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London, 1854: Der Krieg tobt, aber der Adel tanzt! Während Tausende Luftschiffe verfeindeter Nationen verbissen um die Vorherrschaft am Himmel über Europa ringen, vergnügt sich die feine Gesellschaft Londons am Tanzparkett rauschender Ballnächte. Gin, Champagner und Cognac fließen in Strömen; es wird getanzt und gebalzt, sei es für den Heiratsmarkt oder die widerwillig gebilligten Begierden französischer Gäste. Junge Damen taktieren auf der Jagd nach einer standesgemäßen Verlobung und je höher ihr gesellschaftliches Ansehen, desto besser ihre Karten. Eine denkbar ungünstige Ausgangssituation für Shiara Kirwashi. Nicht nur ist sie als uneheliche Tochter von Lord Lockerby, als Bastardin des Flaggenoffiziers, kaum mehr wert als eine Kammerdienerin, nein, das indische Blut ihrer Mutter verleiht ihr jenen exotischen Reiz, der sie in den Augen britischer Männer zwar begehrenswert, aber nicht heiratswürdig macht. All dies kümmert sie herzlich wenig – denn sie hat sich in den Kopf gesetzt, die erste Luftoffizierin Ihrer Majestät zu werden. Aber selbst als der Feind über die Hauptstadt hereinbricht und Pulverdampf den Himmel über London verfinstert, ahnt die junge Kadettin nicht, welches Grauen noch auf sie wartet …
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Seitenzahl: 274
Ivan Ertlov
AndroSF 162
Ivan Ertlov
JENSEITS DER HOFFNUNG
AndroSF 162
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: August 2023
p.machinery Michael Haitel
Titelbild & Illustrationen: Detlef Klewer
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 317 8
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 787 9
Ich erkenne die Darug als erste Völker und traditionelle Bewahrer des Landes an, auf dem ich lebe und arbeite. Ich erweise ihren Ältesten – den Vergangenen, den Heutigen und den Künftigen – meinen Respekt, meine Dankbarkeit und meine Anerkennung.
15. August 1827:
Der Kölner Schmiedemeister und Erfinder Hans Kreissler stellt eine neuartige Dampfmaschine vor. Basierend auf von ihm ausgetüftelten Legierungen und der Schweizer Entwicklung des Kohlestaub-Verdichters ermöglicht der Kreissler-Kessel deutlich leichtere und gleichzeitig leistungsstärkere Dampfmaschinen. Lizenzen werden vergeben, Kreisslers Erfindung geht in wenigen Monaten um die Welt. Die industrielle Revolution beschleunigt sich.
8. März 1831:
Captain Lord Lockerby steuert die mit einem Kreissler-Kessel nachgerüstete Fregatte Unicorn von London nach Bombay, wo er das Amt eines Militärattachés und Verbindungsoffiziers zu den Maharadschas übernimmt. Er lässt seine Gattin Lady Elenor Lockerby in der britischen Heimat zurück, offiziell, um seine Ländereien zu verwalten.
1. Jänner 1834:
Der Deutsche Zollverein wird gegründet. Das Königreich Preußen übernimmt durch eine geschickt in das Vertragswerk eingebrachte Formalität die Vorherrschaft und wird zur dominierenden Macht Kontinentaleuropas. Das Deutsche Reich wird ausgerufen. Die Habsburger schließen als Gegengewicht den sogenannten Alpenpakt mit den italienischen Adelshäusern.
9. Februar 1835:
Lord Lockerby trifft Arusha Kirwashi, die Tochter des Maharadschas von Aurangabad.
5. Juni 1836:
Shiara Kirwashi, die Tochter von Lord Lockerby und Arusha Kirwashi, wird in Aurangabad (britische Kronkolonie Indien) geboren. Die britische Gesellschaft erfährt nichts davon, der Skandal bleibt unter Verschluss.
12. September 1837:
Jungfernfahrt des ersten Starrluftschiffes Amélie. Gebaut von Friedrich Jerôme Wilhelm Karl Graf von Zeppelin, finanziert von seinem Schwiegervater und benannt nach seiner Gattin. Die Amélie schafft den Flug von Genf nach Berlin in zwanzig Stunden und zwölf Minuten. Sie erweckt damit das Interesse des Militärs in allen europäischen Staaten.
5. April 1839:
Stapellauf der Brandenburg und der Hohenzollern, der ersten militärischen Luftschiffe der Menschheitsgeschichte. Der Volksmund verwendet für die neuen Erscheinungen am Himmel jedoch das Wort Zeppeline, benannt nach ihrem Erfinder.
1. März 1840:
Die Royal Air Navy wird als britische Luftstreitmacht per Dekret Ihrer Majestät Königin Victoria aus der Taufe gehoben und von Westminster bestätigt.
3. Juli 1842:
Arusha Kirwashi stirbt bei einem monsunverursachten Erdrutsch in der Nähe von Cherrapunji (britische Kronkolonie Indien). Ihre mitreisende Tochter Shiara bleibt wie durch ein Wunder unverletzt.
4. Dezember 1842:
Lord Lockerby trifft in London ein. Seine ihn begleitende außereheliche Tochter ist ein Skandal in der britischen Gesellschaft, verhindert aber nicht seine Beförderung zum Commodore und stellvertretenden Oberkommandanten der Luftstreitkräfte im Frühjahr 1843.
