Islandfeuer - Sigríður Hagalín Björnsdóttir - E-Book
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Beschreibung

Die Vulkanologin Anna Arnadóttir sieht sich mit der größten Herausforderung ihrer Laufbahn konfrontiert. Auf der isländischen Halbinsel Reykjanes kommt es zu einem Vulkanausbruch mit unabsehbaren Folgen. Für die Menschen, für das Land, für die Politik. Als Leiterin einer Expertenkommission berät sie die Regierung in dieser Gefahrenlage. Der Kommission gehören Vertreter*innen aus Wissenschaft, Katastrophenschutz, Tourismusverband, Justizministerium und Flughafengesellschaft an. Interessenkonflikte sind vorprogrammiert, und Anna wird in der Einschätzung der Situation immer unsicherer. Die Lage spitzt sich dramatisch zu. War der Ausbruch zunächst eine Touristenattraktion, die sich gut vermarkten ließ, fordert er nun Menschenleben. Und als Anna sich Hals über Kopf in den Fotografen Tómas Adler verliebt, leidet darunter nicht nur ihr Mann, sondern auch die beiden Kinder.

Ein spannender Thriller über Vulkanismus mit einer stürmischen Liebesgeschichte zwischen einer pragmatischen Wissenschaftlerin und einem unkonventionellen Fotografen, die sich inmitten einer Landschaft glühender Lavaströme wie eine weitere Naturgewalt Bahn bricht.

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1suhrkamp taschenbuch 5254

Titel

3Sigríður Hagalín Björnsdóttir

Islandfeuer

Roman

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Suhrkamp

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Die Übersetzerin dankt der VG WORT für ein Stipendium im Rahmen von Neustart KulturEin besonderer Dank an Dr. Sonja Philipp für ihre hilfreichen Kommentare und Erläuterungen

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022 © Sigríđur Hagalín Björnsdóttir, 2020

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagabbildung: Michael Najjar, Ausschnitt aus dem Werk eruption (2021), Triptychon, (c) Michael Najjar

eISBN 978-3-518-77262-1

www.suhrkamp.de

Motto

7Man könnte sagen, dass die Schmelzregion im Erdmantel, dort, wo sich Magma bildet, eine Art »Feuerherz« Islands ist.

Freysteinn Sigmundsson, Magnús Tumi Guðmundsson, Sigurður Steinþórsson: Die innere Struktur von Vulkanen. Vulkangefahren

Islandfeuer

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Motto

Reykjanes-Rücken. N63°48’56’’ W22°42’15’’

Pavane für eine verstorbene Prinzessin . (ein halbes Jahr vorher)

Unter unseren Füßen schlägt ein Feuerherz

Erklärende Anmerkung I Hekla 1947

Wir leben auf einem aktiven Vulkan

Gottes Schöpfung existiert nicht

Bulgakow im Backofen

Wer braucht mitten in einem Vulkanausbruch eine Innenarchitektin?

Erklärende Anmerkung

II

Sonnenkorona

Hemingway im Lampenhaus

Fagradalsfjall. N63°53’36’’ W22°16’10’’

Vulkane sind doof

Erklärende Anmerkung

III

Du weintest so viel, ich half dir, als du kotzen musstest

Ma che cazzo sta succedendo in questo paese?

Die Erschaffung der Welt oder ihre Zerstörung

Magmaintrusionen haben einen negativen Marktwert

Erklärende Anmerkung

IV

Kühne und mächtige Abenteuer

Crêpe de Chine

Erklärende Anmerkung V Das geologische Missverständnis

Nichts ist schöner als eine hübsche Frau, die schweigt

Die Tür war offen

Rissreparaturen in der Tiefe

Negroni

Der Europäische Forschungsrat

Kópavogur

Erklärende Anmerkung

VI

Bárðarbunga

Ästhetik: Plagioklas, Magnetit

Können sich amoralische Menschen verlieben?

Gebackenes Hühnchen, Weltuntergang

Sechshundertfädiger Seidendamast

Zu lieben ist, in ständiger Angst zu leben

Erklärende Anmerkung

VII

Krafla 1975–1984

Wir können immer noch auf schwarz gehen

Der Fagradalsfjall bebt

Krýsuvík. N63°53’43’’ W22°03’22’’

Ein perfekter Touristen-Ausbruch

Erklärende Anmerkung

VIII

CHNO

Die Liebe ist schlimmer als der Tod

Es regnet, und meinem Mann bricht das Herz

Erklärende Anmerkung

IX

Schwäne auf dem Weg ins Sommerland

Herdflächenlösungen

Kriegsmüdigkeit nennt man das wohl

Glutwolke

Schwarz. Definition: Höchste Gefahr – Bedrohung der inneren Sicherheit

Chinesische Wiegenlieder

Erklärende Anmerkung X Grótta

Siegeshoffnung

Erklärende Anmerkung

XI

Katla 1311

Sie ist im System

Feuer auf dem Hügel

Triumph Bonneville

Pavane

Skaði. N64°05’08’’ W21°45’34’’

Quellenverzeichnis

Informationen zum Buch

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9Die wichtigsten Personen

ANNA ARNARDÓTTIR, Professorin für Vulkanologie, Leiterin des Instituts für Geowissenschaften

KRISTINN FJALAR ÖRVARSSON, ihr Ehemann, Steueranwalt

ÖRN ÖGMUNDUR KRISTINSSON, ihr Sohn, 23 Jahre, arbeitet in einem Aluminiumwerk

SALKA SNÆFRÍÐUR KRISTINSDÓTTIR, ihre Tochter, 8 Jahre

TÓMAS ADLER, Fotograf

ÖRN ÖGMUNDSSON, Annas Vater, Geowissenschaftler, verstorben

GUÐRÚN OLGA JAFETSDÓTTIR, Annas Mutter, Übersetzerin und Lyrikerin

ÁSTRÍÐUR LIND, Innenarchitektin

ELÍSABET KAABER, Geophysikerin, Vorsitzende des Instituts für Geowissenschaften

JÓHANNES RÚRIKSSON, Vulkanologe beim Institut für Geowissenschaften

EIRÍKUR STEINARSSON, Geologe beim Institut für Geowissenschaften

JÚLÍUS ÓSKARSSON, Abteilungsleiter der Geogefahrenüberwachung beim Wetteramt

HALLDÓRA RÖGNAVALDSDÓTTIR, Meteorologin beim Wetteramt

MILAN PETROVIC, Leiter des Zivilschutzes

RAGNAR SVEINBJÖRNSSON, Polizeipräsident

SIGRÍÐUR MARÍA VIÐARSDÓTTIR, Geschäftsführerin des Tourismusverbands

STEFÁN RÚNAR JÓHANNSSON, Amtsleiter im Justizministerium

ÚLFAR ÁSBJARNARSON, Techniker bei Iceland Geosurvey

ÓFEIGUR KÚLD, Leiter der Küstenwache

ÓLÖF INGIMARSDÓTTIR, Security-Managerin des Flughafenbetreibers Isavia

13So endet es.

