getrieben hatte, war Mama immer unverständlich geblieben. Als Martina ihre Mutter in die Chagall-Ausstellung der Hypokulturstiftung mitnehmen wollte, hatte sie sich geweigert, acht Mark Eintrittsgeld dafür auszugeben. Geld in der Welt der langsam alternden Dame hatte in Immobilien investiert zu werden, und nicht in flüchtige Amüsements.
Leider gab es in Martinas Studiengang Japanologie keinen Professor, der auf japanische Kunst spezialisiert war. So verlegte sie sich auf die Kunst der Gedanken und Spiritualität, auf japanische Philosophie und Religion. Dennoch hatte sie Japanologie nicht zuletzt deshalb gewählt, weil die japanische Ästhetik Formen und Farben in minimalistischer Ausführung einzigartig darzustellen vermochte, seien es nun Gärten, Blumenarrangements oder Tuschbilder. Auch Martina versuchte sich im zeichnerischen Ausdruck, aber sie wusste, dass ihre dilettantischen Malversuche nie zu etwas führen würden. Ihre Liebe zum Malen war ein Schwärmen aus der Beobachterperspektive, so wie man einen Filmstar anschwärmt, bei dem man weiß, dass man ihn nicht haben kann. So wie man seine öffentlichen Regungen in sämtlichen Klatschblättern verfolgt und jeden einzelnen seiner Filme sieht, wie fraglich deren Qualität zumal sein konnte. Martina wusste mittlerweile fast alles über die Kunstszene. Sie wusste, wo die wichtigsten Museen der Welt beheimatet waren – die Uffizien in Florenz und den Louvre in Paris hatte sie selbstverständlich schon besucht – sie hatte ein Kunstmagazin abonniert und war auf Vernissagen ein häufiger Gast. So hatte sie auch gewusst, dass die Kunstakademie jedes Jahr Gäste einlud, um die Werke der Nachwuchskünstler, die sie heranzog, einer kritischen Öffentlichkeit vorzustellen. Das war für sie seit zwei Jahren ein fester Termin, den sie sich akribisch in ihren Kalender eintrug.
Peter: Diese Martina hat was. Mit Siegrid kriselt’s jetzt schon zu lange. Aber vielleicht wird’s ja wieder. Doch wie mein früherer Karatetrainer mal zu mir sagte: Sich nur auf eine Frau zu konzentrieren, bringt’s nur, wenn man sich absolut sicher ist.
Martina fand den Eingang zum Baumstraßen-Atelier nicht sofort. Peter hatte ihr die Adresse des Ateliers genannt, als er sie zum zweiten Mal angerufen hatte, und gesagt, der Eingang zum Hof sei in der Klenzestraße. Das Ateliergebäude lag etwas entfernt von den anderen Gebäuden der Straße – wummernde Bässe, die aus dem dritten Stock zu kommen schienen, verrieten ihr, warum. In der Eingangshalle, die das gleiche Bohemian-Flair wie die Kunstakademie ausstrahlte, hielt sie erst einmal inne. In welchem Stock war wohl Peters Atelier? Sie näherte sich einem Korkbrett, auf dem bunte Aushängezettel wild durcheinander hingen. Ein Tanzkurs für Schwule und Lesben immer dienstags ab sechs Uhr, das musste wohl etwas mit der lauten Musik und der Stimme zu tun haben, die kaum hörbar bis zu ihrem Ohr drang: „Eins, zwei, drei, Am-ster-dam.“ Anscheinend wurde gerade Samba geübt. Martina hatte zwar schon lange nicht mehr getanzt, aber die beiden Tanzkurse, die sie mit siebzehn absolviert hatte, waren ihr noch gut in Erinnerung. Tanzen wäre mal wieder schön, aber man bräuchte dazu einen Partner. Wie Schwule und Lesben wohl entschieden, wer Frauen- und wer Männerschritte tanzte? Ah, hier war ein Flyer, der einen Aquarellworkshop in einem Atelier ankündigte. Sie musste also richtig sein. Wenn sie die Treppen hinaufstieg, würde sie Peter und das Atelier sicher finden. Die Stufen knarzten, an den Fenstern entlang der Treppe klebte Taubendreck. Im dritten Stock stand eine Tür offen. Martina näherte sich ihr vorsichtig. Da war es, der rotbraune Haarschopf. Martinas Herz klopfte. Treppensteigen hatte ihr schon immer Probleme bereitet. Peter wandte seinen Kopf zur Tür und die grün-braunen Husky-Augen begannen zu strahlen.
„Hey, da bist du ja! Hab schon gedacht, du kommst nicht.“ Martina sah auf ihre Armbanduhr. Sie zeigte Viertel vor sieben.
„Sorry, erst hab ich den Eingang nicht gefunden und dann wusste ich nicht, welches Stockwerk.“
„Ja, liegt schon ganz schön versteckt hier. Und tut mir leid, dass ich vergessen habe, dir das Stockwerk zu sagen.“
„Nee, kein Problem, sorry, dass ich zu spät bin.“ Langsam trat sie in den Raum. Ein wandhohes Fenster ließ das Abendlicht des wolkenlosen Sommertags herein. Es war fast noch taghell, schließlich war Sommerzeit. Rechts und links neben der Tür konnte man mannshohe Staffeleien sehen, jeweils im Neunziggradwinkel vom Fenster, damit möglichst viel Licht auf die Bilder fallen konnte. Peter stand in einem Arbeitskittel vor der rechten Staffelei, an der das Präriebild lehnte. Bis auf die Farbe des Autos – es war bordeauxrot und nicht wie ursprünglich blau – sah es fast so aus, als sei es identisch mit dem Exemplar, das Martina in der Kunstakademie gesehen hatte. Allerdings gab es noch ein paar weiße Flächen.
„Ist das okay?“ Peter hatte offenbar bemerkt, dass sie auf das Auto starrte. „Ich kann’s auch übermalen, wenn …“ „Nee, das Rot ist perfekt. Ich liebe Weinrot.“
„Wegen der leeren Stellen …, also, du kannst dir was wünschen.“
„Tja, mit Prärien kenne ich mich nicht so aus. War nur einmal in New York. Kenn mich mehr mit Japan aus.“ Sie stützte ihr Kinn auf den Daumen ihrer rechten Hand.
„Mit Japan? Warst du da schon mal?“ Peters Lächeln schien ernsthaft interessiert.
„Ich studier Japanologie.“
„Oh, interessant.“
Diesen Kommentar hörte sie von vielen. Doch die meisten schoben diese Frage nach: ‚Und was willst du damit später machen?‘ Peter sagte stattdessen: „Ich hab früher Karate gemacht. Und hab mich ziemlich intensiv mit japanischen Holzschnitten befasst. Da gab’s vor zwei Semestern mal ’ne Vorlesung bei uns.“
„Ukiyo-e … ich meine, japanische Holzschnitte sind toll.“ Martina studierte das Bild immer noch. „Ich weiß echt nicht, was du in die Lücken malen kannst. Irgendwie bin ich wohl phantasielos …“ Ob er sie für langweilig hielt, wenn ihr nichts einfiel? Sie seufzte. Warum gefiel ihr dieses Bild nur so gut, obwohl sie nichts in ihrem Leben damit verbinden konnte? Es stellte eigentlich nicht mehr als einen Weg zu einem riesigen Hindernis dar. Aber es strahlte auch viel Freiheit aus – und Eingeborenenspiritualität vielleicht.
