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An einem Spätsommertag auf Martha’s Vineyard treffen sie sich wieder: Lincoln, Teddy und Mickey. Die drei Männer planen, das Wochenende in einem Ferienhaus auf der Insel zu verbringen – um der alten Zeiten willen. Seit dem Studium zu Vietnamkriegszeiten sind sie miteinander befreundet. Sie sind sehr unterschiedliche Wege gegangen, doch alle waren sie einst in dasselbe Mädchen verliebt: Jacy Calloway. Kurz nach ihrem Abschluss verschwand Jacy spurlos. Aber keiner von ihnen hat die Freundin vergessen – oder die Frage, wen von ihnen Jacy eigentlich liebte. Schließlich beginnt Lincoln, sich erneut mit den Umständen ihres rätselhaften Verschwindens zu beschäftigen. Was ist damals wirklich passiert? Richard Russo erzählt von drei Menschen, die sich fremd geworden sind, und vom Umgang mit der Unsicherheit, ob die eigenen Lebensentscheidungen die richtigen waren. Wie nebenbei ergibt sich daraus das Porträt eines Landes, das sich selbst nicht mehr ganz versteht. Mit ›Jenseits der Erwartungen‹ zeigt Russo seine ganze Könnerschaft – als großer Erzähler und als Menschenkenner.
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Seitenzahl: 627
Veröffentlichungsjahr: 2020
AN EINEM SPÄTSOMMERTAG auf Martha’s Vineyard treffen sie sich wieder: Lincoln, Teddy und Mickey. Die drei Männer planen, das Wochenende in einem Ferienhaus auf der Insel zu verbringen – um der alten Zeiten willen. Seit dem Studium zu Vietnamkriegszeiten sind sie miteinander befreundet. Sie sind sehr unterschiedliche Wege gegangen, doch alle waren sie einst in dasselbe Mädchen verliebt, Jacy Calloway.
Kurz nach ihrem Abschluss verschwand Jacy spurlos. Aber keiner von ihnen hat die Freundin vergessen – oder die Frage, wen von ihnen Jacy eigentlich liebte. Schließlich beginnt Lincoln, sich erneut mit den Umständen ihres rätselhaften Verschwindens zu beschäftigen. Was ist damals wirklich passiert?
Richard Russo erzählt von drei Menschen, die sich fremd geworden sind, und vom Umgang mit der Unsicherheit, ob die eigenen Lebensentscheidungen die richtigen waren. Wie nebenbei ergibt sich daraus das Porträt eines Landes, das sich selbst nicht mehr ganz versteht. Mit ›Jenseits der Erwartungen‹ zeigt Russo seine ganze Könnerschaft – als großer Erzähler und als Menschenkenner.
© Elena Seibert
RICHARD RUSSO, geboren 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschienen außerdem ›Diese alte Sehnsucht‹ (2010), ›Ein grundzufriedener Mann‹ und ›Ein Mann der Tat‹ (beide 2017) sowie der Erzählband ›Immergleiche Wege‹ (2018).
MONIKA KÖPFER war viele Jahre als Lektorin tätig und übersetzt heute aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Zu ihren Autoren zählen u.a. J.L. Carr, Mohsin Hamid, Milena Agus, Fabio Stassi, RichardC. Morais, Theresa Révay und NaomiJ. Williams.
Richard Russo
Jenseits der Erwartungen
Roman
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Von Richard Russo sind bei DuMont außerdem erschienen:
Diese alte Sehnsucht
Diese gottverdammten Träume
Ein Mann der Tat
Ein grundzufriedener Mann
Immergleiche Wege
›Einen Vers drauf‹ von Philip Larkin [1] wurde zitiert nach: Larkin, Philip: ›Nachwelt. Die besten Gedichte‹. Ausgewählt und übertragen und mit einem Kommentar versehen von Ulrich Horstmann. Die Graue Edition, Zug/Schweiz 2018.
eBook 2019
Die englische Originalausgabe erschien 2019
unter dem Titel ›Chances are …‹ bei AlfredA. Knopf, New York.
Copyright © 2019 by Richard Russo
Der Abdruck des Auszugs aus ›Chances Are …‹ [2] erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Faber Music Ltd und Hal Leonard Europe Limited.
›Chances Are …‹, Words by Al Stillman, Music by Robert Allen
© Copyright 1957 Charlie Deitcher Productions Inc/Music Sales Corporation. Shapiro Bernstein & Co. Limited/Chester Music Limited trading as Campbell Connelly & Co.
International Copyright Secured. All Rights Reserved.
Used by permission of Faber Music Ltd and Hal Leonard Europe Limited.
© 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Monika Köpfer
Umschlaggestaltung nach einer Vorlage von Kelly Blair: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © Luis Padron
Satz: Fagott, Ffm
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN eBook 978-3-8321-8494-0
www.dumont-buchverlag.de
»For a second there we won.
Yeah, we were innocent and young.«
The Killers, »Miss Atomic Bomb«
Prolog
Die drei alten Freunde kamen in umgekehrter Reihenfolge auf der Insel an – der, der am weitesten weg wohnte, zuerst, der am nächsten Wohnende zuletzt: Lincoln, ein Immobilienmakler, aus Las Vegas, war also praktisch einmal quer durchs ganze Land gereist; Teddy, ein Kleinverleger, aus Syracuse; Mickey, ein Musiker und Toningenieur, aus dem nahe gelegenen Cape Cod. Alle waren sechsundsechzig und hatten gleichzeitig ein humanistisch ausgerichtetes College in Connecticut besucht, wo sie im Haus der Studentinnenverbindung Theta in der Küche oder im Service gearbeitet hatten. Die anderen Aushilfen, die meisten von ihnen Mitglieder anderer Verbindungen, behaupteten, diesen Job aus freien Stücken auszuüben, weil es nirgendwo sonst so viele heiße Mädchen gebe wie im Theta House. Lincoln, Teddy und Mickey indes schlugen sich mit einem Stipendium durch und mussten aus mehr oder weniger drängenden finanziellen Gründen nebenbei arbeiten. Lincoln, genauso gut aussehend wie die Verbindungsjungs, wurde sofort als »Frontmann« eingesetzt, was hieß, dass er in einer weißen hüftlangen Kellnerjacke die Verbindungsstudentinnen im großen Speisesaal des Theta House bedienen durfte. Teddy, der bereits während seiner letzten Highschool-Jahre in einem Restaurant gejobbt hatte, wurde Kochgehilfe und durfte Salate vorbereiten, Soßen anrühren und die Vorspeisen und Desserts auf Tellern anrichten. Und Mickey? Die, die ihn einstellten, taxierten ihn nur kurz und beförderten ihn dann zur Spüle hinüber, wo sich ein riesiger Berg schmutziger Töpfe neben einem Karton Scheuerspiralen stapelte. So viel zu ihrem ersten Studienjahr. In ihrem vierten Jahr war Lincoln zum Chefkellner avanciert und konnte seinen beiden Freunden einen Job im Speisesaal anbieten. Teddy, der die Nase von der Küche voll hatte, nahm ohne zu zögern an, während Mickey bezweifelte, dass es eine Kellnerjacke gab, in die er hineingepasst hätte. Er wollte lieber Küchensklave bleiben, als draußen im Frontbereich den hübschen Mädchen schöne Augen zu machen, weil er in der »Kombüse«, wie er es nannte, schalten und walten konnte, wie er wollte.
Mittlerweile waren vierzig Jahre vergangen, und alle drei wussten, was sie dem Minerva College zu verdanken hatten: Die Kurse waren klein gewesen, ihre Professoren kompetent und den Studenten zugeneigt. Auf den ersten Blick mochte es wie ein x-beliebiges College der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre wirken. Die Jungs trugen lange Haare, ausgeblichene Jeans und T-Shirts mit psychedelischen Aufdrucken. In den Zimmern rauchte man Gras und überdeckte den Qualm mit Räucherstäbchen, während man den Doors und Buffalo Springfield lauschte. Doch das waren bloß äußerliche Statements. Für die meisten Studenten war der Krieg weit weg, etwas, was in Südostasien geschah und in Berkeley und im Fernsehen diskutiert wurde, aber nichts mit ihrem Leben an der Küste Connecticuts zu tun hatte. Die Verfasser der Leitartikel des Minerva Echo beklagten in schöner Regelmäßigkeit das Fehlen eines wirklichen politischen Engagements. »›Nothin’s happenin’ here‹ –, schrieb einer und nahm damit Buffalo Springfields berühmten Song auf die Schippe. ›Why that is ain’t exactly clear‹.«
An keinem anderen Ort auf dem Campus waren die Studenten weniger aufrührerisch als im Theta House. Ein paar Mädchen rauchten Gras und trugen keinen BH, aber abgesehen davon lebten sie wie auf einer abgeschiedenen Insel. Und doch offenbarte sich den Studenten die Realität hier weitaus mehr als in ihren Kursen. Die Unterschiede zu ihrer eigenen Welt mussten selbst Neunzehnjährigen wie Lincoln und Teddy und Mickey ins Auge fallen. Die Autos auf dem Parkplatz hinter dem Theta House waren nicht nur nobler als die auf dem regulären Studentenparkplatz, sondern auch als jene in dem Bereich, wo die Dozenten parkten. Noch merkwürdiger war, jedenfalls für die jungen Männer, die nicht aus wohlhabenden Familien kamen, dass sich die Besitzerinnen der Wagen auf dem Theta-Parkplatz nicht besonders glücklich zu schätzen schienen, am Minerva zu studieren, ja nicht einmal, dass sie Eltern hatten, die sich die atemberaubenden Studiengebühren an diesem College leisten konnten. Dort, wo sie herkamen, war das Minerva zumindest die logische Folge der ersten achtzehn Jahre ihres Lebens. Für viele war es sogar eher eine Art Notnagel, und sie brachten ihr erstes Studienjahr damit zu, ihre Enttäuschung darüber zu verarbeiten, es nicht auf die Wesleyan University, aufs Williams College oder eine der Ivy-League-Universitäten geschafft zu haben. Zwar wussten sie, dass man einen extrem guten Notendurchschnitt vorweisen und auch bei dem standardisierten Hochschulzulassungstest hervorragend abschneiden musste, um an einer dieser elitären Institutionen zugelassen zu werden, und doch waren sie es gewohnt, dass bei so etwas auch andere Faktoren entscheidend sein konnten, Dinge, über die man weder reden noch sie quantifizieren konnte, die einem aber dennoch auf magische Weise die Türen öffneten. Wie auch immer, das Minerva war auch nicht schlecht. Wenigstens hatten sie es in die Theta-Verbindung geschafft, das war in ihren Augen das Wichtigste. Andernfalls hätten sie ebenso gut auf die staatliche University of Connecticut gehen können.