5. November 1848:
Auch der Blutige Sonntag genannt. Nach zahlreichen Übergriffen französischer Revolutionäre auf deutsche Ortschaften im Grenzgebiet entsendet der Deutsche Bund eine Luftstreitkraft nach Frankreich, die Befestigungsanlagen und Städte bombardiert. Erst kurz vor Paris treffen sie auf Widerstand in Form französischer Kriegsmontgolfieren, die fliegenden Kanonentürme, und ziehen sich ohne größere Verluste zurück.
12. Dezember 1849:
Napoleon III. wird zum Kaiser von Frankreich gekrönt.
September 1851:
Der sogenannte preußische Befreiungsschlag. Eine Reihe von Luftschlägen und schnellen Bodenoffensiven zwingt die Habsburger Monarchie und das Königreich Sardinien-Piemont in die Knie. Sowohl der junge Kaiser Franz Joseph als auch Viktor Emanuell II., nun König des vereinigten Italiens, unterwerfen ihre Reiche dem Deutschen Bund und der preußischen Führung.
21. Dezember 1852:
Nach einem Streit um die Preisaufschläge für Kolonialgüter erklärt der Deutsche Bund Großbritannien den Krieg, die Weihnachtsoffensive beginnt. Preußische und österreichische Luftschiffe dringen in britischen Luftraum ein und bombardieren die Küstenforts als Vorbereitung für eine mögliche Invasion im Frühjahr.
12. Februar 1853:
Auf geheimes Drängen des schwedischen Königshauses erklärt Frankreich wiederum Deutschland den Krieg und eröffnet eine zweite Front, die eine Invasion Großbritanniens vorläufig unmöglich macht. Der Konflikt breitet sich über den Erdball aus, tobt an Land, auf hoher See und erstmals auch in der Luft. Kolonien in aller Welt werden Opfer von Überfällen und Attacken der jeweils feindlichen Mächte.
16. Juni 1853:
Notgedrungen erlässt Königin Victoria das »Militärische Toleranzpatent«, eine heftig umstrittene Deklaration mit dem Wortlaut: »Wer willens und fähig ist, das Land zu verteidigen, dem darf dies nicht verwehrt werden, ungeachtet der Herkunft, der Religion und des Geschlechts.« Westminster erklärt, dass dies für alle Teilstreitkräfte und sämtliche Positionen innerhalb des Militärs gilt.
London, 18. Mai 1854
Tausende Facetten perfekt geschliffener Kristalle in gediegenen, goldbeschichteten Kronleuchtern, schickten Millionen huschende, funkelnde Lichterengel auf die Gesellschaft unter ihnen, die sich berauscht von edlem Champagner und kunstvoll vorgetragener Musik im Kreis bewegte. Ganz London tanzte hier – nun, zumindest alles in London, was Rang und Namen hatte, vor allem aber aus altem und neuem Adel stammte. Die Grundpfeiler der Gesellschaft, die erste und zweite Reihe der treuen Untertanen ihrer Königin, blaues Blut, vom einfachen Volk gefürchtet, verehrt und beneidet.
Shiara gehörte nicht zu ihnen, was ihr immer wieder schmerzhaft bewusst gemacht wurde – durch unauffällige Blicke, eine missgünstig, beinahe verärgert gerunzelte Stirn, ein schnelles Wegdrehen oder schlicht die Tatsache, dass sie niemand zum Tanze bat. Nichts davon geschah offensichtlich, vielleicht nicht einmal absichtlich – oh, kein Mann von Adel, keine edle Dame oder gut erzogene Debütantin würde es wagen, die Tochter von Lord Lockerby zu beleidigen.
Die uneheliche Tochter von Lord Lockerby, zumindest glauben dies alle hier. Vergiss niemals deinen wahren Rang – du bist für sie alle nur ein Bastard von vielen.
Für sie alle? Nein, das war eine Übertreibung. Es gab sie sehr wohl, die gelegentlichen Verehrer und mutigen Vorsprecher, bei ihrem Vater und seiner Gemahlin um einen Tee mit der jungen dunkelhäutigen Dame des Hauses bittend. Manche aus niederem Adel, andere aus dem gemeinen Volke, aber diese dann verdiente Offiziere oder die Söhne wohlhabender Händler – allesamt das, was man zumindest im Niederadel eine akzeptable Partie nannte. Die meisten gewiefte Taktiker, kühl darauf kalkulierend, dass ihr Vater sie über kurz oder lang legitimieren lassen würde, sie die einmalige Gelegenheit hatten, die bald offizielle Tochter eines Luftflaggoffiziers und vor allem Lords Ihrer Majestät zum Preis einer namenlosen Landpomeranze, einer vierten Tochter eines Barons von Irgendwo, zu freien.
Andere schienen von ihrem guten Aussehen – oh, da machte sie sich keine Illusionen, sie war in der Tat ein Blickfang, auch wenn sie es in vielen Alltagssituationen lieber verbarg, als zur Schau stellte – und vor allem von ihrer Exotik fasziniert. Ihre Haut, in einem gleichmäßigen, sanften Braunton gehalten, spiegelte nicht nur die Verlockung des indischen Subkontinents wider, nein, sie bildete auch einen auffälligen Kontrast zu dem Kleid, das sie gerade am Leibe trug. Ein Traum aus weißer und gelber Seide, mit Stickereien und Perlenapplikationen, einem perfekt angepassten Unterkleid, dessen Miederschnürung ihr auch ohne Hilfsmittel ansehnliches Dekolleté noch mehr zur Geltung brachte. Mindestens ebenso nobel wie die Kleider der Grafen- und Herzogtöchter, die sich hier im Kreise drehten – und ebenso teuer. Sie wusste, dass jedes Einzelne davon mehr kostete, als die meisten Bewohner Londons in einem Jahr verdienten, und sie wusste, dass ihr genau dieser Gedanke nicht gefiel.
