JEMAND ist in deinem Haus - Stephanie Perkins - E-Book

JEMAND ist in deinem Haus E-Book

Stephanie Perkins

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Beschreibung

Nervenkitzel, eiskalt! JEMAND beobachtet dich. JEMAND kennt all deine Geheimnisse. JEMAND ist in deinem Haus! Eine grausame Mordserie hält den kleinen Ort Osborne in der Einöde Nebraskas in Atem. Haley Whitehall ist das erste Opfer. Doch nach und nach werden auch andere Schüler der Highschool von einem nahezu unsichtbaren Täter angegriffen … Der grausame Mörder kennt die Gewohnheiten und Lebensverhältnisse seiner Opfer genau und versucht, sie mit einem perfiden Katz- und Maus-Spiel um den Verstand zu bringen. Makani rätselt mit ihren Freunden über das Motiv des Täters - und fürchtet, dass er auch sie ins Visier nehmen wird. Denn Makani hat selbst ein dunkles Geheimnis, von dem niemand etwas weiß, und das ihr nun zum Verhängnis werden könnte. New-York-Times-Bestsellerautorin Stephanie Perkins mit einem eiskalten Page-Turner! Eine geniale Mischung aus Thrillerspannung, Highschoolsetting, Cliquenfreundschaft und Liebe.

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Seitenzahl: 402

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Stephanie Perkins

JEMAND

ist in deinem Haus

Aus dem Amerikanischen von Sonja Häußler

Stephanie Perkinswuchs in Arizona auf und arbeitete zunächst als Buchhändlerin, bevor sie 2004 Autorin wurde. Seitdem schreibt sie in erster Linie Liebesromane für Teenager und junge Erwachsene. Schon mit »Isla and the Happily Ever After« und jetzt auch mit ihrem ersten Thriller »There’s someone inside your house« schaffte sie es nach kurzer Zeit auf die Bestsellerliste der New York Times. Stephanie lebt mit ihrem Mann und Kater Mr Tumnus in North Carolina.

Weitere Bücher von Stephanie Perkins im Arena Verlag:Auf den ersten Blick. Jede große Liebe hat ihre Geschichte.

Für Jarrod, bester Freund & wahre Liebe

1. Auflage 2018 © für die deutschsprachige Ausgabe 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »There’s someone inside your house« bei Dutton Books, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York © 2017 Stephanie Perkins Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH. Aus dem Amerikanischen von Sonja Häußler Covergestaltung: Suse Kopp unter Verwendung eines Fotos von GettyImages ISBN: 978-3-401-80772-0

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Inhaltsverzeichnis

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Danksagungen

Der Mensch durchlebt solchen Schmerz nur einmal; beim nächsten Mal trifft der Schmerz auf eine härtere Oberfläche.

Willa Cather, The Song of the Lark

1

Die Eieruhr in Eiform stand auf der Fußmatte, als sie nach Hause kam.

Haley Whitehall warf einen Blick über die Schulter, als würde sie damit rechnen, dass jemand hinter ihr stand. Weit in der Ferne rollte ein roter Mähdrescher durch blassgelbe Kornfelder. Ihr Vater. Erntezeit. Ihre Mutter war auch noch bei der Arbeit, sie war Zahntechnikerin in der einzigen Praxis am Ort. Wer von ihnen hatte die Uhr hier stehen lassen? Die morschen Verandabretter bogen sich und ließen splitternde Geräusche hören, als Haley ihr Gewicht verlagerte, um die Eieruhr aufzuheben. Sie rasselte in ihrer Hand. Der Tag war kalt, doch die Eierschale aus Plastik war warm. Ein wenig nur.

Ihr Handy klingelte. Natürlich war es Brooke.

»Wie läuft’s mit dem Blut?«, fragte Haley.

Ihre beste Freundin stöhnte. »Ein Albtraum.«

Haley ging ins Haus und die Fliegengittertür knallte hinter ihr zu. »Irgendeine Chance, dass Ms Colfax es sein lässt?« Sie marschierte geradewegs in die Küche, wo sie ihren Rucksack auf den Schachbrettmusterboden fallen ließ. Nahrung. Die Probe heute Nachmittag war besonders zermürbend gewesen.

»Nie und nimmer«, schnaubte Brooke. »Sie wird sich niemals davon abbringen lassen. Wer braucht schon gesunden Menschenverstand, wenn man Ehrgeiz hat?«

Haley stellte die Eieruhr zurück auf die Theke – wo sie hingehörte – und öffnete den Kühlschrank. »Normalerweise würde ich für Ehrgeiz plädieren. Aber. Ich bin nicht gerade wild darauf, in Maissirup ertränkt zu werden.«

»Wenn ich Geld hätte, würde ich das professionelle Zeug selbst kaufen. Den Saal zu putzen, wird die Hölle werden, selbst mit den ganzen Planen und Plastikabdeckungen.«

In den meisten Theaterproduktionen von Sweeney Todd kam zumindest ein wenig falsches Blut zum Einsatz – Rasierer mit versteckten Ballons zum Zusammendrücken, Gelkapseln im Mund, falsche Klamottenvorderseiten, um die blutverschmierten Doubles darunter zu kaschieren. Zusätzliches Blutvergießen konnte durch rote Vorhänge oder rote Lichter oder ein wildes Crescendo kreischender Violinen angedeutet werden.

Leider hatte die Musicalleiterin an ihrer Highschool, Ms Colfax, einen unstillbaren Durst nach Drama in jeglicher Ausprägung. Für die Produktion von Peter Pan hatte sie letztes Jahr sogar Fluggeschirre aus dem fernen New York gemietet – was am Ende sowohl Wendy als auch Michael Darling eine gebrochene Nase beschert hatte. Dieses Jahr wollte Ms Colfax nicht nur, dass der dämonische Barbier die Kehlen seiner Kunden aufschlitzte. Sie wollte auch die ersten drei Zuschauerreihen mit deren Blut bespritzen. Diesen Teil des Publikums bezeichnete sie als Zone des Gemetzels.

Brooke war die Stagemanagerin. Dies war zwar eine ehrenhafte, aber gleichzeitig auch unlösbare Aufgabe, weil sie dafür sorgen musste, dass Ms Colfax die Grenzen des Wahnsinns nicht überschritt.

Es lief nicht gut.

Haley klemmte sich mit der Schulter das Telefon ans Ohr, während sie sich mit geschnittenem Truthahn, Provolone, einer Tüte gewaschenem grünem Salat und einem Glas Miracel Whip belud. »Shayna dreht bestimmt durch.«

»Shayna dreht definitiv durch«, sagte Brooke. Shayna war ihre temperamentvolle – häufig sprunghafte – Kostümdesignerin.

Es war schon schwierig genug, mit einem nicht vorhandenen Budget im ländlichen Nebraska anständige Kostüme zu finden, aber jetzt musste sie sich auch noch damit herumschlagen, wie sich Blutflecken daraus entfernen ließen.

»Arme Shayna.« Haley ließ die Zutaten auf die Theke fallen. Dann schnappte sie sich den nächstbesten Brotlaib – Weizen mit irgendwelchen Kräutern –, den ihre Mutter gestern Abend gebacken hatte. Ihre Mutter backte zur Entspannung. Sie benutzte einen Brotbackautomaten, aber trotzdem. Es war schön.

»Arme Brooke«, sagte Brooke.

»Arme Brooke«, stimmte Haley zu.

»Und wie war Jonathan heute? Lief es besser?«

Haley zögerte. »Hast du nichts von ihm gehört?«

»Ich habe auf dem Parkplatz Spritztests gemacht.«

Haley spielte Mrs Lovett und Shaynas Freund Jonathan spielte Sweeney – die weibliche und die männliche Hauptrolle. Haley war zwar erst im dritten Highschooljahr, bekam aber schon seit zwei Jahren Hauptrollen im Dramaclub und Solos im Musicalchor. Sowohl als Schauspielerin als auch als kräftige Altstimme war sie einfach besser als ihre Altersgenossinnen. Ein Naturtalent. Unmöglich zu übersehen.