Am 1.Dezember 1969, dem Abend, als die erste von zwei Vietnam-Einberufungslotterien abgehalten wurde, überredete Lincoln die Restaurantleiterin des Verbindungshauses, dass die Kellner an diesem Abend das Essen eine halbe Stunde früher als sonst servieren durften, damit sie sich danach alle pünktlich vor dem winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher in dem hinteren Zimmer versammeln konnten, wo sie ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Obgleich hier per Los über ihr Schicksal entschieden wurde, war die Stimmung merkwürdig heiter, jedenfalls zu Beginn. Von den Geburtstagen der acht Aushilfen wurde der von Mickey zuerst gezogen, die neunte von 366Möglichkeiten, sodass die anderen im Chor »O Canada« anstimmten, was vielleicht mehr Wirkung gezeigt hätte, wenn sie nicht nur die ersten beiden Worte der kanadischen Nationalhymne gekannt hätten. Von den Geburtstagen der drei Freunde kam Lincolns mit der Losnummer 189 als Nächstes dran; besser – weil die Wahrscheinlichkeit, dass man mit dieser hohen Nummer noch eingezogen wurde, eher gering war –, aber dennoch nicht sicher genug und unmöglich, damit zu planen.
Während die Lotterie weiterging, ein unaufhörlicher Trommelwirbel aus Geburtstagen – 1.April, 23.September, 21.September –, verdüsterte sich die Stimmung im Raum zusehends. Früher am Abend, als sie den Mädchen das Essen servierten, hatten alle noch im selben Boot gesessen, aber jetzt machten ihre Geburtstage sie zu Individuen, Menschen mit ganz eigenen Schicksalen, und nach und nach zerstreuten sie sich, gingen zurück in ihre Zimmer oder Wohnungen, wo sie ihre Eltern und Freundinnen anriefen, um mit ihnen die Tatsache zu erörtern, dass ihr Leben soeben eine andere Wendung genommen hatte, bei den einen zum Besseren, bei den anderen zum Schlechteren, wobei ihre Noten und Zulassungstestergebnisse und Beliebtheit mit einem Mal unwichtig geworden waren. Bis endlich Teddys Geburtstag drankam, waren er, Lincoln und Mickey die Einzigen, die noch im Aufenthaltsraum saßen. Ein vehementer Pazifist, hatte Teddy seinen Freunden ein paar Stunden zuvor eröffnet, er werde lieber nach Kanada oder ins Gefängnis gehen, als sich einziehen zu lassen, deshalb sei für ihn die Lotterie bedeutungslos. Wobei das natürlich nicht ganz stimmte. Im Grunde wollte er nicht nach Kanada und war sich nicht sicher, ob er, wenn es hart auf hart käme, tatsächlich den Mut aufbrächte, für seine Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Von derlei Erwägungen abgelenkt, war er, als nur noch circa zwanzig Geburtstage nicht gezogen worden waren, überzeugt, dass seiner schon vorgelesen worden war, ohne dass er es mitbekommen hatte, vielleicht als sie die Fernsehantenne justiert hatten. Doch dann kam er plötzlich, an 322. Stelle. Von 366. Er war noch einmal davongekommen. Als er die Hand ausstreckte, um den Fernseher auszumachen, bemerkte er, dass er zitterte.
Es gab ungefähr ein Dutzend Theta-Studentinnen, die sie als ihre Freunde betrachteten, aber nur Jacy Calloway, in die alle drei verliebt waren, wartete vor dem Hintereingang des Verbindungshauses, als sie endlich in die kalte Nacht hinaustraten. Sobald Mickey ihr gesagt hatte – mit seinem typischen breiten, treudoofen Grinsen im Gesicht –, es sehe wohl so aus, dass er bald nach Südostasien aufbrechen müsse, rutschte sie von der Motorhaube, auf der sie gesessen hatte, barg ihr Gesicht an seiner Brust, drückte ihn ganz fest und sagte in sein Hemd hinein: »Diese verdammten Arschlöcher.« Lincoln und Teddy, die mehr Glück gehabt hatten an diesem Abend, wären plötzlich gern an seiner Stelle gewesen und brachten es tatsächlich fertig, ausgesprochen eifersüchtig zu werden, als sie das Mädchen ihrer kollektiven Träume in Mickeys Armen sahen, die unangenehme Tatsache mal beiseitegelassen, dass Jacy ohnehin bereits mit einem anderen verlobt war. Als würde Mickeys Glück dieses flüchtigen Moments irgendwie mehr wiegen als der Umstand, dass er vor einer Stunde den Kürzeren gezogen hatte. Als sein Geburtstag verkündet worden war, war in Lincoln und Teddy das gleiche widerliche Gefühl aufgestiegen wie zwei Jahre zuvor, als die Verantwortlichen im Restaurant Mickey nur kurz angeschaut und ihm direkt den beschissensten Job im Theta House zugewiesen hatten. Wenn er sich bald zum Dienst melden würde, würden sie ihn ebenfalls rasch mustern und dann schnurstracks an die Front schicken, eine Zielscheibe, die kein Heckenschütze verfehlen könnte.
Doch in diesem Moment, als sich Jacy in seine Arme kuschelte, konnten sie nicht glauben, dass er so viel Glück hatte. Tja, das nannte man Jugend.
Lincoln kam aus Arizona, wo sein Vater Minderheitsgesellschafter einer kleinen, größtenteils ausgebeuteten Kupfermine war. Seine Mutter stammte aus dem nahe Boston gelegenen Wellesley und war das einzige Kind einer wohlhabenden Familie. Doch als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, während sie gerade ihr letztes Studienjahr am Minerva College absolvierte, stellte sich heraus – etwas, worauf sie nicht im Geringsten vorbereitet war –, dass von dem einstigen Reichtum kaum mehr etwas übrig war. Eine andere junge Frau an ihrer Stelle hätte sich wohl gegrämt darüber, dass nach der Tilgung der Schulden das Vermögen auf einen kläglichen Rest zusammengeschrumpft war, aber Trudy war so von ihrer Trauer überwältigt, dass sie keine Energie hatte, sich Gedanken um andere Dinge zu machen. Eine stille Einzelgängerin, die nicht schnell Freundschaften schloss, sah sie sich plötzlich ganz allein auf der Welt, bar jeder Liebe und Hoffnung und voller Angst, dass sie ebenso plötzlich von einem Unglück heimgesucht werden könnte wie ihre Eltern. Wie sonst ließe sich erklären, dass sie gewillt war, Wolfgang Amadeus (W.A.) Moser zu ehelichen, einen kleinen dominanten Mann, der abgesehen von seiner unerschütterlichen Überzeugung, stets recht zu haben, nichts Bemerkenswertes an sich hatte?
Nicht dass sie die Einzige gewesen wäre, der er Sand in die Augen zu streuen vermochte. Bis zu seinem sechzehnten Geburtstag hatte Lincoln geglaubt, sein Vater, dessen übergroßes Ego im Gegensatz zu seiner kleinen Statur stand, hätte seiner Mutter einen Gefallen getan, indem er sie heiratete. Weder attraktiv noch unattraktiv, hatte sie die Eigenschaft, in einer Gruppe so vollständig zu verschwinden, dass man sich hinterher nicht erinnern konnte, ob sie anwesend gewesen war oder nicht. Egal, was ihr Mann sagte oder tat, nur selten erhob sie auch nur einen zaghaften Einwand, nicht einmal, als sie aus den Flitterwochen zurückkehrten und er sie darüber in Kenntnis setzte, dass sie natürlich ihrem katholischen Glauben abschwören und der fundamentalistischen christlichen Sekte beitreten würde, der er angehörte. Als sie seinen Heiratsantrag annahm, war ihr zwar bewusst gewesen, dass sie in der kleinen Wüstenstadt Dunbar wohnen würden, wo sich die Mine der Mosers befand; aber ebenso ging sie davon aus, dass sie gelegentlich in den Urlaub fahren würden, wenn nicht nach Neuengland, das ihr Mann nach eigenem Bekunden verabscheute, so vielleicht nach Kalifornien, doch wie sich herausstellte, konnte er auch mit der Küste dort nichts anfangen. Er war fest davon überzeugt – wie er ihr darlegte –, dass man lernen müsse zu lieben, was man habe, womit er Dunbar und sich selbst zu meinen schien.
