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Am 30. November 1900 starb Oscar Wilde 46-jährig in einem billigen Pariser Hotel – verarmt, geschwächt und moralisch heruntergekommen. Noch sechs Jahre zuvor hatte die Londoner Gesellschaft dem Salonlöwen gehuldigt – als brillantem Erzähler und Verfasser des skandalisierten Romans "Das Bildnis des Dorian Gray". Doch 1895 verurteilte ihn ein Gericht wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht zu zwei Jahren Kerker und Zwangsarbeit. Daran zerbrach Wilde. Die Schuld am Untergang wird in der Literatur seinem Liebhaber Lord Alfred Douglas zugeschrieben. Quelle dieser Anschuldigung ist eine im Gefängnis verfasste Abrechnungsschrift mit dem Titel "De Profundis", in der Wilde Douglas bezichtigt, ihn finanziell ruiniert und in einen Konflikt mit seinem Vater, dem Marquess Queensberry, hineingezogen zu haben. Das Buch gilt heute als eine der großen Bekenntnisschriften der Weltliteratur. Alfred Pfabigan macht bisher unbekannte Details dieses berühmten literarischen Skandals sichtbar und verweist auf die sexualpolitische Bedeutung der Beziehung. Mit seinem glamourösen Auftreten durchbrach das Paar nicht nur die viktorianische Regel "Don't ask, don't talk", sondern machte bewusst seine Neigungen sichtbar. Bemerkenswert ist auch die weitere Entwicklung von Douglas nach Wildes Tod: Er heiratete die Lyrikerin Olive Custance, deren Geschlechterrollen-Experimente eine Vorform von LGBTQ-Positionen darstellten. Das Buch zeichnet ein buntes Panorama der viktorianischen Gesellschaft – unter den Protagonisten finden wir neben der literarischen Szenerie auch Strichjungen, Detektive und auf die Verfolgung oder Verteidigung Homosexueller spezialisierte Anwälte.
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Seitenzahl: 420
Veröffentlichungsjahr: 2025
Alfred PfabiganJeder mordet, was er liebt
Oscar Wilde und Alfred Douglas. Eine Liebesgeschichte in Zeiten des Verbotes
© 2025 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien
Coverfoto : Alamy
ISBN: 978-3-85371-929-9(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-544-4)
Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de
Alfred Pfabigan, geboren 1947 in Wien, unterrichtete Philosophie und Politikwissenschaft in Salzburg, Lancaster P.A. (USA) und Czernowitz. 1993–2013 Professor am Philosophischen Institut der Uni Wien. Danach Gründung der »Philosophischen Praxis Märzstraße«. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: »Kaiser, Kleider, Kind. Essay« (2019) und »Philosophie hilft« (2021).
Sir Alfred Wills, ein angesehener und erfahrener Richter, der schon Mordprozesse geleitet hatte, beendete am 25. Mai 1895 zwei »schreckliche Verhandlungen« zum »widerwärtigsten Fall, den (er) je verhandelt« habe und verurteilte Oscar Wilde und seinen Mitangeklagten Alfred Taylor wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht zu zwei Jahren Kerker, verbunden mit Zwangsarbeit. Das von Presse und Publikum mit Jubel begrüßte Urteil zerstörte das Leben Wildes; die folgende mehrjährige kollektive philisterhafte Entrüstung warf die Entwicklung der modernen Kunst Großbritanniens über 20 Jahre zurück. (Timms 1995: 158) Es steht in einer Reihe mit zwei anderen skandalösen Verfahren rund um die vorletzte Jahrhundertwende, in denen die Justiz als Vollstreckerin gesellschaftlicher Vorurteile gegen Außenseiter fungierte: in der nahezu zeitgleichen Verurteilung des unschuldigen jüdischen Generalstabsoffiziers Alfred Dreyfus als Spion zu lebenslanger Verbannung auf die Teufelsinsel und in der Verurteilung der beiden Anarchisten Ferdinando Sacco und Bartolomeo Vanzetti zum elektrischen Stuhl 1921.
Wilde gilt als ein Opfer der viktorianischen Prüderie, Heuchelei und Homophobie. Doch Queen Viktoria, in deren Namen Wilde verurteilt wurde, starb 1901. Das Gesetz, nach dem man ihn verurteilt hatte, überlebte die viktorianische Ära bis 1967. Der legendäre Informatiker Alan Turing wurde noch 1952 wegen seiner Homosexualität zur chemischen Kastration verurteilt und erst 2017 im Zuge des »Alan Turing Law« wurden er und zahlreiche Schicksalsgenossen amnestiert. In anderen europäischen Staaten ist die Rechtslage ähnlich. In England wurde lautstark in einem prominenten Fall ein Konflikt ausgetragen, der der gesamten westlichen Kultur nicht fremd war. Seither hat sich die Kampfzone ausgeweitet, die bloße Frage der Strafbarkeit ist zwar weitgehend irrelevant geworden, doch noch immer kämpfen sexuelle Minderheiten um die volle Teilhabe am sozialen Leben. Im Ablauf von der Schwulenbewegung zur »Queer-Debatte« bis zu LGBTQ haben sich die Einschätzung dessen, was als kollektive Benachteiligung gilt, ebenso gewandelt, wie die Terminologie – hier werden weitgehend jene Begriffe verwendet, die zur Zeit der beschriebenen Ereignisse diskursiv zum Einsatz kamen.
Wildes Fall ist unzählige Male beschrieben worden – in Biografien, Theaterstücken, Romanen und Filmen. Doch in den meisten Darstellungen wird diese hartnäckige, die Menschenrechte missachtende strafrechtliche und publizistische Verfolgungsgesinnung, die eben kein britisches Monopol war, eher beiläufig als selbstverständliche Randbedingung einer Tragödie betrachtet. Personen wie Sir Alfred Wills, die nur ihre Pflicht im Einklang mit dem Gesetz und dem Zeitgeist taten, wurden von der Nachwelt vergessen. Ja, eine Reihe von Umständen, um deren Rekonstruktion wir uns hier bemühen werden, bewirkte, dass der private Aspekt der Affäre in den Mittelpunkt geriet: Wilde hatte sich 1892 mit einem Studenten, Lord Alfred Douglas, liiert.
Hasserfüllte Briefe, hässliche Streitigkeiten und ein Spiel von Trennung und Versöhnung waren in dieser Beziehung, die beide Partner lange Zeit nicht aufgeben konnten, alltäglich. Und schließlich hatte Wilde eine unkluge Verleumdungsklage gegen den Vater seines Geliebten erhoben, die in ein Strafverfahren gegen ihn umschlug und so seinen Untergang verursachte.
In seinen letzten Gefängnismonaten hatte der verzweifelte Wilde einen zur Publikation vorgesehenen Brief an Douglas geschrieben, der seit 1907 stückchenweise unter dem Titel »De Profundis« publiziert wurde und seit 1962 vollständig vorliegt. Der Häftling Wilde war in einer elenden Verfassung, als er diese Schrift entwarf, doch der Text fügt sich bruchlos in die übersteigerte Konfliktkultur dieses Paares. Der Versuch, den ehemaligen Geliebten öffentlich an den Pranger zu stellen, ist eine Abrechnung nach einer Beziehung, die Wilde nicht beenden konnte. Douglas, der Wilde um 45 Jahre überlebte, wird diese Zeit im Schatten der Vorwürfe dieses sich als Liebesbrief tarnenden Textes verbringen; seine oft dilettantischen Versuche, die Deutungshoheit über seine Vergangenheit zu gewinnen, haben ihn gepaart mit einem schwierigen Charakter in Konflikte gezogen, die auch sein Leben zerstören sollten.
Wie so oft bei Beziehungskonflikten prominenter Personen bildeten sich Parteien, die sich dem populären Spiel nach der Schuldfrage des Scheiterns widmen. Doch außerhalb der engen Welt der Douglas-Biografik hat sich ungeachtet ihrer klischeehaften Elemente die geradezu filmische Darstellung der Beziehung in Wildes Rachebuch durchgesetzt: Ein eitler Schönling und egozentrischer Aristokrat hätte den großherzigen Schriftsteller in den Sumpf käuflicher Sexualität gezogen, ihn dann in einen Konflikt mit seinem Vater verwickelt und ihn schließlich in Armut zurückgelassen. Diese Erzählung finden wir in den Wilde-Büchern von Frank Harris und zahlreichen anderen autobiografischen Werken mit Bezug auf Wilde. Auch die große Wilde-Biografie von Richard Ellmann stützt sich in entscheidenden Partien auf die trübe Quelle »De Profundis« und hat die eindrucksvoll geschilderte Darstellung vom »Mann, der Oscar Wilde ruinierte«, übernommen. Die Biografie von Ellmann nutzte Brian Gilbert als Vorlage zu dem starbesetzten Film »Oscar Wilde« (1997), der den berühmten Schriftsteller schonte und sich auf die manipulative Unerträglichkeit des Alfred Douglas konzentrierte. Wildes Weste trug die Farbe der Unschuld und des Märtyrertums; die pädophilen Aspekte seiner Sexualität, auf die Neil McKenna 2009 hingewiesen hat und die in Rupert Everetts Film »The Happy Prince« (2018) sichtbar werden, klammerte Gilbert aus.