Jonathan war … überdurchschnittlich. Und er hatte Charisma, was seiner Bühnenpräsenz zugute kam. Dieses spezielle Musical überstieg jedoch seine Fähigkeiten. Er kämpfte schon seit Wochen mit Epiphany, seinem schwierigsten Solo. Seine Übergänge waren in etwa so reibungslos wie wenn jemand im Geräteschuppen über eine Natter stolpert. Aber selbst das war nichts im Vergleich dazu, was er seinen Duetten antat.

Brooke spürte wohl Haleys Widerwillen zu tratschen. »Ach, komm schon. Wenn du es nicht ausplauderst, bekomme ich nur ein schlechtes Gewissen, weil ich über alle anderen lästere.«

»Es ist nur …« Haley verteilte eine fettige Schicht Miracel Whip auf dem Brot und warf dann das schmutzige Buttermesser in die Spüle. Abwaschen würde sie es später. »Wir haben die ganze Probe mit A Little Priest verbracht. Und nicht mal mit dem ganzen Lied! Dieselben paar Takte, immer und immer wieder. Zwei verdammte Stunden lang.«

»Ach du Schande.«

»Weißt du, diese eine Stelle, an der sie gleichzeitig unterschiedliche Texte singen? Und unsere Stimmen sozusagen vor Aufregung übereinander stolpern sollen?«

»Als Sweeney endlich begreift, dass Mrs Lovett seine Opfer entsorgen will, indem sie ihr Fleisch in ihren Pasteten verbackt?« Man hörte, dass Brooke bei dieser Frage hämisch grinste.

»Es war eine Katastrophe.« Haley trug ihren Teller ins Wohnzimmer, wollte sich aber nicht setzen. Daher ging sie auf und ab. »Ich glaube nicht, dass Jonathan das schafft. Ich meine, ich glaube wirklich, dass sein Gehirn das nicht kann. Er kann einstimmig singen, er kann mehrstimmig singen …«

»Einigermaßen.«

»Einigermaßen«, räumte Haley ein. »Aber wenn jemand anderes andere Worte singt? Dann verstummt er und fängt wieder neu an. Als würde er versuchen, sich durch ein Aneurysma zu arbeiten.«

Brooke lachte.

»Deshalb bin ich früher gegangen. Ich kam mir dabei zwar wie ein verdammtes Miststück vor, aber Gott. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen.«

»Niemand würde dich je Miststück nennen.«

Haley schluckte einen riesigen Bissen Truthahn hinunter. Es war ein Balanceakt – das Telefon einklemmen, den Teller halten, das Sandwich essen, hin und her gehen –, aber das war ihr gar nicht bewusst. Sie machte sich Sorgen. »Jonathan schon.«

»Jonathan hätte die Rolle nicht bekommen sollen.«

»Meinst du, ich soll ihn anrufen und mich entschuldigen?«

»Nein. Nein. Warum auch?«

»Weil ich so kurz angebunden zu ihm war.«

»Es ist nicht deine Schuld, dass er Sondheim nicht gewachsen ist.«

Das stimmte, doch Haley schämte sich immer noch dafür, dass sie so genervt gewesen war. Dass sie die Probe verlassen hatte. Sie ließ sich auf das uralte Cordsamtsofa plumpsen, eines der vielen Überbleibsel aus der Zeit, in der das alte Farmhaus noch ihren Großeltern gehört hatte, und seufzte. Brooke sagte noch etwas Solidarisches, wie es nur beste Freundinnen tun, doch Haleys Handy beschloss in diesem Moment, das zu tun, was es immer tat.

»Was hast du gesagt? Die Verbindung ist immer wieder weg.«

»Dann ruf mich vom Festnetz an.«

Haley warf einen Blick auf das schnurlose Telefon, das nur Zentimeter von ihr entfernt auf dem Beistelltisch lag. Zu anstrengend. »Jetzt geht es wieder«, log sie.

Brooke brachte das Thema wieder zurück auf ihre derzeitig so mühselige Rolle der Stagemanagerin und Haley gestattete ihren Gedanken abzudriften. Sie konnte ohnehin nur ein Drittel von Brookes Geschimpfe hören. Der Rest war statisches Rauschen.

Sie starrte aus dem Fenster und aß ihr Sandwich zu Ende. Die Sonne hing tief über dem Horizont. Sie schien durch die Getreidefelder, sodass die brüchigen Stängel weich und stumpf aussahen. Ihr Vater war immer noch da draußen. Irgendwo. Zu dieser Jahreszeit nutzte er jeden Sonnenstrahl aus. Die Welt wirkte verlassen. Das Gegenteil von der lauten, bunten, begeisterten Truppe, die sie in der Schule zurückgelassen hatte. Sie hätte die Probe durchhalten sollen. Sie hasste die stille Isoliertheit, von der das Haus durchdrungen war. Das war auf eine ganz eigene Art anstrengend.

Haley machte verständnisvolle Laute ins Telefon – auch wenn sie keine Ahnung hatte, wofür sie gerade Verständnis heuchelte – und stand auf. Sie brachte ihren Teller zurück in die Küche, spülte die Krümel ab und öffnete dann die Spülmaschine.

Das Einzige darin war ein schmutziges Buttermesser.

Haley warf einen Blick in die Spüle, die leer war. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte. Sie stellte den Teller in die Spülmaschine und schüttelte den Kopf.

»Selbst wenn ich den Sprüher zum Laufen bringe«, sagte Brooke gerade – die Verbindung war auf einmal klar und deutlich –, »bin ich mir nicht sicher, ob überhaupt genügend Leute in den ersten drei Reihen sitzen wollen. Ich meine, wer geht schon ins Theater, um Ponchos zu tragen und mit Blut bespritzt zu werden?«

Haley spürte, dass ihre Freundin jetzt eine verbale Beschwichtigung brauchte. »Es ist das Halloween-Wochenende. Die Leute werden die Eintrittskarten kaufen. Sie werden es witzig finden.« Sie machte einen Schritt auf die Treppe zu, die zu ihrem Zimmer führte, und ihr Turnschuh stieß gegen einen kleinen, harten Gegenstand. Er schoss über die Bodenfliesen, schlitterte klappernd und scheppernd vor ihr her, bis er gegen die Tür der Vorratskammer knallte.

Es war die Eieruhr.

Haleys Herz setzte einen Schlag aus. Nur einen kurzen Moment.

Ein unbehagliches Prickeln kroch ihr unter die Haut, als sie auf die Vorratskammer zuging. Ihre Mutter oder ihr Vater hatten die Tür einen Spalt offen gelassen. Sie schob sie mit den Fingerspitzen zu und hob dann, ganz langsam, die Eieruhr auf. Als wäre sie schwer. Sie hätte schwören können, dass sie sie auf der Theke abgestellt hatte, aber sie musste sie wohl zusammen mit ihrem Rucksack auf den Boden fallen gelassen haben.

»… du mir noch zu?«

Die Stimme drang kaum noch an ihr Ohr.

»Wie bitte?«

»Ich habe gefragt, ob du mir überhaupt noch zuhörst?«

»Tut mir leid«, sagte Haley. Sie starrte die Eieruhr an. »Ich bin wohl müder, als ich gedacht hatte. Am besten ich lege mich hin, bis meine Mom nach Hause kommt.«

Sie legten auf und Haley steckte ihr Handy in die rechte Vordertasche ihrer Jeans. Dann stellte sie die Eieruhr zurück auf die Theke. Die Uhr war glatt und weiß. Harmlos. Haley konnte nicht genau feststellen, warum, aber das verdammte Ding beunruhigte sie.

