Jenseits von Böse - Uta Eisenhardt - E-Book
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Jenseits von Böse E-Book

Uta Eisenhardt

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Beschreibung

Wahnsinnige Täter und ihre Verbrechen

Schockierende Tatsachenberichte von ungeheuerlichen Kriminalfällen, Menschen, die im Wahn so Furchtbares getan haben, dass sie es selbst nicht fassen können, Psychopathen, deren kaputte Seelen sie zu grausamen Monstern machen. Uta Eisenhardt wirft einen Blick hinter sonst verschlossene Türen, in den Maßregelvollzug, wo psychisch kranke Verbrecher oft für immer weggesperrt werden. Sie spricht mit Tätern, Richtern und Gutachtern über unfassbare Verbrechen, bei denen Vorstellungskraft und Recht an ihre Grenzen stoßen.

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Seitenzahl: 369

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Uta Eisenhardt, geboren 1968, studierte Soziologie und arbeitet als Gerichtsreporterin. 2011 erschien »Es juckt so fürchterlich, Herr Richter!«, ein Best-of ihrer stern.de-Gerichtskolumne. 2012 folgte »Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt«.

Uta Eisenhardt

Jenseits vonBöse

Kranke Verbrechen– die krassesten Fälle einer Gerichtsreporterin

Mit fachlicher Beratung von Dr. med. Konstantin Karyofilis

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Originalausgabe 03/2014

Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-11109-0

www.heyne.de

Vorwort

Christian hegte große Hoffnungen, sich wieder einmal verlieben zu können. In die junge, hübsche Franziska aus dem Internetforum, die davon träumte, entführt, gewürgt und vergewaltigt zu werden. Er war fast doppelt so alt wie sie, ein promovierter Wissenschaftler. Franziska genoss seine Aufmerksamkeit. Sie lenkte sie ab von ihren Problemen am Arbeitsplatz, einer kürzlich beendeten Beziehung und von den Eltern, die sie nicht zu verstehen schienen. Vier Monate lang chatteten die beiden intensiv, dann verabredeten sie sich. Sie wollten gemeinsam ihre Fantasien ausleben. Franziska ahnte nicht, dass Christian nicht nur ein Anhänger von mehr oder weniger gewöhnlichen Sadomaso-Spielen war. Seit Jahren erwarb er regelmäßig nekrophile Pornos, die zeigten, wie Männer ihre Sexualpartnerinnen auf grausame Art töteten und sich an ihren Leichen vergingen.

Als das Paar sich schließlich traf, bat Franziska ihn, sie zu »überfallen«, Christian sollte sie etwa dreißig Sekunden lang würgen und anschließend »vergewaltigen«. Aus dem inszenierten Spiel wurde tödlicher Ernst. Christian verlor jede Kontrolle über sein Handeln. Das, was er seit Jahren fantasiert hatte, wurde Wirklichkeit. Als er wieder klar denken konnte, war es zu spät. Er konnte nicht begreifen, was er getan hatte. Am liebsten wollte er sterben. Sein Leben erschien ihm sinnlos.

Der psychiatrische Gutachter sagte, der hochintelligente Wissenschaftler sei ein Sadist, und zwar ein krankhafter, weil er nicht in der Lage war, im Einvernehmen mit seiner Sexualpartnerin zu handeln. Er empfahl dem Gericht, den Täter nicht ins Gefängnis, sondern in den »Maßregelvollzug« zu schicken.

So werden die forensisch-psychiatrischen Krankenhäuser bezeichnet, für die ich mich in diesem Zusammenhang zum ersten Mal näher interessiert habe. Maßregelpatienten sind vermindert schuldfähige oder gar schuldunfähige Straftäter: Sie konnten nicht erkennen, dass sie etwas Unrechtes tun. Falls doch, konnten sie sich nicht entsprechend verhalten– weil sie zur Tatzeit entweder schwachsinnig oder psychisch krank waren, an einer schweren Persönlichkeitsstörung litten beziehungsweise unter einer sexuellen Abweichung. Wenn solche Menschen dauerhaft krank sind und weiterhin eine Gefährdung von ihnen zu befürchten ist, werden sie im Maßregelvollzug untergebracht. Der Begriff für dieses Spezialgefängnis im Gewand einer Klinik existiert seit 1933, als in Deutschland die bereits seit der Jahrhundertwende diskutierte sogenannte »Zweispurigkeit des Strafrechts« installiert wurde. Seither wird unterschieden zwischen »Strafen« und »Maßregeln«.