Douglas, ohne Zweifel ein traumatisierter, orientierungsloser und problematischer Heranwachsender, war eine Idealbesetzung für die Rolle des Sündenbocks. Gelangweilt, arrogant, herrschsüchtig, egoistisch, wankelmütig, voll dramatischer Aggressivität und nicht nachvollziehbaren Reaktionen der Enttäuschung, die das innere Alibi für rücksichtsloses Ausnützen schaffen, treibt er in Gilberts Film sein Opfer Wilde, dessen »Liebe zu dem egoistischen Aristokraten … an Selbstaufgabe« grenzte, in den Untergang – so zumindest der Werbetext auf der »ARTHAUS«-DVD.
Die Konzentration auf den privaten Aspekt der Affäre verdeckt vieles. Dass die zentrale Bedingung rund um diese Liebe das Verbot war, verschwindet zugunsten einer Schuldumkehr weg von der viktorianischen Gesellschaft zu Alfred Douglas. Ein Zerrbild seiner Person dominiert unser kollektives Gedächtnis, welches noch dazu auf einigen gängigen Klischees aufgebaut ist, die auch Wilde mehrfach in seinen Büchern verwendet hat – etwa jenes von der Grausamkeit der schönen Menschen, angedeutet in den Märchen von der Infantin, in der »Salome« und im »Dorian Gray«. Dass Douglas mehr war als ein gescheiterter Oxford-Student, der nebenbei ein wenig in der Dichtkunst dilettierte, sondern sich nach Wildes Tod zum bedeutendsten spätviktorianischen Sonettdichter entwickelte, ist für die meisten Biografen kein Thema. Die drei Jahre mit Wilde verdecken auch, dass er sich in späteren Jahren zu einer nicht unbedingt positiv auffallenden Figur auf der kulturellen und politischen Bühne Englands entwickeln wird: als radikaler Reaktionär und Anhänger antisemitischer Verschwörungstheorien, den haltlose Beschuldigungen Winston Churchills ins Gefängnis brachten, sowie als Partner einer der wichtigsten »neuen viktorianischen Frauen«, der Dichterin Olive Custance. Ihr Verhältnis zueinander gilt heute als wichtiger gelebter Beitrag in der immer noch laufenden Debatte über Geschlechterrollen.
Und schließlich hat Douglas nach Wildes Tod insgesamt vier Bücher verfasst, in denen er »seine Geschichte« zu erzählen versuchte; zudem verstrickte er sich ob seiner Rolle in Wildes Leben in unzählige ruinöse Gerichtsverfahren. Auch er war Opfer der viktorianischen Prüderie. Doch das Erkenntnisinteresse dessen, der hier schreibt, gilt nicht seiner Verteidigung.
Diese Liebesgeschichte spielte in einer Zeit gewaltiger gesellschaftlicher Umbrüche. Der von Hermann Broch beobachtete »Zerfall der Werte«, in der die »Schlafwandler« eine »fröhliche Apokalypse« orchestrierten, unterschlägt die Unzahl der neuen Werte und Regeln, die damals etabliert wurden. Die »Privatisierung« der Affäre verdeckt, dass Wilde und Douglas Zentralfiguren in jenem allmählichen »Sich-sichtbar-Machen« sexueller Minderheiten seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren. Douglas agierte radikaler als Wilde und führte in seinem studentischen Frühwerk eine selbstschädigende Kampagne für die »Lieb, die keinen Namen nennt«. Diesen für ihn charakteristischen Radikalismus wird er auch nach einer sexuellen Neuorientierung in seiner Kampagne gegen das »Wilde’sche Laster« nach dem Tod des Geliebten und der ersten Veröffentlichung von »De Profundis« praktizieren.
Die Geschehnisse, die hier beschrieben werden, waren mehr als der größte literarische Skandal der frühen Moderne. Das Paar Wilde-Douglas rebellierte im Namen des Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung gegen gesellschaftliche Regeln. Ihre Liebe war – auch – eine »politische« Beziehung. Nicht im Sinne des populären Slogans, dass das Private politisch sei, sondern retrospektiv im Versuch der beiden, auf ihr Unbehagen an der Geschlechterordnung zu reagieren. Die lautstarke, die Mehrheitsgesellschaft provozierende öffentliche Inszenierung ihrer Beziehung verursachte den Untergang von Oscar Wilde. Doch haben die Partner durch diese Inszenierung die gesellschaftlichen Regeln im Feld »Sittlichkeit und Kriminalität« ausgereizt, infrage gestellt und eine Alternative gelebt. Das gehört zur Geschichte des Kampfes um Anerkennung der »Liebe, die ihren Namen nicht nennt«. Das traurige Schicksal der beiden hat geholfen, die Frage der Anerkennung sexueller Minoritäten auf die europäische Agenda zu setzen. Die gelebte sexuelle Praxis förderte allerdings auch die vorurteilsbehaftete Gleichsetzung von Homosexualität und Pädophilie.
Eine Liebesgeschichte, die den Tod eines Partners überlebte und den anderen lebenslang quälte, bot diesem Kampf die äußere Hülle. Wer mit toxischen Beziehungen vertraut ist, dem ist die sorgfältige Analyse strittiger Episoden, das Achten auf Widersprüche und auf Details, die von den Akteuren nicht wahrgenommen werden, beruflicher Alltag. Das Zusammentreffen von Charakter, Werk und gesellschaftlicher Reaktion schuf allerdings ein anderes Setting als die persönliche Arbeit mit Paaren in der Krise. Unsere Darstellung stützt sich nicht auf die persönlichen Erzählungen des Paares, sondern auf eine Unzahl von schriftlichen Quellen – trotz zahlreicher Lücken und Widersprüche ist diese Beziehung gut dokumentiert. Die Geschichte gilt als Tragödie, doch wird sie in diesem Buch nicht melodramatisch erzählt, sondern als die Beziehung zweier Menschen, die mit ihrem schlimmen Ausgang und ihrem bis heute reichenden Einfluss auf unsere Kultur trotzdem alltäglichen Charakter hat. Eine Liebesgeschichte mit Höhen und Tiefen, voll von Großherzigkeit und Grausamkeit, von Missverständnissen und den Interventionen einer feindseligen Umwelt.
Der Egoismus der Liebe und der Egoismus der Liebenden sind oft miteinander nicht vereinbar. Liebe kann auch ein mörderisches Gefühl sein. Bei aller Einzigartigkeit dieser Geschichte ist auch sie nicht frei von jenem dämonischen Element, das der Liebe nicht fremd ist und auf das im Titel angespielt wird: »Jeder mordet, was er liebt«, eine Zeile aus Wildes letzter Veröffentlichung, der »Ballade vom Zuchthaus zu Reading«. Diese Passage hat Alfred Douglas verwirrt. Wilde hat ihr eine über den Anlass gehende Bedeutung zugeschrieben: Liebe gelte weniger der physischen Person, als dem idealisierenden Abbild von ihr, das der Liebende in sich trage. »Man schafft ein Abbild des Liebesobjekts und dann tötet man es zwingend schrittweise.« (zit. in MU 289, Übers. A. P.) Das dahinterstehende zeittypische Mysterium beschrieb ein von Wilde geschätzter Rezensent mit diesen Worten: »Dieses Sinnbild für die verborgenen Tode des Herzens, für die unsichtbare Gewalt über Seelen, für das Martyrium der Hoffnung, des Glaubens und aller wehrlosen Tugenden verleiht einem ansonsten nicht sehr homogenen Gedicht in einem gewissen philosophischen Sinne seine Einheitlichkeit.« (zit. in ELL 750) Aber vielleicht bedarf es dieser fragmentierten Metaphysik nicht, sondern nur der einfachen Feststellung, die René Pollesch zum Titel eines Stückes wählte: »Liebe ist kälter als das Kapital«. Und jener, dass der Wilde’sche Imperativ »sei Du selbst«, ein unverzichtbares Ideologem der Moderne voll von »radical chic«, auch Opfer zeitigen kann. Kollateralschäden eines unleugbaren Fortschritts.