Die Erde umschließt mich, all ihre Jahrhunderte, viertausendfünfhundert Millionen Jahre. Ihr Gewicht erdrückt mich, langsam und unerbittlich, das Schlagen ihres brennenden Herzens. Naturgesetze, die nichts und niemanden verschonen, Beginn und Ende des Lebens. Ich bin in ihrer Gewalt, ein Insekt in ihrer samtig weichen dunklen Handfläche.

Ich versuche, den Kopf zu bewegen, aber er steckt fest. Ich öffne die Augen und schließe sie wieder, nichts als Dunkelheit. Es ist besser, sie geschlossen zu halten, sich darauf zu konzentrieren.

Bloß nicht denken.

Nicht darüber nachdenken, dass ich tot bin, dass sich Totsein so anfühlt.

Das ist trotz allem kein schlechter Abschluss. Löst viele Probleme. Befreit mich von Entscheidungen. Die perfekte Entschuldigung dafür, mich nicht mit meinem Tun auseinandersetzen zu müssen. Keine schlaflosen Nächte mehr, keine Tränen, keine Reue.

Nichts, nie wieder.

Staub bin ich und zu Staub kehre ich zurück, aber mein Gehirn weigert sich, aufzugeben. Es fantasiert weiter wie besessen vom Weltuntergang, produziert Bilder von Häusern, die in schwarze Erdspalten stürzen, sekundenlang auf dem Rand schaukeln, sich dann langsam zur Seite neigen und mit einem schweren Ächzen ins Feuer sinken. Möbel, Gemälde, Fotoalben, Klaviere, Mikrowellen, alles verschwindet unter der schwarzen Zunge, die aus dem roten Maul kommt, über 14das Land fließt und alles vernichtet, was ihr den Weg verstellt, alle Erinnerungen und Berührungen, Kinderzeichnungen und gründlich gesaugten Teppiche, alles unterliegt diesem unstillbaren Hunger und versinkt in der Dunkelheit.

Finden Sie das nicht schön?

Deine Stimme klingt in meinem Kopf, als wärst du neben mir, dein Gesicht leuchtet vor kindlicher Begeisterung. Du lächelst mich an, deine Augen strahlen. Mein Gehirn weiß, dass das eine Täuschung ist, du bist nicht hier, aber mein Herz jauchzt vor Freude und bricht zugleich. Wenigstens durfte ich lieben.

Hör auf, schimpfe ich mit mir, hör auf, zurückzudenken, dich zu erinnern, dich zu sehnen. Atme nicht so hektisch, sonst verbrauchst du das letzte bisschen Sauerstoff, das noch da ist, sei vernünftig, Frau! Benutz deinen beschissenen Verstand, Homo sapiens, was nutzt er dir jetzt? Du Kreatur, die sich als kluger Mensch ansieht, als Krone der Schöpfung: Jetzt liegst du hier zusammengekrümmt, ein Wurm im Schoß der Erde, eine Maus unter dem Moos, das überdimensionierte Gehirn vollgestopft mit Erinnerungen und Fakten und Reue, Formeln und Dezimalstellen und Informationen und Träumen. Du dachtest in deinem Hochmut, dass du all das auseinanderhalten, dass du die Welt mit deinem Wissen erfassen könntest. Dabei warst du noch nicht einmal fähig, dein eigenes Herz zu verstehen, dessen einfachste Gesetze, die alle kennen sollten.

So endet es, aber hier begann es nicht.

Alles begann letzten Winter. Weißt du noch?

15Reykjanes-Rücken

N63°48’56’’ W22°42’15’’

16Der Reykjanes-Rücken ist in vielerlei Hinsicht einzigartig auf der Welt. Er bildet eine der längsten zusammenhängenden Divergenzzonen des Mittelatlantischen Rückens und ist zugleich die längste Divergenzzone, die nicht rechtwinklig zur Richtung der plattentektonischen Spreizung orientiert ist. Der Rücken erstreckt sich von Reykjanes 900 Kilometer nach Süden zur Bight-Transformstörung nahe 56,5 Grad nördlicher Breite.

Submarine Vulkane gibt es auf dem Reykjanes-Rücken häufiger als anderswo auf dem Mittelatlantischen Rücken.

Ármann Höskuldsson, Einar Kjartansson, Árni Þór Vésteinsson, Sigurður Steinþórsson und Oddur Sigurðsson: Vulkane im Meer. Islands Vulkane

17Pavane für eine verstorbene Prinzessin

(ein halbes Jahr vorher)

Der magnetische Pol im Norden ist ein äußerst sensibler Ort. Er ist instabil, in ständiger Bewegung, anders als sein standfester Bruder im Süden wandert er unter der Erdkruste auf seiner ewigen Suche nach einem Zufluchtsort und kann nichts für seine Streunernatur. Er zieht die Nadeln der Kompasse hinter sich her auf seiner Reise von den Nunavut-Inseln in Kanada am Nordpol vorbei, dem geographischen, und scheint auf dem Weg nach Sibirien zu sein, aber niemand weiß, warum und was ihn dort hinführt.