Etwa achttausend Patienten– ungefähr zehn Prozent von ihnen sind Frauen– leben deutschlandweit in rund siebzig solchen Einrichtungen. Sie müssen dort so lange bleiben, bis sie entweder nicht mehr krank oder nicht mehr gefährlich sind. Im Durchschnitt vergehen bis zur Entlassung auf Bewährung sechs bis acht Jahre, bei einem Viertel der Betroffenen sind es mehr als zehn Jahre. Von diesen verlassen etliche die Anstalt nur in Richtung Pflegeheim oder im Sarg.

Die Geschichte von Christian und Franziska habe ich ausführlich in meinem letzten Buch Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt– Die härtesten Fälle einer Gerichtsreporterin geschildert. Auch darüber hinaus beschäftigte mich das Schicksal dieses vielseitig interessierten Mannes, der sein halbes Leben noch vor sich hatte. Wie mochte er seine Zeit hinter den Mauern einer forensischen Klinik verbringen? Wie leben die Insassen dort miteinander, die übrigens nicht immer nach Geschlechtern getrennt sind? Mit welchen psychischen Krankheiten haben es die Ärzte im Maßregelvollzug zu tun? Welche sind heilbar, welche nicht? Wie kommt es zu Irrtümern bei psychiatrischen Gutachten? Wie manipulierbar sind die Ärzte und Therapeuten bei ihrer Entscheidung, wenn es um Vollzugslockerungen geht? Wie leben Richter und forensisch-psychiatrische Gutachter mit der Verantwortung, einen einst gefährlichen Täter in die Freiheit zu entlassen? Oder andersherum, wie mit der Schuld, einen womöglich harmlosen Bürger lebenslang der Freiheit beraubt zu haben?

Auf der Suche nach Antworten trug ich nicht nur die hier vorliegenden bizarren Kriminalfälle zusammen, die sich mit psychisch kranken Tätern beschäftigen. Ich besuchte auch einige Kliniken und sprach mit Menschen, die den Maßregelvollzug kennen, mit Ärzten, Pflegern, Therapeuten, mit Richtern und Rechtsanwälten und natürlich mit Patienten.

Bei meiner Recherche erfuhr ich, dass sich der Maßregelvollzug seit Anfang der Neunzigerjahre stark verändert hat. Die Zahl der Patienten stieg auf das Dreifache. Das hat mehrere Gründe. Zum einen werden immer mehr Straftäter psychiatrisch begutachtet. Heute beginnt kaum ein Schwurgerichtsprozess, ohne dass der Angeklagte vorher von einem auf Forensik spezialisierten Psychiater untersucht wurde. Auf diese Weise kann bei mehr Menschen eine Erkrankung festgestellt werden, die eine Einweisung in die Anstalt rechtfertigt. Zum andern leidet die »zivile« Psychiatrie unter den Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen. Menschen mit chronischen Psychosen werden nicht mehr so lange behandelt, wie es nötig wäre. Dadurch verschlechtert sich ihre Krankheit, es steigt die Chance, dass sie straffällig werden und in den Maßregelvollzug müssen.

Außerdem folgte die Politik dem öffentlichen Druck und erhöhte die Hürden für eine Entlassung. Heute reicht es nicht mehr, dass Richter und Psychiater eine solche erproben wollen. Nein, sie dürfen keinen Zweifel mehr daran hegen, dass der Untergebrachte sein Leben künftig straffrei meistern wird. Man ist vorsichtiger geworden. So vergeht inzwischen vom Unterbringungsbeschluss bis zur Entlassung auf Bewährung doppelt so viel Zeit wie vor dieser Entwicklung. Zaghaft und bedingt durch Justizirrtümer zeichnet sich gegenwärtig ein gegenläufiger Trend zur Liberalisierung ab.