Geld spielt in der folgenden Darstellung eine zentrale Rolle. Man erbt es oder wird enterbt, weil man sich nicht dem Erblasser entsprechend verhält, man investiert es in einen Rennstall oder in ein anderes fantastisches Projekt, man erhält sensationell hohe Honorare oder man schnorrt sich durchs Leben. Beide Protagonisten dieser Geschichte gingen bankrott und verbrachten ihren letzten Lebenabschnitt – im Falle des Douglas waren es 32 Jahre – als verarmte Pleitiers. Doch vorher wird viel Geld verspielt oder sonst wie verschwendet werden; die Schuld an den ruinösen Ausgaben wird jeweils dem anderen zugeschrieben. Um die Summen gibt es einen kleinlichen Streit: Wer hat wie viel für wen ausgegeben, wer hat was zu finanzieren versprochen, wer schuldet wem wie viel und ist daher zu einer Unterstützung in welcher Höhe verpflichtet.
Geld diente in dieser Beziehung als Maßstab für Liebe und repräsentierte die von Wilde und Douglas lange Zeit ignorierte Realität. In dem Spiel von »his story and his story« werden häufig Summen genannt: 2 Pfund fordert einer für ein Bahnticket, der Bau eines Chalets mit drei Schlafzimmern und 1000 m² Grund wird mit 480 Pfund veranschlagt, die Jahresmiete für ein ähnliches Chalet beträgt 32 Pfund, für ein Diner kann die Rechnung 85 Pfund betragen und Hotelrechnungen sind häufig dreistellig.
In seiner 2003 erschienenen Edition der Prozessprotokolle arbeitet der Herausgeber, Wildes Enkel Merlin Holland, mit einer Währungsrelation von etwa 1:100. Das meint beispielsweise, dass er die 70 Pfund, die Wilde in seiner Glanzzeit als Dramatiker wöchentlich an Tantiemen bezog, mit mehr als 7000 Euro gleichsetzt. Die 5000 Pfund, die Wilde in den Jahren mit und für Douglas ausgegeben haben will, hätten dann im Jahr 2025 mehr als 550.000 Euro entsprochen, wenn man den Kaufkraftverlust von etwa 50 % in den letzten zwei Jahrzehnten nicht berücksichtigt.
Tite Street 16, Chelsea, London – so lautete die offizielle Adresse Oscar Wildes bis zu seiner Verhaftung 1895. Wilde hatte das Gebäude nach seiner Eheschließung mit Constance Lloyd, einer wohlhabenden und kultivierten Frau, 1884 bezogen. Er adaptierte das Haus mit ihren Mitteln nach seinen ästhetischen Vorstellungen, familienintern nannte man es »das schöne Haus«. Unabhängig von ihrer Fragilität etablierte sich eine nach außen stabil wirkende Lebensform. Das Haus, die Ehe, die beiden Söhne – das waren für Wilde Symbole einer sozialen Stellung, um die er scheinbar ohne Mühe, tatsächlich mit harter Arbeit gerungen hatte.
Der Hausherr stammte aus einer angesehenen Familie. Sein Vater war der berühmte Arzt, Philanthrop, Heimatforscher, Ethnologe und Schriftsteller Sir William Robert Wilde (1815−1876). Sein Forschungsgebiet war breit gefächert – unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen findet sich auch ein Buch über die wissenschaftlichen und bildungsorientierten Institutionen Österreichs. Nach einem strahlenden Leben waren Sir Williams letzte Jahre von den Vorwürfen einer Patientin überschattet, sie sexuell missbraucht zu haben; die mit der Affäre verbundenen Prozesse verschlangen das Familienvermögen.
Auch Wildes Mutter, Lady Jane (1821−1896), war eine bemerkenswerte Frau. Francesca, wie sie sich gerne nannte, prahlte mit ihrer angeblichen Abstammung vom italienischen Dichter Dante Alighieri (1265−1321). Als geborene Irin hatte sie im irischen Befreiungskampf eine unbedeutende Rolle als Publizistin gespielt, doch ihr damaliges Pseudonym Speranza führte sie lebenslang. Jane Wilde war eine bekennende Exzentrikerin, eine auf Wirkung bedachte exaltierte Meisterin großer Auftritte, die mit ihrer fantasievollen Garderobe die Besucher ihres Salons ständig aufs Neue überraschte. (siehe Melville 2001) Auf die irische Frage verwiesen auch die Vornamen ihres jüngeren Sohnes: Oscar Fingal O’Flahertie Wills. Im Lauf seiner Karriere werden sich die Namen ändern: In der Phase seines Aufstiegs wird Wilde sich auf Oscar beschränken; als Häftling wird er die schlichte Gefängnisnummer C. 3.3.3 tragen und unter diesem Namen auch seine Zuchthausballade publizieren; unter dem Namen Sebastian Melmoth wird er an seinem Fluchtort Paris sterben.
Beide Eltern, die eine bemerkenswert tolerante Ehe führten, welche keineswegs den viktorianischen Standards entsprach, lehrten ihn durch das Beispiel ihrer öffentlich gelebten Existenz, dass wohldosierte Missachtungen der sozialen Regeln, gepaart mit realen Leistungen und guter Öffentlichkeitsarbeit, eine erfolgreiche Aufstiegsstrategie darstellen. Wilde wird die damit verbundene Kunst der Selbstinszenierung meisterhaft beherrschen, doch allmählich ihr Gefangener werden.
In Wildes Lebensgeschichte wird das Wort »posieren« eine schicksalhafte Rolle spielen. Wilde »posierte« ohne Zweifel, aber im Kontext seiner Ideen vom Menschenrecht auf Authentizität und Selbstverwirklichung nimmt das Wort eine positive Bedeutung ein. Der Poseur trägt eine Maske und nimmt sich das Recht heraus, öffentlich ein »Anderer« zu sein. Natur ist ihm das Vorgegebene, dem er mit seiner Pose das selbst gewählte Künstliche entgegengesetzt. Die Kunst ist der Natur überlegen und lehrt uns deren Unfertigkeit, Planlosigkeit, Sterilität und unendliche Wiederholung, aber auch ihre Teilnahmslosigkeit und ihre lähmende Langeweile. (WI 2, 45f.) Die gewählte Pose ist häufig nach den Kriterien etablierter Sittsamkeit übertrieben und durch seine eindringliche Präsenz schafft der Poseur rund um seine Person eine außeralltägliche, provozierende Atmosphäre. Mit dem Aufsehen, das er erregt, verschafft er seiner Position Zutritt zum Diskurs. Wer authentisch leben will, dem wird das Einnehmen einer Pose zur »ersten Pflicht im Leben«. Das Leben ist enttäuschend, die Kunst hingegen enttäusche nie, sondern schütze vor dem gemeinen Schmutz unserer Existenz und führe uns in die Vollendung. Denn die Kunst und die Künstlichkeit als ihr entsprechende Verhaltensform werden letztlich triumphieren; indem sie sich sämtlicher vom Künstler ausgelöster Gefühlsmomente bedienen, heben sie die quälende Fragmentierung des Lebens auf. Dabei wende sich die Kunst nicht an die Fähigkeit des Wiedererkennens oder des Verstehens, sondern ordne diese dem Gesamteindruck unter, den ein Kunstwerk vermittelt. Das an die Kunst gerichtete Postulat, das Leben in seiner ganzen Vielfalt widerzuspiegeln, hat nichts mit Realismus oder Naturalismus zu tun. Wildes Konzept der »Kunst um der Kunst willen« steht im deutlichen Widerspruch zur sozial engagierten Literatur seiner Zeit und zum »linken« Schriftstellertum seiner Zeitgenossen William Morris und Bernard Shaw. Der Künstler, der sich zum Sklaven seiner Überzeugungen machen lasse, verstoße gegen die Regeln der Kunst. Man dürfe von den Literaten keine Darstellung des »Lebens« erwarten, schon gar nicht eine des »einfachen Volkes«, sondern Eleganz, Charme, Schönheit und Imaginationskraft. Diese um ihrer selbst willen existierende Kunst entspringe einer Art »göttlichen Wahnsinns« und stünde über den gesellschaftlichen Regelsystemen – Ästhetik hat der Ethik gegenüber Vorrang. (vgl. Kraus 2009) Tatsächlich lebte Wilde in einer widersprüchlichen Welt: Sein Alltag verlief in geordneten, bürgerlichen Bahnen, aber die von ihm entwickelten, weit über die viktorianische Gesellschaft reichenden Vorstellungen waren mit seinen privaten Regelsystemen nur schwer vereinbar. Erst der Alltag mit Douglas wird diesen Widerspruch mildern.