Für Trudy fühlte sich alles, was Dunbar und den Mann anging, den sie geheiratet hatte, fremd an, jedenfalls zu Beginn. In der Kleinstadt selbst, die heiß und flach und staubig war, praktizierte man eine unumwundene Rassentrennung, auf der einen Seite der Bahngleise lebten die Weißen und auf der anderen die »Mexikaner«, wie sie genannt wurden, selbst jene, die seit über einem Jahrhundert legal dort wohnten. Obwohl Dunbar Trudys Dafürhalten nach eine nichtssagende Kleinstadt war, schien sie alles zu haben, was W.A. Moser (Dub-Yay, wie ihn seine Freunde nannten) benötigte: das Haus, in dem sie wohnten, die Kirche, die sie besuchten, der kleine schäbige Country Club, wo er Golf spielte. Zu Hause hatte er das Sagen, war sein Wort Gesetz. Ihre Eltern hatten immer munter diskutiert, deswegen erstaunte sie der Umstand, dass ihre eigene Ehe einem ganz anderen Modell entsprach. Sie waren schon ein paar Jahre verheiratet, als sich Lincoln ankündigte, und er wusste natürlich nicht, ob sie vor seiner Geburt gelegentlich gestritten hatten – ob sein Vater Trudy erst nach und nach gefügig gemacht hatte –, doch Lincoln hatte eher den Eindruck, dass seine Mutter zwar überrascht war von ihrem neuen Leben, es aber von dem Moment an, in dem sie den Fuß nach Dunbar setzte, akzeptiert hatte. Das erste Mal, dass sie sich – soweit er sich erinnerte – auf die Hinterbeine stellte, war, als es für ihn an der Zeit war, sich für einen Studienplatz zu bewerben. Dub-Yay wollte, dass er die University of Arizona besuchte, seine eigene Alma Mater, aber Trudy, die nach dem Tod ihrer Eltern mit einer unverheirateten Tante ebenfalls nach Tucson gezogen war, um dort ihr Studium zu beenden, hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Sohn sein Studium im Osten, wo sie herkam, absolvieren würde. Und zwar nicht an einer großen staatlichen Universität, sondern einem kleinen feinen humanistischen College wie dem Minerva, der Hochschule, die sie ein Semester vor ihrem Examen hatte verlassen müssen.
Der Streit begann beim Abendessen, als sein Vater mit seiner Fistelstimme verkündete: »Du weißt doch, meine Liebe, das lasse ich nicht zu, nur über meine Leiche.« Eine Aussage, die ganz klar die Diskussion im Keim ersticken sollte, umso überraschter war Lincoln, als er den fremden Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter sah, der besagte, dass sie den möglichen Tod seines Vaters mit Gleichmut in Erwägung gezogen hatte und dennoch unbeirrt an ihrem Vorhaben festhielt. »Nun, wir werden sehen«, erwiderte sie, und damit endete die Diskussion, jedenfalls vorerst. Um später, im Schlafzimmer seiner Eltern, wieder aufgenommen zu werden. Obgleich sie ihre Stimmen dämpften, hörte Lincoln durch die dünne Wand, die es von seinem eigenen Zimmer trennte, wie sie den Streit fortsetzten, und zwar bis weit über die Uhrzeit hinaus, zu der sein Vater, der zu früher Stunde in die Mine zu fahren pflegte, normalerweise einschlief. Sie dauerte noch immer an, als Lincoln selbst schließlich vom Schlaf übermannt wurde.
Am nächsten Morgen, nachdem sein Vater mit vor Schlafmangel und häuslichem Unfrieden müden Augen zur Arbeit gefahren war, lag Lincoln noch grübelnd im Bett. Was war bloß mit seiner Mutter los? Warum hatte sie ausgerechnet diesen Kampf aufgenommen? Was ihn betraf, so wäre die University of Arizona absolut okay gewesen. Sein Vater hatte dort studiert, und einige seiner Klassenkameraden wollten das auch, also würde er bereits ein paar Leute kennen. Nachdem er seine Kindheit und Jugend in dem winzigen Dunbar verbracht hatte, freute er sich darauf, in Tucson, einer Großstadt, zu leben. Und wenn er Heimweh bekäme, könnte er jederzeit übers Wochenende in das nicht weit entfernte Dunbar fahren. Andere seiner Klassenkameraden wollten auf eines der Colleges in Kalifornien gehen, aber niemand, den er kannte, würde in den Osten ziehen. Dachte seine Mutter wirklich, er wolle auf der anderen Seite des Kontinents leben, wo er keine Menschenseele kannte? Und wo er umringt wäre von lauter verwöhnten Kids, die sich auf schicken Privatschulen auf das teure College vorbereitet hatten? Nun, warum sollte er sich weiter den Kopf darüber zerbrechen? Garantiert war seine Mutter irgendwann, nachdem Lincoln eingeschlafen war, zur Besinnung gekommen, und ihr war klar geworden, dass es vergeblich war, in dieser oder irgendeiner anderen Sache von ähnlicher Tragweite seinem Vater die Stirn zu bieten. Bestimmt war die alte Ordnung inzwischen wiederhergestellt.
Er war abermals erstaunt, als er seine Mutter eine flotte Melodie summend und kein bisschen verlegen wegen der gestrigen Nacht in der Küche antraf. Sie war noch in Bademantel und Pantoffeln wie fast jeden Morgen, schien aber ungewöhnlich gute Laune zu haben, als stünde ein lang ersehnter Urlaub kurz bevor. Alles in allem höchst beunruhigend.
»Ich glaube, Dad hat recht«, sagte Lincoln, während er sich Getreideflocken in eine Schüssel schüttete.
Sie hörte zu summen auf und sah ihm in die Augen. »Sonst noch was?«
Das brachte ihn vollends aus dem Konzept. Schließlich war es nicht so, dass sie und sein Vater ständig Meinungsverschiedenheiten austrugen und er sich jedes Mal auf die Seite seines Vaters schlug. Im Gegenteil, die Diskussion am vorigen Abend war der erste große Streit, an den er sich erinnern konnte. Und jetzt suchte sie anscheinend schon wieder Streit, und zwar diesmal mit ihm. »Warum so viel Geld verschwenden?«, fuhr er fort, indem er sich bemühte, möglichst vernünftig und unvoreingenommen zu klingen, während er Milch auf seine Getreideflocken goss und einen Löffel aus der Besteckschublade fischte. Er hatte vor, wie üblich im Stehen und an die Küchentheke gelehnt zu essen.
»Setz dich«, sagte sie. »Es gibt da ein paar Dinge, die du nicht verstehst, und es ist höchste Zeit, das zu ändern.«
Seine Mutter zog den Tritthocker zwischen Kühlschrank und Küchentheke hervor und stieg darauf. Was sie suchte, befand sich im obersten Regal des Küchenschranks, und zwar ganz hinten. Verwundert und, ja, auch ein wenig ängstlich beobachtete Lincoln sie. Hatte sie etwas dort oben versteckt, worauf sein Vater nicht stoßen sollte? Und was? Eine Art Kontobuch oder ein Fotoalbum, etwas Geheimes, das Aufschluss über die Sache geben würde, die er angeblich nicht verstand? Nein. Sie langte nach einer Flasche Whiskey. Da er sich noch immer nicht von der Küchentheke wegbewegt hatte, reichte sie sie ihm.
»Mom?«, fragte er, denn es war erst sieben Uhr morgens, und, hey, wer war diese merkwürdige Frau? Was hatte sie mit seiner Mutter gemacht?
»Setz dich«, sagte sie erneut, und diesmal gehorchte er gern, weil sich seine Knie wie aus Pudding anfühlten. Er sah zu, wie sie einen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ihren Kaffee goss. Dann nahm sie ihm gegenüber Platz und stellte die Flasche auf den Tisch, wie um zu bedeuten, dass sie noch nicht fertig damit war. Fast rechnete er damit, dass sie ihm etwas davon anbot. Doch sie saß eine Weile nur da und sah ihn an, bis er sich aus einem unerfindlichen Grund schuldig fühlte und den Blick auf seine Getreideflocken senkte, die in der Flüssigkeit allmählich pampig wurden.
Kurz und gut, es gehe um Folgendes, begann sie: Zunächst gebe es da einige Fakten über ihr aller Leben, von denen er nichts wisse, angefangen bei der Mine. Sicher, er hatte gewusst, dass sie nicht mehr allzu viel abwarf und der Kupferpreis in den letzten Jahren eingebrochen war. Jedes Jahr gab es weitere Entlassungen, und die Arbeiter hatten immer wieder damit gedroht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, als würde so etwas in Arizona je geschehen. Irgendwann würde die Mine schließen, und das würde die Existenz dieser Männer bedrohen. Das waren alles keine Neuigkeiten für ihn. Nein, die Neuigkeit war, dass auch ihre Existenz bedroht sein könnte. Tatsächlich sei das bereits der Fall, wie seine Mutter ihm eröffnete. Viele der Extras, die sie sich im Gegensatz zu ihren Nachbarn gönnten – der Pool, der Gärtner, die Mitgliedschaft im Country Club, jedes Jahr einen neuen Wagen –, könnten sie sich nur ihretwegen leisten, wegen des Geldes, das sie in die Ehe eingebracht habe.
»Aber ich dachte …«, begann er.