Der Maßregelvollzug ist kostspielig, aber erfolgreich. Im Vergleich zu Gefängnisinsassen werden Insassen von forensischen Kliniken nur halb so oft rückfällig, obwohl sie meist mit einer deutlich schlechteren Prognose dorthin gekommen waren.

Selbstverständlich haben nicht alle Maßregelpatienten so ungeheuerliche Taten begangen wie die für dieses Buch ausgewählten. Etliche von ihnen legten Brände, andere begingen Diebstähle oder schlugen scheinbar grundlos ihre Mitmenschen, manche Taten blieben im Versuchsstadium stecken. Da man aber davon ausgehen muss, dass diese Menschen untherapiert mit großer Wahrscheinlichkeit wieder straffällig werden, kann man sie nur über Jahre wegschließen und behandeln, in der Hoffnung, dass sie eines Tages für ihre Mitmenschen nicht mehr gefährlich sind.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie beim Lesen ebenso gut unterhalten wie informiert werden– über eine Welt, die der Öffentlichkeit sonst verborgen bleibt.

Uta Eisenhardt

Auf Erkundungstour im Maßregelvollzug

Eine Journalistin, die hinter die Kulissen forensischer Kliniken schauen will, rennt nicht gerade offene Türen ein. Versperrt werden sie von Sicherheitsbedenken und ärztlicher Schweigepflicht, ein wenig aufgezogen werden sie von der Erkenntnis, dass Transparenz hilft, Ängste, Bedenken und Vorurteile abzubauen. Der Erste, der mir erlaubt, seine Einrichtung von innen anzuschauen, ist der Chef der Klinik für Forensische Psychiatrie am Bezirksklinikum Ansbach. Er gilt als ein rastloser Forscher, der neueste methodische Ansätze verfolgt und wissenschaftliche Projekte an seine kleine Klinik holt. Zudem legt er Wert darauf, dass seine Mitarbeiter sich regelmäßig bei Koryphäen der Kriminologie und Forensik fortbilden.

Ich verabrede mich mit seiner Mitarbeiterin, Oberärztin Dr. Gabriele Grupp.* Sie bietet mir an, mich einen Tag lang herumzuführen, und will versuchen, ob sie mich in eine »Lockerungskonferenz« mitnehmen kann. Ich freue mich, könnte ich doch in solch einer Konferenz hautnah miterleben, wie ein multiprofessionelles Team aus Psychiatern, Psychologen, Ergotherapeuten, Sozialarbeitern und Pflegern über mögliche Lockerungen der therapeutischen Maßnahmen für eine Handvoll Patienten diskutiert, vielleicht sogar über den ersten Alleinausgang für einen Sexualmörder? Doch ich habe mich zu früh gefreut. Eine Lockerungskonferenz sei nicht öffentlich, befindet der Chefarzt. Dann vielleicht eine Fallkonferenz? Zweimal im Jahr wird eine solche für jeden Patienten anberaumt. Das Ergebnis fließt in die Stellungnahme ein, die die Klinik vor der jährlichen gerichtlichen Anhörung an die Strafvollstreckungskammer schickt. Außerdem basieren darauf die Lockerungsentscheidungen, jedenfalls bei härteren Fällen. Eine Fallkonferenz ist also ziemlich wichtig. Sie wird von dem Therapeuten vorbereitet, der mit dem betreffenden Patienten arbeitet. Er muss im Vorfeld die kriminelle Vergangenheit des Patienten sowie dessen Verhalten in der Klinik beurteilen und eine Prognose abgeben über dessen Zukunftsperspektiven. Dies geschieht in Form eines standardisierten Bewertungsbogens mit dem Namen »Historical, Clinical, Risk«, auch bekannt als HCR-20. »Forensische Psychiatrie ist sehr genau«, erklärt Gabriele Grupp. »Da hat sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren viel getan. Früher waren die Bewertungen klinisch-intuitiv, heute gibt es Prognose-Instrumentarien wie eben den HCR-20.« Mit diesem betrachtet man das Rückfallrisiko unter den drei genannten Aspekten: Es gibt zehn »historische« Variablen, darunter »geringes Alter bei der ersten Gewalttat« sowie »instabile Beziehungen und Sexualität«, außerdem fünf »klinische«, wie »fehlender Behandlungserfolg« und »Mangel an Einsicht«, und schließlich noch fünf »Risikomanagement«-Variablen, etwa das »Fehlen realisierbarer Pläne« und »mangelnde Unterstützung«. Jeder der insgesamt zwanzig Variablen wird nach einem Drei-Punkte-System bewertet (0nein, 1möglich, 2ja)– je geringer die Gesamtpunktzahl, desto geringer das Risiko. Natürlich gibt es noch andere Prognose-Instrumente, sie tragen Namen wie VRAG (Leitfaden zur Abschätzung des Gewaltrisikos), ILRV (Integrierte Liste mit Risiko-Variablen), PCL (Psychopathie-Checkliste), SVR (Risikoschema für sexuelle Gewalt) oder SORAG (Risikobeurteilungsleitfaden für Sexualstraftäter). Je gefährlicher ein Patient ist, umso mehr Methoden wendet der Therapeut für die Risikoabschätzung an. Anhand dieser diskutieren die Teilnehmer der Fallkonferenz miteinander. Bei einem komplizierten Fall kann das bis zu drei Stunden dauern, erzählt mir Gabriele Grupp.