Die Maske – eines der Instrumente des Poseurs – spielt eine wichtige Rolle in einer anderen zentralen Annahme Wildes: Nicht die Kunst imitiere das Leben, sondern umgekehrt das Leben die Kunst. Diese einfache binäre Gegenüberstellung von Kunst und Leben ignoriert die Komplexität ihres Zusammenhangs, sie enthält ein gutes Stück jener mit der Überschätzung der Kunst verbundenen Selbstüberschätzung, die Wilde später zu Fall bringen wird.
Es gehört zum Wesen der Vorläufer der literarischen Avantgarde, die Grenze zwischen Kunst und Leben auf vielfältige Weise infrage zu stellen. (Bürger 1974) Die Pose ist »unnatürlich«, ihre Einnahme ist der erste Schritt zu dem, was Wilde dem Zeitgeist entsprechend zum »Ziel des Lebens« ernannte: die Selbstverdinglichung der eigenen Person als Kunstwerk. Dass sich das, was Wilde unter »Leben« verstand, nach anderen Regeln organisiert als die »Kunst«, verursachte zahlreiche schmerzhafte Zusammenstöße.
Wilde investierte viel in den Erfolg seiner Posen. Nach der Ankunft in New York 1882 suchte er den berühmten Fotografen Napoleon Sarony auf, der ihn in die von ihm erfundene »Posiermaschine« einspannte. Das Gerät ermöglichte es, unnatürliche, etwa anstrengende Stellungen bei langer Belichtungszeit einzuhalten. Sarony verfertigte jene berühmten 27 bis heute in aller Welt verkauften Fotos, die Wilde in verschiedenen Stellungen und Kostümen zeigen. (siehe Holland 1998)
Wilde wechselte seine Masken mehrfach. Das Erbe der Dandys aufgreifend und gleichzeitig ein Parteigänger der diffusen »ästhetischen Bewegung« des Englands des ausgehenden 19. Jahrhunderts, erregte er schon früh Aufsehen mit einer fantasievoll zusammengestellten, ungewöhnlichen Bekleidung, einer dazu passenden Frisur und zahlreichen Accessoires. Wie die Dandys stand er im Ruf der sexuellen Zweideutigkeit. Der kleine Ruhm, den er sich damit erwarb, brachte ihm die Einladung zu einer hoch dotierten Vortragsreise in die USA ein. Doch fortan war er der Gefangene seiner eigenen Werbestrategien – er hatte sich ein Image geschaffen, das anhaftete, das er bedienen und immer wieder nachschärfen musste.
Die Absicht, das Leben als Kunstwerk zu gestalten, lässt viele Varianten zu – das Projekt Wildes war unbestimmt, doch zielte es auf die Öffentlichkeit. Aus den USA heimgekehrt arbeitete er intensiv an seiner Karriere, erfolgreich, aber ohne sich ein klares Profil zu verschaffen. Doch allmählich gelang ihm rund um den diffusen Begriff »Schönheit« eine Synthese der Zeitströmungen Ästhetizismus, Dekadenz und Symbolismus. Wilde versuchte sich in vielen Bereichen – als Lyriker, Essayist, Dramatiker, Märchenerzähler, Rezensent und Herausgeber einer Frauenzeitschrift – und sorgte für Furore. Eine polnische Beobachterin des Londoner Kulturlebens stellte die berechtigte Frage, wer denn der junge Mann sei, dem man überall begegne: »Gewiss, er kann gut reden; aber hat er etwas geleistet?« Er hätte, so Barbara Bedfords Antwort, einen Oscar Wilde erfunden, »der dafür berühmt war, dass er Oscar Wilde war«. (BED 134, 154) Wilde gab vor, sich um die öffentliche Meinung nicht zu scheren und buhlte gleichzeitig um sie – ein lebenslanger Widerspruch, der ihm erst spät bewusst wurde.
Seriosität wurde ihm von Anfang an abgesprochen. Nicht wenige – wie der Maler Whistler – hielten ihn gar für einen Plagiator und Erzbetrüger. (Kohl: 41) Die Bibliothek seines ehemaligen Colleges in Oxford retournierte das Widmungsexemplar seines ersten Gedichtbandes wegen Plagiatsverdacht; ein einmaliger Vorgang. Auch finanziell waren seine Unternehmungen nicht erfreulich: Als Herausgeber der Zeitschrift TheLadiesWorld verdiente er wöchentlich 6 Pfund (ELL 405) – weniger als ein Zehntel dessen, was er später für ein Abendessen mit Alfred Douglas ausgeben wird.
Das lebende Gesamtkunstwerk, als das sich der junge Wilde inszenierte, drängte in die gute Gesellschaft. Übereinstimmenden Berichten zufolge war er ein blendender Gesellschafter, der die Londoner Salons mit seinen Geschichten entzückte. Der Mann, der eine Londoner Tischrunde beherrsche, könne die Welt beherrschen, heißt es in seinem erfolgreichsten Stück »Ernst sein ist alles«, in deutschen Inszenierungen oft unter dem Namen »Bunbury« aufgeführt.
Die Reichweite seiner sozialen Popularität ist umstritten. Für das konservative Milieu war er schon durch seine ostentative sexuelle Ambiguität untragbar, für manche repräsentierte er ab einem bestimmten Zeitpunkt alle Stereotype vom »Invertierten« und stellte die Verkörperung des überheblichen Schwulen dar, der zudem die Söhne verführte. Dass man ihn nicht immer ernst nahm, hatte auch eine Schutzfunktion.
Es handelte sich um ein bestimmtes Milieu, in dem er verkehrte – Menschen, die ein Gefühl für die enormen gesellschaftlichen Veränderungen hatten und den traditionellen viktorianischen Habitus mit Spott betrachteten. Die aber gleichzeitig mit einer anderen Moderne kokettierten, als sie Wilde im Sinne hatte. Es gab Menschen, die zu einer Gesellschaft gingen, wenn sie wussten, Oscar Wilde würde kommen. Und solche, die sie mieden, wenn sie wussten, dass der alles dominierende Riese, der nicht auf Dialoge aus war, erscheinen würde. Wildes Witze waren oft aggressiv und richteten sich gegen akzeptierte Einstellungen und Verhaltensweisen. Kam er zu einer Feier, oft mit einstündiger Verspätung, dann ordnete er herrisch die Verdunkelung des Raumes an, ließ eine allfällige ihm farblich nicht passende Tischdecke auswechseln, ignorierte die Namen der anwesenden Gäste, stellte taktlos-aggressive Fragen und begann sofort zu monologisieren. (ELL 482) »Die Schlagfertigkeit des westlichen Geistes mit ihrem Höhepunkt bei Oscar Wilde ist aggressiv und von Konkurrenzdenken geprägt. Es ist eine aristokratische Sprache des sozialen Taktierens und der sexuellen Zurschaustellung«, schreibt Camille Paglia. (Paglia 1990: 249) Henry James hingegen, wohl kein Freund »Hoscars«, wie er ihn nannte, hat den »ganzen Oscar« auf den simplen »alten Trick, etwas Unerwartetes zu sagen« (BED 325f.) reduziert. Doch wer polarisiert, steht im Mittelpunkt. Wilde war im sexuellen Bereich ein »anderer Viktorianer« (siehe Marcus 1974), doch stellte er sich in gewissen Fragen mit seinen Ansichten gegen den Zeitgeist des progressiven, liberalen oder linken Milieus. So unterstützte er etwa die europaweite Kampagne für den unschuldigen Alfred Dreyfus nicht.
Mit seinem Märchen vom »Glücklichen Prinzen« gelang Wilde der erste Durchbruch. Berühmt und berüchtigt, ein Zustand, den er seit seiner College-Zeit anstrebte (ELL 78), wurde er mit der Publikation des Romans »Das Bildnis des Dorian Gray« (1891). Auch in Wildes Prozess und all den Folgeverfahren, die Douglas jahrzehntelang beschäftigen werden, spielte das »unmoralische« Buch, trotz der geradezu aufdringlichen Moral des Schlusses, eine zentrale Rolle. Die Bedeutung der Frage, welchen Einfluss Leben und Eigenschaften eines Autors bei der Gestaltung seines Werkes gespielt haben, wird überschätzt – und doch finden sich im »Dorian Gray« Elemente einer Blaupause der späteren Beziehung zu Lord Alfred Douglas. Flaubert wird der Ausspruch zugeschrieben, dass er Madame Bovary sei. Eins zu eins geht das bei »Dorian Gray« wohl nicht, doch finden wir Elemente von Wildes »Persona«, seiner existenziellen Wirrnis, der Brüchigkeit seiner Beziehungen und seiner Selbstentfremdung ebenso in den Protagonisten des Romans wie die persönlichen Sehnsüchte, Fantasien, Aversionen und Ängste des Autors.