Nein, es war die Landschaft, die ihr gefiel. Sie liebte schöne Landschaften.
„Irgendwas mit Natur. Pflanzen, Bäume, die dorthin gehören. Ich überlasse es dir. Kennst du Amerika oder Australien?“ Sie versuchte, möglichst entschlossen zu klingen.
„Ja, Australien kenne ich ’n bisschen, also nur Perth, das ist in Westaustralien. In Perth wohnt ein Onkel von mir. Und von Perth sind wir zum Ayers Rock geflogen. Die Eingeborenen nennen ihn Uluru. Das hat mich zu dieser Art von Bild inspiriert, aber das hier ist Phantasie. Mich interessiert nämlich die Spiritualität der Ureinwohner dieser Welt. Das Auto steht für die moderne materialistische Welt, die Steppe für die traditionelle, geistige Welt und das moderne Auto muss sich darin zurechtfinden.“ Er kratzte sich am Kopf und setzte grinsend hinzu: „So würden es auf alle Fälle die Profis erklären. Ich finde Prärielandschaften einfach geil. Erinnert mich vielleicht an Winnetou.“
Martina lachte hell auf, wobei sie sich fragte, ob ihr die Erklärung ohne sarkastischen Zusatz lieber gewesen wäre.
„Haste noch Lust auf ’n Drink in ’ner Bar?“, fragte Peter, ohne sein Gesicht vom Bild zu lösen. Martinas Herz begann schneller zu klopfen.
„Ja, okay.“
„Gut, dann wasch ich nur schnell die Pinsel aus.“ Er ging zum Waschbecken in der Ecke, säuberte seine Malutensilien und wusch sich die Hände.
„Was ist dir lieber, Fraunhofer oder Faun?“, fragte er, während er seine Hände an einem ausgebleichten Handtuch abtrocknete.
„Eigentlich egal. Faun ist näher.“
„Okay.“ Sie gingen durch die Tür und Peter schloss sie mit einem Schlüssel ab. Auf dem Weg zur Gaststätte unterhielten sie sich über dies und das, Martina sprach über ihr Studium und Peter erzählte ihr von seiner Australienreise zum Ayers Rock. Martina bestellte sich einen Rotwein und Peter einen Rosé, nachdem sie an einem Tisch neben der Tür Platz genommen hatten.
„Und wie lange fliegt man dahin noch mal, nach Australien?“, fragte Martina.
„Nach Perth sind es ermüdende 20 Stunden mit Zwischenstopp und zum Ayers Rock mit einem inneraustralischen Flug noch einmal dreieinhalb Stunden. Aber erst war ich bei meinem Onkel in Perth und dann einige Tage in der Nähe vom Ayers Rock.“
„Wahnsinn, mein längstes sind Japan mit ungefähr zwölf Stunden und einmal Boston mit acht. Da hab ich drei Filme gesehen, aber den dritten nur noch im Halbschlaf.“
„Es ist schon anstrengend, aber ja … Filme sehen, lesen, Musik hören, neue Bildkonzepte entwerfen und schlafen. Dann geht es schon irgendwie vorbei.“
„Ich kann leider im Flugzeug nicht schlafen, nur dösen.“ Sie nippte an ihrem Weinglas und blickte auf den roten Fleck, den ihr Lippenstift am Glas hinterließ.
„Echt nicht? Manchmal bin ich schon weg, bevor das Flugzeug die Reisehöhe erreicht.“
Martina schwieg einen Augenblick. Sie wollte nicht zugeben, dass sie etwas an Flugangst litt, was ihr die zum Schlaf notwendige Entspannung versagte. „Kann man auf den Ayers Rock auch hochsteigen oder bist du sonst irgendwie in Australien gewandert?“, fragte sie dann.
„Ja, ich war dort droben.“
„Wie lange dauert das?“
„Ach, nur knapp ’ne Stunde. Das ist nicht besonders schwer.“
„Hätte jetzt echt gedacht, das wäre länger. Wanderst du gerne?“, fragte sie.
„Ja, total. Ich liebe Berglandschaften.“
„Ich auch. Und ein Ziel, einen Gipfel erreichen, das finde ich super.“ Sie lächelte ihn an und er erwiderte ihren Blick länger als erwartet. Ihr Herz begann wieder schneller zu schlagen und ihr Gesicht fühlte sich mit einem Mal sehr heiß an. Sie wandte ihren Blick ab, um gleich darauf etwas Warmes auf ihrem Handrücken zu spüren. Sie sah auf und erblickte Peters Hand auf ihrer. Sie ergriff seine Hand und genoss ein paar Minuten wortlos seine Nähe, doch plötzlich schoss ein Gedanke durch ihren Kopf.
„Sag mal, da war doch … also, in der Akademie … bei der Jahresausstellung, da war doch ein Mädchen“, sie zog ihre Hand weg, „also, sie hat den Eindruck gemacht, als wäre sie deine Freundin.“
„Das ist, äm … seit einer Woche vorbei.“
„Seit einer Woche?!“
„Wir sind in Freundschaft auseinandergegangen.“
„Und wer hat Schluss gemacht, wenn ich fragen darf?“
„Das … war im gegenseitigen Einverständnis.“
Da sie es als indiskret empfand, weiter in ihn zu dringen, schwieg sie. Er ergriff ihre Hand erneut und ließ seine Finger sanft über ihren Handrücken gleiten. Dann fühlte sie etwas Warmes auf ihrer Taille und plötzlich spürte sie Peters Lippen auf den ihren, während sich seine Zunge sanft den Einlass in ihren Mund erzwang. Sie küssten sich lange.
„Sollen wir bei mir noch etwas trinken?“, raunte er Martina ins Ohr.
„Ach, nein, ich gehe jetzt lieber nach Hause. Sehen wir uns am Wochenende?“
„Wochenende? Also morgen?“ Er setzte sich auf seinem Stuhl zurecht und sagte dann etwas gedehnt: „Klar. Kommst du zu mir?“
„Weißt du was? Ich würde gern in eine Kunstausstellung gehen. Mit einem Experten ist das sicher ganz was anderes. Hast du ’nen Vorschlag?“
„Hm, im Moment sind in München nur die beiden Pinakotheken interessant. In Berlin oder Düsseldorf gäbe es gerade interessante Ausstellungen, aber das ist leider zu weit weg.“
„Alte oder Neue?“
„Kommt drauf an, was dir lieber ist.“
„Dann …“, sie stützte ihr Kinn auf den rechten Zeigefinger, „… dann bin ich für die Neue.“ In der Neuen Pinakothek gab es Maler wie van Gogh, Gauguin oder Signac, in der Alten vor allem Bilder mit religiösen Motiven, zum Beispiel von Dürer oder Tizian.