*Die mit einem Sternchen versehenen Namen wurden auf Wunsch der Personen geändert.

Doch auch die Fallkonferenz bleibt bloße Theorie für mich. Die beiden Patienten, über die demnächst gesprochen werden soll, sind mit meiner Anwesenheit nicht einverstanden. Der Chefarzt bietet mir stattdessen die Hospitanz bei einer Visite an, außerdem eine Hausführung sowie Gespräche mit Patienten. Gespannt begebe ich mich auf den Weg nach Mittelfranken.

Es ist kurz vor neun Uhr morgens, und vor dem Bezirksklinikum Ansbach gibt es bereits keinen freien Parkplatz mehr. Kurz entschlossen stellt Gabriele Grupp ihren Wagen, mit dem sich mich vom Bahnhof abgeholt hat, in eine Halteverbotszone. Wenn der Sicherheitsdienst sie erwischt, darf sie einen Monat lang nicht mehr mit dem Auto auf das Gelände fahren, auf dem sich die Klinik für Forensische Psychiatrie befindet. Hier, wo etwa 180 psychisch kranke Straftäter jahrelang therapiert werden, müssen auch die 223Angestellten mit Sanktionen rechnen, falls sie gegen die Hausordnung verstoßen. Die Oberärztin weiß um dieses Risiko, das sie nicht betrifft, denn gewöhnlich fährt sie mit dem Fahrrad zu ihrem Arbeitsplatz. Jahrelang war sie in der Psychiatrischen Institutsambulanz des Bezirksklinikums angestellt gewesen, vor zwei Jahren wechselte die damals Achtundvierzigjährige von der Allgemeinen zur Forensischen Psychiatrie. Sie hatte Lust auf etwas Neues und Interesse an der Arbeit mit schwerstkranken Patienten.

Die Klinik für Forensische Psychiatrie befindet sich in einer Parkanlage, die locker mit zwei- und dreistöckigen Gebäuden bebaut ist, der größte Teil davon ist über hundert Jahre alt. Inmitten dieser hübschen, pastellfarbenen Pavillons steht ein etwa sechs Meter hoher Stahlzaun mit Stacheldrahtkrone und Videokameras. Er umschließt einen hell getünchten Neubau mit linearen Konturen und großen Glasflächen. Von dem Zaun abgesehen, könnte es sich um eine moderne Ferienanlage handeln. Hier sind die gefährlichsten Patienten des Maßregelvollzuges untergebracht, die Neuankömmlinge und die Sexualstraftäter.