Sie stapfte nach oben und ging direkt schlafen. Sie ließ sich erschöpft aufs Bett fallen und trat ihre Turnschuhe weg, zu müde, um die Schnürsenkel noch zu lösen. Das Handy stach ihr in die Hüfte. Sie zog es aus der Tasche und schleuderte es auf den Nachttisch. Die Strahlen der untergehenden Sonne fielen gleißend und in einem perfekten, lästigen Winkel durch das Fenster, sodass sie blinzeln musste und sich umdrehte.

Sofort schlief sie ein.

* * *

Mit einem Ruck wachte Haley auf. Ihr Herz hämmerte und es war dunkel im Haus. Sie atmete aus – einen langen, befreienden, zwerchfelltiefen Atemzug. Und da nahm ihr Verstand das Geräusch zur Kenntnis. Das Geräusch, das sie aufgeweckt hatte.

Ein Ticken.

Haley gefror das Blut in den Adern. Sie wälzte sich herum, um zum Nachttisch zu schauen. Ihr Handy war weg und an seiner Stelle, genau auf Augenhöhe, stand die Eieruhr.

Sie fing an zu klingeln.

2

Am nächsten Morgen ging es an der ganzen Schule nur um zwei Dinge: um die brutale Ermordung von Haley Whitehall und um die neuerdings rosa gefärbten Haare von Ollie Larsson.

»Man sollte annehmen, dass das mit den Haaren weniger Aufsehen erregen würde«, sagte Makani.

»Das hier ist Osborne, Nebraska.« Darby saugte die letzten Tropfen seines eisgekühlten Kaffees von der Tankstelle auf. »Bevölkerungszahl: zwanzigtausendsechshundert. Ein Junge mit rosafarbenen Haaren ist da so skandalös wie der Tod einer beliebten Schülerin.«

Sie starrten durch die Windschutzscheibe von Darbys Wagen über den Parkplatz, hinüber zu Ollie, der an der Backsteinmauer des Eingangsbereichs lehnte. Er las in einem Taschenbuch und ignorierte demonstrativ, dass die anderen Schüler flüsterten – oder auch nicht.

»Ich habe gehört, dass ihr an drei Stellen die Kehle aufgeschlitzt wurde.« Makani verstummte. Die Wagenfenster waren heruntergekurbelt, deshalb senkte sie die Stimme. »An den Enden gingen die Schnitte nach oben, sodass es aussieht wie ein Smiley.«

Darby fiel der Strohhalm aus dem Mund. »Das ist ja grauenhaft. Wer hat dir das erzählt?«

Sie zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Ich habe es eben gehört.«

»Oh Gott. Und der Tag hat noch nicht mal angefangen.«

Ein längliches Gesicht mit kajalgeschwärzten Augen tauchte neben dem Beifahrerfenster auf. »Nun, ich habe gehört …«

Makani fuhr zusammen.

»Himmel noch mal, Alex.«

»… dass Ollie es getan hat. Und dass er ihr Blut verwendet hat, um sich die Haare zu färben.«

Makani und Darby starrten sie mit offenem Mund an.

»War nur ein Scherz. Natürlich.« Sie riss die hintere Tür auf, warf ihren Trompetenkoffer hinein und stieg ein. Morgens war das Auto der Ort, an dem sie abhingen. »Aber irgendjemand hier wird es sagen.«

Der Witz enthielt zu viel Wahrheit. Makani zuckte zusammen.

Alex trat mit einem ihrer königsblauen Kampfstiefel gegen die Rückenlehne von Makanis Sitz. Ein Ausrufezeichen.

»Ich kann es nicht glauben. Du stehst noch immer auf ihn, nicht wahr?«

Leider ja.

Natürlich stand sie noch auf Ollie.

Von dem Moment an, als Makani Young in Nebraska angekommen war, konnte sie kein Auge mehr von ihm lassen. Vom Aussehen her war er zweifellos der seltsamste Typ an der Osborne High. Aber genau deswegen war er auch der interessanteste. Ollie war dünn, seine Hüftknochen traten auf eine Art und Weise hervor, dass sie an Sex denken musste, und seine Wangenknochen waren so hoch, dass sie sie an einen Schädel erinnerten – eine Illusion, die noch durch seine blonden, unsichtbaren Augenbrauen verstärkt wurde. Er trug immer dunkle Jeans und ein schlichtes schwarzes T-Shirt. Sein einziger Schmuck war ein silberner Ring, ein dünner Reifen, der in der Mitte seiner Unterlippe hing. Irgendwie sah er aus wie ein Skelett.

Makani neigte den Kopf. Jetzt vielleicht weniger, da er sich die weißblonden Haare in einem schockierend grellen Pink gefärbt hatte.

»Ich erinnere mich noch daran, als du auf ihn gestanden hast«, sagte Darby zu Alex.

»Ja, ungefähr in der achten Klasse. Bis ich geschnallt hatte, dass er Vollzeiteigenbrötler ist. Er hat kein Interesse daran, mit jemandem von dieser Schule auszugehen.« In der für sie seltenen Erkenntnis, etwas Unpassendes gesagt zu haben, verzog Alex das Gesicht. »Sorry, Makani.«

Zwischen Makani und Ollie war letzten Sommer etwas gelaufen. Sozusagen.

Gott sei Dank saßen die einzigen Menschen, die davon wussten, hier in Darbys Wagen.

»Schon okay«, sagte Makani, denn das war einfacher, als zu sagen, dass es nicht okay war.

Über Ollie waren jede Menge Gerüchte im Umlauf: dass er nur mit älteren Frauen schlief; dass er nur mit älteren Männern schlief; dass er Opioide verkaufte, die er aus der Polizeistation seines Bruders klaute; dass er einmal im flachen Wasser des Flusses fast ertrunken war. Dass er, als er gerettet wurde, nicht nur sternhagelvoll, sondern auch splitterfasernackt gewesen war.

Allerdings war ihre Schule klein. Und Gerüchte waren über jeden im Umlauf.

Makani hütete sich davor, etwas davon einfach so zu glauben. Gerüchte, selbst diejenigen, die wahr sind, erzählen nie die ganze Geschichte. Aus diesem Grund mied sie die meisten ihrer Mitschüler. Selbstschutz. Als sie mitten im dritten Jahr gezwungen gewesen war, von Hawaii hierherzuziehen, hatten Darby und Alex sie aufgenommen, weil sie in ihr eine ähnlich arme Seele erkannten. Makanis Eltern bekämpften sich in einer schmutzigen Scheidung, deshalb hatten sie sie zu ihrer Großmutter geschickt, damit sie etwas Normalität hatte.

Normalität. Mit ihrer Großmutter. Mitten im Nichts.

Das jedenfalls hatte Makani ihren Freunden erzählt. Und genau wie ein Gerücht enthielt es auch ein Körnchen Wahrheit. Nur der Rest des Maiskolbens fehlte.

Ihre Eltern hatten ihr auch in den besten Zeiten nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt und sie hatten sich erst getrennt, als es zu diesem Vorfall am Strand gekommen war. Danach … konnten sie Makani überhaupt nicht mehr anschauen. Sie selbst konnte sich auch nicht mehr in die Augen sehen.

Sie verdiente dieses Exil.

Jetzt war Mitte Oktober und Makani lebte schon seit fast einem Jahr in Osborne. Sie war in ihrem vierten Highschooljahr, genau wie Darby und Alex. Gemeinsam zählten sie die Tage bis zu ihrem Abschluss. Makani wusste zwar noch nicht so recht, wohin sie als Nächstes gehen würde, aber hier blieb sie ganz bestimmt nicht.

»Können wir zum wichtigen Thema zurückkehren?«, fragte Darby. »Haley ist tot. Und niemand weiß, wer sie umgebracht hat, und ich hab ganz schön Schiss.«

»Ich dachte, du mochtest Haley nicht«, sagte Alex, während sie ihr schwarz gefärbtes Haar in eine komplizierte Drehfrisur zog, für die sie jede Menge klobiger Plastikhaarspangen benötigte. Sie war noch am ehesten der Goth dieser Schule, wenn man Ollie nicht mitzählte.