„Okay, dann treffen wir uns morgen in der Neuen Pinakothek. Um drei?“ Er winkte der vorbeigehenden Bedienung zu und hob seinen Geldbeutel. Die Kellnerin nickte.
„Drei ist gut.“
„Also, das waren ein Viertel Rosé und ein Viertel Shiraz. Das macht sieben Mark vierzig“, sagte die Kellnerin.
„Acht“, sagte Peter und hielt ihr einen Zehn-Mark-Schein hin.
„Nein, getrennt“, versuchte Martina zu protestieren, doch Peter winkte ab.
„Vielen Dank!“ Martina sah es als gutes Zeichen. Er war nicht geizig.
Am nächsten Tag trafen sie sich vor dem Eingang der Neuen Pinakothek. Obwohl Martina fünf Minuten vor dem vereinbarten Termin eintraf, stand Peter schon da.
„Du bist ja überpünktlich“, sagte sie lächelnd.
„Ach“, er fuhr sich durch den braunroten Haarschopf und errötete leicht. „Meine Wohnung ist ja so ziemlich neben der Pinakothek“, murmelte er und gab ihr einen Begrüßungskuss auf den Mund. An der Kasse verlangte er zwei Eintrittskarten für Studenten. Die Kassiererin schob ihm zwei Papierschnitzel mit den Sonnenblumen von Vincent van Gogh über den Tresen, ein Bild, das in der ständigen Ausstellung hing.
„Eine Karte davon zahle ich“, sagte Martina, während sie die Frau in blauer Uniform am Arm stupste und ihr einen Zehn-Mark-Schein hinhielt.
„Wirklich?“, Die Kassiererin sah mit hochgezogenen Brauen zu Peter.
„Nee, das …“, setzte Peter an.
„Ja, wirklich“, betonte Martina. „Okay.“ Peter zuckte lächelnd die Achseln.
„Na, da hamse aber Glück, junger Mann.“ Die Kassiererin zwinkerte Peter schelmisch zu und nahm Martinas Geldschein.
„Ich will nicht, dass du alles zahlst“, sagte Martina, während sie das Wechselgeld in ihr Portemonnaie steckte. „Wir sind schließlich beide Studenten und das wäre nicht fair. Und außerdem … es würde sich für mich nicht richtig anfühlen.“
„Okay, verstehe. Ab jetzt getrennte Rechnung – aber hin und wieder können wir schon mal ’ne Ausnahme machen – ich meine, auch zu deinem Nachteil. Hä, hä“, setzte er lausbubenhaft hinzu.
Peter: Ich bin bis über beide Ohren verliebt. Siegrid denkt doch immer nur an ihre Pferde und hat mit Kunst nicht viel am Hut. Und dann dieses ganze Gezicke und das Rumflirten mit Eberhard von der anderen Malklasse. Deshalb hab ich gestern Abend mit ihr im Schelling-Salon geredet. Sie hat’s mit Fassung getragen.
Peter brach wie ein Wirbelwind in Martinas Leben ein. Sie sahen sich fast täglich und falls sie einmal keine Zeit für ein Treffen hatten, telefonierten sie – oft stundenlang. In ihrem jugendlichen Ungestüm eroberten sie Bars, Diskotheken, Partys und Vernissagen. Als sie das erste Mal miteinander schliefen, musste Martina weinen. Beide waren berauscht voneinander – das Gefühl der Verliebtheit steigerte sich von Tag zu Tag, das doch, war man einmal davon erwacht, wie ein Trick der Natur erschien, zwei Menschen zusammenzubringen, egal, ob sie zueinander passten oder nicht.
Und dann kam der Zusammenprall mit der Realität.
Mutter rutschte unruhig auf dem Küchenstuhl herum und strich über ihre Schürze. „Das mit dir und Peter – ist das eine Affäre oder ist es was Ernstes?“
“Ich glaube schon, dass es was Ernstes ist. Warum?“ Martina blickte ihre Mutter skeptisch an.
“Er? Der ist doch nichts. Meinst du, er kann eine Familie ernähren?“ ,Der ist doch nichts?‘ Hatte sie richtig gehört?
„Er ist noch Student an der Kunstakademie. Später wird er mal Künstler. Die Kunst ist doch Peters Berufung. Er ist gut. Soll man nicht das tun, wozu es einen drängt?“
“Ein Künstler. Nein. Solche Männer sind gut für etwas Kurzes, aber für etwas Langfristiges ... Ach ja, bevor ich es vergesse: Wir machen in zwei Wochen am Samstag eine Gartenparty.“
„Ui, schön, das sage ich Peter. Er kommt bestimmt gern.“
“Äm, die Party … also die Gartenparty ist zu Papas rundem Geburtstag und so werden nur Papas Freunde und Kollegen eingeladen, und deren Familien, also die Söhne, äm, und natürlich auch die Töchter.“
„Und Peter darf nicht kommen?“
„Er würde sicher nicht dazu passen.“
„Aber du kennst ihn doch noch kaum.“ Peter hatte sie nur einmal nach Hause gebracht und da hatten sich Mutter und er zwischen Tür und Angel gesehen.
„Mir wäre es lieber, er käme nicht.“
Martina schüttelte den Kopf. Sie hatte so geglaubt, Mutter würde ihre Euphorie teilen. „Ich muss im Keller die Wäsche aus der Waschmaschine nehmen.“ Mutter rauschte aus der Küche. Martina sah ihr nach. Nach dem ersten Schrecken fasste sie sich wieder. Sie würde Papa heute Abend fragen, ob Peter kommen könnte. Es war schließlich seine Geburtstagsparty. Sie stampfte mit dem Fuß auf und gab einen genervten Zischlaut von sich.
„Das Abendessen ist fertig“, hörte Martina Mutters Stimme von unten. Sie klappte ihr Japan-Handbuch zu und vermerkte sich auf einem Zettel, wo sie weiterlernen sollte. Gerade hatte sie das Kapitel Kunsthandwerk begonnen.
Betont fröhlich hüpfte sie die Treppe hinunter. Sie würde es schaffen. Sie würde Peter zur Party einladen. Vater kam gerade aus dem Keller. Nach der Arbeit widmete er sich gern seinen Modellflugzeugen.
„Hallo, Papa, wie geht’s?“
„Gut.“ Martina entging Vaters erstaunter Blick nicht. So viel Aufmerksamkeit schien er von seiner Tochter lange nicht mehr gewohnt zu sein. Beide setzten sich und warteten geduldig, bis Mutter das Essen serviert und das Tischgebet gesprochen hatte. Davor mit dem Essen anzufangen, war in der Familie Wirth verpönt.
„Hast du deinen Chef gefragt, ob er kommen kann?“, fragte Mutter.