Die benachbarten Altbauten kommen mit elektronisch versperrten Türen und Fenstergittern aus. Hier leben diejenigen, die sich im Laufe der Jahre so weit gebessert haben, dass man ihnen Lockerungen zugestehen konnte, diejenigen, die vor allem mit Suchtproblemen kämpfen, und die überwiegend psychotischen Patienten, deren Krankheit so unbefriedigend verläuft, dass man sie wohl in Heimen unterbringen muss, in denen sie dann bis an ihr Lebensende bleiben.

Das neueste Projekt der forensischen Klinik ist eine Präventionsambulanz: Psychisch Kranke, die noch nicht straffällig geworden sind, aber ein entsprechendes »Risikoprofil« aufweisen, sollen die Therapie erhalten, die bislang nur für Straftäter vorgesehen war. Von behandelnden Psychiatern oder Bewährungshelfern werden sie hierhergeschickt, wo sie freiwillig trainieren können, wie sie mit ihrem Leben, ihrer Krankheit, mit ihren Gefühlen und den Gefühlen anderer besser klarkommen. »Compliance fördern« ist ein Schlagwort, das ich an diesem Tag mehrfach höre. Es steht für den Wunsch der Forensiker nach Ausbildung von kooperativen Patienten, die ihre Krankheit verstehen, ihre Medikamente nehmen und sich auch sonst an die Ratschläge der Mediziner und Psychologen halten– eine Ausbildung, die in der Allgemeinen Psychiatrie nicht möglich, aber langfristig sinnvoll ist, auch um potenzielle Opfer zu schützen und um den Bedarf an personalintensiven forensischen Kliniken zu senken.

Dies erfahre ich von der Oberärztin auf unserem Gang über das weitläufige Klinikgelände, das sie mit wehender Daunenjacke durchschreitet. An ihrer rechten Jackentasche hat sie eine Art Walkie-Talkie befestigt. Damit kann man telefonieren, und wenn man zweimal auf einen Knopf drückt oder das Gerät für wenige Sekunden auf dem Rücken liegen lässt, auch Alarm auslösen. Zur Arbeitsausrüstung gehört noch ein Chip, ein universeller Türöffner für die gesicherten Gebäude. Wir befinden uns auf dem Weg zum umzäunten Neubau. In der Aufnahmestation wird Gabriele Grupp den im Urlaub befindlichen Stationsarzt bei der Patientenvisite vertreten.

Im Eingangsbereich hängt das Leitbild der Klinik. Es umfasst acht Kernsätze, in denen der Wunsch nach »qualitativ hochwertigen Leistungen unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte« und nach einem »offenen, respektvollen und unterstützenden Umgang der Mitarbeiter, die sich als Teil eines gemeinsamen Unternehmens sehen« formuliert wird. Auf den Fluren könnte man Fußball spielen, an den Wänden sorgen Miró-Grafiken für kräftige Farbtupfer und beschwingte Linien. Der Chefarzt, höre ich, ist ein großer Miró-Bewunderer. Er will später noch zur Visite kommen, um sich dort einen Patienten anzuschauen, der jahrelang in einer benachbarten forensischen Klinik untergebracht war und dann zur Bewährung in eine Einrichtung entlassen wurde, in der es Schwierigkeiten gab. Nun ist er hierhergekommen, zur »Krisenintervention«– so bezeichnet man die auf maximal drei Monate befristete Aufnahme von bereits entlassenen Patienten, deren Zustand sich akut verschlechtert hat. Allerdings glauben die Ansbacher Psychiater nicht daran, dass es lediglich einer Krisenintervention bedarf, um diesen Patienten erneut entlassen zu können. Wohl eher werden die Richter dessen Bewährung widerrufen müssen.