Makani zählte ihn nicht mit.

Beide trugen sie zwar schwarze Kleidung und hatten dünne, spitze Körperteile, doch Alex war hart und aggressiv. Sie forderte, wahrgenommen zu werden. Ollie hingegen war weich und still wie der Nachthimmel.

»Ich habe Haley nicht nicht gemocht.« Darby steckte die Daumen unter die Hosenträger, die er jeden Tag zusammen mit einem karierten Hemd und einer Stoffhose trug. Er war klein und stämmig und zog sich an wie ein schmucker alter Mann.

Darby war bei der Geburt als weiblich eingeordnet worden, und obwohl sein rechtlicher Name noch immer Justine Darby war, hatte er sich in seinem ersten Highschooljahr als Junge sozialisiert. Wenn man an ihrer Schule Jungs mit rosa Haaren nicht mochte, konnte sich Makani gut ausmalen, wie lange es gedauert hatte, bis sie sich an das »Mädchen« gewöhnt hatten, das eigentlich ein Junge war. Sie ließen ihn jetzt überwiegend in Ruhe, auch wenn es noch Seitenblicke gab. Schmale Augen und verkniffene Münder.

»Ich kannte sie nicht«, fuhr Darby fort. »Sie schien ganz nett zu sein.«

Alex ließ eine Spange zuschnappen, die aussah wie eine böse Hello Kitty. »Ist es nicht seltsam, dass in dem Moment, in dem jemand stirbt, plötzlich jeder sein aller-allerbester Freund war?«

Darby machte ein finsteres Gesicht. »Das habe ich nicht gesagt, Mann.«

Makani ließ sie zu Ende zanken, bevor sie sich einmischte. Das machte sie immer so. »Glaubt ihr, es war ihr Vater oder ihre Mutter? Ich habe gehört, dass es in solchen Fällen für gewöhnlich ein Familienmitglied getan hat.«

»Oder der Freund«, ergänzte Darby. »War sie mit jemandem zusammen?«

Makani und Alex zuckten mit den Schultern.

Alle drei starrten den vorbeigehenden Mitschülern nach und verfielen in ein ungewöhnliches Schweigen. »Es ist traurig«, sagte Darby schließlich. »Es ist einfach … schrecklich.«

Makani und Alex nickten. Das war es.

»Ich meine, was ist das für ein Mensch, der so etwas tut?«, fragte er.

Eine übelkeiterregende Welle der Scham durchlief Makanis Körper. Es ist nicht dasselbe, rief sie sich ins Gedächtnis. Ich bin nicht so ein Mensch. Doch als die Glocke läutete – drei sterile Töne –, schoss sie aus dem engen Heck, als wäre es ein Notfall. Darby und Alex stöhnten, als sie sich aus dem Wagen befreiten, zu sehr in ihre eigenen trüben Gedanken versunken, um Makanis seltsames Verhalten zu bemerken. Makani atmete aus und zupfte ihre Kleider zurecht, um sicherzustellen, dass sie anständig aussah. Anders als ihre Freunde hatte sie nämlich Kurven.

»Vielleicht war es ein Serienmörder«, sagte Alex, als sie sich auf den Weg zur ersten Stunde machten. »Ein Langstrecken-Lkw-Fahrer auf seinem Weg durch den Ort! Heutzutage sind alle Serienmörder Lkw-Fahrer.«

Makani spürte, wie ihre Skepsis wiederkehrte. »Sagt wer?«

»Das FBI.«

»Mein Dad ist Lkw-Fahrer«, sagte Darby.

Alex grinste.

»Hör auf zu grinsen.« Darby funkelte sie an. »Sonst glauben die Leute noch, du hättest es getan.«

Zur Mittagszeit hatte sich Alex’ geschmackloser Witz über die Quelle von Ollies Haarfarbe verbreitet. Makani hatte mehr als nur einen Schüler etwas von seiner möglichen Schuld flüstern hören. Das machte sie wütend. Ollie war ein Außenseiter, klar. Doch das machte keinen Mörder aus ihm. Außerdem hatte sie nie gesehen, wie er mit Haley Whitehall gesprochen oder sie auch nur angesehen hatte.

Und Makani hatte ihn eingehend studiert.

Sie war verärgert, auch wenn sie wusste, dass die Gerüchte einfach nur Gerüchte waren – Fantasiegespinste, die erschaffen wurden, um vom Unbekannten abzulenken. Das Unbekannte war zu furchteinflößend. Makani hatte auch gehört, wie ein paar Streber über Zachary Loup getratscht hatten, den Junkie der Schule. Auch er war ihrer Meinung nach unschuldig, aber wenigstens war er ein besserer Verdächtiger. Zachary war ein Arschloch. Er war nicht mal zu seinen Freunden nett.

Die meisten Schüler waren sich jedoch über die wirklichen Verdächtigen einig: Haleys Familie. Vielleicht ein Freund. Niemand wusste etwas von einem Freund, aber vielleicht hatte sie ja insgeheim einen gehabt.

Mädchen hatten oft Geheimnisse.

Ein Gedanke lag Makani schwer im Magen, wie ein verfaulter Apfel. Während Darby und Alex noch spekulierten, schob sie ihr Pappschälchen Pommes von sich und sah sich um.

Fast alle der dreihundertzweiundvierzig Schülerinnen und Schüler waren hier im Kern des Campus, der vollkommen von braunen Backsteingebäuden umgeben war. Der Schulhof war schlicht. Trostlos. Es gab keine Tische oder Bänke, nur ein paar verkümmerte Bäume standen herum, daher saßen die Schüler auf dem Betonboden. Würde man hier eine Rolle Stacheldraht abwickeln, könnte es auch ein Gefängnishof sein, doch selbst Häftlinge bekamen Tische und Bänke. Ein ausgetrockneter Springbrunnen, gefüllt mit totem Laub, stand wie ein Mausoleum in der Mitte – niemand konnte sich daran erinnern, ihn je in Betrieb gesehen zu haben.

Zu dieser Jahreszeit war das Wetter unberechenbar. An manchen Tagen war es warm, aber an den meisten kalt. Heute war es fast warm, daher war der Hof voll und die Cafeteria leer. Fröstelnd zog Makani den Reißverschluss ihres Hoodies nach oben. In ihrer Schule in Kailua-Kona war es immer warm gewesen. Die Luft hatte nach Blumen, Kaffee und Früchten geduftet und so salzig geschmeckt wie der Pazifik, der neben den Parkplätzen und Fußballfeldern glitzerte.

Osborne roch nach Diesel und schmeckte nach Hoffnungslosigkeit. Und sie waren von einem Ozean aus Mais umgeben. Blöder Mais. So viel Mais.

Alex schnappte sich eine Handvoll von Makanis ungegessenen Fritten. »Wie steht’s mit jemandem aus dem Musicalchor? Oder dem Dramaclub?«

Darby sah sie verächtlich an. »Wer denn, Haleys Zweitbesetzung etwa?«

»Wäre das nicht die Person, die sich der Meisterdetektiv vorknöpfen würde?«, fragte Alex.

»Der was?«

»Sherlock, Morse, Poirot. Wallander. Tennison.«

»Ich kenne nur einen von diesen Namen.« Darby tunkte seine Pizza in einen Klecks Ranch-Dressing. »Warum schaust du nicht einfach normales Fernsehen?«

»Ich will damit nur sagen, dass wir noch niemanden ausschließen sollten.«

Makani starrte immer noch den Brunnen an. »Ich hoffe, dass es kein Schüler ist.«

»Ist es nicht«, sagte Darby.