Nicht sie selbst hatte es schneidern lassen, nicht ihr Vater hatte das Geld in die Hand genommen, um sie derart herauszuputzen – nein, es war Lady Elenor Lockerby, seine hochwohlgeborene Gattin gewesen, die ihre Leibschneiderin angewiesen hatte, den Bastard ihres Gemahls für die Ballsaison würdig einzukleiden. Die halbe Oberschicht Londons zerriss sich das Maul darüber, wie großzügig, ja beinahe mütterlich die Lady den illegitimen Nachwuchs ihres Mannes behandelte, mit welch offenen Armen sie den Mischling empfangen hatte, den der Lord von seinen Abenteuern in Indien mit nach Hause gebracht hatte. Böse Zungen führten dies auf die Tatsache zurück, dass sie selbst ihrem Mann noch kein Kind geboren hatte, vielleicht sogar unfruchtbar war. Wohlwollendere Stimmen einigten sich beim Nachmittagstee schlicht darauf, dass Lady Lockerby einfach eine herzensgute Frau war, mit ebenso viel Großzügigkeit wie Scharfsinn gesegnet.
Nun, in diesem Punkt hatten sie recht. Tante Elenor, wie sie von Shiara in der Verschwiegenheit ihres Anwesens genannt wurde, weit weg von neugierigen und niederträchtigen Lästermäulern, war in der Tat nicht nur gebildet und weise, scharfsinnig und vorausschauend – sondern auch eine großzügige, warmherzige Frau, die alles daransetzte, das verlorene Kind Indiens in der Ferne glücklich zu machen.
Aber sie kann deine Mutter nicht ersetzen. Niemals.
Nein, das konnte sie tatsächlich nicht, aber sie hatte sich redlich bemüht, das kleine braune Mädchen, von dem langen Überflug ermüdet und von tiefer Trauer gezeichnet in London angekommen, zu trösten. Ihr ein neues, liebevolles Heim zu geben – in dem das Zusammenleben aber weitaus komplexer war, als es Außenstehende ahnten.
Beinahe so komplex, wie sich jenes Geschehen im Ballsaal unter Shiara gestaltete, das sie von der Balustrade aus mit wachsender Faszination mitverfolgte. Ein Tanz mit jedem, das war die Pflicht, zwei Tänze mit dem gleichen Partner schon auffällig und alles, was darüber hinausging, bewegte sich in jene Kür hinein, an deren Ende ein formaler Heiratsantrag stehen konnte – nach Monaten von Besuchen, Gesprächen unter der strengen Aufsicht einer Chaperone, und natürlich weiteren Tänzen.
Hochgeschobene Mieder bewegten sich, wogten auf und ab, drehten sich um junge, athletische Männerkörper in herausgeputzten, ordensgeschmückten Galauniformen ebenso wie um die feisteren, in maßgeschneiderten Zwirn gekleidete Rümpfe jener Herren mittleren und gesetzteren Alters, die wieder auf dem Markt waren. Großteils Witwer, vereinzelt auch Adelige, die mit fingierten Vorwürfen, kalter Grausamkeit oder durch skandalöse Vorgänge ihre Frauen anderweitig losgeworden waren. Ein Mal der Warnung für all jene Mädchen, denen sie sich näherten, aber nicht abschreckend genug für jene, die ihre dritte oder vierte Saison tanzten, ohne unter die Haube zu kommen.
Oder deren Verlobter im Krieg gefallen war.
Ja, auch das kam vor – eigentlich immer öfter, wenn sie so darüber nachdachte. Natürlich trugen die Heerscharen an einfachen Soldaten die Last der meisten Todesopfer in diesem grandiosen europäischen Ringen, aber immer mehr Führungsoffiziere erfüllten ihre letzte Pflicht für die Königin – ein Zeichen, dass es für Britannia nicht zum Besten stand. Und dennoch tanzten sie durch die Nacht.
»Eigentlich komplett unangemessen, also der Ball selbst. Die Saison beginnt erst im Herbst, Debütantinnen, die nicht voriges Jahr eingeführt wurden, können gar nicht teilnehmen, und ich frage mich ernsthaft, warum die Krone Spektakel wie diese duldet. Kannst du mir das erklären?«
Shiara, durch die helle, neugierige Stimme aus ihren Gedanken und Überlegungen gerissen, zuckte kurz zusammen – ehe sie sich zur Seite drehte und lächelte. Aufrichtig lächelte. Sybill, die älteste Tochter des Dukes von Canterbury, war nicht nur ihre zweitbeste Freundin, ihre beinahe engste Vertraute – sondern vor allem eine der wenigen jungen Damen der feinen Gesellschaft, die sich nicht darum scherten, welche Farbe Shiaras Haut aufwies und ob sie den Namen ihres Vaters tragen durfte. Ihre hellblonden langen Haare fielen über die freiliegenden Schultern herab, die wiederum in einem bordeauxroten, aufwendig goldgewirkten Kleid steckten. Ein weißgoldgetriebener Stirnreif mit einem rosa Diamanten – natürlich aus Shiaras Heimat erworben – funkelte im lebendig scheinenden Licht der Kronleuchter, verblasste aber neben den hellgrün strahlenden Augen der Herzogtochter.