In dem Raum, in dem die Visite stattfindet, kämpft die Oberärztin zunächst damit, den Computer zu starten, um die elektronischen Patientenakten einsehen zu können. Mutig klickt sie auf »Kennwort zurücksetzen« und erschreckt damit die Stationspsychologin. Mit einem beherzten Neustart siegt schließlich die Sozialarbeiterin gegen die Technik. Heute haben sich sieben Patienten angemeldet, die hier in Gegenwart von einem halben Dutzend Leuten ihre Probleme ausbreiten müssen, einem Tribunal aus Pflegern, Therapeuten, Ärzten und Praktikanten. Bevor ein Patient eintritt, wird er der Oberärztin stichpunktartig vorgestellt. Sie erfährt das Delikt und besondere Vorkommnisse, auch Diagnosen werden ihr genannt. Selten sind es sortenreine Psychosen oder Persönlichkeitsstörungen, oft ist es ein Gemisch aus beidem mit einem Schuss ADHS oder gestörter Impulskontrolle.

Die Anliegen der Patienten sind unterschiedlich. Oft wünschen sie eine Änderung der Medikation, die sich bei den meisten noch im Probierstadium befindet. Es scheint nicht leicht zu sein, die richtigen Präparate zu finden beziehungsweise die ideale Kombinationen und Dosierungen, die Ärzte und Patienten gleichermaßen glücklich machen. Die Ärzte stehen in der Fürsorgepflicht, die Patienten scheuen die Nebenwirkungen oder bestreiten gar, an einer bestimmten Krankheit zu leiden. Beständig argumentiert und verhandelt Gabriele Grupp über Blutentnahmen, über einen Besuch beim Gynäkologen, ja sogar über eine dauerhafte Fixierung, also die Fesselung ans Bett, die sich einer ihrer Patienten anstelle von Medikamenten wünscht.

»Das gibt mir Halt und das Gefühl, dass ich zur Ruhe kommen kann«, sagt der Mann. In diversen Pflegefachbüchern hat er Argumente für sein Anliegen gesammelt. So dürfe ein Patient mit seinem Einverständnis durchaus fixiert werden, außerdem würde ein Gurt mit Klettverschluss nicht als Fixierung gelten. So harmlos sein Wunsch klingt: Die Ärztin darf ihn nicht unbeobachtet in einer Lage belassen, aus der er sich im Notfall nicht selbst befreien kann. Er müsste dauerhaft im monitorüberwachten »Kriseninterventionszimmer«– früher »Gummizelle« genannt– untergebracht werden. Im Hinblick auf seine Entlassung stellt dies eine Sackgasse dar. Aber die Therapeuten können gelassen bleiben. Die größte Ressource des Maßregelvollzuges besteht aus der Zeit, in der man auf die Einsicht der Patienten warten kann. Zeit, in der sie vieles ausprobieren können, um zu lernen, wie man »ins Leben zurückschwimmt«, wie es Gabriele Grupp formuliert.

Jedem hilft etwas anderes, darum ist die Palette der Therapieansätze breit gefächert. Neben der klassischen Psychotherapie können die Patienten Sport treiben oder Musik machen, sich künstlerisch oder handwerklich ausprobieren.

Nach der Visite zeigt mir die Oberärztin die Werkstätten, in denen professionell gearbeitet oder einfach nur gebastelt wird, denn auch im Umgang mit Laubsäge und Klebstoff können die Patienten erfahren, wie viel sie erreichen, wenn sie geduldig ein Projekt vorantreiben, es am besten mit einem Plan beginnen. Auf einen solchen würden seine Schützlinge gern verzichten, berichtet ein Ergotherapeut. »Manchmal lasse ich sie ins offene Messer laufen. Sie merken dann schon, warum es besser ist, zuerst eine Zeichnung anzufertigen.« Spätestens im zweiten Anlauf gelängen dann solche Projekte wie der Bau eines Vogelhäuschens oder einer kleinen Truhe. »Notfall« ist liebevoll auf einer Seite eingebrannt. Wenn sie fertig ist, soll sich darin alles versammeln, was ihren Besitzer in Stresssituationen beruhigt.