»Ja, ich weiß. Ab jetzt wirst du eben lernen müssen, anders zu denken. Am besten du fängst gleich damit an.«
Vergangene Nacht habe sein Vater versucht, ein Machtwort zu sprechen, so wie immer. Er habe seine Weigerung kundgetan, dafür zu bezahlen, dass sein Sohn in einem Teil des Landes seine Ausbildung erhielt, den er wegen des dort herrschenden Snobismus und Elitarismus verabscheue; sein Sohn würde als verdammter Demokrat oder, schlimmer noch, als einer dieser langhaarigen Vietnamkriegsprotestler zurückkommen, die man jeden Abend im Fernsehen zu sehen kriege. Ein Studium an einem privaten humanistischen College im Osten würde sie fünfmal so viel kosten wie eine »grundsolide« Ausbildung hier in Arizona. Worauf seine Mutter geantwortet habe, nein, da irre er sich – allein die Vorstellung, dass sie etwas Derartiges zu ihm gesagt hatte! –, denn es würde in der Tat zehnmal so viel kosten. Sie habe beim Zulassungsbüro des Minerva College angerufen und wisse, wovon sie spreche. Wobei er sich wegen der Kosten nicht den Kopf zerbrechen müsse, weil sie für alles aufzukommen gedenke. Dann sei sie fortgefahren – man stelle sich vor: fortgefahren –, sie hoffe sehr, ihr Sohn würde gegen einen Krieg protestieren, der dumm und unmoralisch sei, und, zu guter Letzt, dass, wenn Lincoln die Demokraten wähle, er damit nicht der Einzige in ihrer kleinen Familie wäre. Ja, genau.
Zwar liebte Lincoln seine Mutter, aber es widerstrebte ihm, diese Behauptungen bezüglich ihrer finanziellen Verhältnisse als Tatsache zu akzeptieren, vor allem, weil sie seinen Vater in einem solch unvorteilhaften Licht erscheinen ließen. Wenn sie, und nicht er, die Urheberin der »kleinen Extras« war, in deren Genuss sie so lange gekommen waren, warum hatte sein Vater ihn dann in dem Glauben gelassen, dass allein W.A. Moser die Quelle ihres relativen Wohlstands sei? Auch stimmte diese neue mütterliche Deutungsweise überhaupt nicht mit dem überein, was man ihm seit seiner Kindheit weisgemacht hatte – dass die Familie seiner Mutter irgendwann einmal reich gewesen sei, der Tod ihrer Eltern jedoch deren finanzielle Misswirtschaft offenbart habe: schlechte, mit Krediten getätigte Investitionen, schwindende Vermögenswerte, die wieder und wieder belastet worden waren. Dass sie auch dann noch, als fast kein Geld mehr da war, ihr luxuriöses Leben fortgeführt hätten, Sommerurlaube auf dem Cape, kostspielige Winterurlaube in der Karibik, dazwischen Kurztrips nach Europa. Notorische Partygeher und Trinker, hatten sie vermutlich auch am Abend ihres Unfalls getrunken. Sie seien … ja, da gab es nichts zu beschönigen … wie die Kennedys gewesen. Nach dem Denkschema seines Vaters war die Geschichte seiner Großeltern ein moralisches Lehrstück par excellence über ein törichtes, dekadentes Paar in einer snobistischen Gegend des Landes, Menschen, die die Bedeutung harter Arbeit nicht kannten und schlussendlich die Quittung dafür bekommen hatten. Fehlte nur noch, dass er behauptete, er habe Lincolns Mutter vor einem ähnlichen Lotterleben bewahrt, aber auch wenn er es nicht aussprach, lag diese Schlussfolgerung in der Luft. Wollte ihm seine Mutter jetzt einreden, diese ihm so vertraute, lange unangefochtene Geschichte sei nichts als eine Lüge?
Nein, das nicht, räumte sie ein, aber sie sei auch nicht die ganze Wahrheit. Ja, ihre Eltern seien unbedacht gewesen, und als schließlich alle Karten auf dem Tisch lagen, habe sich das Familienvermögen mehr oder weniger in Luft aufgelöst, aber ein kleines Haus in Chilmark auf der Insel Martha’s Vineyard habe irgendwie vor den Gläubigern gerettet werden können und sei in einen Treuhandfonds übergegangen, den man für sie angelegt habe, damit sie mit einundzwanzig, wenn sie volljährig würde, darauf zugreifen konnte. Warum hatte Lincoln noch nie von diesem Ort gehört? Weil sein Vater, als er kurz nach ihrer Hochzeit von dessen Existenz erfahren habe, das Haus umgehend habe verkaufen wollen – und zwar aus reiner Gehässigkeit, wie seine Mutter behauptete, um das Band zu ihrer Vergangenheit vollkommen zu durchtrennen und sie so gänzlich an sich zu binden. Zum ersten Mal habe sie sich geweigert, sich seinem Willen zu beugen, und ihre Unnachgiebigkeit in dieser Angelegenheit habe W.A. Moser so sehr überrascht und verstört, dass er sich all die Jahre über geweigert habe, abermals aus Gehässigkeit, diesen »verdammten Ort« je zu besuchen. Darum hatten sie das Haus Sommer für Sommer vermietet, wobei die Mieten Jahr für Jahr stiegen, weil die Insel immer mondäner wurde, und dieses Geld sei auf ein Sparkonto geflossen, auf das sie hin und wieder zugegriffen hätten, um sich besagte Extras leisten zu können. Und das, was übrig geblieben sei, wolle sie nun für Lincolns Studium verwenden.
Ah, das Haus in Chilmark. Als Kind, so erzählte sie ihm mit feuchten Augen, habe sie keinen Ort auf der Welt mehr geliebt. Jedes Jahr seien sie am Memorial Day Ende Mai auf der Insel angekommen, um sie erst wieder am Labor Day Anfang September zu verlassen; sie und ihre Mutter seien ununterbrochen dort geblieben, während ihr Vater an den Wochenenden zu ihnen stieß, und dann hätten sie immer Partys abgehalten – ja, Lincoln, da wurde getrunken und gelacht, und alle hatten Spaß –, und auf der kleinen Veranda, die über einem Hügel thronte und von der man auf den Atlantik in der Ferne blickte, hätten sich die Partygäste gedrängt. Die Freunde ihrer Eltern seien immer ganz entzückt von ihr gewesen, und da sich ihre Mutter für drei volle Monate ganz ihr widmete, habe es ihr nichts ausgemacht, dass nur wenige andere Kinder dort waren. Den ganzen Sommer lang sei sie barfuß gegangen und habe alles tief in sich aufgesogen – die Salzluft und den Duft der frisch gewaschenen Laken und den Anblick der Seemöwen, die über ihnen kreisten. Die Holzböden im Haus seien sandig geworden, und niemanden habe es gestört. Nicht ein einziges Mal während dieser Sommer seien sie zur Kirche gegangen, und niemand habe behauptet, das sei eine Sünde, weil es auch keine sei. Es sei eben Sommer gewesen, ganz einfach.
Sie hoffe, Lincoln würde dieses Haus in Chilmark eines Tages ebenso ins Herz schließen wie sie, und deshalb habe sie bereits die nötigen Vorkehrungen getroffen, dass, wenn es so weit sei, er, und nicht sein Vater, es erbe. Er müsse ihr einfach nur versprechen, dass er, sollte er es einmal doch verkaufen müssen, den Erlös nicht mit seinem Vater teilen werde, denn der würde das Geld garantiert der Kirche geben. Es sei eine Sache, fuhr sie fort, dass sie ihren Glauben für ihn aufgegeben hatte, aber sie habe nicht die Absicht, Dub-Yay zu erlauben, ihr Geld einer Bande evangelikaler Schlangenbändiger in den Hintern zu schieben.
Seine Mutter brauchte fast den ganzen Morgen und mehrere mit Whiskey versetzte Tassen Kaffee, um ihrem Sohn all diese neuen Informationen zu vermitteln. Lincoln wollte die Kinnlade gar nicht mehr zuklappen, und beim Zuhören wurde ihm das Herz immer schwerer, während all das, was er sein ganzes Leben lang für wahr gehalten hatte, in Schutt und Asche gelegt wurde. Als ihr Redefluss schließlich verebbt war, stand sie auf, schwankte, sagte: »Puh!«, und stützte sich kurz auf dem Tisch auf, ehe sie seine Müslischüssel und ihre Kaffeetasse zur Spüle hinüberschipperte und verkündete, sie glaube, sie müsse jetzt ein Nickerchen halten. Sie schlief noch immer, als ihr Vater am Abend von der Mine zurückkam, und als Dub-Yay sie weckte und sich erkundigte, was mit seinem Abendessen sei, sagte sie, er solle sich selbst was kochen. Lincoln hatte die Whiskeyflasche in das Versteck im Küchenschrank zurückgestellt, aber sein Vater schien zu erahnen, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Als er in die Küche zurückkehrte, sah er seinen Sohn an, seufzte tief und fragte: »Mexikanisch?« Es gab nur vier Restaurants in Dunbar, drei davon mexikanisch. Sie gingen zu ihrem Stammmexikaner, aßen Chiles Rellenos, und ihr Schweigen wurde nur einmal kurz gebrochen, als sein Vater sagte: »Deine Mutter ist eine großartige Frau«, als wollte er, dass das in das offizielle Protokoll aufgenommen wurde.