Diese mysteriöse Reise des magnetischen Pols beschäftigt mich im Halbschlaf, ich liege mit geschlossenen Augen im Bett und stelle mich schlafend, denke an den schweren Wellengang im Inneren der Erde, an den Erdmantel, der sich unter der Kruste wälzt wie ein schlummernder Drache, wie mein Mann, der neben mir etwas murmelt und sich auf die Seite dreht, den Arm ausstreckt und im Schlaf meine Schulter berührt. Gleich werden unsere Wecker klingeln, ich spüre es, obwohl meine Augen geschlossen sind. Ich kann fast mitzählen, bis die Harfenklänge aus seinem Handy erschallen werden und drei Minuten später der Signalton des Zivilschutzes aus meinem, laut genug, um die Toten am Tag des Jüngsten Gerichts und mich an einem Montagmorgen zu wecken. Meistens schlafe ich tief und fest, weiß die Nacht gut zu nutzen, aber heute erwache ich früh aus einem unruhigen Traum über den magnetischen Pol, das flüssige Eisen im Erdkern, das ihm keine Ruhe lässt, ihn unablässig gen Osten treibt. Diese geheimnisvollen Bewegungen im Erdinneren verfolgen mich manchmal im Schlaf, die Strömungen im 18Erdmantel, der Mantelplume, die Säule aus heißem Gestein, die unter dem Land aufströmt, angetrieben von dem weißglühenden Kern. Er geistert durch mein Unterbewusstsein, hat sich vor langer Zeit dort eingenistet.

Mein Vater erzählte mir vor dem Einschlafen keine Märchen, »genug der Dummheiten«, sagte er und las mir stattdessen Geschichten über Geologie, Astronomie und Magnetik vor. Er lag neben mir in meinem schmalen Bett und las und erklärte, zeichnete Skizzen von Gesteinsschichten und Ellipsen, Schnittbilder von der Erde, erläuterte die innersten Zusammenhänge des Universums, wie es entstanden ist. Mein Vater roch nach Pfeifentabak, seine großen Brillengläser waren verschmiert, und er war älter und grauer als andere Väter, aber trotzdem der Mittelpunkt meiner Welt. Beim Ausbruch der Hekla 1980 hatte ich solche Angst um ihn, dass ich dachte, mein fünfjähriges Herz würde aufhören zu schlagen. Aber er kam zurück nach Hause, müde und überglücklich, mit Sand in den Haaren, und brachte mir einen Lavaklumpen mit.

»Sieh mal, Kleines, das ist unsere Erde, funkelnagelneu«, sagte er und übergab ihn mir, als wäre er zerbrechlich und unendlich kostbar. Ich traute mich kaum, den Lavaklumpen anzufassen, hatte das Gefühl, er würde noch glühen, aber vielleicht war er nur warm von den großen Händen meines Vaters, rotviolett, so groß wie ein Brötchen, ganz rau und erstaunlich leicht. Er hinterließ spitze Körnchen in meiner Handfläche, ich rieb die Partikel und leckte sie mir von den Fingern, als mein Vater nicht hinsah. Sie schmeckten nach Blut.

Jetzt klingelt der Wecker, mein Mann dreht sich auf die andere Seite, streckt den Arm aus und beendet das Harfengedudel. Ich bleibe mit geschlossenen Augen liegen und versuche, die drei Minuten unter der Bettdecke auszukosten, bevor die Tröte aus meinem Handy schmettert.

19Wir liegen mit geschlossenen Augen nebeneinander und tun so, als würden wir schlafen. Ich weiß, dass er wach ist, er weiß, dass ich wach bin, so etwas spürt man nach jahrelanger Ehe. Es gibt wesentlich schlimmere Dinge, als nebeneinanderzuliegen und sich schlafend zu stellen.

Dann setzt er sich auf, gähnt und reckt sich, steht auf, öffnet die Tür und geht in den Flur, seine Fersen ploppen auf den weiß gebeizten Eichendielen – wie können Schritte nur so vertraut sein?

Ich öffne erst die Augen, als ich den Strahl in die Kloschüssel prasseln höre, gewöhne mich an die Dunkelheit, strecke dann die Hand aus, nehme das Handy vom Nachttisch und schalte den Wecker aus, kurz bevor er losgeht. 7.02 Uhr, heute ist der 4. März. Laut Wetteramt gibt es Nordostwind mit 8–13 Metern pro Sekunde, überwiegend sonnig, aber im Tagesverlauf bewölkt es sich an der Südküste, es könnte schneien, Temperaturen um den Gefrierpunkt. Wir müssen am Vormittag fliegen, wenn wir etwas sehen wollen. Die Erdbebenserie vor der Reykjanes-Halbinsel dauert an, das Wetteramt hat in der Nacht mehrere Beben über fünf gemessen, sechs Kilometer ostnordöstlich der Insel Eldey.

Ansonsten ein ganz normaler Montagmorgen, ich gehe duschen und öffne danach Salkas Zimmertür. »Aufwachen, Kleines! Aufstehen, Örn!«, rufe ich und klopfe kräftig an die Tür meines Sohnes. Ich drücke die Türklinke runter, aber er hat abgeschlossen, also klopfe ich noch einmal, denn er muss um acht Uhr in der Fabrik sein. Kein Lebenszeichen hinter seiner Zimmertür, aber er ist erwachsen, schon über zwanzig, und muss lernen, für sich selbst verantwortlich zu sein.

Mein Mann und ich wandern durchs Haus, ohne uns zu begegnen, wie Planeten auf unterschiedlichen Umlaufbahnen. Wir teilen uns wortlos die morgendlichen Aufgaben. Er 20hat die Kaffeemaschine schon eingeschaltet, als ich runterkomme, um Orangen zu pressen und Müsli und Sauermilch rauszustellen. Er hängt die Wäsche auf, ich schmiere Pausenbrote, wir rufen abwechselnd die Kinder und scheuchen sie aus den Betten.

Ein ganz normaler Montagmorgen, in der Küche plärrt das Radio, und ich spitze die Ohren, als um halb acht der Nachrichtenüberblick kommt, aber die Beben vor Reykjanes werden nicht erwähnt. Sie sind schon alltäglich geworden und zählen nicht mehr zu den Neuigkeiten. Der Nachrichtenüberblick ist zu Ende, die nächsten Nachrichten kommen um acht Uhr, kurze Stille, dann Klaviermusik, melancholische Klänge, Pavane für eine verstorbene Prinzessin. Sanft und traurig und unendlich schön, ein Klagegedicht für ein totes Kind. Ich schließe die Augen, und die unergründliche Schönheit durchflutet mich und unterbricht die morgendliche Routine.