»Also bitte«, entgegnete Alex. »Wütende Teenager machen doch andauernd so einen Scheiß.«

»Ja«, sagte er, »aber sie tauchen mit einem Arsenal automatischer Waffen an der Schule auf. Sie schnappten sich die Leute nicht in ihrem eigenen Zuhause. Und dann auch noch mit Messern.«

Makani presste sich die Fäuste auf die Ohren. »Okay, es reicht. Hört auf damit.«

Darby zog betreten den Kopf ein. Er sagte nichts, aber das brauchte er auch gar nicht. Amokläufe an Schulen waren real. Mit echten Mördern und echten Opfern. Aber Haleys Tod war wie ein Stück von der Realität entfernt, weil es sich nicht anfühlte, als könnte das auch ihnen passieren. Das Verbrechen war zu speziell. Es musste einen Grund dafür geben. Einen schrecklichen, fehlgeleiteten Grund, aber immerhin einen Grund.

Makani wandte sich zu ihren Freunden um und ruderte ein wenig zurück, indem sie versuchte, ihre Reaktion herunterzuspielen. »Nun … Jessica war es nicht.«

Alex zog die Augenbrauen nach oben. »Jessica?«

»Jessica Boyd. Die Zweitbesetzung.« Makani verdrehte die Augen, als Alex grinste. »Ich weiß nur, dass sie die Zweitbesetzung ist, weil ich es jemanden habe sagen hören. Aber kannst du dir wirklich vorstellen, dass sie jemanden umbringt?«

»Du hast recht«, sagte Alex. »Das scheint tatsächlich unwahrscheinlich.« Jessica Boyd war ein schmächtiges Ding. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sie auch nur einen toten Goldfisch in der Toilette runterspülen würde. »Aber ist euch beiden aufgefallen, dass Haleys beste Freundin heute nicht zur Schule gekommen ist?«

»Weil Brooke in Trauer ist.« Darby war genervt. »Genau wie ich das wäre, wenn das einer von euch zustoßen würde.«

Alex beugte sich verschwörerisch vor. »Denkt doch mal nach. Haley war eine der talentiertesten Schülerinnen hier. Jeder wusste, dass sie uns verlassen und an einen größeren, glanzvolleren Ort gehen würde – an den Broadway, nach Hollywood. Wohin auch immer. Sie war die Art von Person, die eigentlich total hochnäsig hätte sein müssen, aber … das war sie nicht. Die Leute mochten sie. Was immer auch bedeutet, dass jemand sie nicht mochte. Ihr den Erfolg nicht gönnte.«

Makani rümpfte die Nase. »Und du glaubst, das war ihre beste Freundin?«

»Niemand kannte Haley«, sagte Darby, »es sei denn, man war im Dramaclub oder bei Vocalmotion.« Vocalmotion war – leider – der selbst gewählte Name des Musicalchors. An der Osborne High gab es nur drei respektable Organisationen: die Theater- und Chorabteilungen, die sich zu nahezu hundert Prozent überlappten, und das Footballteam.

Das hier war Nebraska. Natürlich nahm man Football an der Schule ernst.

»Aber genau das meine ich doch«, sagte Alex. »Niemand sonst kannte sie. Macht es da nicht Sinn, dass es eine ihrer Freundinnen getan hat? Aus Eifersucht?«

»Sollten wir uns Sorgen machen? Hast du vor, uns umzubringen?«, fragte Makani.

»Pfui«, sagte Darby.

Alex seufzte. »Ihr seid überhaupt nicht lustig.«

»Ich glaube, ich habe dich heute Morgen schon davor gewarnt, zu begeistert zu erscheinen«, erwiderte Darby.

Der Wind wurde stärker und ließ ein Papierbanner auf der anderen Seite des Hofs aufflattern. Eine Werbung für Sweeney Todd. Jeder Buchstabe triefte vor knallrotem, handgemaltem Blut und von den beiden gegenüberliegenden Ecken hingen wie Theatervorhänge lange Bahnen dunkelroten Tülls. Ein Windstoß wirbelte den Tüll nach oben, wo er bebte und tanzte. Makani lief es kalt über den Rücken. Auf Hawaiisch bedeutete ihr Name »Wind«, aber sie war deswegen nicht abergläubisch. Außer manchmal. Sie sollten aufhören, über Haley zu sprechen.

»Es ist taktlos«, sagte sie, weil sie nicht anders konnte. Sie nickte zu dem Banner. »Die Zone des Gemetzels. Glaubt ihr, sie werden es absagen?«

Alex schluckte die letzten fettigen Pommes hinunter. »Besser nicht. Das war die erste Schulaufführung, zu der ich je vorhatte hinzugehen. Freiwillig«, fügte sie hinzu. Alex war in der Blaskapelle, was bedeutete, dass sie gezwungen war, zu den Footballspielen zu gehen.

Darby starrte sie an, bis sie ihm in die Augen sah. »Was ist? Es klang lustig«, sagte sie. »Mit falschem Blut bespritzt zu werden.«

Makani schnaubte. »Da ist es wieder, dieses Wort. Lustig.«

Gespielte Wehmut breitete sich auf Darbys Gesicht aus. »Ich weiß noch, wie du Plastikpferde und Pokémon-Karten gesammelt hast und es dein Lebensziel war, für Pixar zu arbeiten.«

»Sprich leiser, du Wichser.« Doch Alex grinste.

Sie zogen sich noch eine Weile wegen Kindheitshobbys und Macken auf und Makani fühlte sich wie so oft ausgeschlossen. Ihre Aufmerksamkeit schwand und ihr Blick schweifte über den Schulhof. Gleich war es so weit. Jederzeit jetzt und …

Da.

Ihr Herz machte einen Satz, als Ollie aus den Tiefen des Spind-Erkers auftauchte, um eine leere Plastiktüte wegzuwerfen. Das war sein täglicher Auftritt. Immer aß er sein mitgebrachtes Mittagessen in einer leeren Nische hinter den alten Spinden und verschwand danach im Hauptgebäude. Er würde diese Stunde in der Bibliothek beenden.

Makani spürte, wie sie ein vertrauter Schmerz überkam. Ollie war so allein.

Eine kleine Gruppe Footballspieler stand unter dem Sweeney-Banner und blockierte den Eingang zum Gebäude. Ihre Muskeln spannten sich, als Matt Butler – Osbornes Golden Boy, ein ausgezeichneter Runningback – etwas zu dem sich nähernden Ollie sagte. Was immer es war, Ollie reagierte nicht. Matt sagte noch etwas. Ollie reagierte nicht. Matt schnalzte mit Daumen und Zeigefinger gegen Ollies Haar. Seine Freunde lachten, doch Ollie reagierte immer noch nicht. Es tat weh zuzusehen.

Ein Fleischberg von Typ mit einem absurden Namen, Buddy oder Bubba, sprang herbei und riss am Tüll, sodass die rechte Hälfte des Banners abriss und herunterfiel. Er lachte noch mehr, als Ollie gezwungen war, sich zu ducken, doch die Freude war von kurzer Dauer.

Matt deutete wütend auf die Fetzen. »Hey, Mann! Ein wenig Respekt, ja?«

Der Ausbruch hallte über den ganzen Schulhof. Buddy oder Bubba brauchte mehrere Sekunden, um eine Verbindung zwischen dem ruinierten Banner und Haley herzustellen. Doch als sich seine Miene von verwirrt zu beschämt wandelte, stand er vor der Wahl – entweder sein Fehlverhalten zuzugeben oder noch eins draufzusetzen. Er setzte noch eins drauf. Er rempelte Matt an der Schulter an und setzte damit eine wütende Kettenreaktion in Gang – es wurde noch mehr geschubst und gerempelt, bis niemand mehr den Eingang blockierte.

Die Eskalation hatte den Großteil der Schüler in ihren Bann gezogen. Nur Makani starrte woandershin. Ollie hatte sich noch nicht gerührt. Er nahm sich zusammen, doch es war offensichtlich, dass die Footballspieler ihn aus dem Konzept gebracht hatten. Makani sprang auf.