»Dorian Gray« ist ein Roman über Liebe, Selbstverwirklichung und die ambivalente Rolle der Moral. Die Niederlage der Tugend und der Triumph des Lasters, bei de Sade im Geschwisterpaar Justine und Juliette personifiziert, wird hier von einem Quartett vorgeführt, doch wird dem Laster der nachhaltige Triumph verweigert. Zwei von der Last des Broterwerbs befreite Täter und zwei Opfer konfrontiert der Text miteinander; zwei Liebende und zwei nach Selbstverwirklichung strebende Immoralisten. In der Rede der Protagonisten wird die Moral lautstark verworfen, doch am Ende steht eine geradezu klassische Variante der Höllenfahrt des Bösewichts. Der zynische Lebemann Lord Henry Wotton predigt eine schrankenlose Autonomie und wird als einziger mit einigen Blessuren überleben – betrogen, verlassen und durch seinen Lebenswandel frühzeitig gealtert. Die anderen werden den schmutzigen Tod Justines sterben.
Die Unmoral hat in Lord Henry einen starken Fürsprecher. Mit jener sanften und melodiösen Stimme, die man auch Wilde nachsagte, verkündet er die Lebensprinzipien eines »neuen Hedonismus« (DO 181), wie sie auch sein Schöpfer in dem programmatischen Essay »Der Sozialismus und die Seele des Menschen« (1891) vertrat. Schon darin wurde die subversive Kraft des Individualismus gepriesen und denen, die frei sein wollten, die soziale Anpassung verboten. Mit diesen Prinzipien, die im Roman subtil und vergiftend genannt werden, übt Lord Henry einen »schlimmen Einfluss« auf Dorian aus – es sind jene Prinzipien, denen Wilde zu folgen versuchte, an denen er letztlich scheiterte und für die er später verfolgt wurde. Mittlerweile üben sie einen tiefen Einfluss auf die westliche Lebensform aus: »Das Ziel des Lebens ist Selbstverwirklichung. Das eigene Wesen zu verwirklichen, dazu sind wir hier.« Und weiter: »Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, dass man ihr nachgibt. Widerstehen Sie ihr, und Ihre Seele wird krank vor Sehnsucht nach dem, was sie sich selbst verboten hat […].« (DO 176f.) Die Versuchung bietet den einzigen gangbaren Ausweg aus dem, was Baudelaire als das hässlichste, schmutzigste und bösartigste unserer Laster identifiziert hat: die Langeweile, der totale existenzielle »Ennui«, an dem die männlichen Protagonisten leiden.
So belehrt wird der schöne Jüngling Dorian Gray, während er dem in ihn verliebten Maler Basil Hayward Modell sitzt. Dorian, ein »junger Adonis, der aussieht wie ein Wesen aus Elfenbein und Rosenblättern«, noch nicht volljährig, naiv, blondlockig, blauäugig – kurz: ein fleischgewordener feuchter Traum Oscar Wildes – ist eine ambivalente Figur. Bevor er unter den Einfluss von Lord Henry gerät, wird er als ernsthafter junger Mann geschildert, dessen »liebenswerter Charakter« so weit geht, dass er mit alten Ladys vierhändig Klavier spielt. Eine treffende Illustration der Langeweile, der ein korrekt lebender Viktorianer ausgesetzt war. Doch Dorians Figur illustriert nicht nur Wildes These von der Genialität der Schönheit, sondern auch jene von deren Grausamkeit und Kälte, die in den Bildern der präraffaelitischen Maler genauso zu finden ist wie im klassischen »Film noir«, dort allerdings meist bei weiblichen Protagonisten. Wenn Wilde – wie ihm die Biografik nachsagt – tatsächlich meinte, in Alfred Douglas der Personifikation des Dorians begegnet zu sein, dann ist er nicht ohne Vorahnung in diese Begegnung gegangen: Den »wahnwitzigen Hochmut« und die »knabenhaft anmaßende Weise« (DO 278) seines Protagonisten sah er vorher. Wer der Versuchung nachgibt, betritt ein gefährliches Terrain.
Basil malt Dorian, wie er ihn sieht – also schön. Der ansonsten bindungslose Dorian verfällt der bezwingenden Kraft des eigenen Abbildes, verliebt sich in sich selbst und leidet unter der schrecklichen Vorstellung, jene Schönheit zu verlieren: »Wie traurig das ist. Ich soll alt werden, hässlich und abstoßend. Aber dies Bild wird ewig jung bleiben. […] Wenn es doch umgekehrt wäre! Wenn ich ewig jung bliebe und das Bild altern würde! Ich würde alles – alles – dafür hingeben! Ja, es gibt nichts in der ganzen Welt, das ich nicht dafür hingäbe!« (DO 184) Der Wunsch wird erfüllt, eine höhere Macht bewirkt, dass Bild und Abgebildeter die Rollen tauschen. Künftig wird das Bild die »Last der Schande« Dorians zeigen, als eine Art Porträt seiner Seele die Folgen seiner Untaten markieren, während sich Dorian in jugendlicher Schönheit, alterslos, dem Laster hingibt. Er versperrt das Gemälde, doch beobachtet er zwanghaft die Veränderungen des Abbildes, die eigentlich ihn verunstalten sollten. Dorians Laster bleibt ungenannt, doch ergibt sich aus den Vorwürfen, die Basil Hayward Dorian macht, eine bisexuelle Konnotation: Er bringe Schande in anständige Häuser, sei ein Mann, den ein »reines Mädchen« besser nicht kenne, doch auch ein »Unglück für junge Männer«. Auch besitzt er eine Villa in Algier, jenem Revier, in dem unser Paar schöne, preiswerte und willige »Boys« jagen wird. Der zweigeschlechtliche Name Dorian hat zudem eine homosexuelle Konnotation: Den Dorern hatte man diese Neigung nachgesagt. (BED 299) Wilde schätzte solche Doppeldeutigkeiten: »to be earnest«, die titelgebenden Worte von Wildes erfolgreichstem Stück, war ein Code für »schwul sein«. (BED 408)
In der finalen Konfrontation mit seinem im Bild fixierten wahren Ich wird Dorian das Gemälde zu zerstören suchen. Doch dieses übersteht die Attacke und glänzt danach in alter Schönheit – Dorian wird sich durch den Angriff selbst töten und sein »wahres Aussehen« erlangen. Und so bleibt am Ende von dem ehedem alterslos schönen Jüngling nur ein ekliges Ding.
Der Maler des Meisterwerks, Basil Hayward, ist offenkundig in sein Modell verliebt und leidet schwer unter dessen Entwicklung. Er ignoriert lange Zeit den Zusammenhang zwischen dessen Immoralismus und seiner Schönheit. Eine erzieherische Aussprache fruchtet nichts, Dorian führt ihm das versperrte Bild vor, wird den entsetzten Zeugen seines Verfalls töten und den Leichnam durch einen Naturwissenschaftler, den er dazu erpresst und der sich als Buße töten wird, beseitigen lassen.
Das zweite Opfer ist die begabte Schauspielerin Sybil Vane, in die sich Dorian verliebt. An ihrem Beispiel zeigt sich, dass die Selbstaufgabe, die im erotischen Begehren liegt (Kernberg 1999: 48), und die selbstbewusste Souveränität der Kunst einander ausschließen können. Ihre Liebe lässt Sibyl ihre Begabung verlieren. Dorian, der sich in die Darstellerin der Rosalind verliebt – einer zwischen den Geschlechtern stehenden Figur in Shakespeares »As You Like It«, die sich in den Schäfer Ganymed verwandelt hat –, verlässt sie: »Ohne deine Kunst bist du nichts«. Die verzweifelte Sibyl bringt sich daraufhin um. Dorians anfänglich schlechtes Gewissen beruhigt sich rasch: »Es war eine wunderbare Erfahrung. Weiter nichts.« (DO 231)
Den Teufelspakt Dorians kennt Wilde aus der Familiengeschichte: Charles Maturin, ein Großonkel der Lady Wilde, hatte mit »Melmoth der Wanderer« einen im gesamten Europa bewunderten viktorianischen Schauerroman verfasst, dessen Protagonist sich mit dem Satan verbündet und 150 Jahre alterslos auf der Erde weilen darf.
Raffiniert hält Wilde die Spannung zwischen dem offenkundig bejahten Amoralismus und einem diesen sanktionierenden »Bad End« in Schwebe. Doch die Botschaft des Lord Henry wird Wilde in seinem Prozess verfolgen und sein oftmaliger Hinweis auf das moralische Ende des Buches – die tödliche Verwandlung des Schurken in einen abstoßenden Haufen toten Fleisches – wird ungehört bleiben.