„Ach, hab ich ganz vergessen. Aber morgen hab ich sowieso einen Termin mit ihm. Da kann ich ihn fragen.“
„Aber denk dran, ja?“
„Papiii?“ Martina war sich nicht bewusst, dass sie das Wort gedehnt aussprach – noch ein Überbleibsel aus ihrer Kindheit. „Könntest du auch Peter einladen? Sonst ist mir bestimmt langweilig.“
„Natür…“
„Natürlich nicht“, schnappte Mutter. Martina hörte einen dumpfen Laut unter dem Tisch. Vater verzog das Gesicht.
„Peter passt nicht zu den anderen Gästen.“
„Wer ist denn dieser Peter?“ Vater nahm sich Kartoffelsalat aus einer Schüssel.
„Das ist Martinas aktuelle Flamme.“ Das letzte Wort sprach Mutter absichtlich pikiert aus.
„Das ist keine Flamme, das ist mein Freund“, sagte Martina und zog ihre Stirn in Falten.
„Freund, pff … wie lange? Martinas Freunde halten ja immer nur höchstens drei Monate. Christian – Christoph oder wie hieß dieser Medizinstudent? Bei dem waren es acht Wochen oder so? Und der Architekturstudent Thomas …“ Mutter sah Martina mit hochgezogenen Augenbrauen an. Martina starrte auf ihren Kartoffelsalat. Ja, Christoph und Thomas hatten wehgetan, sehr weh, aber jetzt war es vorbei. Jetzt hatte sie ja Peter.
„Was war nur an den beiden falsch?“, murmelte Mutter und kaute.
„Ich war falsch, ich war Christoph zu wenig tolerant – er wollte seine Ex-Freundin noch wöchentlich sehen – bei ihr zu Hause und ich durfte nie mit. Und Thomas wollte mir Drogen schmackhaft machen …“ „Ach Quatsch, du bist auch wirklich überempfindlich.“ Mutter schnitt sich ein großes Stück von ihrem Schnitzel ab.
Medizinstudent – wenn Peter Medizin- oder Architekturstudent wäre, dann dürfte er wohl alles, untreu sein, lügen, betrügen, kiffen und an der Nadel hängen … Aber Peter war kein Medizinstudent und auch kein Architekturstudent. Er hatte einen anderen Weg gewählt. Einen Weg, der Martina imponierte und ihre Mutter wohl in Angst und Schrecken versetzte.
„Darf Peter jetzt kommen oder nicht?“, wandte sich Martina noch einmal an Vater.
„Mir ist es eg…“ „Es sind schon genügend Gäste geladen“, sagte Mutter.
Papa zuckte mit den Schultern und sah Martina resigniert an.
Martina sagte Peter nichts von diesem Gespräch und nichts von den Vorbereitungen für die Party. Viele Probleme lösten sich doch irgendwann von ganz allein, oder? Mama würde schon noch zur Vernunft kommen. Wenn sie erkannte, welch toller Charakter Peter doch war, dann würde alles anders werden.
Peter: Ich bin im siebten Himmel. Ich hab meine Traumfrau getroffen. Alles macht sie mit, ich kann über alles mit ihr reden, und im Bett … wow! Und jetzt haben sich Siegrid und Eberhard gefunden. Jetzt darf’s ja offiziell sein – also alles bestens.
So kam der Tag, an dem die Gartenparty stattfand. Die üppigen Rosensträucher dufteten und zeigten ihre Dornen. Martina dachte an den orange-lilafarbenen Rosenstrauß, den Peter vor nicht allzu langer Zeit gemalt hatte. Der Zierkirschbaum trug zarte frischgrüne Blätter; die riesige Kiefer ragte majestätisch und unantastbar in der hinteren Ecke des Gartens in den Himmel. Davor standen aufgereiht längliche Gartentische, die Mutters selbst gemachtes Buffet zur Schau stellten.
Unter den Eingeladenen waren in der Tat wie angekündigt viele junge Männer in Martinas Alter, meistens Söhne von Vaters Bekannten. Martina hatte Sehnsucht nach Peter. Als würde ein Stein in ihrem Magen sie zum Mittelpunkt der Erde ziehen, vermochte sie auf der Party kaum zu stehen. Deswegen setzte sie sich auf einen aus der Essecke entwendeten Holzstuhl, nachdem sie sich vom Buffet ihre Essration geholt hatte. Sie hatte nicht das geringste Interesse, im Verlauf der Feier jemals wieder aufzustehen. Mutter hatte gerade einen jungen Mann mit Beschlag belegt und schien Martina aus den Augenwinkeln zu beobachten. Währenddessen hielt Martina sich an ihren Nudelsalat und das Tiramisu, eine Kombination, die sich auf ihrem Teller zu einem seltsam süß-sauren Geschmack vermischte. Plötzlich stand ein blonder Mann neben ihr, den sie auf den ersten Blick für einen Schüler hielt.
„Bist du die Tochter des Hauses?“, fragte er.
„Ja“, lächelte Martina freundlich. ‚Lass mich in Ruhe!‘, grummelte es in ihr.
„Es tut mir weh, eine so attraktive Dame ganz alleine sitzen zu sehen.“
„Ach nein, ich bin manchmal gerne die Beobachterin.“ Martina bemühte sich, nett zu klingen.
„Dann erlaube ich mir, dich vorübergehend von deinem Beobachterposten zu erlösen. Ich hole mir nur kurz einen Stuhl.“
„Ja, bitte, gerne“, flötete Martina. Hatte ihn Mama auf sie gehetzt?
Während der junge Mann etwas ungeschickt einen Gartenklappstuhl neben ihr positionierte, sah sie Mutter weiter mit dem anderen jungen Mann sprechen, wobei sie ihren Kopf immer wieder zu Martina drehte. Sie war wirklich keine gute Schauspielerin.
„Hallo, ich heiße Manfred.“ Manfred streckte ihr lächelnd die Hand hin. Martina ergriff sie höflich: „Ich bin Martina.“
„Ich weiß“, lächelte Manfred. „Du studierst Japanologie?
Sehr interessant. Ich bin gerade im dritten Semester Soziologie. Ich hab auch einmal ein Seminar über interkulturell vergleichende Soziologie besucht. Da haben wir auch Japan behandelt. Sehr interessant! Wie fremd diese Kultur doch ist. Die japanische Frau ist doch noch sehr unterdrückt, nich’ wahr?“
„Nein, das ist nicht mehr wahr.“ Martina hatte sich während einer mehrmonatigen Reise in das Land der aufgehenden Sonne davon überzeugen können, dass die Situation der japanischen Frau nicht mehr sonderlich derjenigen der deutschen Frau hinterherhinkte. Nur dass fast der ganze Haushalt vom weiblichen Geschlecht bewältigt werden musste, war tatsächlich so. Aber das war in deutschen Familien ja auch oft der Fall. „Japaner lernen bis auf Fremdsprachen alles sehr schnell und es scheint so, dass die japanischen Frauen auch den Feminismus schnell gelernt haben.“
„Wie schlagfertig gekontert! So ’ne Antwort hätte ich jetzt nich’ erwartet.“ Manfred schlug sich begeistert auf die Oberschenkel.
„Es hat auch seine Vorteile, unterschätzt zu werden“, antwortete Martina leise.