In der Beschäftigungstherapie werden auch sogenannte »Token-Pläne«– Bretter mit Stiftreihen– verziert. Wenn diese in den karg möblierten Zimmern aufgehängt worden sind, bekommen die Patienten jeden Tag eine bunte Scheibe, eine Farbe für die Tage, an denen sich der Patient gut geführt hat, eine andere für die, die weniger optimal verliefen. So kann man Verhalten visualisieren und den Patienten motivieren. Wie auch immer die Klinikmitarbeiter es schaffen: Ihre Schützlinge müssen mitarbeiten, müssen sich ändern, nur so können sie es schaffen, irgendwann für ihre Mitmenschen nicht mehr gefährlich zu sein.

Der größte Anreiz sind die bereits erwähnten »Lockerungen«, als da wären: Ausgang mit Bediensteten– unbegleiteter Ausgang– Urlaub tagsüber– Urlaub mit Übernachtung. Es gibt noch weitere Abstufungen, sodass man am Ende auf zwölf Möglichkeiten der Lockerung kommt. Die größte Diskussion verursacht der Übergang vom begleiteten zum unbegleiteten Ausgang– vor allem bei Gewalt- und Sexualstraftätern, erzählt mir Gabriele Grupp. Da kann es schon mal eine Dreiviertelstunde dauern, bis etwa dreißig, vierzig Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter und leitende Mitarbeiter der Pflege sich einigen, ob man einen Patienten bei der Staatsanwaltschaft für eine Lockerung vorschlägt. Andernfalls lautet die Empfehlung, der Patient müsse noch die Suchtgruppe oder die Gruppe für Sexualstraftäter besuchen oder sein Delikt gemeinsam mit seinem Psychotherapeuten noch gründlicher ins Verhältnis zu seiner Biografie setzen. Umgekehrt geht es schneller: Genehmigte Lockerungen können jederzeit gesperrt oder ganz zurückgenommen werden, je nachdem, wie gravierend der Patient gegen seine Auflagen verstoßen hat. Bei den meisten Rückfällen handelt es sich in den Augen von Außenstehenden um Lappalien nach dem Motto: »Hat er halt ein Bier getrunken!« Oder: »War doch nur eine kleine Verspätung!« Fachleute bewerten das strenger. Für sie gilt ein solches Verhalten als Mangel an Zuverlässigkeit, Kooperation und Einsicht in die Notwendigkeit. Mindestens ein halbes Jahr tadelloser Führung muss vergehen, ehe so ein Fehltritt verziehen ist. Dann erhält der Patient eine neue Chance. Er darf wieder eine Sprosse auf der Lockerungsleiter emporsteigen, die ihn irgendwann einmal– vielleicht– in die Freiheit führt.

Das Geburtstagsgeschenk

Dreiundzwanzig wird er in wenigen Wochen. Dreiundzwanzig. Was für eine Zahl! So mystisch, so unheimlich, so verheißungsvoll! Doch was würde schon auf ihn warten? Auf ihn, Niklas N., den Loser der Nation, schmächtig, schüchtern, stotternd? Nichts hatte er bislang hinbekommen, rein gar nichts. Damals in der Schule, als seine Großmutter ihm Briefe schickte, die »An den Gymnasiasten Niklas N.« adressiert waren, da galt er in der Familie noch als die große Hoffnung, der Erste in der Schar seiner Cousins und Cousinen, der das Abitur schaffen, der Erste, der aufsteigen würde. So ein Erwartungsdruck! Natürlich hatte er wieder einmal versagt, er hatte zu wenig gelernt. In der zwölften Klasse brach er die Schule ab. Seine Eltern waren tief enttäuscht. Bei seiner Mutter war ihm das egal, bei seinem Vater weniger. Der wollte nun, dass er Bäcker wurde, und organisierte ihm einen Ausbildungsplatz. Nach anderthalb Jahren warf er auch dort das Handtuch. Seine Eltern schmissen ihn zu Hause raus, er flüchtete zu einem Bekannten. Ein paar Monate später bewarb sich Niklas N. dann um die nächste Ausbildung, in einer Stadt, hundertdreißig Kilometer von seinem Geburtsort entfernt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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