Als mein Mann die Küche betritt, eine Kapsel in die Kaffeemaschine schiebt und auf die Taste drückt, wird die zarte Musik von dem Rattern verschluckt.

»Was?«, fragt er, als er mein Gesicht sieht. »Was habe ich denn gemacht? Stimmt was nicht?«

»Nein, alles gut«, antworte ich und drehe mich weg.

»Na hör mal«, sagt er lachend. »Weinst du etwa? Weinst du beim Radiohören? Was ist mit dir los?«

Ich schüttele nur den Kopf. Er nimmt mich in die Arme, und ich weiß, dass er mich liebt. Wir sind seit über zwanzig Jahren verheiratet.

Er küsst mich und ruft den Kindern einen Abschiedsgruß zu. Der Tag der Abrechnung rückt näher, die Abgabe der Steuererklärungen. Er muss früh zur Arbeit, seinen Mandanten dabei helfen, ihren Besitz und ihre Einkünfte in Sicherheit zu bringen. »Steuerberatung ist Erzählkunst«, sagt 21er manchmal, und der Satz trifft genau den Punkt und bringt ihm bei Partys immer Gelächter ein. Zurzeit verfasst er von morgens bis spät in die Nacht Geschichten und Märchen für den Fiskus.

Ich klopfe wieder an Örns Zimmertür, und wenn mich nicht alles täuscht, höre ich ihn verdrossen schimpfen. Salka sitzt schon am Küchentisch, als ich runterkomme, verschlafen und mit zerzausten Haaren in einem gelben Sommerkleid und Strumpfhose.

»Guten Morgen, Kleines«, sage ich und gieße Lebertran auf einen Löffel, »du musst dich wärmer anziehen, draußen ist es eiskalt.«

»Mir ist nicht kalt, ich will ein Kleid anziehen«, protestiert sie, schluckt den Lebertran und spült hastig mit Orangensaft nach.

»Ich möchte, nicht ich will«, korrigiere ich. »Und es ist unvernünftig, sich nicht wettergemäß anzuziehen. Wie nennt man Leute, die sich unvernünftig verhalten?«

»Dummköpfe«, murmelt sie.

»Und sind wir Dummköpfe?«

»Nein, Mama. Aber mir ist trotzdem nicht kalt.«

Sie gießt Sauermilch in eine Schale, rührt wie immer Müsli und neun Blaubeeren hinein und löffelt die Beeren dann nacheinander auf, eine konzentrierte Falte zwischen den Augenbrauen. Sie ist acht und klein für ihr Alter, so als würde sie sich große Mühe geben in ihrer Rolle als Nesthäkchen und versuchen, das Wachstum zu unterdrücken.

Im Flur hallen Schritte, Örn kommt angestapft, wirft einen Blick auf die Küchenuhr und flucht. Er trägt schon seine Arbeitsklamotten, einen himmelblau-orangen Overall mit gelben Reflexstreifen quer über der Brust, die dunklen Haare sind ungekämmt, ein Hauch von Bartstoppeln auf der Oberlippe.

22»Guten Morgen, junger Herr, es wird aber auch Zeit. Möchtest du kein Frühstück? Solltest du dich nicht mal rasieren?«

Die übergriffigen Bemerkungen rutschen mir heraus, bevor ich mich bremsen kann. Er schüttelt den Kopf, hat keine Zeit, ist schon zu spät. Er überragt mich, mein hübscher Junge, drückt mir einen pflichtschuldigen Kuss auf die Wange, stibitzt meine Kaffeetasse und trinkt einen großen Schluck, verbrennt sich dabei den Mund und flucht wieder, legt seiner kleinen Schwester die Hand auf den Kopf und zerstrubbelt ihre dunklen Locken, »tschüss, Kleine«, und dann ist er weg. »Fahr vorsichtig!«, rufe ich, als die Tür schon hinter ihm ins Schloss fällt. Sein alter Ford hustet sich in Gang, der Motor dröhnt durch die Straße, wird dann leiser und verstummt.

»Jetzt beeil dich«, sage ich zu Salka. »Musst du nicht noch deine Ratten füttern?«

»Das sind keine Ratten. Das sind Degus.«

»Degus, Ratten mit Puschelschwänzen. Füttere sie noch schnell, bevor wir losfahren.«

»Mama, ich will eine Katze.«

»Ich möchte. Was glaubst du, wie deine Ratten das fänden?«

»Ich passe ja auf sie auf.«

»Du hast eine Katzenhaar-Allergie, mein Schatz. Und du musst erst lernen, Verantwortung für deine Degus zu übernehmen und dich um sie zu kümmern. Jetzt beeil dich. Hast du dein Handy, deinen Schlüssel, deinen Kopf?«

Ich spüle die Schalen und Gläser ab, stelle sie in die Spülmaschine, wische über den Küchentisch und schiebe die Stühle an den Tisch. Während Salka sich die Zähne putzt, bürste ich ihre Haare und stecke ihr eine kleine Spange in den Pony, damit er ihr nicht ins Gesicht fällt. Unsere Augen begegnen sich im Spiegel und teilen ein kurzes liebevolles 23Lächeln. Sie lehnt sich verschlafen an mich und gähnt. Ich bin schon wieder den Tränen nah, weiß wirklich nicht, was mit mir los ist.

»So, Kleines«, sage ich und tätschele ihre Schulter, »nun aber los, jetzt wird nicht mehr herumgetrödelt.«

Zehn Minuten später rollen wir mit dem Benz aus der geheizten Garage. Ich habe kaum noch Zeit, sie zur Schule zu bringen, mache es aber trotzdem, auch wenn ich dann auf dem Weg zur Universität in den morgendlichen Berufsverkehr gerate. Unser Haus liegt verkehrstechnisch eher ungünstig, das ist der Nachteil, wenn man hier am See wohnt, in direkter Waldnähe und mit fantastischer Aussicht auf die Berge der Reykjanes-Halbinsel. Die empfindlichen Wildpflanzen ziehen sich in unseren Garten, Moos, Krähenbeere, Thymian, Veilchen und vereinzelte Weiße Silberwurz. Sie schlafen jetzt unter dem Schnee, die Autolampen werfen kaltes Licht auf den Harsch, aber sie sind noch da und warten auf den Frühling, klammern sich mit den Wurzeln an die Steine.