„Ich hab nich’ gesagt, dass ich dich unterschätze. Ich dachte nur … na ja, ich dachte einfach, deine Einschätzung der Stellung der japanischen Frau wär irgendwie kritischer.“
„Du meinst, du hättest erwartet, ich bete einfach das Klischee nach, das uns die westlichen Medien vorgaukeln?“, fragte Martina kühl. „Klischees sind Klischees und auch wenn an jedem Klischee ein bisschen Wahres dran sein mag, so sollte man berücksichtigen, dass – wie der Buddhismus lehrt – alle Dinge in ständigem Wandel begriffen sind und Klischees irgendwann nicht mehr ganz der Realität entsprechen“, dozierte Martina in der Hoffnung, so abschreckend wie möglich zu wirken.
„Na ja, aber gewisse Gemeinsamkeiten oder Unterschiede bei bestimmten Gruppen kann man trotzdem herausarbeiten. Sonst würde die Soziologie ja ad absurdum geführt werden. Zum Beispiel weiß man heute, dass Männer und Frauen einfach verschieden sind.“
O nein, nicht schon wieder diese Schiene! Da Mutter ihr von Kindesbeinen an erklärt hatte, dass es das männliche Geschlecht in dieser Welt einfach besser habe als das weibliche, reagierte Martina auf dieses Thema besonders empfindlich. „Ich hab lange Jahre Judo gemacht, schreibe gerade eine Seminararbeit über japanische Schwerter und hasse Schuhe kaufen“, sagte Martina und erhob sich – entgegen ihres ursprünglichen Vorsatzes – von ihrem Stuhl.
Manfred schaute sie nur schweigend von unten her an. Inzwischen war ihre Mutter mit dem jugendlichen Gesprächspartner am Arm an sie herangetreten.
„Martina, darf ich dir Claus vorstellen? Er ist der Sohn von Herrn Ehrwalder, von einem der Tennisfreunde von Papa. Er studiert Jura.“
„Und das ist Manfred. Er studiert Soziologie. Eine genauso brotlose Kunst wie Japanologie – und die schönen Künste. Im Moment erforscht er gerade die gesellschaftlich bedingten Lebensumstände von Männern und Frauen“, sagte Martina, die ihre Abneigung gegen alles und jeden auf der Party nicht mehr verbergen konnte. Bevor sie weiterreden konnte, sagte Mutter: „Claus hat mir erzählt, dass er leidenschaftlich gerne segelt. Das wolltest du doch auch schon lange mal ausprobieren.“
„Wir können gerne einmal zusammen segeln gehen“, lächelte Claus sie an.
„Ja ... das ... das wäre nett“, stammelte Martina. Sie hatte im Beisein ihrer Mutter erwähnt, dass Peter und sie mit dem WG-Mitbewohner Hermann, der noch nicht allzu lange im Besitz eines Segelscheins war, eine Jolle auf dem Ammersee mieten wollten.
„Wie wäre es denn nächsten Sonntag?“, fragte Mutter.
Martina schäumte innerlich. Warum fragte ihre Mutter nicht gleich: ‚Wollen Sie sich nicht heute mit meiner Tochter verloben? Sie kostet fünf Kamele.‘ Wenn dem rundgesichtigen Brillenträger Claus Mutters Elan genauso unangenehm war wie ihr, hatte sie nichts zu befürchten.
„Ja ... nächsten Sonntag hätte ich Zeit – soweit ich meinen Terminkalender im Kopf habe“, sagte Claus.
„Nächsten Sonntag habe ich schon etwas vor“, log Martina. Claus zog aus seinem Geldbeutel eine Visitenkarte und überreichte sie Martina. Auf der Visitenkarte stand neben Adresse und Telefonnummer: ‚Claus Ehrwalder – stud. jur.‘
„Dann segeln wir, wenn du Zeit hast. Ruf mich einfach an.“ Martina schob die Visitenkarte in ihre Hosentasche und nickte ernst. Sie hatte keine Lust, wieder ein falsches Lächeln aufzusetzen. Sie war am Ende ihrer Verstellungskraft. Ob sie es so hindrehen konnte, dass Peter an diesem Segeltag teilnahm?
„Wir haben uns sicherlich viel zu sagen“, zwinkerte Claus.
‚Peter! Ich will zu Peter!‘, schrie es in Martina nur. Doch sie sagte nichts.
Peter: Irgendwas hat Martina, aber ich weiß nicht was. Manchmal ist sie geistesabwesend, und wenn ich sie drauf anspreche, tut sie, als wär nix. Ist sie sich nicht mehr sicher mit mir?
Martina saß in Shorts und T-Shirt auf der kleinen Jolle von Claus’ Eltern, oder besser gesagt sie kauerte in der kleinen Einbuchtung, die als Sitz fungierte, während Claus dabei war, mit den Segeln herumzuhantieren. Wie schön wäre es, wenn Peter dabei wäre! Wind strich über ihr Gesicht, Wasser plätscherte leise neben dem Heck. Claus hatte sich ein paar Tage nach dem Sommerfest telefonisch gemeldet und mit Martina einen Segeltag vereinbart. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, ihn abzuwimmeln. Und was war schon dabei, mit einem Freund mal segeln zu gehen? Mit Erika unternahm sie ja auch noch viel ohne Peter.
„Und, wie ist es? Gefällt’s dir?“
„Ja, sehr gut.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln.
„Wenn du willst, kannst du gerne ins Wasser gehen.“
Sie hatte in der Tat einen Badeanzug unter ihren Sommerklamotten an. Irgendetwas jedoch sträubte sich in ihr.
„Vielleicht später.“
„Wie bitte?“
„Vielleicht später.“ Sie bemühte sich, lauter zu klingen.
„Dann machen wir jetzt Picknick. Ich hol unsere Rucksäcke.“ Claus verschwand in der Kajüte und kam kurz darauf mit einem schwarzen und einem blauen Bündel zurück. Mutter hatte Martina ein Schinken- und ein Käsebrot eingepackt, zwei Orangen, zwei Äpfel, dazu zwei Orangensafttüten mit Strohhalm und zwei Schokoladenriegel. Claus packte ein kaltes Schnitzel aus, legte es auf einen Pappteller und besprenkelte es mit Tomatenketchup. Dann nahm er es in die Hand und biss hinein.
„Ich hab Frischetücher für die Hände, wenn du eines brauchst“, mampfte er. Sie nickte zum Zeichen, dass sie ihn gehörte hatte, und aß schweigend ihr Schinkenbrot, während sie das Ufer betrachtete. Eine Holzhütte mit Booten und ein Kirchturm glitten langsam vorbei.
„Willste ’ne Cola?“, fragte er.
„Nee, danke. Ich hab Orangensaft. Möchtest du eine Orange? Oder ’nen Apfel? Ich hab auch Schokolade.“
„Danke, ich ess nicht so gern Obst, ist mir zu süß. Lieber Salat. Aber zur Schokolade sag ich nicht nein.“
„Die ist nicht zu süß?“
„Nee, die ist anders süß. Dunkle Schokolade ist mir allerdings am liebsten.“
„Ich kann leider nur mit Vollmilchschoko dienen.“
„Passt schon.“
Sie reichte ihm die mit blauschwarzem Plastik umhüllte Süßigkeit.