Obwohl der »Dorian Gray« keine deutlichen Anspielungen macht, gilt er heute als Schlüsselwerk homosexueller Literatur – nicht nur die Zeitgenossen, von denen viele das Buch gar nicht gelesen hatten, werteten ihn als pornografisch, zahlreiche schwule Texte spielen auf ihn an. (Anonym 1930) Von homosexueller Seite gab es auch Kritik: Der schwule Schriftsteller John Addington Symonds, der seinen Lehrstuhl für Poetik in Oxford aufgrund seiner Pädophilie verloren hatte, Verfasser eines der ersten Essays zur Verteidigung der Homosexualität (»A Problem in Greek Ethics«, 1883) und Co-Autor von Havelock Ellis’ »Studies in the Psychology of Sex« polemisierte gegen das »ungesunde, parfümierte, mystische und gestelzte Verhältnis eines Mannes dieser Art zu moralischen Problemen« und meinte, »wenn das britische Publikum dies hier schluckt, kann es alles schlucken.« (HY 160f) Mit seinen angedeuteten lasterhaften Handlungen ist der Dorian auch eine Fantasie über die Abenteuer, die das hemmungslose Leben bietet; doch gleichzeitig enthält er erschreckende Einsichten über dessen Folgen – die Zerstörung anderer Menschen und der eigenen Person.
Der moralische Teil seiner Leserschaft identifizierte Wilde mit seiner Figur des Lord Henry. Aus heutiger Sicht kann man ihn als Zeitdokument lesen – Hans Mayers Diagnose, es sei »der erste folgerichtig homosexuelle Roman« (Maier 1975: 267) stimmt so weit, dass die gewollte Uneindeutigkeit zur damaligen schwulen Lebensform gehörte: das Herumreden über Laster, die man dann nicht lesen kann. Wie ein Trailer, der viel verspricht, aber nicht zur Sache kommt. Wer »Stellen« in diesem Text sucht, der wird eine Enttäuschung erleben. Mayers Aussage bedeutet im Kontext von Wildes Denken, dass in dessen Lebenszeit schwule Existenz nur zwischen zwei Polen denkbar war: Anpassung oder Widerstand. Doch dazwischen hätte sich ein Mittelweg aufgetan: die ästhetisch orientierte Existenz.
Auch Wilde findet im Text einen dritten Weg zwischen Anpassung und Widerstand an die geltenden moralischen Regeln. Obwohl er die Eindeutigkeit vermeidet, verstärkte er mit der Veröffentlichung sein anrüchiges Image, seine kritisierte »unmanly manhood«. Zudem provozierte die programmatische Vorbemerkung, dass es weder moralische noch unmoralische Bücher gebe: »Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Nichts sonst.« (DO 157) Neuerlich stoßen wir auf einen Widerspruch in seiner Haltung zur Moral: Wilde, der sich als Gentleman fühlte, hat den propagierten Amoralismus keineswegs konsequent gelebt – in den alltäglichen Feldern benahm er sich konventionell. Wenn die Wahrheit in der Maske liegt, dann hat dieser Amoralist nicht die Moral als Ganzes, sondern nur spezielle viktorianische Aspekte angegriffen. Die Rechtfertigung des Regelbruchs, bis zum Laster, bleibt allgemein, doch lässt Wilde ihm kaum Handlungsraum. Was Dorian wirklich tut, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.
Das zunächst in den USA und dann in England publizierte Buch wurde schnell skandalisiert. »Seit Oscar ›Dorian Gray‹ geschrieben hat, will keiner mehr mit uns sprechen.« (ELL 443) klagte Constance Wilde. Aber das Buch hatte ihren Gatten zum Star gemacht – mit all den damit verbundenen Privilegien und Verpflichtungen.
Seit der Geburt seines zweiten Sohnes Vyvyan hatte Wilde es sich zur Angewohnheit gemacht, seine alte Universität, das Magdalen-College in Oxford, regelmäßig zu besuchen und zeigte Interesse am dortigen studentischen Kulturleben. Im Februar 1890 hatte man ihm von dem Studenten und Lyriker Lionel Johnson berichtet. Wilde, der seine Triebziele recht energisch verfolgte, besuchte ihn spontan und fand einen potenziellen Gesinnungsgenossen, der inmitten von Baudelaires »Blumen des Bösen«, Walt Whitmans »Grashalmen« und Porträts des Kardinal Newman lebte. Wilde ließ wie gewohnt seinen Charme spielen und nach seinem Abgang schrieb Johnson an einen Freund: »Ich bin ganz verliebt in ihn.« (ELL 428) Auch erzählte er seinem Cousin Lord Alfred Douglas von seiner Eroberung, lieh ihm den »Dorian«, den Douglas je nach Quelle neun oder gar vierzehnmal gelesen zu haben vorgibt. Und schließlich besuchten die beiden jungen Männer Wilde im Frühsommer 1891 – mit dieser Begegnung begannen dessen schriftstellerisch fruchtbarste Jahre und gleichzeitig sein Niedergang. Johnson war über die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen Wilde und seinem Cousin nicht glücklich, das von ihm verfasste Gedicht »To the Destroyer of a Soul« wird auf Wilde bezogen.
Lord Alfred Douglas, den seine Freunde mit seinem Kindernamen Bosie riefen (jener von Wilde lautete Ossie), war ein Angehöriger des schottischen Hochadels. Er konnte auf eine imponierende Ahnengalerie an Haudegen verweisen – der »schwarze Douglas« war eine Heldengestalt der Kreuzzüge. In der Familie wimmelte es von Exzentrikern, wie etwa einer Tante, die von einer Expedition nach Patagonien einen Jaguar mitbrachte, den sie als Haustier hielt, bis er eines Nachts ausriss und im Park des Schlosses von Windsor einige Rehe riss. (MU 14)
Der damals 21-jährige Bosie war der jüngste Sohn der Douglas-Sippe, des Marquess von Queensberry. Seine Mutter Sibyl Montgomery Marquessa von Queensberry, wird uns als sanftmütig und künstlerisch interessiert beschrieben. Entgegen seiner gelegentlichen Arroganz und seinen miserablen Studienerfolgen war er unter den Kommilitonen beliebt: musikalisch, witzig und gesellschaftlich gewandt, ein Sportsmann, Dichter und Herausgeber einer erfolgreichen studentischen Zeitschrift.
Schlank, von mittlerer Größe, mit hellen Augen und vollem, bleichem Haar galt Douglas sich und seiner Umwelt als schön. Schön, Schönheit – das sind unbestimmbare Worte ohne Begriffsstatus, die in der Gedankenwelt des Wilde-Kreises inflationär verwendet werden. Im »Dorian Gray« wird sie als undefinierbar behandelt, doch erhält sie einen hohen Rang – sie sei eine Form des Genies: »Sie lässt sich nicht anfechten. Sie hat ein göttliches Recht auf Herrschaft.« (DO 180) Dieses Privileg wird Bosie genießen, in »De Profundis« wird Wilde es ihm aberkennen.
Das Wort Schönheit verweist zunächst auf den visuellen Reiz, den manche Dinge auslösen und die damit verbundene Lust, sie zu berühren. Das gilt für die blauen Tassen, die chinesischen Vasen und andere dekorative Gegenstände, die das »schöne Haus« schmückten; oder für den Tisch aus wohlriechendem Holz, die Perserteppiche und den georgischen Samowar aus den Kulissen des »Dorian Gray«. Viele dieser Gegenstände, an denen Wildes Herz hing, galten als kostbar, manche stammten aus den Kolonien, jenem Teil der Welt, wo die Protagonisten unserer Geschichte Kolonialherren spielen und als Sextouristen preiswerte schöne Knaben (etwa: BR 540) mieten werden.
Der hohe Stellenwert, der den »schönen Dingen« zugeschrieben wird, verdinglicht auch die so etikettierten Menschen: Der dekadente Eros, so Camille Paglia, macht das Liebesobjekt zu einem »object d’art«. »Die Person verwandelt sich in ein aller Gesetzmäßigkeit entzogenes, schönes Ding.« (Paglia 1990: 489) Zum Verhältnis von »Schönheit« und körperlichem Begehren hält sich Wilde lange Zeit bedeckt. Im »Dorian Gray« wird noch infrage gestellt, wo das fleischliche Verlangen ende und das seelische beginne. (DO 202) Die Trennung wird sich in Wildes Lebenspraxis allmählich aufheben und »Schönheit« gerät bei Wilde zum Codewort für sexuelles Begehren, eine Angewohnheit, die ihm bei seinem Prozess schwer schaden wird. In der Beziehung zu Douglas wird dessen Schönheit – die Oberfläche – als Voraussetzung einer Liebe fungieren, die bald eine schwer ergründbare Tiefe erreichen wird. Wenn »Schönheit« in der Partnerwahl eine allzu große Rolle zugeschrieben wird, läuft der Wählende Gefahr, die Besonderheit des Erwählten zu verfehlen.