Sie war in ihrer dritten Saison, hätte in der ersten schon einen attraktiven, vielversprechenden Commander der Royal Navy, dazu noch selbst der erste Sohn eines Dukes, haben können. Sie hatte gezögert – und der Verehrer war gefallen, mit Mann und Maus irgendwo fünfzig Kilometer vor der deutschen Küste untergegangen. Der Krieg zur See war nun mal um nichts weniger gefährlich als die Schlachten zwischen den Luftschiffen am Himmel – beides spielte sich in Elementen ab, wo der Mensch nichts verloren hatte.
Sybill beschloss daraufhin, sich mit nichts weniger als einem Königssohn zufriedenzugeben, anfangs sehr zum Leidwesen ihres Vaters, später sehr zur Freude des schwedischen Thronfolgers, der gelegentlich am befreundeten britischen Hof weilte. Wenn alles nach Plan verlief, würde die Herbstsaison ihre letzte sein – und Shiara im nächsten Jahr die Freundin einer Prinzessin. Würde es etwas an ihrer Herzlichkeit ändern? Wohl kaum. Eine angedeutete Verbeugung, dem Protokoll entsprechend, ging in eine aufrichtige, beinahe schwesterliche Umarmung über, ehe sie beide, Seite an Seite stehend, auf die Gesellschaft blickten und Shiara versuchte, die Frage zu beantworten.
»Es ist für die Franzosen. Sie sind dekadente Feste das ganze Jahr über gewöhnt, und unsere Krone bemüht sich redlich, ihre Abgesandten nichts vermissen zu lassen.«
Etikette und gute Erziehung verhinderten, dass sie mit dem Finger auf jene tanzenden, trinkenden oder in Gespräche verwickelten Ehrengäste zeigte, deren blaue Uniformjacken deutlich aus der Masse herausstachen. Das war auch nicht nötig – Sybill wusste, wen Shiara meinte, und auch vom Verhalten her war es offensichtlich, dass die vier – oder waren es fünf? – Männer zwischen zwanzig und vierzig Jahren nicht dem britischen Adel angehörten. Sie tranken zu viel und zu offensichtlich, lachten viel lauter, als es die Konventionen geboten, näherten sich beim Tanz beinahe unschicklich den Körpern ihrer Partnerinnen.
Nicht nur beim Tanzen.
In der Tat hatten französische Edelleute für so manchen Skandal im letzten Jahr gesorgt, die Ehre von nicht nur einer jungen Dame geraubt, ohne sie danach in den Hafen der Ehe zu führen. Den Vätern und Brüder der so geschändeten, für den Heiratsmarkt beinahe wertlos gemachten Mädchen, blieb nichts anderes übrig, als zähneknirschend zu schweigen und das Kind irgendwo aufs Land zu schicken, hoffentlich ohne Kind unter dem Herzen. Die Königin selbst hatte ihnen ausdrücklich verboten, von französischen Ehrengästen Satisfaktion einzufordern. Sybill schüttelte den Kopf und schob sich mit abgespreiztem kleinem Finger eines der von wohlgefrackten Dienern gereichten Häppchen in den Mund, kaute sorgfältig und schluckte hinter vorgehaltener Hand, ehe sie sprach.
»Ich verstehe nicht, warum wir ihnen alle Eskapaden durchgehen lassen.«
Shiara lachte kurz auf, leise und vornehm zurückhaltend, aber es war kein fröhliches, gelöstes Lachen, eher von dem getrieben, was ihr Vater missbilligend »nicht gerade damenhafter Zynismus« nannte.
»Weil wir sie brauchen. Seit Preußen die Österreicher und Italiener an ihre Seite gezwungen hat, steht die europäische Sache schlecht für uns. Die Luftschiffe aus Wien, Prag und Budapest wirken zwar langsam und behäbig, aber die Hüllen sind gegen Gewehrkugeln und Schrapnelle gepanzert. Und sie haben erstklassige Kanoniere, fast so gut wie jene der Preußen. Spanien hält aus Treue zu den Habsburgern die Füße still, das Haus deines Zukünftigen unterstützt uns zwar heimlich auf See, bewahrt aber offiziell seine Neutralität. Russland zeigt vorsichtig Interesse, an unsere Seite zu treten, ist aber noch Jahre davon entfernt, eine Flotte vom Boden zu bekommen. Oh, sie haben eine beachtliche Armee, aber Kriege werden heute in der Luft gewonnen, nicht auf Äckern und Wiesen. So traurig es ist, die Franzosen und ihre zweite Front sind der einzige Grund, warum wir noch nicht besiegt sind. Bonaparte III. mag ein schwacher Kaiser sein, aber seine Armee ist stark. Die Luftkreuzer und Kriegsmontgolfieren unserer Verbündeten halten den Feind weit von London gebunden.«
Sybill verzog ihr Gesicht, legte einen Zeigefinger vieldeutig auf ihre Lippen.
»Meines Zukünftigen? Lass uns nicht über meinen Schweden reden, bis die Verlobung verkündet wurde! Die Wände haben Ohren hier – und nicht nur die Wände. Überhaupt, du solltest nicht so offen zeigen, wie viel du von Politik und Militär verstehst – das könnte so manchen Verehrer abschrecken. Und da wir von Verehrern sprechen – wo ist eigentlich Maggie?«
Das war eine gute Frage. Margareth Diana, die erste Tochter des Dukes von Beaufort, war eigentlich gemeinsam mit ihnen eingetroffen – aber tatsächlich, Shiara konnte sich nicht erinnern, sie in der letzten Stunde im Ballsaal gesehen zu haben. Natürlich hegte sie einen gewissen Verdacht, aber sie wollte sich nicht das Maul über eine Freundin zerreißen, die nicht da war, sich nicht wehren konnte. Sybill kannte da weniger Hemmungen. Als sie sah, dass sie von Shiara keine Antwort erwarten konnte, gab sie sich diese selbst – und überaus unverblümt.