„Moment.“ Da er gerade sein Fleisch verputzt hatte, rieb er sich die Hände mit einem nach Zitrone duftenden feuchten Tuch. Dann nahm er Martinas Angebot entgegen, zerriss die Verpackung und biss hinein.
Beide schwiegen. Sie versuchte krampfhaft an etwas zu denken, was sie zum Gespräch beitragen könnte. „Wie lange haben deine Eltern das Boot schon?“, fragte sie, während sie einen Apfel aus der Tasche fingerte.
„So seit acht Jahren, glaub ich. Als wir noch in Düsseldorf gelebt haben, hatten wir ’n größeres Boot in den Niederlanden. Da sind wir fast jedes zweite Wochenende hingefahren, außer im Winter natürlich.“
„Toll. Ich musste mit meinen Eltern immer in die Berge fahren, was als Teenager ziemlich nervt. Aber jetzt finde ich Wandern in den Bergen eigentlich ganz schön. Ich liebe die Landschaft dort.“
Claus schüttelte den Kopf. „Das ist nichts für mich. Ich brauche in meiner Freizeit Wasser, ganz viel Wasser.
Schwimmen und Tauchen … Warst du schon mal tauchen?“
„Nee, da bekomm ich schon Atemnot, wenn ich nur dran denke.“ Den einzigen ‚Wassersport‘, den sie aktiv ausübte, und das nur an heißen Sommertagen, war Brustschwimmen. „Ich fahr gern Ski. Und du? Fährst du gern Ski?“
„Da bekomm jetzt ich Gliederschmerzen, wenn ich nur dran denke.“ Er schnaubte kurz durch die Nase. Sie war sich nicht sicher, ob sie dies als missglücktes Lachen oder Ausdruck der Herablassung deuten sollte. Da sie bis jetzt keine gemeinsame Vorliebe gefunden hatten, versuchte Martina Hollywoodfilme zur Sprache zu bringen, aber auch dieses Thema zerrann nach einigen Minuten im Sand, denn Claus stand auf Horrorfilme. Dafür waren Martinas Nerven wiederum nicht stark genug. So war ihr nur ein Titel bekannt, den er erwähnte, ‚Das Schweigen der Lämmer‘, und der auch nur deshalb, weil er so viele lobende Kritiken in den Zeitungen bekommen hatte. Gesehen hatte sie diesen auch nicht. Okay, er musste sich ja nicht unbedingt für ‚Pretty Woman‘ erwärmen, aber doch vielleicht für ‚Wer mit dem Wolf tanzt?‘ Nein, auch dafür nicht. So gab Martina es schließlich auf, eine Konversation in Gang zu bringen, und versuchte, die angenehm warmen Sommerstrahlen zu genießen. Natürlich gelang ihr das nur bedingt, schließlich waren die peinlichen Gesprächspausen zu lang.
Als Claus sie mit seinem Auto vor dem Haus ihrer Eltern absetzte, umarmte er sie. Martina zuckte etwas zurück, erwiderte aber gehorsam die Umarmung. Mutter hatte es gesehen. Sie war begeistert. „Ist Claus nicht nett? Ihr hattet bestimmt einen schönen Tag.“
„Hm ...“, murmelte Martina und ging auf ihr Zimmer.
Claus rief bald wieder an und wollte mit Martina ins Kino gehen. Eine Kinoeinladung von einem Mann war für Martina ein Rendezvous. Sie konnte sich an einen Mann erinnern, der mit ihr partout nicht ins Kino gehen wollte, sondern ausschließlich in Opern und Konzerte. Sie hatte das als Ablehnung als Frau gesehen. Mit einer Bekannten geht man in die Oper, mit einer Geliebten ins Kino. Claus wollte sie ablehnen. Mit Claus ins Kino zu gehen, war ihr höchst unangenehm. Aber sie konnte nicht ‚nein‘ sagen. Während sie mit Peter das Leben eines Liebespaares weiterführte, schob sie den Gedanken an Claus so gut es ging zur Seite. Von Claus erzählte Martina Peter nicht. Es war auch nicht nötig. Claus war keine Gefahr für ihre Beziehung. Die Gefahr war ihre Mutter.
Claus ließ nicht locker. Martina hatte am Samstagabend keine Zeit; Claus hatte am Sonntag Zeit. Martina hatte am Freitagabend keine Zeit; dann hatte Claus am Donnerstagabend Zeit. An einem Donnerstag gingen sie in den Film ‚Abgeschminkt‘. Es fühlte sich wie Verrat an Peter an. Claus fand den Film brillant, und obwohl sie ihn auch für gelungen hielt, witterte sie hier einen Fluchtweg. „Ich finde, der Film hat an der mangelhaften Leistung von der einen Schauspielerin ... wie heißt sie noch mal ... Riemann, Katja Riemann ... gelitten. Sie hat nicht überzeugend gespielt. Diese Telefonszene, als der Typ nicht anruft, war ein bisschen zu künstlich.“ Was sie nicht sagte, war, dass ihr gerade diese Szene in Mark und Knochen gefahren war – und an Qualität hatte es dieser Szene sicher nicht gemangelt. Vor Peter war sie bestimmt ein Dutzend Mal selbst von der Umein-Telefon-herumschleich-Manie überfallen worden, die ein nicht klingelndes Telefon bei einer verliebten Frau auslösen kann. Hier war Peter ganz anders. Auf Peters Anrufe musste sie nie warten. Peter hatte genau das Timing, das ihr guttat.
„Ich liebe Frauen, die eine eigene Meinung haben“, sagte Claus.
Claus brachte Martina nach Hause und verabschiedete sich mit einem gehauchten Kuss auf ihre Wange.
„Darf ich dich wieder einmal ins Kino einladen?“, fragte Claus.
Martina wand sich innerlich, ihr entfuhr jedoch ein schnelles „Ja“.
Als Peter sie am Freitag anrief und fragte, wo sie denn am Donnerstagabend gewesen sei, es sei niemand ans Telefon gegangen, log sie: „Ich war im Kino ... Mit einer Freundin. Und meine Eltern waren bei Freunden eingeladen.“ Zumindest Letzteres stimmte.
„Was habt ihr denn gesehen?“
„Äh, … ‚Abgeschminkt‘.“
„War der Film gut?“
„Ja, war gut.“
„Er war also sehenswert?“
„Ja.“
Dies waren die einzigen Worte, die sie mehr herauswürgte als sprach, weil sie gleichzeitig angestrengt überlegte, welchen Namen sie nennen sollte, wenn Peter sie nach ihrer Freundin fragen sollte. Welche Freundin war die beste Komplizin? Erika oder Nina? Wohl Erika, oder?
„Was hast du denn gestern gemacht?“, versuchte sie Peter zuvorzukommen.