Nach und nach kehrte wieder Normalität ein beziehungsweise das, was für die Mosers normal war. Nachdem sie kurz die Stimme erhoben hatte, nahm Lincolns Mutter wieder ihr gewohntes stilles, unterwürfiges Wesen an, wofür Lincoln dankbar war: In den Familien einiger seiner Freunde hing dauerhaft der Haussegen schief. Nachdem sich der Sturm bei ihnen zu Hause verzogen hatte, war ihm, als hätte er allen Grund, sich glücklich zu schätzen. Zum einen, weil er wie durch Zauberhand zu Besitz gekommen war. Zum anderen, weil er, auch wenn es für seine Eltern eine finanzielle Belastung bedeutete, im nächsten Jahr sein Studium an einem renommierten humanistischen College an der Ostküste beginnen würde, etwas, was noch nie zuvor jemand aus Dunbar getan hatte. Und tatsächlich sollte er das in den folgenden Jahren als großes Abenteuer betrachten. Doch seiner Mutter zuzuhören, wie sie ihm die tatsächlichen Gegebenheiten ihrer familiären Existenz darlegte, das hatte ihm ganz schön zugesetzt. Der vermeintlich feste Boden unter seinen Füßen hatte sich unversehens in Sand verwandelt, und seine Eltern, die beiden Menschen, die er am besten zu kennen geglaubt hatte, waren zu Fremden geworden. Es sollte nicht lange dauern, bis er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, aber ganz trauen sollte er ihm nie wieder.
Teddy Novak, ebenfalls ein Einzelkind, wuchs im Mittleren Westen auf, als Sohn zweier gestresster Highschool-Lehrer. Er wusste, seine Eltern liebten ihn, weil sie es, wann immer er sie danach fragte, beteuerten, konnte sich jedoch bisweilen nicht des Eindrucks erwehren, dass ihr Bedarf an Kindern bereits mehr als gedeckt gewesen war, bevor er des Weges kam, und er mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit dann das Kind war, das ihnen vollends jeglichen pädagogischen Elan raubte. Unentwegt waren sie mit dem Korrigieren von Aufsätzen oder mit Unterrichtsvorbereitungen beschäftigt, und wenn er sie dabei unterbrach, konnte er auf ihren Gesichtern Fragen ablesen wie: Warum fragst du immer mich und nicht deinen Vater? Oder: Ist nicht deine Mutter dran? Ich habe doch schon die letzte Frage beantwortet.
Teddy war ein kleiner, unsportlicher Junge mit zartem Knochenbau. Ihm gefiel die Vorstellung von Sport, aber wann immer er sich in Baseball oder Football oder gar Dodgeball versuchte, hinkte er hinterher mit gestauchten Fingern und blauen Flecken übersät nach Hause. Er war nun mal so veranlagt. Sein Vater war zwar groß, aber knochig und schien nur aus Ellbogen, Knien und dünner Haut zu bestehen. Sein Adamsapfel sah aus, als hätte er ihn von einem anderen, sehr viel größeren Mann geborgt, und seine Kleidungsstücke passten ihm nie. Hatten seine Hemdsärmel die richtige Länge, bot der Halsausschnitt Platz für einen weiteren Hals; wenn der Kragen saß, hörten die Ärmel irgendwo auf halber Strecke zwischen Ellbogen und Handgelenk auf. Bei einem Bauchumfang von 70Zentimetern hatte er eine Schrittlänge von 86Zentimetern, sodass seine Hosen maßgefertigt werden mussten. Mitten auf seiner Stirn prangte ein stattliches Büschel stoppliger Haare, umgeben von einem Graben aus blasser, schrumpeliger Haut. Kein Wunder, dass die Schüler ihm den Spitznamen Ichabod verpasst hatten, wenngleich niemand genau sagen konnte, ob sich dieser seiner physischen Erscheinung oder seiner Begeisterung für »Die Sage von der schläfrigen Schlucht« verdankte, dem ersten Text, mit dem es die Schüler in The American Character zu tun bekamen, seinem Literaturkurs für die zwölfte Klasse. Diese Kurzgeschichte hatte es Teddys Vater besonders angetan, vor allem weil er darauf zählen konnte, dass seinen Schülern die Pointe entging, sodass er sie ihnen dann erklären konnte. Am besten gefiel ihnen das übernatürliche Element in Gestalt des kopflosen Reiters, und wenn sich dieser dann als kein bisschen übernatürlich entpuppte, waren sie enttäuscht. Wie auch immer, das Ende der Geschichte – der uramerikanische Brom Bones triumphiert, und der eingebildete Schullehrer Ichabod Crane wird zum Narren gehalten und aus der Stadt getrieben – war für sie dann wieder zutiefst befriedigend. Es kostete Teddys Vater einige Anstrengung, sie davon zu überzeugen, dass die Geschichte in Wahrheit eine Anklage des amerikanischen Antiintellektualismus war, den Washington Irving, ihr Autor, als Wesenselement des amerikanischen Charakters ausgemacht hatte. Indem seine Schüler die Grundidee der Geschichte so gehörig missinterpretierten, ja, sie genau in ihr Gegenteil verkehrten, machten sie sich unwissentlich zur Zielscheibe des ihr innewohnenden Spotts, jedenfalls behauptete das Teddys Vater. Besonders schwer waren die Sportskanonen unter den Studenten zu überzeugen, die sich naturgemäß mit Brom Bones identifizierten, der gut aussah, stark, großspurig, hinterlistig und zugleich begriffsstutzig war und der natürlich das hübscheste Mädchen der Stadt abbekam, genau wie sie selbst die hübschesten Cheerleaderinnen. Was sollte daran bitte schön eine Satire sein? In ihren Augen ging es in der Geschichte um natürliche Auslese. Selbst wenn sie tatsächlich als Satire gedacht war, so war Teddys Vater – diese lächerlich aussehende Gestalt – der falsche Überbringer der Botschaft. Nach Ansicht der Sportskanonen verdiente er ein ähnliches Schicksal wie Ichabod Crane.
Auch Teddys Mutter war groß gewachsen, schlaksig und knochig, und wenn sie neben ihrem Mann stand, wurden sie häufig für Bruder und Schwester gehalten, nicht selten sogar für Zwillinge. Ihr auffälligstes Merkmal war ein hervorstehendes Brustbein, auf das sie unentwegt tippte, als wäre sie von chronischem Sodbrennen geplagt. Wenn die Menschen das sahen, wichen sie häufig vor ihr zurück, für den Fall, dass das, was sie da zu unterdrücken versuchte, plötzlich hervorbrechen sollte. Doch schlimmer als all das war es für Teddy, dass seine Eltern einander genau so zu sehen schienen, wie der Rest der Welt sie sah, obgleich die Tatsache, dass Teddy existierte, vermuten ließ, dass es mal eine Zeit gegeben haben musste, als dies anders war. Sich ihrer mangelnden physischen Attraktivität überaus bewusst, schienen sie dies mit ihrer ausgeprägten Sensibilität zu kompensieren, ihrer beider Fähigkeit, mit herrlicher Schärfe ihre diversen unerschütterlichen Ansichten kundzutun, leider genau die Gabe, die den armen Ichabod Crane in den Untergang getrieben hatte.
Von früh an spürte Teddy, wie verschieden er von anderen Kindern war, und fand sich klaglos mit seinem einsamen Schicksal ab. »Sie mögen dich nicht, weil du so intelligent bist«, erklärten seine Eltern ihm, obwohl er ihnen gar nicht erzählt hatte, dass er nicht gemocht wurde, nur dass er sich irgendwie anders fühlte, so als wäre an alle anderen Jungs eine Art Handbuch zur Kindheit verteilt worden, nur an ihn nicht. Weil seine Versuche, sich so zu geben wie sie, häufig mit irgendeiner Verletzung endeten, blieb er meistens zu Hause, wo er in Sicherheit war, und las Bücher, was seinen Eltern gefiel, denen nicht der Sinn danach stand, hinter ihm herzulaufen oder sich auch nur zu fragen, wo er gerade steckte. »Er liest so gern«, pflegten sie zu anderen Eltern zu sagen, die sich über Teddys gute Noten wunderten. Las er tatsächlich so gern? Teddy war sich da nicht so sicher. Seine Eltern waren stolz, keinen Fernseher zu besitzen, was also hätte er in Ermangelung an Spielkameraden sonst tun sollen? Sicher, er las lieber, als dass er sich einen Knöchel verstauchte oder einen Finger brach, aber das allein machte das Lesen nicht zu einer Leidenschaft. Seine Mutter und sein Vater freuten sich auf den Tag, an dem sie in den Ruhestand gehen würden und statt Aufsätze zu benoten, nichts anderes mehr tun würden, als zu lesen, während Teddy hoffte, es würde sich irgendeine andere Beschäftigung auftun, die Spaß machte, aber nicht in irgendeiner Art Verletzung mündete. Bis dahin würde er, na ja, lesen.