Mein Mann war so glücklich, als er dieses Haus fand. »Für dich«, sagte er.

»Vergiss es«, entgegnete ich, »das ist viel zu groß und schick.«

Doch er war fest entschlossen, genau das richtige Haus, perfekt für die beste Geowissenschaftlerin des Landes, meinte er.

»Du bist doch verrückt«, protestierte ich, gab dann aber nach. Es reizte mich, am See zu wohnen, umringt von den blauen Bergen, Denkmäler für längst erkaltete Vulkanausbrüche. Hier könnte ich mich wohlfühlen, arbeiten und mich erholen, die Landschaft würde mich ständig inspirieren.

Er behielt recht, das Haus bereitet mir Freude, es macht mich zufrieden, auch wenn ich mir nie hätte vorstellen kön24nen, einmal so zu wohnen. So feudal. Das Haus ist geschickt aufgeteilt mit hellen Wohnräumen im oberen Stock mit Rundumblick und einem ruhigen Schlafzimmerflügel im Erdgeschoss im Schutz der Bäume. Als wir nach dem Studium im Ausland zurück nach Island kamen, gehörte uns die Wohnung meines Vaters in der Weststadt. Ich malte mir aus, dass wir uns nach Salkas Geburt etwas vergrößern würden, vielleicht Platz für ein kleines Arbeitszimmer hätten, aber nicht so, ich stellte mir kein solches Schloss vor, und dann auch noch in diesem Stadtteil, einer entlegenen Welt am Rande meines Bewusstseins. Ich wäre kaum überraschter gewesen, wenn er in Australien ein Haus für uns gefunden hätte.

Mein lieber Mann.

Und jetzt sind wir hier, in der Vorstadt, mit all ihren Vor- und Nachteilen. Meine Tochter steigt vor der Schule aus dem Auto und mischt sich unter die anderen Vorstadtkinder, die durch den Eingang strömen, alle in Sicherheit und Überfluss aufgewachsen, oder jedenfalls fast, Auslandsreisen, iPhones und jeden Herbst ein neuer Anorak, drei Autos in den Einfahrten der weitläufigen Einfamilienhäuser, Eltern, die die fette Sahne von der brummenden Schleuder der Marktwirtschaft abschöpfen, vielleicht zu viel Rotwein trinken und manchmal die lallenden Stimmen erheben, aber nicht bei uns zu Hause. Bei uns ist alles in bester Ordnung.

»Tschüss, Mama!«, ruft sie, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich fahre weiter im warmen Dunkel des Wagens, stelle den Klassiksender an und höre Brahms, versuche, mich auf die Aufgaben des Tages vorzubereiten, schwache Erdbeben auf dem Meeresgrund, aber meine Gedanken schweifen ab. Rote Autoscheinwerfer bilden eine lückenlose Kette hinunter in die Stadt, der Verkehr fließt ungewöhnlich langsam, aber es bringt nichts, sich über den Stau zu ärgern, es 25wäre dumm, Energie daran zu verschwenden. Eigentlich genieße ich diese langen Morgenstunden im Auto sogar, das angenehme Tuckern des Motors und den perfekten Klang des Soundsystems. Alles funktioniert so, wie es soll, alle Angaben und Ziffern auf dem digitalen Armaturenbrett stimmen, der Kaffee im Mitnehmbecher duftet. Meine Aufmerksamkeit driftet zu den Autos um mich herum, das neben mir ist voller Dampfschwaden, der Fahrer saugt gierig an seiner E-Zigarette. Die Frau in dem Wagen davor ist in ihr Handy vertieft und behindert den Verkehrsfluss, sie vergisst, sanft aufs Gaspedal zu treten und das Auto drei, vier Meter weiterrollen zu lassen. In der Schlange hinter ihr kommt spürbare Gereiztheit auf, und das Auto des E-Dampfers gleicht dem Kopf eines wütenden Drachen, der im Begriff ist, tödliches Feuer auf den Wagen vor sich zu speien. Vielleicht haben diese Leute schreckliche Geheimnisse und ihr Leben ist in Auflösung. Vielleicht darf der Dampfer seine Kinder nicht treffen, vielleicht schickt die Frau mit dem Handy gerade eine Mail an ihren Scheidungsanwalt. Vielleicht muss er eine Gefängnisstrafe für ein schlimmes Verbrechen antreten, vielleicht hat sie eine unheilbare Krebserkrankung. Die Leute kämpfen mit den unglaublichsten Problemen, ohne dass man es ihnen ansieht, fahren trotzdem weiter zur Arbeit, gehen einkaufen und putzen sich die Zähne, obwohl man es verstehen würde, wenn sie den ganzen Tag zusammengekrümmt und vor Angst winselnd im Bett lägen.

Ich schüttele den Kopf, verwundert über mich selbst, und schalte von Brahms zu den Nachrichten. Das sind einfach schlechte Autofahrer. Es sieht mir gar nicht ähnlich, mir solchen Quatsch vorzustellen, normalerweise halte ich mich an Tatsachen. Genug der Dummheiten.

26Unter unseren Füßen schlägt ein Feuerherz

Mantelplumes sind vermutete Mechanismen, die ungewöhnlich heißes Material aus der Tiefe des Erdmantels an die Oberfläche drücken. Theorien besagen, dass sich einer der mächtigsten Plumes unter Island und der tektonischen Plattengrenze befindet, von der die Insel durchzogen ist. Dadurch wird die Erdkruste geschwächt und eine tektonische Verschiebung stimuliert. Laut dieser Theorien verdankt Island seine Existenz dem Island-Plume.

Örn Ögmundsson: Die Mantelplume-Theorie. In einem geowissenschaftlichen Lehrbuch für isländische Gymnasien. Reykjavík, Íþaka 1987.