»Ich wette, irgendwo in einer Abstellkammer, den Rock hochgezogen und einen Franzosen zwischen den Schenkeln.«
Das war eine ganz und gar nicht damenhafte Aussage, aber eine, die nur schwer von der Hand zu weisen war. Maggie war nicht nur hochintelligent und wissbegierig – sondern auch überaus neugierig. Diese Neugierde hatte sich bereits um ihren vierzehnten Geburtstag herum auf das andere Geschlecht verlegt, sehr zum Leidwesen ihres Vaters, der durch die kursierenden Gerüchte ihren Wert auf dem Heiratsmarkt sinken sah. Shiara vermutete insgeheim, dass dies ein Teil von Maggies Plan war, so lange wie möglich unabhängig zu bleiben und ihre Studien voranzutreiben – auch die tatsächlich wissenschaftlichen.
»Und wenn schon. Wenn sie unsere Beziehungen zu den Franzosen stärkt, dann dient sie eben Britannia auf ihre Art und Weise. So wie ich bald auf meine.«
Sybill trat kurz unsicher von einem Bein auf das andere, warf einen lauernden Blick auf ihre Freundin.
»Du willst es wirklich immer noch durchziehen?«
Shiara nickte, ohne zu zögern.
»Natürlich, warum auch nicht? Weil ich keine Weiße bin? Viele Menschen aus den Kolonien dienen der Krone, zu Wasser, zu Lande und in der Luft.«
»Ja, das schon, aber du bist eine …«
»… Frau? Die Proklamation der Königin im letzten Jahr war eindeutig. Wer willens und fähig ist, das Land zu verteidigen, dem darf dies nicht verwehrt werden, ungeachtet der Herkunft, der Religion und des Geschlechts.«
Jetzt leistete sich Sybill einen Anflug von Zynismus.
»Ja, weil uns die jungen Männer schneller wegsterben, als die Knaben erwachsen werden. Und wie viele Frauen gibt es nun in der Luftflotte, fast ein Jahr nach besagter Proklamation?«
Shiara ließ unbewusst ihre Zunge über die Vorderzähne gleiten, natürlich hinter verschlossenen Lippen. Eine Geste des Nachdenkens, von ihrer viel zu früh verstorbenen Mutter geerbt.
»Vierzig oder fünfzig, soviel ich weiß. Die meisten am Boden, sie flicken die Hüllen und füllen die Kohlevorräte für die Kessel nach.«
»Und wie viele davon sind Offiziere?«
»Keine Einzige.«
»Na also.«
Shiara ließ ihrer Freundin diesen Triumph, wohl wissend, dass diese Zahlen und Fakten auf ihrer Seite hatte, und widmete stattdessen ihre Aufmerksamkeit wieder der Ballgesellschaft. Die verdammten Franzosen – eines musste man ihnen lassen: Sie sahen wirklich stattlich aus, zumindest jener, den sie gerade ins Visier nahm. Ein junger, hochgewachsener Mann, gute sechs Fuß emporragend – aber keinesfalls plump, eher drahtig und kräftig zugleich. Schwarzes leicht gekräuseltes Haar ragte unter dem tiefblauen Brevet eines französischen Luftmajors hervor. Seine Bewegungen waren leichtfüßig, elegant, ohne Temperament vermissen zu lassen. Bei jeder Drehung mit gestreckter Hand zeichneten sich die Muskeln unter seiner Galauniform deutlich ab. Eine kreolische Vorfahrin hatte sich in das französische blaue Blut gemischt, ihm eine Haut geschenkt, die nicht allzu viel heller als ihre eigene war.
Kein Zweifel, das war er, der Marquis von Rouen, Held der Schlacht von Gent, vier bestätigte Abschüsse von deutschen Luftschiffen. Gut, die eigentlichen Treffer hatten seine Untergebenen erzielt, Kanoniere aus dem einfachen Volk – aber er hatte sie befehligt. Vermutlich mit der gleichen Selbstsicherheit, mit der er seine Tanzpartnerin führte, die sich nur bedingt glücklich schätzen durfte. Denn der Marquis von Rouen war nicht nur ausgesprochen gut aussehend, ausgesprochen geschmeidig in seinen Bewegungen – sondern vor allem ausgesprochen verheiratet.
»Wenn du ihn noch länger anstarrst und deinen Mund dabei noch ein Stück weiter öffnest, werde ich einen Diener rufen müssen, um dir den Sabber abwischen zu lassen.«
Schuldbewusst zuckte Shiara zusammen, drehte sich zurück zu ihrer Freundin und versuchte, so gelassen wie möglich zu wirken. Keine leichte Aufgabe, denn ihr Herzschlag hatte sich deutlich beschleunigt.
»Und ich müsste wahrscheinlich vor Scham spontan erröten, in Ohnmacht fallen, und hoffen, dass mich einer der edlen Herren im Saal auffängt, um mir Riechsalz unter die Nase zu halten.«
»Bei dir hätte wahrscheinlich Schießpulver die gleiche Wirkung. Oder ein Lappen mit Waffenöl.«
Da war sie wieder, die ungezügelte, fröhliche Leichtigkeit, jene Mischung aus keckem Spaß und einer sturen Verweigerung gegenüber dem Ernst des Lebens, Grundpfeiler ihrer Freundschaft. Genauso war Sybill ihr damals begegnet, einem kleinen, dunkelhäutigen, verstörten Kind aus den Kolonien.