»Nein«, sagte Darby. »Makani, nein.«

Alex schüttelte den Kopf, dass ihre Haarspangen gegeneinanderstießen. »Ollie hat deine Hilfe nicht verdient. Oder dein Mitleid. Oder was immer du gerade empfindest.«

Makani strich die Vorderseite ihres Hoodies glatt. Sie hatte sich bereits auf den Weg gemacht.

»Nie hörst du auf uns«, rief Darby. »Warum hörst du nie auf uns?«

Alex seufzte. »Viel Glück, Herzchen.«

Dieses Ding – dieses unerträgliche Gewicht und dieser Druck –, das in Makani schon seit Monaten brodelte, war kurz davor auszubrechen. Ollie mochte ihre Hilfe vielleicht nicht verdienen, dennoch fühlte sie sich gezwungen, es zu versuchen. Vielleicht lag es daran, dass sie wünschte, jemand an ihrer früheren Schule hätte ihr geholfen. Vielleicht lag es aber auch an Haley – eine schreckliche Situation, in der bereits niemand mehr helfen konnte. Achselzuckend warf Makani einen Blick zu ihren Freunden zurück.

Als sie sich wieder nach vorne wandte, starrte Ollie sie an. Er wirkte nicht nervös oder wütend, nicht einmal neugierig.

Er sah argwöhnisch aus.

Makani stapfte kühn auf ihn zu. Sie stach unter ihren Altersgenossen immer heraus, deren Haut einige Nuancen heller war als Makanis brauner Teint. Außerdem war ihre vom Surfen inspirierte Kleidung für das Empfinden ihrer Mitschüler aus dem Mittleren Westen ein paar Töne zu grell. Sie ließ ihre Haare ungebändigt – in natürlichen, lockigen Spiralen – und sie bewegte sich mit einem selbstbewussten Hüftschwung. Das Selbstbewusstsein war vorgetäuscht, damit die Leute keine Fragen stellten.

Ollie schaute ein letztes Mal zu den Sportlern hinüber, die noch immer herumbrüllten und posierten, und zog den herunterhängenden Tüll beiseite. Dann ging er ins Gebäude. Makani runzelte die Stirn. Doch als sie die Tür öffnete, wartete er drinnen auf sie.

Sie erschrak. »Oh.«

»Ja?«, fragte er.

»Ich … ich wollte nur sagen, dass sie Idioten sind.«

»Deine Freunde?«, fragte Ollie todernst.

Makani merkte, dass sie noch immer die Tür aufhielt; er konnte durch den transparenten Tüll Darby und Alex sehen, die von der anderen Seite des Schulhofs zu ihnen herüberspähten. Sie ließ los. Die Tür knallte zu. »Nein«, antwortete sie und versuchte zu lächeln. »Alle anderen.«

»Ja. Ich weiß.« Sein Gesicht blieb weiterhin ungerührt. Verhalten.

Ihr Lächeln schwand. Sie verschränkte die Arme und zog ihre Verteidigungsmauern hoch, während sie sich gegenseitig taxierten. Sie waren beinahe auf Augenhöhe; er war nur vier oder fünf Zentimeter größer als sie. Aus nächster Nähe konnte sie sehen, wie frisch gefärbt seine Haare waren. Seine Kopfhaut war grellrosa. Es würde noch eine Weile dauern, bis sich die Farbe aus seiner Haut gewaschen hatte. Wenn man ihn so sah, wirkte er irgendwie verletzlich und Makanis Körper wurde wieder weich. Sie hasste sich dafür.

Sie hasste sich für so viele Dinge.

Sie hasste sich dafür, dass sie sich so von Ollie hatte hinreißen lassen, obwohl man sie vor seinem Ruf gewarnt hatte. Sie hasste sich dafür, dass sie sich selbst vorgemacht hatte, ihn nicht zu mögen, als sie eigentlich schon wusste, dass sie ihn mochte. Und sie hasste, wie es zu Ende gegangen war. Abrupt. Und doch in aller Stille. Dies war seit Ende des Sommers ihr erstes Gespräch.

Vielleicht wenn wir mehr miteinander geredet hätten …

Aber das war es ja gerade, oder? Geredet wurde nie viel. Damals war sie froh darüber gewesen.

Der Blick aus seinen blassen Augen fixierte sie noch immer, doch er war nicht mehr passiv. Sondern forschend. Als Reaktion darauf pulsierten ihre Adern. Warum fühlte es sich plötzlich so an, als wären sie wieder hinter dem Lebensmittelladen und bereiteten sich auf das vor, was sie an diesen heißen Sommernachmittagen immer getan hatten?

»Warum bist du gekommen?«, fragte er. »Du hast das ganze Schuljahr lang nicht mit mir gesprochen.«

Das machte sie zornig. Ganz plötzlich. »Dasselbe könnte ich von dir behaupten. Und ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Über die anderen. Dass sie Idioten sind und so.«

»Ja.« Seine Haltung wurde steif. »Das hast du gesagt.«

Makani stieß ein kurzes Lachen aus, um ihm zu zeigen, dass er ihr nichts anhaben konnte, auch wenn sie beide wussten, dass es nicht stimmte. »Gut. Vergiss es. Ich habe nur versucht, eine Freundin zu sein.«

Ollie sagte nichts.

»Jeder braucht Freunde, Ollie.«

Er runzelte ein wenig die Stirn.

»Aber offenbar ist das nicht möglich.« Mit einer ruckartigen Bewegung stieß sie die Tür wieder auf. »Großartiges Gespräch. Wir sehen uns im Unterricht.«

Sie stürmte geradewegs in den Tüllvorhang. Fluchend bemühte sie sich, ihn zur Seite zu ziehen, wobei sie sich immer mehr in dem dunkelroten Netz verhedderte.

Ein heftiger Tumult war auf dem Schulhof im Gange – ein chaotischer Mob aus aufgeregten, beunruhigten Zuschauern.

Schließlich war doch noch ein Kampf ausgebrochen.

Makani hörte auf, um sich zu schlagen. Sie saß in der Falle, gefangen, in diesem elenden Städtchen, wo sie alles und jeden hasste. Vor allem sich selbst.

Etwas regte sich leise und sie war überrascht, als sie sah, dass Ollie noch immer hinter ihr war. Seine Finger befreiten sie vorsichtig und sanft aus dem Tüll. Der Stoff fiel wieder zu einer glatten Fläche zurück und gemeinsam beobachteten sie schweigend ihre Mitschüler durch den blutroten Schleier.

3

Kanntest du diese Haley?«, rief Grandma Young vom Sofa aus.

Makani winkte Darby, der gerade wegfuhr. Er hupte zweimal. Das Haus ihrer Großmutter lag nur einen kurzen Fußweg von der Schule entfernt, aber Darby holte sie trotzdem immer ab und brachte sie wieder nach Hause. Makani wohnte in Osbornes ältestem Viertel und Darby wohnte im neuesten. Alex wohnte auf einer matschigen Rinder-und-Kälber-Farm in der Nähe von Troy, der nächsten Ortschaft. Nachmittags hatte sie Bandproben und bildete eine Fahrgemeinschaft mit einem Mädchen, das Tenorsaxofon spielte. Alle konnten fahren, aber Darby war der Einzige, der rund um die Uhr Zugang zu einem Auto hatte.

Ollie lebte … auf dem Land. Makani wusste nicht so genau, wo. Als die Prügelei vorbei gewesen war, war er in die Bibliothek gegangen und sie war zu ihren Freunden zurückgekehrt. Später, in Spanisch, hatte sie seinen Blick gespürt, wie einen leichten Druck. Das hatte ein Prickeln bei ihr ausgelöst, auch wenn sie wünschte, dass es nicht so gewesen wäre. Doch nichts hatte sich geändert. Und es fühlte sich an, als würde das auch nie passieren.