„Ach, ich war zu Hause, hab ’ne CD aufgelegt und versucht, an meinem ‚Entfesselungsbild‘ weiterzumalen. Bin aber nicht weit gekommen; deswegen wollte ich ein bisschen telefonieren – zu meiner Inspiration.“
„Ich bin also deine Muse, die dich inspirieren soll“, meinte Martina lachend.
“Jaaaa. Wer sonst? Meine Muse und meine Maus. Was geht bei dir morgen ab? Irgendwas, was wir unternehmen können?“ Die Gefahr war gebannt. Oder sollte sie Peter die Wahrheit sagen? Schließlich wollten sie sich doch vertrauen und alles miteinander teilen. Einen kurzen Augenblick schwieg sie.
„Hallo, hallo?“, rief Peter in den Hörer, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war.
Martina fasste sich wieder und sagte: „Wie wär’s mit Theater?“
Claus hatte sich dazu bekannt, dass er Theaterstücke hasste. Filme ließen den Inszenierenden doch viel mehr Möglichkeiten: leuchtende Hintergrundbilder, bunte Kostüme, eine unbegrenzte Anzahl von Schauspielern. Mit schwarzen oder weißen Bühnen, auf denen drei Stühle standen und ein unbekannter Schauspieler zwei Stunden lang einen endlosen Monolog hielte, könne er nichts anfangen.
„Aber es bleibt beim Theater doch viel mehr Raum für eigene Gedanken. Man bekommt nicht alles mundgerecht serviert“, hatte Martina versucht einzuwenden. „Außerdem kann man sich besser auf die Darbietung und Leistung der Schauspieler konzentrieren.“
„Du bist ein intellektueller Snob“, hatte Claus versucht zu scherzen. Deswegen wollte sie Samstagabend unbedingt mit Peter ins Theater gehen.
„Okay. Kammerspiele oder Residenztheater oder Theater 44?“, fragte Peter.
„In den Kammerspielen läuft ‚Warten auf Godot‘. Hast du Lust?“
„Ja, gute Idee. Ich hab gute Kritiken darüber in der Zeitung gelesen“, erklärte sich Peter einverstanden.
Nach der Theateraufführung gingen Peter und Martina in der Pfälzer Weinstube noch einen Schoppen trinken. Sie fanden einen kleinen Tisch im oberen Gewölbesaal, wo die Stimmen der anderen Gäste nur gedämpft zu hören waren und der Lärm der unteren Halle im Hintergrund dahinwogte.
„Beckett hat da wirklich etwas Geniales erschaffen. Man möchte immer wissen, wer oder was Godot ist und es wird nie enthüllt. Wer, glaubst du, ist Godot?“, fragte Peter.
„Gott?“
„Ach, das ist zu einfach“, wischte Peter Martinas allzu simplen Lösungsvorschlag beiseite. „Es könnte ein Schlepper sein oder der Drogendealer der beiden Clochards“, schlug Peter vor. Jahrzehnte später las Martina im Feuilleton einer renommierten Zeitung, dass die Vermutung berechtigt sei, die Geschichte habe mit dem Holocaust zu tun und die beiden als Obdachlose Verstandenen wären eigentlich Juden gewesen, die auf ihren Retter gewartet hätten, der sie aus der Gefahrenzone der Nazis retten sollte.
Peter hatte diese Intuition, dieses nur eines Kreativen würdige Bauchgefühl. Für Peter war ein A nicht nur ein Werkzeug, mit dem man fehlerfreie Wörter schreiben konnte; es war ein Buchstabe, der gute und schlechte Wörter gebären, der oberhalb eines Begriffes oder unter einer Vorstellung schwimmen konnte.
Als Claus wieder anrief, fragte Martina nach wenigen Sekunden unvermittelt – und es war ihr, als würde sie Claus die Gretchenfrage stellen: „Wer ist Godot für dich in ‚Warten auf Godot‘?“
„Meinst du dieses Theaterstück? Das hab ich nich’ gesehen. Um was geht es da genau?“
Martina versuchte ihm so gut es ging den Inhalt des Stückes zusammenzufassen.
„Hm. Sagt mir nichts. Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist, dass man sein Leben nicht sinnlos mit Herumhängen verplempern sollte – hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich BMW-Aktien gekauft habe?“
„Äm, nein. Soso, BMW-Aktien also. Interessant.“ Ihr sarkastischer Tonfall schien Claus dabei zu entgehen.
Hatte Mama vielleicht recht? Wäre ein Mann, der Geld für BMW-Aktien übrig hatte, nicht eine bessere Basis für …? Doch nein, es fühlte sich nicht richtig an. Claus sprach etwas ins Telefon, aber Martina hörte nicht zu. Sie nahm Anlauf, versuchte alle ihre Kräfte aufzubieten, um das unsinnige Umwerben zu beenden.
„Ich würde gerne mit einem Mann ausgehen, der sich für Theater interessiert“, sagte sie leise, sehr leise. Das klang banal, aber dieser schlichte Satz enthielt alles, was sie Claus sagen wollte.
„Also, das heißt, du willst nicht mehr mit mir weggehen?“
„So ist es.“ Sie biss sich auf die Lippen. Warum taten Ablehnungen so weh, auch wenn man selbst der Ablehnende war?
„Okay, ich habe verstanden. Mir hat …“, Claus zögerte und setzte dann neu an, „mir hat übrigens jemand gesteckt, dass du mehr auf die Gothic Scene stehst.“
„Gothic Scene? Ach, du meinst …, ja, das stimmt in gewisser Weise.“
„Tja, dann kann man nichts machen.“ Sie hörte ein tiefes Atmen in der Leitung. „Dann wünsche ich dir alles Gute.“
„Ja, ich dir auch.“
„Tschüs.“ Noch bevor sie den Gruß erwidern konnte, hatte er aufgelegt. Sie war gerade dabei, den Hörer sachte auf die Gabel zu legen, als Mutter mit hochrotem Kopf in den Flur gelaufen kam.
„Meinst du, du kannst davon leben, dir mit einem armen Malerfuzzi Theaterstücke anzusehen?“, brüllte sie Martina an. Da Martina nicht antwortete, stürmte Mutter die Treppen hoch in ihr Nähzimmer und warf die Tür hinter sich zu.
Als Martina am nächsten Tag von einer Vorlesung über japanische Geschichte nach Hause kam, hörte sie Mutter im Wohnzimmer leise weinen. Martina trat in den Raum ein und fragte besorgt, was los sei.
„Ich hätte in der Kirche auch Lektorin werden sollen. Die Müllers bekommen einen intelligenten und gut verdienenden Ingenieur als Schwiegersohn. Und wir wohl nur einen, der dir als brotloser Künstler nie das Wasser reichen kann.“ Martinas Mutter glaubte an etwas, das Martina später einen religiösen Kuhhandel nennen würde. In der katholischen Theologie heißt das ‚Werkgerechtigkeit‘. Gott müsse nur viel Gutes getan werden, wie sich zum Beispiel in der Kirchengemeinde engagieren und jeden Sonntag in die Messe gehen. Als Resultat würde Gott automatisch ein glückliches Leben für die gottesfürchtige Person erschaffen. Mutter hatte aber zu viel Lampenfieber, um vor einer vollen Kirche etwas vorzulesen. Und an anderen Aktivitäten in der Kirchengemeinde war sie entweder nicht interessiert oder dafür zu faul. Sie glaubte sich von Gott nun für ihr ängstliches Phlegma bestraft.