Auch Constance gesellte sich zu der Teegesellschaft und war von Douglas angetan. Doch der Besuch währte nur kurz, Wilde war mit der Fertigstellung der »Lady Windermere« beschäftigt. Douglas war fortan mit dem existenziellen Setting seines späteren Geliebten vertraut: Es gab eine Gattin und eine zeitraubende Arbeit, die den Lebensunterhalt sichern sollte. Vorläufig erhielt er ein Widmungsexemplar der Luxusausgabe des »Dorian« und man beschloss, Kontakt zu halten.
Mit der ihm zugeschriebenen Schönheit erfüllte Douglas eine zentrale Bedingung der Möglichkeit des Wilde’schen Begehrens. Aber »passten« die beiden zusammen? Douglas hat Wilde bewundert, doch ging er intellektuell seinen eigenen Weg. Der Biograf Richard Ellmann nennt ihn »wenig talentiert«. Dass der Jüngling, der lange Zeit zwischen Sport und Dichtung schwanken sollte, sich später zum berühmtesten englischen Sonett-Dichter entwickeln wird, ist in der Wilde-Biografik kaum Thema. Einhelligkeit besteht über sein problematisches Wesen: Verschwendungssucht, Arroganz, Rachsucht, Anmaßung, Jähzorn, Wutanfälle wegen Kleinigkeiten und Maßlosigkeit werden oft genannt und zur Impulskontrolle scheint er absolut unfähig gewesen zu sein – er gab jeder Emotion sofort nach und verweigerte die Weitsicht auf die möglichen Folgen seines Handelns. War er zornig, dann wurde er den Zeugen aus dem Wilde-Kreis zufolge hässlich – »widerlich«, »hassenswert« und »abstoßend«. (BED 372) Das sei oft geschehen. Die ständigen Streitigkeiten – so Wilde – »zerstören alle Schönheit des Lebens. Ich kann es nicht ertragen, Deine geschwungenen Lippen die hässlichsten Worte auszusprechen zu hören.« (zit. in BED 380)
Douglas trug ein problematisches elterliches Erbe und es gibt zahlreiche Spekulationen über seine geistige Gesundheit. Sein Vater, von Wilde später scherzhaft der »rote Marquess« genannt, war von all den Exzentrikern, über die wir in dieser Geschichte hören werden, wohl der schlimmste. Ein militanter Atheist, der Theateraufführungen störte, wenn ihm die Tendenz eines Stückes missfiel, und die Berufung ins Oberhaus ablehnte, weil er dort einen Eid auf die Königin hätte schwören müssen. Zudem quälte er seine Frau. Der später so prüde auftretende Mann war der Verfasser eines Traktates für die freie Liebe und versuchte seiner Gattin eine Ménage-à-trois einzureden – wie sie sich dann zwischen dem Paar Wilde und Alfred Douglas ergeben wird und wie sie in »Ernst sein ist alles« als Alternative zur Langeweile einer konventionellen Ehe gepriesen wird. Innerfamiliär hatte er sich durch seine Grausamkeit seiner Frau gegenüber bei seinen Söhnen verhasst gemacht; nachdem er den Sitz im Oberhaus abgelehnt hatte und dieser seinem ältesten Sohn Drumlanrig angeboten wurde, hasste er auch diesen. Seine Söhne nannten ihn »das Vieh«, er selbst nannte Douglas »Reptil« und stritt die Vaterschaft ab. Vor allem bezüglich seiner letzten Lebensjahre wird oft von einer paranoiden Veranlagung gesprochen. Doch Queensberry war auch ein legendärer Sportsmann als Turnierreiter, Cyclist und Boxer. Die von ihm entwickelten »Queensberry Rules« gelten heute noch für Amateurboxer, trotz seiner Exzentrik war er sozial einflussreich. Ihn zu unterschätzen, war ein schwerer Fehler Wildes.
Bosie bewunderte seinen Vater als Junge und litt unter seiner Abwesenheit, doch während des Rosenkriegs zwischen seinen Eltern stellte er sich auf die Seite der Mutter. Lange Zeit schwankte er zwischen der Orientierung am sportlich-exzentrischen Lebensstil seines Vaters und der kulturell orientierten Lebensweise seiner Mutter. Ein Gefühl der Zurücksetzung belastete ihn ob seiner Stellung als nicht erbberechtigter Sohn eines Lords als »spare«, als Ersatz auf der »Reservebank«, der finanziell und karrieremäßig nur im Todesfall eines Angehörigen zum Zug kommen würde.
Das von Hass erfüllte Familienleben war Stadtgespräch und es ging der Spruch um, jede Nachricht über die Familie Queensberry, in der nicht von Mord gesprochen würde, sei eine positive. Douglas war – wie auch Wilde – stark an seine Mutter gebunden, die ihn, so dessen Vorwurf, verzärtelt hätte. Sibyl Montgomery hatte allerdings einen scharfen Blick für die psychische Verfassung ihres Sohnes, handelte jedoch nicht konsequent und entschuldigte sie als väterliches Erbe.
Ein bürgerlicher Schriftsteller, der seine Identität stark aus seinem erfolgreichen Erwerbsleben bezog und ein Aristokrat, der sich auf eine imponierende Ahnenkette berufen konnte und zu jener Zeit als Dichter den Status eines Dilettanten hatte; ein schöner Jüngling und ein hässlicher, mittelalterlicher Mann; ein mehrfach prämierter Akademiker und ein potenzieller Studienabbrecher; ein Sportsmann und ein Verweigerer körperlicher Bewegung – wo lagen die Gemeinsamkeiten und wo die potenziellen Störquellen?
Beide hatten die Voraussetzungen, einmal zu den »happy few« zu gehören und endeten dennoch elend. Wilde stammte aus einem fördernden und fordernden Elternhaus, bei Douglas war der fördernde Anteil gering. Beide waren Muttersöhnchen – Wildes Verehrung für Lady Jane war allgemein bekannt, und Douglas flüchtete manchmal für Jahre zu seiner »engelhaft schönen und guten Mutter« (AD 9), von der er sich materiell abhängig gemacht hatte und der er als Ersatz für den brutalen und abwesenden Gatten diente. (MU 7) Beide waren mit unterschiedlichen Selbstbegründungen eitle Egozentriker, Douglas war zudem stolz. Diese Eigenschaften sind der adäquaten Verarbeitung der Realität nicht förderlich – in gewisser Weise war das Paar von den eigenen Provokationen fasziniert. Wilde, der die Anstößigkeit ein Privileg des Künstlers nannte, wusste allerdings, dass dieser auf eigene Gefahr handelt. Beide priesen die Schönheit und verbanden ihr sexuelles Begehren damit. Wenngleich er auf den Status eines Gentlemans insistierte, fühlte sich Wilde keiner Norm außerhalb der Kunst verpflichtet, schon gar nicht denen des viktorianischen Bürgertums. Douglas agierte in dieser Hinsicht ambivalent und suspendierte nur zeitweilig in jenen Jahren die Regeln seines Standes. Im zwischenmenschlichen Umgang war Wilde ein Taktiker, der die Menschen seiner Umgebung manipulierte; als Künstler gab er sich spontan, doch tatsächlich testete und überarbeitete er seine Pointen unzählige Male. Douglas war spontan, häufig jähzornig, doch nicht berechnend. Was ihm oft als Maßlosigkeit ausgelegt wurde, war die Mischung aus Spontaneität, Realitätsblindheit und Beharren auf dem eigenen Willen. Beide ließen sich kaum Grenzen setzen. Douglas hatte eine genaue Vorstellung davon, was ihm zustand, die er mit seiner Abstammung begründete; Wilde vertrat ein Konzept von der jedermann zustehenden, nicht einschränkbaren persönlichen Freiheit. Die Fähigkeit, klug mit ihrem Geld umzugehen, fehlte beiden. Zur Herkunft des Geldes hatten sie verschiedene Vorstellungen: Douglas brauchte nach eigener Aussage lange zu der Einsicht, dass man Geld nicht dadurch erwirbt, wenn ein entfernter Verwandter stirbt, sondern dass es – zumindest ab einem bestimmten Kassenstand – einen Zwang zum Gelderwerb gibt. Wilde wusste, dass er sein Geld verdienen musste. Wenn er auch als Nichtstuer posierte, war er dennoch ein harter Arbeiter, der auf Ablenkung verärgert reagierte.