Makanis Mut sank, als sie die Haustür abschloss und damit ihre Welt begrenzte. »Ja, ich kannte Haley. Sozusagen. Aber nicht so gut.«

Sie kickte ihre Turnschuhe und Socken weg und legte sie an den Fuß der Treppe, um sie später mit nach oben in ihr Zimmer zu nehmen. Schuhe waren noch so etwas, was Makani am Mittleren Westen nicht gefiel. Abgesehen von den Sommermonaten, war es zu kalt, um Schlappen zu tragen, aber ihre Füße fühlten sich in den notwendigen Turnschuhen und Stiefeln immer schwer an. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis sich Hornhaut gebildet und sie keine Blasen mehr an den Fersen bekommen hatte.

Flip-Flops, verbesserte sie sich. Nicht Schlappen.

Noch immer stolperte sie über diese Regionalismen. Bei Flip-Flops war das ja kein Ding. Aber sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie hörte, wie jemand einen Sprudel bestellte anstatt einer Limo.

Ihre Großmutter saß vor dem Fernseher, streamte Scandal auf Netflix und suchte die Randstücke eines neuen Puzzles heraus. Makani ließ sich in einen lieb gewonnenen Sessel plumpsen. Er hatte ihrem Opa gehört. Sie zog die Füße unter ihre Beine, damit sie angenehm warm blieben, und nahm den Deckel der Schachtel. Das Puzzle hatte ein volkstümliches Motiv mit einem rustikalen Kürbisbeet, einer Straße mit rustikalen Häusern und einem Strom von Kindern in rustikalen Kostümen, die Süßes oder Saures forderten. Grandma Young mochte die Dinge jahreszeitlich passend.

»Ich warte auf die Lokalnachrichten«, sagte sie.

Makani schleuderte den Deckel zurück auf den Couchtisch und schaute auf ihr Handy. »Das dauert noch anderthalb Stunden.«

»Ich will hören, was Creston zu alldem sagt.«

Creston Howard war die gut aussehende schwarze Hälfte des Fünf-Uhr-Nachrichten-Teams und Grandma Young hielt sein Wort für unfehlbar. »Diese ganze Sache ist furchtbar. Ich hoffe, sie fassen den, der es getan hat, wer immer es war.«

»Das werden sie«, sagte Makani.

»Sie war so jung, so talentiert. Genau wie du.«

Der letzte Teil entsprach nicht der Wahrheit, doch Makani korrigierte sie lieber nicht. Sie konnte bereits hören, wie der darauffolgende Streit verlaufen würde: Makani würde es abstreiten; ihre Großmutter würde ihr vorwerfen, negativ zu denken; Makani würde erklären, dass sie nur ehrlich war; ihre Großmutter würde nicht lockerlassen; und dann würde Makani explodieren und etwas brüllen wie »Du bist nicht meine Mutter! Meine eigene Mutter ist kaum meine Mutter! Wir werden nicht darüber sprechen, okay?«

Stattdessen scrollte Makani durch ihr Handy. Sie hoffte nicht mehr auf eine Nachricht oder E-Mail von Jasmine, ihrer früheren besten Freundin. Und sie hoffte auch nicht mehr, dass alles aus irgendeinem wundersamen und unwahrscheinlichen Grund wieder so werden würde wie früher. Diese Hoffnungen waren schon vor langer Zeit gestorben. Es war schwierig, den genauen Zeitpunkt festzulegen, aber vielleicht hatte es damit angefangen, als sie das offizielle Behördendokument unterschrieben hatte, das ihren Nachnamen von Kanekalau zu Young änderte.

Sie hatte den Mädchennamen ihrer Mutter nicht wegen der bevorstehenden Scheidung angenommen. Sie hatte ihn angenommen, weil es ein Risiko war, die leicht zu googelnde Makani Kanekalau zu bleiben, und weil sie in Nebraska einen Neuanfang gebraucht hatte.

Dennoch … checkte Makani ihr Handy. Wie immer gab es keine Nachricht von zu Hause. Wenigstens hatten die Hassnachrichten schon vor langer Zeit aufgehört. Niemand von dort meldete sich bei ihr und die einzigen Menschen, denen es – der Vorfall, wie sie jene Nacht am Strand selbst zensierte – noch etwas ausmachte, waren Leute wie Jasmine. Die einzigen, die wichtig waren. Makani hätte nie gedacht, dass das Dauerschweigen ihrer Freunde unendlich viel mehr wehtun würde als diese Wochen, in denen Tausende schlecht informierter, herablassender, frauenfeindlicher Fremder Gift nach ihr gespritzt hatten. Aber es tat mehr weh.

Selbst ohne die Wiederholung ihres am häufigsten geführten Streits klang Grandma Youngs Stimme auf einmal missbilligend. »Du hast heute Morgen wieder die Küchenschränke offen gelassen.«

Makani starrte noch eindringlicher auf das Handy. »Ich bin nicht diejenige, die sie offen lässt.«

»Mein Gedächtnis ist in Ordnung. Du warst schon zur Schule gegangen, als ich aufgestanden bin. Hinter sich aufzuräumen, gehört zu den grundlegenden Manieren. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.«

»Ich habe heute Morgen nicht mal gefrühstückt.« Makani konnte ihren aufkeimenden Frust nicht verbergen. »Hast du deinen Arzt angerufen? Wie ich dich gebeten habe?«

»Du weißt sehr wohl, dass ich seit fast einem Jahr keinen Schub mehr gehabt habe.«

Makani sah auf und Grandma Young senkte sofort den Blick. Es war schwer für ihre Großmutter, über ihre Schwäche zu reden … oder wenn jemand ihre Version der Wahrheit infrage stellte. Das hatten sie gemeinsam. Grandma Young fügte zwei Puzzleteile zusammen; auf eine Art und Weise, die signalisierte, dass das Gespräch hiermit beendet war. Makani starrte sie weiter an und wünschte, sie könnte die Diskussion fortsetzen, gleichzeitig wurde ihr die eigene Heuchelei bewusst.

Ihre Großmutter war größer als die meisten Frauen ihrer Generation. Sie hatte kurzes graues Haar, dem sie gestattet hatte zu altern und das mit weißen Sprenkeln durchzogen war. Es sah schön aus, wie das Negativ einer Schneeeule. Makanis Großmutter väterlicherseits auf Hawaii färbte ihr Haar immer noch schwarz. Grandma Kanekalau benutzte dafür sogar dieselbe Farbe und Marke wie Alex.

Grandma Young war nicht so streng. Sie hatte glatte dunkelbraune Haut, ein weiches Äußeres und eine leise Stimme, doch sie sprach mit der Entschlossenheit einer Autorität, die das Kommando hatte. Früher hatte sie an der Highschool amerikanische Geschichte unterrichtet. Seit einem halben Jahrzehnt war sie pensioniert, und auch wenn Makani froh war, dass sie nie bei ihrer eigenen Großmutter Unterricht haben würde, glaubte sie, dass sie eine gute Lehrerin gewesen war.

Grandma und Granddaddy Young waren immer auf eine Weise freundlich gewesen, die dem Rest der Familie unbekannt war. Sie stellten Fragen. Sie waren aufmerksam. Makanis Eltern hingegen waren selbst vor dem ganzen Scheidungsverfahren schon egoistisch gewesen. Früher hatte sich Makani immer ein Geschwisterkind gewünscht, das ihr Gesellschaft leistete, sie bewunderte, sich um sie kümmerte, aber es war wohl besser, dass ihre Eltern nie ein zweites Kind bekommen hatten. Das hätten sie dann ebenfalls ignoriert.