In der neunten Klasse der Highschool passierte etwas Seltsames: ein unerwarteter Wachstumsschub, bei dem er mehrere Zentimeter in die Höhe schoss und dreißig Pfund zunahm. Quasi über Nacht war er einen Kopf größer geworden und hatte plötzlich sogar sehr viel breitere Schultern als sein Vater. Aber noch erstaunlicher war, dass er sich mit einem Mal als begabter, eleganter Basketballspieler entpuppte. In der zehnten Klasse konnte er den Ball dunken – als einziger Junge des Teams –, und sein Sprungwurf war angesichts seiner Größe quasi nicht abzublocken. Er schaffte es in die offizielle Schulmannschaft und war der Topscorer, bis sich herumsprach, dass er nicht gern attackierte. Wenn er angerempelt wurde, zog sich Teddy zurück, und ein gut platzierter Ellbogenstoß in die Rippen hielt ihn davon ab, den Paint zu betreten, wo er als Power Forward hingehörte, wie man ihm gesagt hatte. All das brachte seinen Trainer so zur Weißglut, dass er selbst Teddys Sprungwurf als feiges Manöver verhöhnte, auch wenn die Mannschaft bei Rückständen zwischen zwölf und fünfzehn Punkten regelmäßig darauf angewiesen war, dass er ihn absolvierte. »Du musst dir den Ball erkämpfen!«, brüllte er Teddy an, wenn dieser am oberen Teil der Zone herumlungerte und geduldig auf seine Gelegenheit zum Wurf wartete. »Sei ein Mann, du verdammte Pussy!« Als Teddy dennoch weiterhin keine Neigung zum Körpereinsatz zeigte, wies der Coach einen von Teddys Mannschaftskameraden an, ihn im Training aggressiv anzugehen, in der Hoffnung, ihn auf diese Weise abzuhärten. Nelson war einen Kopf kleiner, aber kräftig gebaut, und es bereitete ihm eine enorme Genugtuung, Teddy aus dem Gleichgewicht zu bringen, wenn er bei einstudierten Spielzügen über die Lane schnitt. Wenn sich Teddy beschwerte, dass Nelson ihn gefoult habe, blaffte der Trainer ihn an: »Dann foul halt zurück!« Natürlich weigerte sich Teddy.
In der Tat genoss Nelson die ihm auferlegte Aufgabe, seinen Mannschaftskameraden abzuhärten, so sehr, dass er auch dazu überging, ihn in den Pausen auf den Fluren an die Garderobenspinde zu stoßen und seine Bücher zu verstreuen. »Brom Bones!«, sagte sein Vater, der die Parallele zwischen der Literatur und dem echten Leben erkannte, als Teddy ihm erzählte, was ihm widerfuhr. Das Einzige, was er in diesem Fall tun könne, so sein Vater, sei, die Mannschaft zu verlassen und auf diese Weise dem Stereotyp des amerikanischen Mannes als hirnlose Sportskanone eine Absage zu erteilen. Teddy sah das anders. Er liebte Basketball und wollte es ohne Körperkontakt spielen, genau wie dieser Sport den Regeln und seinem persönlichen Empfinden nach gespielt gehörte. Er wollte den Ball am oberen Ende der Zone in Empfang nehmen, sich mit einem Schulter-Fake mögliche Verteidiger vom Hals halten, herumwirbeln und seinen Sprungwurf ausführen. Das Geräusch, das der Ball machte, wenn er durch das Netz sauste, ohne den Rand zu berühren, war so ziemlich das Perfekteste, was er in seinem jungen Leben bislang erlebt hatte.
Wie nicht anders zu erwarten, nahm seine Schulmannschaftskarriere ein abruptes Ende, und hätte Teddy es vorausgesehen, hätte er vermutlich den Rat seines Vaters befolgt und sie aus freien Stücken aufgegeben. Als er eines Nachmittags im Training zu einem Rebound hochschnellte, rempelte Nelson ihn von schräg unten her an, sodass Teddy umgerissen wurde und auf dem Steißbein landete. Mit dem Ergebnis, dass er sich einen Haarriss an einem Wirbel zuzog, wobei die Verletzung laut Arzt weitaus schlimmer hätte ausfallen können. Jedenfalls war Teddy für den Rest der Spielsaison außer Gefecht.
Zu den Dutzenden Büchern, die er während seiner Genesung in diesem Frühling und Sommer durchpflügte, zählte auch Thomas Mertons Der Berg der sieben Stufen, das ihm aus irgendeinem Grund das gleiche Gefühl bescherte wie sein Sprungwurf. Als er das Buch zu Ende gelesen hatte, fragte er seine Eltern – die beide nicht religiös waren –, ob er in die Kirche gehen könne. Ihre zu erwartende Antwort lautete, sie hätten nichts dagegen, solange er nicht erwarte, dass sie ihn begleiteten. Sonntagmorgens pflegten sie die New York Times zu lesen.
Weil Merton ein Trappistenmönch war, versuchte es Teddy zunächst in der katholischen Kirche, aber der Priester, der den Gottesdienst hielt, war jemand, den sein Vater auf Anhieb als Antiintellektuellen ausgemacht hätte, als Trottel. Darüber hinaus hätte er nicht weiter entfernt vom mönchischen Ideal sein können, also versuchte es Teddy als Nächstes bei der unitarischen Kirche eine Querstraße weiter. Dort hielt eine Princeton-Absolventin den Gottesdienst. In vielfacher Hinsicht erinnerte sie Teddy an seine Eltern, außer dass sie ihm aufrichtiges Interesse entgegenzubringen schien. Sie war hübsch und kein bisschen knochig, und natürlich verliebte er sich in sie. Da er noch immer unter Mertons Bann stand, versuchte er, diese Liebe zunächst rein zu halten, aber fast jeden Abend beim Einschlafen ertappte er sich bei der Vorstellung, wie sie wohl unter ihrem Talar aussah, etwas, was Merton wohl kaum getan hätte. Als sie in eine andere Gemeinde versetzt wurde, war er untröstlich und erleichtert zugleich.
In seinem letzten Highschool-Jahr bekam er grünes Licht, das Basketballtraining wiederaufzunehmen, tat dies aber nicht, was seinen Trainer dazu brachte, erneut Pussy vor sich hin zu murmeln, wann immer sie sich in der Aula über den Weg liefen. Oder aber Sissy, Teddy war sich nie ganz sicher, welches Wort er gerade verwendete. Er war selbst überrascht, als er merkte, dass es ihm ziemlich egal war, was der Trainer über ihn dachte, wobei es ihm schon ein kleines bisschen etwas ausgemacht haben musste: Denn in jenem Sommer, kurz bevor Teddy sein Studium am Minerva beginnen sollte, brachte es der Trainer fertig, beim Versuch, einen zwischen der Klinge und dem Rahmen seines Rasenmähers steckenden Stock freizubekommen, ohne zuvor den Motor auszuschalten, ausgerechnet die Kuppe seines Zeigefingers abzurasieren, den er immer als seinen »Pussyfinger« bezeichnet hatte. Und als Teddy das hörte, musste er unwillkürlich lächeln, auch wenn er prompt Schuldgefühle bekam. Er hatte seinen Zulassungsessay fürs College über Merton geschrieben und bezweifelte, dass sich der Mönch am Leiden eines anderen Menschen ergötzt oder sich, so wie Teddy kürzlich, nächtelang der Vorstellung hingegeben hätte, wie eine unitarische Pfarrerin wohl unter ihrer Amtstracht aussah. Andererseits war Merton der fraglichen Pfarrerin nie begegnet und war vor seiner Konversion allem Anschein nach ein ziemlicher Hallodri gewesen. Außerdem, sinnierte Teddy weiter, gab es keinen Grund anzunehmen, dass Gott keinen Sinn für Humor hatte. Zwar mischte er sich nicht in die Angelegenheiten der Menschen ein oder veranlasste sie auch nicht, auf bestimmte Weise zu handeln, hatte man Teddy erklärt, aber als der Trainer auf diese Weise die Kuppe seines »Pussyfingers« eingebüßt hatte, musste das auch ihm ein Lächeln abgerungen haben.
Mickey Giradi stammte aus einem rauen Arbeiterviertel in West Have, Connecticut, das für seine Bodybuilder, Harleys und bunten Straßenfeste bekannt war. Er hatte irisch-italienische Eltern, sein Vater, Michael sen., war Bauarbeiter und seine Mutter Sekretärin bei einer Versicherungsagentur, und beide waren mit dem festen Willen, sich zu assimilieren, ausgestattet. Sie waren stramme Patrioten, nicht nur am 4.Juli. Ein Zweiter-Weltkriegs-Veteran, hätte sein Vater vom GI-Wiedereingliederungsprogramm profitieren und studieren können, aber er kannte jemanden, der ihm zu einer Mitgliedschaft in der Rohrlegergewerkschaft verhelfen konnte, und das, dachte er, sei besser. Mickey war das jüngste von acht Kindern, die anderen sieben waren alles Mädchen, weswegen er in vielerlei Hinsicht heillos verwöhnt wurde – Anziehsachen wurden eigens für ihn gekauft, von Anfang an hatte er ein eigenes Zimmer. Es war zwar kaum größer als ein Wandschrank, aber immerhin. Das Haus war geräumig, und das musste es auch sein, aber bescheiden, es lag nur drei Querstraßen hinter dem Strand, was im Sommer großartig war, weil vom Meer her immer eine leichte Brise wehte. Aber wenn der Wind drehte, hatte man das Gefühl, direkt unter der Interstate zu wohnen, so ohrenbetäubend war der Verkehrslärm. Zu den sonntäglichen Abendessen hatte man zu Hause zu sein und wehe, wenn nicht. Es gab stets Spaghetti mit Würstchen, Hackfleischbällchen und in Tomatensoße geschmorte Schweineschulter. Alles nach dem Rezept von Mickeys Großmutter väterlicherseits, das sie nur widerwillig an die irische Schwiegertochter weitergereicht hatte, wobei sie zwei, drei Schlüsselzutaten ausgelassen hatte, damit man den Unterschied merkte. Zuerst die Familie, dann Amerika – oder vielleicht auch umgekehrt damals, man musste all den schmuddeligen Langhaarigen, die ständig ihr idiotisches Peace-Zeichen machten, doch etwas entgegensetzen –, dann kam lange nichts.