Auf dem Reykjanes-Rücken bebt es seit drei Wochen. Natürlich war er schon immer in Bewegung, seit die Erdkruste vor über 66 Millionen Jahren auseinanderzugleiten begann und Norwegen und Grönland langsam in entgegengesetzte Richtungen drifteten. Eigentlich nichts Neues, aber in den vergangenen Tagen sind die Beben bei der Felseninsel Eldey stärker geworden und das Epizentrum zieht in Richtung Land. Das ist kein Grund zur Aufregung, meine Kollegen arbeiten unbeirrt weiter, kramen in Unterlagen, starren auf die Bildschirme auf ihren Schreibtischen, stehen in der Küche und erörtern die Lage bei einer Tasse Kaffee, verlagern ihr Körpergewicht von den Fersen auf die Fußballen und wieder zurück, hüsteln und räuspern sich. Eine angespannte Erwartung liegt in der Luft. Als sie mich sehen, verstummen sie. 27Alle möchten mitfliegen, aber diesmal gibt es nur zwei Plätze im Hubschrauber.

Jóhannes Rúriksson lehnt an der abgewetzten Küchenplatte und blickt mich unter seinen graumelierten Augenbrauen durchdringend an: »Du willst also fliegen, Annalein? Was soll die Hektik? Der Reykjanes-Rücken bebt, so wie er es immer getan hat. Genau wie letztes und vorletztes und vorvorletztes Jahr. Das sind doch Kinkerlitzchen.«

Die anderen schweigen. Der alte Haudegen mit den breiten Schultern überragt uns um einen Kopf. Er verschränkt die Arme in dem ausgeleierten Islandpullover, kaut Nikotinkaugummi und schaut mich herausfordernd an. Ich halte seinem Blick stand und hebe die Augenbrauen: »Es schadet nichts, mal drüberzufliegen und sich die Sache anzuschauen.«

»Reine Hysterie, genau wie letztens beim Þorbjörn. Ihr solltet lieber über Bárðarbunga fliegen und die Kessel im Vatnajökull abchecken. Das ist meine Meinung.«

Er weiß genauso gut wie ich, dass Bárðarbunga zurzeit ruhig ist, aber er benimmt sich wie ein aufmüpfiger Teenager, dabei geht er stramm auf die sechzig zu. Ich musste ihm schon öfter ins Gewissen reden, weil er immer wieder mit Kolleginnen aneinandergerät und sich bei Feldforschungen riskant verhält, aber er konnte sich immer herauslavieren und bekam nur einmal eine Verwarnung: Da hatte er es beim Holuhraun-Ausbruch auf die Titelseiten ausländischer Zeitungen geschafft, weil er auf eine dicke Lavaplatte gesprungen war, die am Rand des glühenden Lavastroms schwamm, sich in Positur gestellt und in die Kameras gegrinst hatte wie ein Surfer aus der Hölle.

»Nenn das von mir aus Hysterie«, entgegne ich. »Meines Wissens stützen sich die Geowissenschaften nicht auf deine Meinung, sondern auf Messungen und wissenschaftliche Beobachtungen.«

28»Die müssen die Ungewissheitsstufe wieder aufheben, da passiert doch nichts. Und bei Grindavík auch nicht.«

Ich baue mich vor ihm auf, verschränke die Arme und fixiere ihn: »Du bist immer so verdammt feinfühlig, Jói. Das Wetteramt soll doch die Messgeräte einfach abschalten und dich stattdessen ankoppeln.«

Wir starren uns in die Augen, während unsere Kollegen beobachtend abwarten. Dann senkt Jóhannes grinsend den Blick und streicht sich durch die grauen Haare. »Die gnädige Frau ist so früh am Morgen ja schon putzmunter.«

»Du weißt genauso gut wie ich, wie ungenau die Daten bei unterseeischen Erdbeben sind. Wir müssen mit einer submarinen Eruption unmittelbar vor der Küste rechnen, über die wir nichts wissen. Es kann ja wohl nicht schaden, da mal drüberzufliegen. Oder würdest du sicherheitshalber lieber selbst fliegen?«

Die Vorsitzende des Instituts für Geowissenschaften steckt den Kopf durch ihre Bürotür und beendet unser kleines Duell. Sie bittet mich, kurz mit ihr zu sprechen. Elísabet Kaabers mausgraue Haare sind ein bisschen strubbelig, und auf ihrem hellrosa Pullover prangt ein Kaffeefleck.

»Ärgere die Jungs nicht, Anna, du weißt doch, dass sie Angst vor dir haben«, sagt sie, während sie mit ihren kurzsichtigen Augen angestrengt die Erdbebenkarte auf der Webseite des Wetteramts mustert und unruhig auf ihrem Stuhl herumrutscht. Alle horizontalen Flächen in dem Büro sind mit Büchern, Karten, Akten, Kaffeetassen, Blumenvasen und Gesteinsbrocken zugestellt, dieses Durcheinander ist eine unmittelbare Fortsetzung ihrer chaotischen, intelligenten Persönlichkeit.

»Glaubst du im Ernst, dass ihr etwas sehen werdet? Oder ist es doch Unsinn, zu fliegen? Das ist wirklich heftig, so was habe ich noch nicht erlebt. Nicht an dieser Stelle.«

29»Ist bestimmt nichts Ernstes, aber wir schauen es uns lieber mal an. Das ist ein ungewöhnliches Verhalten, und wir wissen ja, dass der Reykjanes-Rücken zu allem fähig ist«, antworte ich, während ich mich im Raum umschaue und eine Grimasse schneide. »Du solltest wirklich mal aufräumen, Ebba. Findest du hier noch irgendwas?«

»Fang bloß nicht damit an. Ich habe ein genaues System, ich weiß, wo alles liegt. Der Rücken kann jederzeit loslegen, und die Reykjanes-Halbinsel im Grunde auch.«

»Ganz ruhig. Wir sollten es jetzt nicht übertreiben. Beginnen wir mal mit dem Flug, und dann schauen wir weiter.«

Sie nickt. »Du nimmst den kleinen Eiríkur mit, und dann sind da noch ein paar Journalisten. Das Übliche: RÚV braucht Luftaufnahmen, Stöð 2, Morgunblaðið und irgendein Fotograf mit einem ausländischen Namen, den ich nicht kenne.«

»Verdammt, Ebba, das ist ein Wissenschaftsflug«, erwidere ich kopfschüttelnd, »so was können wir nicht gebrauchen. Diese Leute drängeln sich vor, um einen Platz am Fenster zu ergattern, und man sieht überhaupt nichts mehr. Dann können wir es gleich lassen.«

»Wir müssen kooperativ sein, Anna«, seufzt sie und schaut mich flehend an. »Bitte versteh das. Es ist sehr wichtig, die Medien zu bedienen, damit wir sie auf unserer Seite haben.«

Ich öffne den Mund, um zu protestieren, aber sie hebt abwehrend die Hand.