Keine Hochnäsigkeit.
Keine lästigen Konventionen.
Vor allem keine Vorurteile, sondern Neugier auf die neue Spielgefährtin, gefördert von ihrem Vater. Kein Wunder, das sich dieser sich so gut mit ihrem verstand – abgesehen davon, dass beide der Admiralität dienten.
»Schießpulver ist von gestern, liebe Sybill – oder wird es bald sein. Wir haben etwas Neues, Nitrocellulose, auch Schießbaumwolle genannt. Erfunden von einem Schweizer namens Schönbein, und sowohl wir als auch die Deutschen erproben es gerade. Wenn sich das durchsetzt …«
»Siehst du, genau das meine ich! Eine Lady spricht nicht über solche Dinge – nicht, wenn sie sich einen Lord angeln will! Und schon gar nicht auf einem Ball! Sprich über das Wetter, deine Reitausflüge, von mir aus auch über die neueste Mode und das Porzellan zu Hause, und …«
Sybill verstummte, ihre Augen schwenkten nach links, verloren den Kontakt zu Shiaras und fixierten sich auf einen Punkt hinter ihr, während sie sich vor Überraschung weiteten.
Aus gutem Grund.
»Mademoiselle, darf ich um den nächsten Tanz bitten?«
Natürlich war es die Stimme des Marquis, und ihre samtene Weichheit, ihre männliche Tiefe und ein vager, kaum bewusst wahrnehmbarer rauer Unterton ließen Shiara einen wohligen Schauer über den Rücken laufen.
Er hatte nicht Sybill gemeint.
Die Lichter kamen nun von oben, doch sie hatte keine Augen für sie, nur für den Marquis, der sie in den zweiten Tanz führte – direkt hintereinander. Eine letzte Stimme der Vernunft in ihrem Inneren flüsterte ihr zu, die Finger von ihm zu lassen, sich nicht seinen geschmeidigen Bewegungen hinzugeben, zu bedenken, was die bereits gaffenden Ballgäste und deren Lästermäuler für sie bedeuten konnten …
… aber es war vergeblich.
Er führte sie mit einer Eleganz und Grazie, die sie bei ihren wenigen englischen Tanzpartnern bis dato vermisst hatte, mit dem Selbstbewusstsein eines Königstigers und der Geschmeidigkeit eines schwarzen Panthers. Oh, er wusste genau, was er tat! Immer wieder trafen seine Blicke scheinbar zufällig die ihren, blitzten seine Augen kurz vielsagend, verheißungsvoll auf, während er gleichzeitig den Druck seiner Hand um eine Nuance verstärkte.
Ihr Herzschlag beschleunigte jedes Mal, sie spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss, schaffte es nicht, sich zu beruhigen, ehe die nächste für Außenstehende unsichtbare Geste nachsetzte. Sie sog seinen Duft, eine angenehm herbe Mischung aus französischem Parfum, edlen Tabaken und einem Hauch von uraltem Cognac, tief in ihre Nase, genoss die Wirkung, die ihr durch den Körper fuhr, vom Mieder abwärts ein wohlig warmes Gefühl verursachte.
Flieh, du Närrin, flieh! Bevor du etwas tust oder sagst, das du bereuen wirst!
In einem letzten Aufbäumen der Vernunft schaffte sie es tatsächlich, sich von ihm zu lösen, als die letzten Klänge des Liedes verklangen, dieser zweite Tanz offiziell zu Ende ging. Eine hastige Verbeugung, eine mehr gestammelte als gesprochene Entschuldigung, und sie wandte sich zum Nebenraum, zum Salon, in dem eine Runde alter Offiziere um das Klavier herumstand und den Kriegsverlauf diskutierte, ganz so, als ob der schwarze Deckel des Musikinstruments eine jener Landkarten wäre, auf der sie sonst Zinnsoldaten verschoben.
Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links, und sie schritt weiter, den Kopf leicht gesenkt, in der Hoffnung, dass niemand sah, wie es um sie bestellt war. Nur nichts anmerken lassen, immer weiter, in Richtung des kleinen Torbogens, der in den Garten führte.
Benommen wankte sie die Treppen hinunter, über die schweren, glatt polierten Steinstiegen, bis sie im Kiesbett stand und endlich erleichtert durchatmete. Es war eine klare, angenehme Frühlingsnacht, der Maienduft blühender Obstbäume umschmeichelte ihre Nase, der Mond, gerade wieder am Füllen, hatte noch nicht die Hälfte erreicht – aber leuchtete silbern auf sie herab. Mühsam kühlte sie ihr Blut ab, beruhigte sich, machte weitere Schritte an den Hecken vorbei, tiefer in den Garten hinein, weg von den Fenstern und neugierigen Blicken.
Was für eine Nacht – und was für eine Gefahr, der sie noch einmal entronnen war!
Für ihre Unschuld, ihre Ehre, ihre Karriere, die auch so schon unwahrscheinlich, vielleicht sogar unmöglich schien.
Unschuld? Dieses Schiff hat den Hafen vor langer Zeit verlassen.
Das mochte sein, aber niemand wusste davon, und streng genommen zählte es nicht, da …
»Mademoiselle?«
Erschrocken zuckte sie zusammen, drehte sich herum – und sah den Marquis in all seiner männlichen Herrlichkeit mit behutsamen Schritten näher kommen, immer näher, bis er direkt vor ihr stand.