In Mickeys Fall kam zuerst die Musik. Sein erster Job bestand darin, den kleinen Musikladen auszufegen, in dessen Schaufenster er eine Fender Stratocaster gesehen hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick, und nach der E-Gitarre musste ein Akustikverstärker her. Mit dreizehn spielte er in einer Band. Mit sechzehn trieb er sich in schmuddeligen Bars in New Haven herum und hing mit älteren Typen ab, deren Freundinnen keine BHs trugen und auf diese Tatsache gern hinzuweisen schienen, indem sie sich vor Mickey nach vorn beugten – später sollte er mit Lincoln und Teddy flachsen, er habe 1965 quasi einen Dauerständer gehabt. »Wehe, ich erwische dich, wie du mit diesen Typen Drogen nimmst«, warnte sein Vater ihn, »dann bist du der erste Jugendliche in Amerika, der mit einer Fenson-Gitarre zu Tode geprügelt wurde.«
»Fender«, korrigierte Mickey ihn.
»Bring sie her, du Klugscheißer. Dann erledigen wir’s gleich. Und sparen uns Zeit.«
So ziemlich das Letzte auf der Welt, das Mickey tun wollte, war, aufs College zu gehen. Er war immer ein mittelmäßiger bis miserabler Schüler gewesen, aber seine Schwestern besuchten alle ein College, und College war das, was seine Mutter für ihre Kinder wollte. Also würde er eben auf ein Community College gehen und zu Hause wohnen bleiben. »MrEasy«, nannte seine Mutter ihn. Immer den Weg des geringsten Widerstands gehen. Vermutlich hatte sie recht, dachte Mickey. Besonders ehrgeizig war er in der Tat nicht. Aber andererseits konnte er auch nicht einsehen, was so falsch daran war, wenn man in West Haven bleiben wollte. Nachdem seine Schwestern alle aus dem Haus waren, gab es genug Platz, abgesehen von Sonn- und Feiertagen.
Doch leider musste man auch für ein Studium an einem Community College den SAT, diesen Studierfähigkeitstest, bestehen, also begab sich Mickey eines Sonntagmorgens in das Testzentrum. Da er seine Mutter nicht enttäuschen wollte, indem er aufgrund miserabler Testergebnisse selbst von einem Community College abgewiesen würde, verzichtete er am Vorabend auf einen Auftritt mit seiner Band und nahm sich tatsächlich eine Mütze voll Schlaf. Es wenigstens zu probieren würde ihn ja nicht umbringen, dachte er. Außerdem kostete ein Studium am Community College nicht viel, und wenn er noch ein bisschen was dazuverdiente, seine Bücher selbst bezahlte und noch ein paar weitere Ausgaben selbst stemmte, würde sein Vater ihn eher sein Ding machen lassen.
An dem Tag, als die Ergebnisse eintrafen, empfing seine Mutter ihren Mann an der Tür. »Schau dir das an«, sagte sie und deutete auf den Schrieb mit den Testergebnissen ihres Sohnes. Er gehörte zu den besten zwei Prozent aller Testabsolventen. »Der Junge ist hochintelligent!«
Da Mickey der einzige Junge im Zimmer war, blickte sich sein Vater zunächst um, um sich zu vergewissern, ob sich nicht vielleicht noch einer irgendwo versteckte. »Welcher Junge?«
»Na der da, dein Sohn!«
Sein Vater kratzte sich am Kopf. »Du meinst den?«
»Ja, unseren Michael.«
Sein Vater sah sich die Testergebnisse genau an, dann musterte er seine Frau, dann Mickey, dann wieder seine Frau. »Okay«, sagte er schließlich. »Raus mit der Sprache: Wer ist sein Vater? Das frag ich mich nämlich schon lange.«
Am nächsten Tag versuchte Michael sen. noch immer, sich einen Reim darauf zu machen. »Komm, wir gehen eine Runde spazieren«, sagte er und legte seine fleischige Pranke auf Mickeys Schulter. Als sie eine Querstraße weiter und außer Hörweite waren, sagte er: »Na gut, pack aus, ich verspreche dir auch, dass ich nicht wütend werde. Wen hast du dazu gekriegt, den Test für dich zu machen?«
Mickey spürte, wie sein linkes Auge zuckte. »Weißt du was, Pop?«, begann er.
»Sag es nicht«, warnte sein Vater ihn.
»Leck mich«, sagte Mickey und vervollständigte damit seinen Gedanken.
Michael sen. blieb stehen und warf ratlos die Arme hoch. »Du hast es so gewollt.« Dann schlug er seinem Sohn so fest auf den Hinterkopf, dass diesem die Tränen in die Augen schossen. »Und jetzt hilf mir. Ich will es doch bloß verstehen. Du behauptest also, mit diesem Test hat alles seine Richtigkeit?«
Mickey nickte.
»Du behauptest, du bist wirklich so schlau.«
»Ich behaupte gar nichts.«
»Das heißt also, du hättest all die Jahre gute Noten mit nach Hause bringen und deine Mutter glücklich machen können?«
Mickey hatte das Gefühl, dass, wenn man die Dinge in diesem Licht betrachtete, das Ergebnis des SAT-Tests ein bisschen von seinem Glanz verlor. Er zuckte mit den Schultern.
»Was haben wir bloß falsch gemacht?«, sagte sein Vater, mehr zu sich selbst als zu seinem Sohn. »Wir sind mit den Mädchen doch so gut gefahren.«
»Tut mir leid.«
»Okay, nun hör mal gut zu. Denn genau so wird’s gemacht: Du gehst aufs College und schlägst dich dort wacker. Keine Diskussionen. Entweder du machst deine Mutter stolz, oder du brauchst dich nicht mehr zu Hause blicken zu lassen.«
Mickey setzte zu einem Protest an, merkte dann aber, dass er sich nicht sicher war, ob er überhaupt widersprechen wollte. Er war immer noch dabei, die erstaunlichen SAT-Ergebnisse zu verarbeiten, und hatte begonnen, über das Community College hinauszudenken. Da sich sein gutes Abschneiden bei dem Test auch in seiner Schule herumgesprochen hatte, waren mehrere Lehrer der West Haven Highschool auf ihn zugekommen. »Hey, wer hätte das gedacht?«, meinten sie. Und statt seinem Vater zu widersprechen, fragte er jetzt: »Kann ich Musik als Hauptfach nehmen?«
Sein Vater schaute in den Himmel, dann ihn an. »Warum musst du immerzu dein Glück herausfordern?«
»Also darf ich? Musik als Hauptfach nehmen?«
»Meinetwegen«, erwiderte Michael sen. »Nimm von mir aus die Fenson-Gitarre als Hauptfach.«
Mickey war drauf und dran, ihn zu korrigieren, ließ es dann aber sein. Denn sein Vater hatte recht: Er forderte tatsächlich immer sein Glück heraus.
Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sich ausgerechnet diese drei Jungen in ein und demselben Apartment am Minerva College an der Küste von Connecticut wiederfinden würden? Man muss nur an einem Faden des Gewebes, aus dem ein menschliches Schicksal besteht, ziehen, und alles löst sich auf. Wobei man vielleicht auch sagen könnte, dass es so oder so die Neigung hat, sich aufzulösen.
Lincoln
September war der beste Monat auf der Insel. Der Großteil der Urlauber war weg, die Strände waren leer, der Ozean hatte noch immer eine angenehme Temperatur. In den Restaurants musste man keinen Tisch mehr reservieren. Nach dem Labor Day kehrten sämtliche Politiker wieder nach D.C. zurück und die linksgerichteten Hollywood- und Medienleute nach L.A. und New York. Auch die selbstgefälligen, privilegierten Verbindungsstudenten reisten ab, von denen sich viele als Demokraten wähnten, aber, wenn die Zeit gekommen war, garantiert zu Mainstream-Republikanern mutieren würden. Lincolns Makleragentur in Las Vegas – oder besser gesagt das, was nach der großen Rezession noch davon übrig war – bestand zur Hälfte aus Leuten, die zu Studentenzeiten in den Sechzigern und Siebzigern langhaarige Haschischraucher und Antivietnamprotestierer gewesen waren. Jetzt waren sie allesamt stramme Konservative, jedenfalls strammere als Lincoln selbst. Nachdem er zeitlebens Republikaner gewesen war, fiel es Lincoln mittlerweile schwer, sich im politischen Spektrum wiederzufinden. Hillary zu wählen kam für ihn nicht infrage, aber wenn nicht sie, wen dann? In Iowa waren noch ein Bäckersdutzend der Kandidaten der Grand Old Party im Rennen – einige davon ausgewiesen dumm, andere benahmen sich zumindest so. Na ja, vielleicht John Kasich, mal sehen, dachte er. Lieber ein Langweiler als ein Dummschwätzer, das war Eisenhower seinerzeit ja auch.