„Auch Peter wird seinen Weg machen. Peter und ich werden unseren Weg machen. Und vergiss nicht, dass ich auch einmal Geld verdienen werde“, verteidigte Martina Peter und sich als Paar. Mutter hörte abrupt auf zu weinen. Sie hob ihren Blick und schaute Martina mit tränennassem Gesicht kalt an.
„Mit so einem Studium kann man kein Geld verdienen. Du wirst kein Geld verdienen und Peter wird kein Geld verdienen. Wenn man selbst ein Orchideenfach studiert, sollte man sich keinen Mann aussuchen, der ebenfalls ein Orchideenfach studiert.“
Martina schluckte und starrte ihre Mutter fassungslos an. Ein paar Sekunden lang sagte niemand ein Wort. Hatte sie Mutter nicht unzählige Male sagen hören, sie solle an sich glauben? Glaubte ihre Mutter denn an sie?
„Und überhaupt: Wenn du wirklich einen Job bekommen solltest – mir wäre es peinlich, einen Hausmann als Schwiegersohn zu haben. Was sollen denn Tante Ines und all die anderen Verwandten denken?“, wimmerte sie.
Martina schnappte nach Luft, drehte sich um und lief auf ihr Zimmer. Sie warf sich aufs Bett und starrte lange auf Peters Prärielandschaft, die sie so platziert hatte, dass sie sie immer im Liegen betrachten konnte.
Zum Glück hatte sie gerade viel fürs Studium zu tun, was sie in den nächsten Tagen ablenkte. Als Martina wieder die Treppe zum Atelier hochstieg, hatte sie Mutters Kommentar längst vergessen. Oder meinte, ihn vergessen zu haben. Sie hörte Musik aus einem der Räume. Diesmal schien ein Künstlerkollege beim Arbeiten das Radio aufgedreht zu haben. Tanzmusik war es jedenfalls nicht. Martina liebte die Atmosphäre in dem etwas schmutzigen, chaotischen Raum, der nach Farbe und Terpentin roch. Das Entfesselungsbild hatte Peter vollendet; es stand in der Ecke und schockierte mit Handschellen, losen Stricken, weißen Papierfetzten und mehreren Totenköpfen. Er war gerade mit einem Bild beschäftigt, das Umrisse einer roten und blauen Katze erkennen ließ. Martina klopfte kurz auf die bereits offen stehende Tür, um Peter nicht zu erschrecken. Die bunten Katzen erinnerten an Franz Marc.
„Hi, Maus! Wie geht’s?“ Peter steckte den Pinsel in den blauen Farbtopf und kam auf Martina zu, um sie zu umarmen und zu küssen.
„Gut, mein Bärchen“, sagte Martina lächelnd, als Peter sie wieder losließ. Da Peter auf seiner Visitenkarte ein Bild von einem Bären neben seinem Namen angebracht hatte, war Bärchen zu seinem Kosenamen geworden.
„Hast du was zum Lernen oder Lesen dabei? Ich möchte noch ’ne Weile an dem Bild weitermalen.“
„Ja, ich hab japanische Geschichte dabei. Wir schreiben in vier Wochen die Semesterprüfung. Da ist es besser, jetzt schon anzufangen.“
„Gut.“ Peter zeigte auf einen verkratzten und bemalten Tisch, vor dem ein ebenso von Farbe bespritzter Holzstuhl stand.
„Ich hab extra für dich ’ne kleine Lernecke organisiert. Damit du nicht mehr auf dem kalten Boden hocken musst.“
„Super!“ Martina lehnte ihre Tasche an die Tischbeine, setzte sich und begann ihre Lernunterlagen auszupacken. Eine Stunde lang waren beide mit ihren eigenen Zielen beschäftigt. Martina liebte diese Zeiten. Sie liebte es, ihr eigenes Leben in Peters unmittelbarer Nähe leben zu können. Mama hatte ihr oft gesagt, dass ihre eigenen Pläne weniger wichtig würden, wenn ein Mann an ihrer Seite wäre. Das würden alle Frauen so machen. Doch Peter ließ Martina ihr Leben; er akzeptierte es nicht nur, sondern schätzte es. Im Gegenzug achtete und schätzte Martina Peters Leidenschaft. Dann fing Martina an zu frösteln.
„Peter, Bärchen, könnten wir die Heizung ’n bisschen aufdrehen?“, fragte Martina flüsternd, um Peter nicht zu erschrecken, der ganz in seine Katzen versunken war.
Peter sah auf und schien sich erst einmal orientieren zu müssen, wo er sich befand.
„Stimmt, es ist etwas frisch geworden. Dreh den Knauf einfach auf fünf.“
Martina streckte sich zum Fensterbrett und drehte den Knauf nach links. Sogleich schoss gluckernd das Wasser in den Heizkörper.
„Wie lang sollen wir noch machen?“ Peter sah auf seine Armbanduhr. „Also, ich würde gerne noch so ’ne Stunde weiterarbeiten. Ich bin gerade hier an einem Punkt, wo ich nicht so ganz weiterkomme. Vielleicht klappt’s ja mit Geduld und Spucke.“
„Ja, ’ne Stunde geht auf jeden Fall noch. Ich hab mich ja gerade erst eingelesen. Kannst du mich nachher noch abfragen?“
„Ja, klar. So um fünf Uhr dann, okay?“
„Ja, okay.“
Martina vertiefte sich wieder in ihre Aufzeichnungen, aus ihren Augenwinkeln aber beobachtete sie von Zeit zu Zeit Peter, der erneut ganz und gar in sein kreatives Tun eingetaucht war. Auf einem Skizzenbild, das neben dem gerade entstehenden Bild auf dem Boden lag, malte er Striche, radierte sie wieder, malte erneut Striche, zerknüllte das Papier schließlich und begann auf einem anderen Blatt von Neuem zu zeichnen. Martina liebte dieses Nichtaufgebenwollen Peters. Es hatte etwas von der Besessenheit Vincent van Goghs. Der plötzliche Gedankensprung zu van Gogh ließ sie eine leise Beklommenheit verspüren, hatte es mit diesem großen Maler doch ein böses Ende genommen. Martina schüttelte ihren Kopf, als ob diese Bewegung den unangenehmen Gedanken verscheuchen konnte. Nein, mit Peter würde es kein solches Ende nehmen. Peter war anders. Aber hatte Mama nicht gesagt …? Hatte van Gogh nicht Zeit seines Lebens von seinem Bruder gelebt? Martina konnte sich nicht mehr auf die japanische Geschichte konzentrieren. Wörter wie Bakumatsu und Meiji-Zeit verschwammen vor ihren Augen. Nein, van Goghs Bilder waren heute Millionen Dollar wert. Nach seinem Tod. Aber