Doch Makanis Verbannung nach Osborne erfolgte nicht nur wegen ihres eigenen unaussprechlichen Fehlers. Grandma Young hatte auch etwas Schlimmes getan. Letztes Jahr zu Thanksgiving wurde sie von ihrem Nachbarn dabei erwischt, wie sie um drei Uhr morgens im Schlaf seinen Walnussbaum stutzte, und als er versuchte, sie aufzuwecken, hatte sie ihm die Nasenspitze abgeschnitten. Seit dem unerwarteten Tod von Makanis Großvater im Sommer davor, hatte sie Schwierigkeiten mit Schlafwandeln. Den Ärzten war es gelungen, die fleischige Nasenspitze wieder zu befestigen und der Nachbar verklagte sie auch nicht, doch die Eskalation hatte Makanis Mutter alarmiert, die daraufhin ihren Vater davon überzeugte, dass die beste Lösung – für all ihre Probleme – darin bestünde, ihre Tochter hinzuschicken, um auf Grandma Young aufzupassen.

Makanis Eltern konnten sich auf gar nichts einigen, doch darauf, sie hierherzuschicken, schon. Wahrscheinlich glaubten sie sogar, dass die abgehackte Nasenspitze ein glücklicher Zufall gewesen war.

Die meiste Zeit glaubte Makani nicht, dass ihre Großmutter einen Babysitter brauchte. Seit Makanis Ankunft war es zu keiner einzigen gefährlichen Episode gekommen. Erst in den letzten paar Monaten hatte Makani durch die Wiederkehr dieser alltäglichen, unauffälligen Vorfälle – offene Schränke, verlegte Werkzeuge, unverschlossene Türen – gemerkt, dass sie in der Tat gebraucht wurde.

Normalerweise fühlte es sich gut an, gebraucht zu werden.

Nur einmal war das nach hinten losgegangen.

Im Juli war sie gebraucht worden. Die Hitze an diesem Nachmittag war erdrückend gewesen, eine Art beklemmender Feuchtigkeit, die zu Tanktops, kurzen Shorts und schlechten Entscheidungen führte.

Makani hatte bereits alle drei abgedeckt.

Es war der erste Jahrestag nach Granddaddy Youngs Tod und ihre Großmutter wollte den Tag allein verbringen. Außerdem war es ein Mittwoch – Doppelcoupon-Tag –, weshalb Makani anbot, an ihrer Stelle den Einkauf zu übernehmen. Greeley’s Foods lag etwa drei Kilometer entfernt an der Main Street. Der Laden war ein schlichter Kasten, genau wie die Highschool, verfügte aber über den zusätzlichen Charme niedrigerer Decken und verstopfter Gänge.

Makani konnte nicht verstehen, warum diese Läden nicht ihren Verkaufsraum vergrößerten. Es gab massenhaft Platz dafür. Anders als die Küste von Hawaii verfügte Nebraska über unbebaute Flächen in Hülle und Fülle. Es bestand aus nichts als unbebauten Flächen. Ein vollkommen anderes Land.

Sie betrat den Laden mit einer handgeschriebenen Liste und einem Umschlag aus Recyclingpapier, der mit Coupons vollgestopft war. Sie bemerkten einander sofort. Er trug die grüne Greeley’s-Schürze und füllte gerade die Eiertomaten auf. Nur Ollie Larsson konnte in einer Schürze sexy aussehen.

Makani wollte etwas sagen. Danach zu urteilen, wie er zurückstarrte, wusste sie, dass er etwas sagen wollte. Keiner von ihnen sagte etwas.

Sie schob einen klapprigen Wagen herum und füllte ihn mit gesundem Essen. Ihr Großvater war an einem Herzinfarkt gestorben, deshalb hatte ihre Großmutter neuerdings die Ernährung zur Religion erhoben. Während Makani nach Hafergrütze und getrockneten Bohnen suchte, überkam sie bei der Erkenntnis, dass Ollie sich durch den Laden bewegte, ein Prickeln. Als er nicht mehr Tomaten auffüllte, sondern zu den Kürbissen ging. Als er hinüber zu Gang fünf huschte, um ein zerbrochenes Glas süßes Relish aufzuwischen. Als er wieder zurück zu Obst und Gemüse lief.

Sie hatten in der Schule noch nie miteinander gesprochen, obwohl sie mehrere Fächer zusammen hatten. Aber er blieb immer für sich. Makani war sich nicht mal sicher, ob er sie vor diesem Nachmittag überhaupt je zur Kenntnis genommen hatte. Sie hoffte, er würde dazu übergehen, an einer der drei Kassen zu arbeiten, doch als sie sich auf die Schlangen davor zubewegte, verschwand er im Hinterzimmer.

Sie konnte nicht anders – sie war enttäuscht.

Makani verstaute Tüten mit Lebensmitteln in Grandma Youngs alten goldenen Ford Taurus aus den frühen Neunzigern, als sie das Lachen hörte – ungewöhnlich und spöttisch. Verärgert schlug sie den Kofferraum zu, weil ihr schon klar war, dass es etwas mit ihr zu tun hatte.

Ollie starrte sie von der Gasse neben dem Laden aus an. Er hockte auf einer Milchkiste aus Plastik und gab sich den Anschein, eine Raucherpause zu machen, außer dass er anstelle einer Zigarette ein Buch locker zwischen den Fingern hielt.

»Machst du dich etwa über das Auto meiner Oma lustig?«, fragte sie.

Ein unorthodoxes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Er ließ es einfach für ein paar lange Sekunden so zwischen ihnen stehen und sagte dann: »Ich weiß nicht so recht, warum ich mich über deins lustig machen soll, wenn das da meins ist.« Er zeigte auf ein weißes Fahrzeug auf der anderen Seite des Parkplatzes.

Es war ein ausrangierter Streifenwagen. Das Wappen der Polizei war abgekratzt worden und das Auto hatte oben keine Blaulichtleiste mehr, doch Makani kannte es aus der Schule. Jeder wusste, dass Ollie einen Streifenwagen fuhr – wahrscheinlich hatte er ihn von seinem älteren Bruder, einem Cop, geschenkt bekommen –, und ihre Mitschüler zogen ihn gnadenlos damit auf. Makani hatte den Verdacht, dass er ihn nur deshalb weiterhin fuhr, um zu beweisen, dass ihm das scheißegal war.

»Warum lachst du mich dann aus?«, fragte sie.

Ollie rieb sich den Nacken. »Nicht dich. Mich.«

Makani wusste nicht, ob es an der brütenden Sommerhitze lag oder daran, dass sich sieben Monate erbarmungsloser Langeweile bei ihr aufgestaut hatten, aber sie empfand … etwas. Sie ging auf ihn zu, ganz langsam. Ihre nackten Beine schimmerten. »Und warum lachst du über dich selbst, Ollie?«

Er beobachtete, wie sie näher kam, weil klar war, dass sie wollte, dass er sie beobachtete. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Als sie vor ihm stehen blieb, neigte er den Kopf und schirmte seine Augen gegen die Sonne ab. »Weil ich dich schon früher ansprechen wollte, aber zu nervös dafür war. Makani.«

Er wusste also, wer sie war.

Sie lächelte.

Ollie erhob sich von der Milchkiste und sein silberner Lippenring glitzerte in der Sonne. Sie fragte sich, wie er sich wohl zwischen ihren eigenen Lippen anfühlen würde. Es war schon viel zu lange her, seit sie jemanden geküsst hatte. Seit irgendjemand sie hatte küssen wollen. Reiß dich zusammen. Makani trat physisch einen Schritt zurück, weil es unmöglich war, sich zu unterhalten, wenn sie so dicht voreinanderstanden. Brust an Brust. Und sie war vor allen Dingen von Ollie fasziniert.

Sie nickte zu seinem Taschenbuch hin. »Ich sehe dich nie ohne Buch.«

Er hielt es hoch, damit sie das Cover sehen konnte: Männer hingen aus den Türen und Fenstern eines fahrenden Zuges. Sie kannte das Buch nicht, deshalb erklärte er: »Es geht um einen Amerikaner, der mit dem Zug von London nach Südostasien reist.«

»Ist das eine wahre Geschichte?«

Er nickte.

»Liest du viele wahre Geschichten?«

»Ich lese viele Reiseberichte. Ich lese gerne über andere Orte.«

»Das verstehe ich.« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Ich denke gerne an andere Orte.«