Wie auch immer, jedenfalls tat es gut, sich ein paar Tage nicht mit Politik beschäftigen zu müssen. Lincoln zweifelte keine Sekunde daran, dass Teddy, der am nächsten Tag ankommen würde, noch immer ein zotteliger Linker war, die Frage war nur, ob er zum Clinton- oder Sanders-Lager gehörte. Und Mickey? Ob der überhaupt wählen ging? Es war vermutlich keine schlechte Idee, in ihren Gesprächen einen großen Bogen um Vietnam zu machen. Der Krieg war nun schon seit Jahrzehnten vorbei, aber doch nicht ganz, jedenfalls nicht für Männer ihres Alters. Es war ihr Krieg gewesen, ob sie nun gedient hatten oder nicht. Auch wenn sein Gedächtnis in letzter Zeit immer löchriger wurde, erinnerte sich Lincoln noch lebhaft an jenen Abend im Jahr 1969, als sich die Kellner und Küchenhilfen in ihrem Aufenthaltsraum im Theta House versammelt hatten, um vor einem winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher, den jemand eigens für den Anlass hereingestellt hatte, die Einberufungslotterie zu verfolgen. Hatten sie um Erlaubnis gebeten, sich das Ereignis vor dem großen Fernseher im vorderen Aufenthaltsraum anzuschauen? Wohl kaum. Zwar hatten die sozialen Schranken innerhalb der Verbindungen genau wie viele andere Konventionen zu erodieren begonnen, sonst hätten die Aushilfen nicht regelmäßig freitagnachmittags ihre Partys abhalten können, aber in mancher Hinsicht waren sie dann doch noch unerwartet robust. Die Hilfskräfte betraten das Haus nach wie vor durch den Hintereingang. Aber davon abgesehen betraf die Lotterie ja auch gar nicht die Theta-Studentinnen, sondern Lincoln und Teddy und Mickey und ihresgleichen. Acht junge Männer, über deren Schicksal an jenem Abend entschieden wurde. Zwar waren ein paar von ihnen mit Theta-Studentinnen liiert – so wie Lincoln im Jahr darauf mit Anita – und hatten vor, ihre Mädels später am Abend noch zu treffen, aber die Lotterie verfolgten sie dennoch nicht vor dem großen Farbfernseher im vorderen Aufenthaltsraum, sondern vor diesem mickrigen Apparat in ihrem Hinterzimmer, und dort gehörten sie nun mal hin, genau wie der Krieg auch.
Sie hatten aus der Veranstaltung eine Party gemacht und ein paar Dollar zusammengeworfen, um einen Kasten Bier zu kaufen – was natürlich streng verboten war, aber sie wussten, die Köchin würde nicht petzen, nicht an diesem Abend. Die Regel lautete, dass man erst mit dem Trinken anfangen durfte, wenn der eigene Geburtstag gezogen worden war und man wusste, welches Schicksal einem blühte. Zuerst kam Mickeys Geburtstag dran, schockierend früh. Mit der Nummer neun. Wie kam es, dass sich Lincoln an dieses Detail erinnerte, wo die Zeit doch so vieles andere in der Mülltonne des Gedächtnisses entsorgt hatte? Er entsann sich auch, wie sein Freund aufgestanden war und die Arme wie ein siegreicher Boxer hochgerissen hatte, als hätte er genau auf diesen Ausgang gehofft. Nachdem er zu der Blechwanne hinübergegangen war, sich ein Bier aus dem Eis gefischt und den Kronkorken entfernt hatte, leerte er die Flasche zur Hälfte. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum weg, grinste und sagte: »Tja, Jungs, ihr müsst inzwischen einen ganz schön trockenen Mund haben.« Lincoln erinnerte sich, wie er kurz zu Teddy geschaut und gesehen hatte, dass jede Farbe aus seinem Gesicht gewichen war.
Was er jedoch überhaupt nicht mehr wusste, war, wie er selbst sich verhalten hatte. Hatte er mit eingestimmt, als sie Mickey ein Ständchen brachten, und zwar die kanadische Nationalhymne? Hatte auch er über die abscheulichen Witze gelacht (»War nett, dich kennengelernt zu haben, Mick«), die die anderen vom Stapel ließen? Verschwommen meinte er sich zu erinnern, wie er Mickey beiseite genommen und zu ihm gesagt hatte: »Hey, Kumpel, bis dahin ist noch jede Menge Zeit.« Denn selbst jene, deren Geburtstag vor Mickeys gezogen worden war, würden wahrscheinlich erst in ein paar Monaten von ihrem Einberufungsbüro hören, und College-Studenten durften ohnehin ihr akademisches Jahr beenden. Den Studenten im dritten Jahr, die sich bislang nichts hatten zuschulden kommen lassen – wie Lincoln, Teddy und Mickey –, würde man wahrscheinlich sogar erlauben, ihr Examen abzulegen, ehe sie zum Dienst antreten müssten. Vielleicht war bis dahin der Krieg ja vorbei oder wenigstens im Begriff, zu Ende zu gehen.
Später an diesem Abend rief Lincoln zu Hause an und hoffte, seine Mutter würde drangehen, aber natürlich nahm sein Vater ab. »Wir haben auch zugesehen«, sagte er, und seine Fistelstimme wurde durch die blecherne Klangqualität der Fernverbindung noch betont. »Ich habe schon deiner Mutter gesagt, weiter als bis zur Nummer hundertfünfzig werden sie nicht einziehen.« Wie immer gab sein Vater seine Meinung zum Besten, als handelte es sich um eine unumstößliche Wahrheit.
»Ja, es sei denn, du liegst falsch, und sie tun es doch«, sagte Lincoln, gewiss ermutigt durch die Tatsache, dass er fast fünftausend Kilometer weit von seinem Vater entfernt war.
»Aber ich lieg nicht falsch«, versicherte Dub-Yay ihm, vermutlich um seinen Sohn zu beschwichtigen, wobei Lincoln sich manchmal fragte, ob die dezidierten Ansichten seines Vaters nicht einem anderen, undurchsichtigeren Zweck dienten. Seit seine Mutter ihn über die wahre finanzielle Situation der Familie aufgeklärt hatte, brachten ihn die Erklärungen seines Vaters zusehends auf die Palme. »Und, wie ist es den anderen beiden Vollpfosten so ergangen?«, wollte Dub-Yay wissen. (Lincoln hatte seinen Eltern erklärt, dass er und Teddy und Mickey, die so ganz anders waren als die typischen reichen Privatschulabsolventen am Minerva, sich spaßeshalber als »Die drei Musketiere« bezeichneten, worauf sein Vater prompt gemeint hatte: »Ich würde wohl eher sagen: ›die drei Vollpfosten‹.«)
Lincoln schluckte, dann sagte er: »Mickey hat’s erwischt. Mit der Nummer neun.«
»Es ist ein dummer Krieg«, sagte sein Vater in zustimmendem Ton. »Aber deine Kriege kannst du dir nicht aussuchen.«
Lincoln vermutete, dass er recht hatte, aber es ärgerte ihn, dass sein Vater so salopp daherredete, wo doch ein Freund von ihm betroffen war. »Was würdest du sagen, wenn ich nach Kanada auswandere?«, fragte er aufs Geratewohl.
»Nichts, rein gar nichts.« Diese Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, als hätte Dub-Yay die Frage kommen sehen, bereits ernsthaft darüber nachgedacht und, wie immer, begierig darauf gewartet, seine Meinung zu verkünden. »Wenn du das tun würdest, wärst du nicht mehr mein Sohn und wir hätten keinen Kontakt mehr. Ich habe dich nicht nach Abraham Lincoln getauft, damit aus dir ein Drückeberger wird. Und wie ist es Bruder Edward ergangen?«
Das war sein Spitzname für Teddy, der sie in diesem Sommer in Dunbar besucht hatte. Lincolns Mutter mochte ihn auf Anhieb, aber Dub-Yay war nicht sonderlich beeindruckt von ihm. Es war eine von W.A. Mosers festen Überzeugungen, dass man bei einer einzigen Golfrunde alles über den Charakter eines Mannes erfuhr, was man wissen musste, und seine Meinung über Teddy stand bereits am ersten Loch fest, nachdem dieser es versäumt hatte, sich seiner Armbanduhr zu entledigen.
Nichts bereitete Wolfgang Amadeus mehr Vergnügen, als aus einem Sandkorn Rückschlüsse auf die ganze Welt zu ziehen. Im Nachhinein bezweifelte Lincoln, dass die Armbanduhrepisode etwas mit Dub-Yays Vorbehalten gegenüber seinem Freund zu tun hatte. Wahrscheinlicher war, dass Teddy etwas über den Krieg gesagt hatte, was Lincolns Vater provozierte, oder eine Bemerkung bezüglich der Tatsache hatte fallen lassen, dass alle Mitglieder des Dunbar Country Clubs weiß waren, das Personal jedoch aus lauter Latinos bestand.
»Teddy ist in Sicherheit«, sagte Lincoln. »Nummer dreihundertirgendwas.«
»Umso besser. Ich kann mir nicht vorstellen, was man mit diesem Jungen in einem Krieg anfangen sollte.« Oder sonst irgendwo, schien er andeuten zu wollen.
Hatte Lincoln während dieses Telefonats auch mit seiner Mutter gesprochen? Im Hinblick auf diese Frage verweigerte ihm sein Gedächtnis ebenfalls den Dienst.
In Lincolns Erinnerung eingebrannt hatte sich hingegen der Moment, als die drei Musketiere aus dem Theta House hinaustraten und bemerkten, wie ihr schöner d’Artagnan in der Dezemberkälte hinter dem Haus zitterte. Und dann war da dieser beschämende Gedanke – »Du Glückspilz!« –, der ihm ungebeten durch den Kopf geschossen war, als die Frau, in die alle drei verliebt waren, einen überraschten Mickey in die Arme nahm und ihn fest an sich drückte. Er brauchte Teddy nur anzusehen, um zu wissen, dass er das Gleiche dachte.