Zu nahe. Viel zu nahe!
Sie konnte ihn wieder riechen, spüren, was seine Anwesenheit in ihr anrichtete. Aber noch siegte ihre Vernunft.
»Marquis, Sie dürfen – Sie dürfen nicht hier sein. Nicht mit mir alleine, nicht ohne die Anwesenheit einer Chaperone.«
Er lachte auf, hell und herzlich, aber nicht so laut, dass man ihn im Inneren des Anwesens hören konnte. Zumindest hoffte sie das inständig.
»Ihr Engländer und eure Anstandsregeln! Wann lernt ihr es endlich, zu leben? Oh, ich weiß, ich bin hier nur zu Gast, aber ich habe bereits viel gelernt über eure Sitten und Gebräuche. Verwunderlich! Ihr haltet den Anstand und die Sitte über alles, versteckt euch hinter Aufpasserinnen und leugnet eure Fleischeslust – doch wer, wenn nicht Gott selbst, hat uns diese geschenkt? Ist es nicht das ehrlichste, das aufrichtigste Gebet von allen, wenn wir uns ihr hingeben, uns lieben und vermehren, wie von ihm aufgetragen?«
Er überschritt eine Grenze, nein, er überschritt alle Grenzen dessen, was er zu ihr sagen durfte, aber er tat dies mit einer derart schmeichelhaften Stimme, einem derart betörenden Akzent, dass sie ihn nicht unterbrach. Nicht unterbrechen wollte.
»Und doch ist es nur Fassade – sieh nur dich an, dich und deinen Vater. Jung verlobt, jung verheiratet, ausgezogen für Königin und Vaterland – aber heimgekehrt mit der Frucht seiner Lenden, nicht aus dem Schoß seiner Gemahlin geboren, sondern einer …«
Shiaras fand ihre Stimme wieder, und sie schnitt eiskalt durch die Nacht.
»Vorsicht, Marquis. Meine Mutter war die Tochter eines Maharadscha, nicht weniger von Rang und Adel als …«
Er nickte verständnisvoll.
»Ich weiß, ich weiß, und nichts liegt mir ferner, als ihr Andenken zu beleidigen. Aber sie war nicht die Gemahlin …«
Das stimmte so nicht ganz.
»… und du bist damit ein Bastard.«
Das stimmte, aber er hatte kein Recht, das offen auszusprechen. Nicht ihr direkt ins Gesicht. Sie spürte, wie ihr Körper seine Haltung veränderte, unbewusst Spannung in Muskeln aufbaute, die sie hoffentlich nicht brauchen würde. Er missdeutete diese Signale, missdeutete sie fatal.
Mit einem raschen Schritt nach vorne brachte er sich in Position, legte seine rechte Hand auf ihren Rücken.
»Du hast hier keine Zukunft, nicht umgeben von diesen pedantischen Lackaffen, nicht in einer Gesellschaft, die mehr Wert auf ungeschriebene Regeln legt, als auf das Leben selbst! Sie werden dich immer verachten, niemals als eine der Ihren willkommen heißen! Nicht ohne den Namen deines Vaters, nicht mit unserer Hautfarbe!«
Da hatte er wahrscheinlich recht, und die Art und Weise, wie er »unsere Hautfarbe« gesagt hatte, erzeugte ein zartes Band, eine geistige Verwandtschaft. Ja, sie wusste nur zu gut, was er meinte. Was aber noch lange nicht bedeutete, dass …
Sein Griff wurde fester, sein Atem schneller, und sie spürte seine Hand nach unten wandern, während seine Stimme zu einem rauen, begehrlichen Flüstern wurde.
»Komm mit mir nach Frankreich, auf mein Landgut. Als meine offizielle Mätresse wird es dir an nichts fehlen! Diener werden dir jeden Wunsch von den Augen ablesen, und meine Frau macht diesen wunderbaren Sangria …«
Shiara blinzelte, während ihr Verstand auf Hochtouren lief, ihr die Bedeutung des Wortes Mätresse klar vor Augen hielt.
»WAS?!«
Seine Rechte schob sich weiter nach unten, ruhte jetzt dort, wo sie auf keinen Fall etwas verloren hatte, und seine linke Hand bewegte sich langsam nach vorne.
»Sangria. Das ist ein spanischer Fruchtwein. Leicht und unbeschwert, aber süß wie die Sünde selbst. Lass mich dir …«
Shiaras Hand klatschte kurz und scharf auf seine Wange, mit wohldosierter Wucht. Eine Warnung, nicht mehr.
»Ich werde niemandes Mätresse sein!«
Vielleicht war er von ihrer Wehrhaftigkeit noch mehr erregt, vielleicht war er auch einer jener Männer, die kein Nein akzeptieren konnten. Wie eine Schlange stieß seine Linke unter ihren Rock, während er sie näher an sich zog, bereit und entschlossen, sich zu nehmen, was er wollte. Der Marquis zeigte sein wahres Gesicht – und sie das ihre.
Ihr rechtes Knie schoss nach oben, quetschte den kleinen Marquis und seine runden Begleiter schmerzhaft in den Leib. Stöhnend sackte ihr Besitzer nach vorne – genau, wie sie erwartet hatte. Sie zog durch, nicht mit der Faust, denn das war nicht damenhaft – sondern mit dem Handballen, wie sie es gelernt hatte.