»Nein, es geht nicht nur um Fördergelder und Öffentlichkeitsarbeit. Wir dürfen das Vertrauen der Bevölkerung nicht aufs Spiel setzen. Die Leute sollen sehen, was wir machen, und auf unsere Informationen vertrauen, wenn’s drauf ankommt. Du bist unser Gesicht nach außen, du musst mit den Journalisten reden.«

30»Na gut«, seufze ich. »Aber ich spiele nicht das Kindermädchen. Ich habe keine Zeit, ihnen die einfachsten Zusammenhänge zu erklären. Ich will nur in Ruhe meine Arbeit machen.«

Sie schenkt mir eines ihrer raren schüchternen Lächeln, begleitet mich zur Tür und tätschelt mir zum Abschied die Schulter.

»Guten Flug und viel Glück«, sagt sie. »Sei ein bisschen nett zu ihnen. Und hoffentlich seht ihr nichts.«

Eiríkur und ich wären fast schneller gewesen, wenn wir zu Fuß zum Flughafen gegangen wären, aber es ist kalt, und ich biete ihm an, ihn das kurze Stück im Auto mitzunehmen. Er ist ein unattraktiver, aber blitzgescheiter junger Mann mit einer dichten Mähne auf dem großen, kantigen Kopf. Sein an Besessenheit grenzendes Interesse für die mittelalterliche Erdschicht auf der Reykjanes-Halbinsel hat neues Licht auf die Vulkanausbrüche im 13. Jahrhundert geworfen. Er bleibt kurz vor dem Automaten stehen und holt sich einen Kakao und ein Krabbensandwich in Plastikfolie, die er aufreißt, als er in meinen blitzsauberen Jeep steigt. Als ich ihm einen Blick zuwerfe, zögert er und schließt die Verpackung wieder mit beleidigter Miene.

Die Presseleute sind vor uns da, ich kenne das Fernsehteam und den Zeitungsfotografen, alles erfahrene Leute. Eine blasse, unsichere junge Frau stellt sich als Radioreporterin vor. Wir sitzen schon im Hubschrauber und haben uns angeschnallt, als der fünfte Mann mit einer Kameratasche über der Schulter angelaufen kommt, japsend auf seinen Sitz klettert und sich mit breitem Grinsen das Headset über die zerzausten Haare stülpt, ohne dass es ihm auch nur im Geringsten peinlich zu sein scheint, dass er fast den Flug verpasst hätte.

Ich habe ihn noch nie gesehen. Er schaut mich an und lä31chelt, seine Lippen zucken, und seine Augen leuchten, er hat weiße, gleichmäßige Zähne und ist unrasiert. Ich höre nicht, was er sagt, das Dröhnen der Rotoren erstickt seine Worte, aber er geht mir auf die Nerven, ist unpünktlich und arrogant, hat eine aufdringliche Ausstrahlung und versprüht eine nervöse Energie. Ich schaue weg, ohne zurückzulächeln, und konzentriere mich auf die bevorstehende Aufgabe.

Der Hubschrauber hebt ab und nimmt Kurs auf Westsüdwest, über die Reykjanes-Halbinsel in Richtung Eldey. Inzwischen ist es hell geworden, der Boden ist kahl, die Wüstenlandschaft rund um die Hauptstadt erstreckt sich unter uns wie eine Darstellung der Erdgeschichte. Ich schüttele die Gereiztheit ab, schalte das Mikrofon ein, drehe mich zu den Passagieren und schenke ihnen mein kooperativstes Lächeln.

»Soll ich Sie mit einer Vorlesung über Geologie langweilen?«

Alle nicken eifrig, und ich beginne, Fakten herunterzuleiern, beschreibe, wie Reykjanes sich auf der Plattengrenze auf dem Mittelatlantischen Rücken aufgetürmt hat, wie die Palagonitberge sich unter der Last des Eiszeitgletschers aufwölbten und nach dem Rückzug der Gletscher große Lavaströme flossen und das Land anstieg.

»Die Halbinsel ist der jüngste Teil Islands«, sage ich. »Viele dieser Lavafelder entstanden im Beisein von Menschen. Das große Lavafeld zwischen Bláfjöll und Heiðmörk heißt Húsfellsbruni und entstand um das Jahr 1000. Der größte Teil der Lava hier in Hafnarfjörður ist wesentlich jünger, Kapelluhraun zum Beispiel, der Lavastrom, der sich runter nach Straumsvík zieht, floss im Jahr 1151. Wahrscheinlich zerstörte er eine Kirche, nach der er später benannt wurde.«

Der Mann, der zu spät kam, sagt etwas, aber man hört nichts. Er fummelt an seinem Headset herum und schaltet sein Mikro ein.

32»Ist diese ganze Lava aus demselben Vulkan geflossen?«

»Nein«, antworte ich, »hier auf der Halbinsel gibt es keinen Zentralvulkan. Keinen richtigen Vulkan wie Hekla oder Katla oder Öræfajökull. Die Eruptionen entstehen in Spaltenschwärmen, die sich von der Landspitze Reykjanes über Svartsengi, Fagradalsfjall, Krýsuvík und die Brennisteinsfjöll erstrecken. Der Hengill wird auch manchmal zur Reykjanes-Halbinsel gezählt, aber das ist ein Zentralvulkan, der nicht viel mit den anderen Vulkansystemen zu tun hat. Die Eruptionsserien können hier jahrzehntelang andauern und sich zwischen den Systemen bewegen. Der letzte Ausbruch im Reykjanes-System im 13. Jahrhundert dauerte dreißig Jahre. Allerdings mit Unterbrechungen.«

»Dreißig Jahre? Das muss ja furchtbar gewesen sein.«

»Davon gibt es keine genauen Schilderungen, aber es scheinen keine Menschen zu Schaden gekommen zu sein. Das waren mittelgroße effusive Eruptionen, die kamen und gingen und immer wieder an neuen Stellen hervorbrachen. Solche Vulkanausbrüche nennt man in Island Feuer. In Annalen wird starker Aschefall beschrieben, wie Schluchten auseinanderglitten und das Land aufbrach und sich veränderte. Nach dem Ende der Eruptionen gab es in dieser Gegend jahrzehntelang kaum Vegetation. Mein Kollege Eiríkur kann Ihnen mehr darüber erzählen, das lässt sich alles aus den Gesteinsschichten ablesen.«

Ich hole eine Klarsichthülle mit einem zerknitterten Papier aus meinem Rucksack und gebe es nach hinten durch. Die blasse Frau vom Radio nimmt das Blatt entgegen, mustert es ausgiebig, fotografiert es mit dem Handy und reicht es dann weiter an den Fotografen.