Und schließlich besaßen beide eine stark narzisstisch eingefärbte Charakterstruktur und eine fluide sexuelle Identität; beide Biografien verzeichneten einen grundlegenden Seitenwechsel im beginnenden mittleren Alter. In den Jahren vor ihrer ersten Begegnung lebten sie als – im damaligen Verständnis – »Invertierte«, frönten also dem, was man pauschal »uranische Liebe« nannte, oder auch, abweichend vom heutigen Gebrauch, Sodomie.
Wilde und Douglas hatten eine unterschiedliche Karriere im Uranismus absolviert. Gleichgeschlechtliche Kontakte zwischen den Zöglingen waren in den englischen Internaten – und wohl nicht nur in ihnen – ein häufiges Phänomen. »Cosi fan tutte«. Der »public school nonsense«, wie es Douglas später nannte, war in den Eliteschulen so weit verbreitet, dass die strafrechtliche Verfolgung solcher Kontakte an Heuchelei grenzte. Wilde, der die Portora Royal School besucht hatte, leugnete pubertäre gleichgeschlechtliche Erfahrungen, doch möglicherweise respektierte er damit nur das viktorianische Gebot: »Don’t ask, don’t talk.« Gesprochen hat man allerdings darüber. Am Trinity-College in Dublin wurde der Reverend John Pentland Mahaffy zu Wildes verehrtem Tutor. Dem Bericht eines Studienkollegen zufolge war er es, der den damals noch »belustigend naiven« Wilde auf dieses Thema gebracht hätte. Für Mahaffys Werk »Social Life in Greece«, das sich auch mit der »griechischen Liebe« beschäftigte, jenem großen Umhang, den Wilde später über seine Neigung breiten wird, leistete der Student Hilfsdienste. Mit dem Gräzisten diskutierte er über die griechische Knabenliebe, die der Reverend als »fremdartige und uns anekelnde Perversion« ablehnte. Nachdem Mahaffy 1895 die volle Wahrheit über Wildes Geschlechtsleben erfahren hatte, wollte er nie wieder über seinen ehemaligen Vorzugsstudenten sprechen.
In Oxford, wo Wilde ein hoch dotiertes Stipendium erlangte, gab man sich etwas freizügiger. John Ruskin, der von Wilde lebenslang bewunderte Universalgelehrte, der das soziale Leben unter den Primat der Schönheit stellen wollte, unterbrach seine kunsthistorischen Vorlesungen gelegentlich und forderte seine Hörerinnen und Hörer auf, sich doch ineinander zu verlieben. Persönlich hielt er sich eher zurück, seine Gattin Effie Gray ließ sich nach fünf Jahren, in denen die Ehe nicht vollzogen wurde, scheiden.
Es gibt keine Berichte über spezielle gleichgeschlechtliche Episoden aus der Oxford-Zeit Wildes. Doch schon damals haftete ihm der Ruf einer gewissen sexuellen Ambivalenz an. »Männlichere Gemüter« erachteten seine »äußere Erscheinung für zwitterhaft« (ELL 255) und im Journal der Brüder Goncourt wird er später als »au sexe douteux« firmieren. (ELL 326) Nicht nur seinem ersten Biografen und Freund Sherard zufolge hatte er Kontakte mit Prostituierten; darauf basiert die Spekulation über eine syphilitische Infektion als Ursache seiner späteren tödlichen Erkrankung.
Wilde, ein großartiger Schmeichler, machte Schauspielerinnen den Hof, um sie für seine dramatischen Erstlinge zu interessieren, verliebte sich gelegentlich in gebundene oder unerreichbare Frauen und wurde abgewiesen – etwa von Florence Balcombe, die sich für Bram Stoker, den Autor des »Dracula«, entschieden hatte oder von der Schauspielerin Lillie Langtry, der Geliebten des Kronprinzen.
Erfolgreicher war die Werbung des Dreißigjährigen um die 26-jährige Constance Lloyd, Tochter eines vermögenden Anwalts und Freundes des Prince of Wales, die er 1884 heiratete. Es spricht einiges gegen die Behauptung, Wilde hätte mit dieser Ehe seine homosexuelle Veranlagung vertuschen wollen. (ELL 326) »Wir sind natürlich hoffnungslos verliebt«, schrieb er an einen Freund und in einem anderen Brief pries er Constance als »schönes Mädchen«, »eine ernste kleine Artemis mit Veilchenaugen und braunen Haarflechten«. Und diese beschrieb sich als »vollständig und närrisch glücklich«. (HY 82f.) Auch wenn er seine Emotionen und seine ästhetischen Urteile gerne in übersteigerter Form ausdrückte, handelte es sich um eine Liebesheirat, die für Wilde einen sozialen Aufstieg bedeutete – die Jahresrente seiner Gattin betrug 1000 Pfund. Constances Familie mag froh gewesen sein, dass ihre Tochter nicht als alte Jungfer endete, missbilligte allerdings den schwer verschuldeten Schwiegersohn und seinen zweifelhaften Ruf.
Constance Lloyd wird in der Wilde-Literatur häufig abgewertet. Das Urteil des Frank Harris über die »Dame ohne besondere Eigenschaften oder Schönheit« haftet untilgbar an ihr. Die meisten Biografen degradieren sie zur vermögenden Gattin, die zwar zunächst den Haushalt in der Tite Street managte und finanzierte, jedoch später aufgrund ihrer finanziellen Überlegenheit Wildes Leben zu kontrollieren suchte. Dummheit, Schüchternheit und Humorlosigkeit werden ihr nachgesagt und selbst wohlwollende Biografen attestieren ihr entschuldigend, dass sie nicht immer fähig gewesen sei, mit Wilde »mitzuhalten« – ein Vorwurf, den er selbst später auch Douglas machen wird. (HY 88) Doch wer konnte schon mit Wildes überraschenden Gedankensprüngen »mithalten«? Und dann noch die Angehörige eines Geschlechts, dem Lord Henry nicht nur die Genialität, sondern pauschal die Fähigkeit zur Konversation abgesprochen hatte – in ganz London gebe es nur fünf Frauen, mit denen zu sprechen sich lohne: »Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben nie etwas zu sagen, aber sie sagen es mit Charme.« (DA 192) Dazu passt, dass Wilde nach kurzer Ehe einem Bekannten »trübsinnig« anvertraute, er hätte »weit unter Wert« geheiratet. (ELL 354)
Das männliche Bildungsprivileg, der Ausschluss der Frauen von der höheren Bildung, war damals noch nicht durchbrochen, doch genoss Constance eine standesgemäße Erziehung. Die Frauen begannen damals, sich und die Vermittlung möglichen Wissens an sie in die eigenen Hände zu nehmen – unterstützt von Autoren wie Bernard Shaw, dem Verfasser von »An Intelligent Woman’s Guide to Capitalism and Socialism«. Viele der Frauen aus dem Wilde-Kreis konnten »mitreden« – über Politik, Wahlrecht, Kolonialismus und Kunstdinge, im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Publizistinnen und Aktivistinnen.
Wildes erster Liebhaber, lebenslanger Freund und Nachlassverwalter Robbie Ross beschrieb Constance als sentimental, hübsch, gutmütig und schwach: »Seine Entwicklung verwirrte sie, gab ihr das Gefühl von Unzulänglichkeit und steigerte damit ihre Unzulänglichkeit. […] Sie wurde eine von jenen Frauen, die von ihren Männern ohne Boshaftigkeit stets mit dem Epitheton ›Meine arme‹, auf das dann der Vorname folgt, angeredet werden.« (HY 89) Hinter diesem »nicht mithalten können« verbarg sich auch eine beharrliche Opposition gegen manche von Wildes Ideen, mit denen er seinen Lebensstil rechtfertigte. Aber solche Eigenheiten gehörten zu Wilde, auch Dorian empfand Furcht vor dem Zynismus von Lord Henry. Constance achtete die Moral – jenem Anteil seiner Person, den er in der Figur des Lord Henry hatte einfließen lassen, stand sie kritisch gegenüber. Ihr Kunstbegriff war enger, »vollkommene Kunst ohne vollkommene Moral« war ihr schwer denkbar. Auch scheinen ihr manche Witze Wildes ihre Person und die gemeinsame Ehe betreffend zu weit gegangen zu sein. Ungeachtet dieser Vorbehalte kleidete sie sich nach seinem Geschmack, auch wenn sie »überhaupt keine Lust dazu hatte«. (BED 238)