»Eine gebrochene Nase, ein Zahn, der im Garten verloren ging, laut einem gut informierten Arzt auch eine angebrochene Rippe – du hast ihn ganz schön zugerichtet.«
Zerknirscht rutschte Shiara auf dem Diwan hin und her, blickte verschämt zu Boden, auch wenn in der vorwurfsvollen Stimme ihres Vaters kaum verhohlener Stolz mitschwang. Hatte sie überreagiert? Hätte es vielleicht ein kurzer Stoß, verbunden mit einem scharfen Wort, auch getan? Vielleicht, aber dann wäre der Marquis in Versuchung geraten, es bei der nächsten jungen Dame zu versuchen. Es war richtig gewesen, ihn in seine Schranken zu weisen, aber es konnte sie die Karriere kosten, noch ehe diese begonnen hatte.
»Werde ich Probleme mit der Kommission bekommen? Oder gar mit der Königin?«
Lord Lockerby zwirbelte kurz gedankenverloren an seinem Schnurrbart herum, ehe er energisch den Kopf schüttelte.
»Nein, du bist noch keine Offizierin, und auch wenn wir von unseren Kadetten ein tadelloses Verhalten erwarten – du hast dich gegen einen ehrenrührigen Übergriff gewehrt, mehr nicht. Es war kein Duell, das unter das Sanktionsverbot fallen würde – und aus vertrauenswürdiger Quelle habe ich erfahren, dass der Marquis keinen Vorwurf erheben wird, im Gegenteil. Er behauptet, er wäre betrunken die Stufen hinuntergefallen und mit dem Kopf voran im Kiesbett gelandet.«
Erstaunt hob Shiara ihren Kopf, ignorierte Tante Elenors mehr als eindeutiges Grinsen und blickte ihren Vater halb unsicher, halb fragend an.
»Warum sollte er das tun? Warum so etwas Peinliches über sich selbst verbreiten?«
»Weil es noch immer besser ist, als zuzugeben, von einem Mädchen im Abendkleid verprügelt worden zu sein.«
Das leuchtete ihr ein, auch wenn sie insgeheim hoffte, dass zumindest dieser Teil der Geschichte seine Runde machen würde – allen anderen jungen Damen zuliebe, die vielleicht sonst dem französischen Charme verfallen würden. Elenor hingegen wurde schlagartig ernst – nicht vorwurfsvoll, sondern mehr besorgt. Sie ließ Anabelles Hand los, die bis jetzt in ihrer gelegen hatte – etwas, dass sich die beiden nur in der Abgeschiedenheit des Lockerby-Anwesens erlauben durften, und auch nur dann, wenn die anderen Diener außer Haus waren. Eigentlich ungerecht.
»Trotzdem, mein Kind, du musst vorsichtiger sein – alleine im Garten mit einem französischen Adeligen, versteckt vor den Augen der Gesellschaft – du warst leichtsinnig. Das kann dir in den Augen der Aristokratie schneller Ruf und Ehre kosten, als uns allen lieb ist.«
Shiara schnaubte und spürte einen trotzigen Zorn in sich aufsteigen, einen Ruf des heißen Blutes ihrer Heimat.
»Er ist mir gefolgt! Was hätte ich denn tun sollen? Davonlaufen oder in Ohnmacht fallen? Außerdem, hast nicht du mich gelehrt, dass meine Ehre woanders liegt als zwischen meinen Schenkeln?«
Lady Lockerby schmunzelte.
»Nicht mit diesen Worten – und leider nicht in den Augen des Hofes. In meinen – gewiss, und auch dein Vater wird zähneknirschend zustimmen, nicht wahr?«
Der Lord zog es vor, scheinbar nichts gehört zu haben und aus dem Fenster zu blicken.
»Aber die Öffentlichkeit hat nun mal andere Gesetze – manche hinter vorgehaltener Hand, manche niedergeschrieben und auch vollzogen.«
Sie warf einen vielsagenden Blick auf Anabelle, die nickte – und traurig lächelte.
»Manchmal müssen wir unser wahres Ich verstecken, um zu bestehen. Glaub mir, ich bin die Letzte, der dies gefällt, die es auch nur ansatzweise billigen kann – aber es ist nun mal so.«
Shiara schwieg und dachte daran, um wie viel mehr es auf das ungleiche Paar vor ihr zutraf. Nein, halt, auf das in den Augen des Gesetzes zu gleiche Paar. Anabelle würde ihr Leben lang auf dem Papier nur die Haushälterin von Lady Lockerby bleiben, niemals eine Chance haben, in der Öffentlichkeit an ihrer Seite zu stehen – nicht als das, was sie wirklich war. Schon als Kind hatte Shiara gelernt, immer wieder mit freundlichen, aber deutlichen Worten eingebläut bekommen, Stillschweigen zu bewahren. Niemand außerhalb des Anwesens durfte wissen, mit wem die Lady wirklich das Schlafgemach teilte, niemand erfahren, dass sie ihr Vater nur geheiratet hatte, um ihr Geheimnis zu bewahren.
Nein, nicht nur deswegen – sie waren Freunde seit Kindesbeinen an, sogar beste Freunde, und genau deswegen hatte niemand am Hofe Verdacht geschöpft, als sie vor den Altar traten. Eine standesgemäße Verbindung und eine schöne, wohltuende Geschichte für die Klatschpresse. Kein Skandal, sondern eine vollendete Kindheitsliebe.
Das las sich gut, das klang versöhnlich – und war doch nicht die Wahrheit. Diese würde Elenor und Anabelle vor Gericht bringen, sie mit Schimpf und Schande verurteilt und nach Australien deportiert sehen.
Australien!