33

Jahr

Ort

Art

1926

Eldey

submarin

1884

Eldey

submarin

1879

Geirfuglasker

submarin

1783

Eldeyjarboði

submarin

1583

Reykjanes-Rücken

submarin

1422

Reykjanes-Rücken

submarin

1340

Reykjanes-Rücken

submarin

1325

Trölladyngja

Spalteneruption

1210–40

Reykjanes-Feuer 10 Lavaströme

submarin, phreatomagmatisch, Spalteneruption

1200

Brennisteinsfjöll

Spalteneruption

1151–88

Krýsuvík-Feuer 5 Lavaströme

Spalteneruption

950–1000

Kristnitaka-Feuer (Brennisteinsfjöll) 6 Lavaströme

Spalteneruption

»Im 13. Jahrhundert war hier ganz schön was los«, fahre ich fort. »Zehn Vulkanausbrüche in dreißig Jahren. An den Ortsnamen sehen wir, dass die Leute sie miterlebt haben. Direkt unter uns liegt Háibruni, Hochbrand, und da rechts Bruni, Brand. An vielen Stellen gibt es Óbrynnishólar, unverbrannte Hügel, oder auf Hawaiisch Kipuka, kleine Anhöhen, die vollständig von Lava umschlossen wurden. Außerdem kann man leicht erkennen, wo neue Lava über alte Lava geflossen ist, wieder und wieder. So hat sich die Halbinsel aufgetürmt.«

34Die Reporterin schaltet ihr Mikro ein: »Warum wurde die Hauptstadt hier gebaut, wenn man von all diesen Vulkanausbrüchen wusste?«

Ich lächle sie an.

»Sie gerieten in Vergessenheit. Das passierte alles vor langer Zeit, viele hundert Jahre bevor die alten Dörfer zu einer Stadt wurden und wir begannen, auf den Lavafeldern Häuser zu bauen. Die Geschichte der Menschheit läuft viel schneller als die Geschichte des Landes, und unser Erinnerungsvermögen ist sehr kurz. Tausend Jahre sind dreißig Generationen, aber nur ein kurzer Augenblick in der Erdgeschichte. Wie ein einzelner Tag.«

Sie schaut mich mit großen Augen an: »Ist das nicht gefährlich?«

»Gefährlich? Alles ist gefährlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie bei einem Autounfall ums Leben kommen oder sich in der Badewanne das Genick brechen, ist wesentlich größer, als dass Sie bei einem Vulkanausbruch verschüttet werden. Vulkanische Tätigkeit wäre hier auf der Halbinsel nicht sehr gefährlich. Sie könnte diverse Unannehmlichkeiten verursachen, hauptsächlich wegen der Tektonik. Straßen könnten aufbrechen, Wasserspeicher zerstört werden, Stromleitungen reißen und so weiter. Mit so etwas müssen wir rechnen, wenn wir in diesem Land wohnen wollen. Wir leben auf einem Hotspot, über der Schmelzregion im Erdmantel, wo sich das Magma bildet. Sonst wären wir nicht hier, sonst gäbe es Island nicht. Unter unseren Füßen schlägt ein Feuerherz, das ist nun mal Teil unseres Lebens.«

»Das ist total spannend«, sagt der Zuspätkommer mit glänzenden Augen. »Diese unbändige Schaffenskraft, die immer wieder hochkommt und das Land formt. Schöpfung und Zerstörung, alles zur gleichen Zeit. Muss echt Wahnsinn sein, mit so was zu arbeiten.«

35Ich lächle hinter meinem Mikrofon höflich.

»Wissenschaftler müssen sich immer an Fakten und wissenschaftliche Ergebnisse halten. Wir haben keine Zeit für Spannung oder Wahnsinn.«

Er grinst so breit, dass seine weißen Zähne aufblitzen.

»Mutter Natur, Baby. Die schert sich nicht um wissenschaftliche Ergebnisse, die ist der pure Wahnsinn.«

Ich schüttele den Kopf und richte meine Aufmerksamkeit auf die Landschaft unter uns. Was für ein Idiot.

Wir fliegen über das Meer, über die Inseln Eldey und Geirfuglasker. Der Hubschrauber berührt fast die Wasseroberfläche, und die Wellen weichen vor den schlagenden Rotorblättern zurück. Wir sehen keine auffälligen Bewegungen, keine Luftblasen oder Farbveränderungen, keine Anzeichen, dass unter der Oberfläche etwas Ungewöhnliches passiert. Deshalb kehren wir um und fliegen zurück über die Lavafelder, betrachten schweigend die Stadt, die sich mit schwindelndem Tempo nähert.

Drei Tage später reißt die Erdkruste südlich des »Zehs« Reykjanestá auf, der äußersten Spitze der Halbinsel. Auf dem Meeresgrund unmittelbar vor dem Küstenstreifen Kerlingarbás öffnet sich mit ohrenbetäubenden Explosionen eine Spalte, die Lavafontäne schießt kilometerhoch in die Luft, und Tausende Kubikmeter Schlacke und Asche regnen auf Keflavík.

Zwölf Minuten vorher weckt mich das Klingeln meines Handys. Ich brauche ein paar Sekunden, bis die Meldung vom Wetteramt zu mir durchdringt, bis ich die Informationen über das Ereignis begreife, das kurz darauf beginnen wird.

Der pure Wahnsinn, Baby.