Jepp! Da isse... - Ulrike Königsmann - E-Book

Jepp! Da isse... E-Book

Ulrike Königsmann

5,0

Beschreibung

Neugierig und vorfreudigst, naiv bis zeitweise unbedarft stürzt sich Julia, das Landei aus dem Sauerland, ins Großstadtleben. Per Hechtrolle über eine Hundeleine macht sie als erstes Bekanntschaft mit der Ur-Berlinerin Anna, lernt im Job deren schwulen Bruder André kennen und erkundet mit ihnen, welche pikanten Spezialitäten Louis Szenelokal nicht nur auf der Speisekarte zu bieten hat. Die Rolle der perfekten Mitarbeiterin, angepassten Tochter und besten Freundin ist ihr auf den Leib geschrieben, aber trotz diverser Peinlichkeitsqualen emanzipiert sich Julia von ihrer ländlichen Wohlerzogenheit. Die Freundschaft mit André öffnet ihr die Augen für Probleme, die auch eine homosexuelle Partnerschaft mit sich bringt. Ob als unfreiwillige Assistentin beim Männerstrip oder als „Mrs. Blond“, mit Jepp und Juhu schafft Julia fast immer eine Punktlandung. Ein „Det is-Berlin“ Szenario voller Herz und Schnauze durchzieht Julias erste Wochen in ihrem neuen Leben, etwa wenn sie mit Freundin Alex in geliehenen Schuhen durchs „Adlon“ stöckelt, oder André einer schnippischen Verkäuferin am Ku’damm zeigt, was eine Harke ist. Ob es ihr gelingt, von der Sauerländer Bockwurst auf Berliner Currywurst umzuschalten? Und was wird aus den gleich- und gegengeschlechtlichen Beziehungskrisen, wenn der Vorhang der Travestieshow sich hebt, in der nicht nur André eine Starrolle spielt? Ulrike Königsmanns Roman ist eine mit leichter Hand geschriebene Liebeserklärung an Berlin, die ganz nebenbei den Blick auf die „andere Normalität“ lenkt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 275

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (16 Bewertungen)
16
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DANKE!!!

Danke, mein lieber Schatz, dass du mich immer hast in Ruhe schreiben lassen.

Danke, meine liebe Bea, für deine Geduld und Motivation.

Danke an meine lieben Zicken, für die vielen, tollen Erlebnisse.

Danke, meine kleine Mami.

Danke Berlin.

Autorin

Ulrike Königsmann, 1967 im Sauerland geboren.

Nach dem Fachabitur absolvierte Sie eine Ausbildung in der Raumausstattung. 1999 zog es sie nach Berlin.

In der Branche lernte sie viele Homosexuelle und deren Probleme kennen.

Wieder im Sauerland lebend, wechselte sie die Branche und war als Personalleiterin tätig.

Da, gerade in ländlichen Gegenden, trotz der anerkannten Verehelichung, Homosexuelle leider immer noch auf Ablehnung und Spott stoßen, entschied sie sich dazu, viele ihrer Erlebnisse zu einem Buch zu verfassen. Mittlerweile arbeitet sie als freie Dozentin und Trainerin. Hierbei richtet sie ihren Fokus besonders auf die unterschiedliche Kommunikation zwischen Mann und Frau im Beruf.

Ein modernes, spannendes Thema, das immer mehr den Unternehmenserfolg stärkt.

Jepp! Da isse…, die kleine Dorfnudel Julia. Mittendrin, in Berlin. In Charlottenburg. Endlich! Okay, mit 33 Jahren vielleicht nicht mehr die Jüngste, um die große, weite Welt zu entdecken. Aber besser spät als nie.

Als die meisten meiner Freunde damals zu studieren begannen und sich deutschlandweit verteilten, bin ich mal lieber in meinem kleinen Dorf geblieben und habe eine Ausbildung gemacht.

Es fiel mir schwer, mich für eine Studienrichtung zu entscheiden. Außerdem war ich schon immer ein Spätzünder. Und ein Freund, der niemals Muttis Rock losgelassen hätte, war da auch noch. Aber jetzt, jetzt bin ich ja endlich da. Mit einem Glas Sekt in der Hand inspiziere ich nochmal meine Wohnung. Altbau, der Traum jeder Innenausstatterin. Für ein Penthouse hat es nun mal nicht gereicht. Außerdem hat ein Altbau viel mehr Charme. Knarrende Dielen, hohe Decken mit Stuck und ein Berliner Zimmer, sprich, ein Raum, der von drei Seiten begehbar ist, keine Frage, das musste mein Wohnzimmer werden.

Schwupp, durch die große Doppeltür, und schon stehe ich im Schlafzimmer. Ach, sind hohe Decken toll. Vielleicht sollte ich mir einen üppigen Stoffhimmel übers Bett hängen und darüber eine Lichterkette legen. Schön romantisch und kuschelig. Romantisch ist toll, wenn frau es denn mit jemandem teilen kann. Aber da ist keiner, zumindest im Moment nicht.

Na ja, das kann sich schnell ändern. Nur - will ich das jetzt überhaupt? Natürlich ist es zu zweit schöner! Aber allein die Vorstellung, ich hätte in den letzten Tagen mit einem Mann darüber diskutieren müssen, wo welche Lampe hinkommt und wie die Wände gestrichen werden sollen, oder mit welchem Hightechgerät ein einfaches kleines Bild angebracht werden soll, löst bei mir sofort Horrorgedanken aus.

Wieso in aller Welt müssen Männer darüber soooo lange diskutieren?

"Nein Schatz, das Bild hält nicht, wenn wir nur einen Nagel nehmen. Es wird garantiert herunterfallen."

Und dann geht es los: Bohrmaschine, Dübel, Schrauben, Verlängerungskabel, Leiter, Zollstock, Bleistift, alles wird herbeigeholt. Und das nicht schnell, nein! In aller Ruhe, mit einer Zeichnung und einer Liste, was man alles braucht in der Hand, pendelt er nachdenklich, so, als müsse er den Dieselmotor neu erfinden, zwischen Wohnung und Keller hin und her.

Nach einer gefühlten Stunde stellt sich heraus, dass das gebohrte Loch für den Dübel viel zu groß ist. Und da keine größeren Dübel da sind, muss er noch mal "schnell" in den Baumarkt fahren.

Wieder eine Stunde später ist Mann zurück, um festzustellen, dass das Loch doch so groß ist, dass es erst unterfüttert werden muss, bevor überhaupt irgendwas in der Wand hält. Und bis das Bild dann endlich hängt, ist der Nachmittag auch schon rum. Aber das stört ihn nicht.

Selbstgefällig steht Mann nach getaner Tat stundenlang da, nicht um das Bild zu betrachten, sondern aus purer Freude an der eigenen Leistung. Das Ganze am besten noch mit einer Pulle Bier in der Hand. So sind sie, die Männer! Und dafür brauche ich mal keinen, das ist sicher!

Die praktisch veranlagte Frau von heute holt aus einer der vielen Krimskrams-Schachteln einen Nagel und einen Hammer. Falls letzterer gerade nicht auffindbar oder gar nicht vorhanden ist, nimmt frau einen Pumps, dessen Absatz schon leicht lädiert ist - wovon frau immer einige besitzt. Das Bild wird kurz an die Wand gehalten um die Höhe abzuschätzen, um dann mit Schmackes den Nagel mit dem Schuhabsatz in die Wand kloppen. Bild dran, und fertig! So kann frau sich nur drei Minuten später der nächsten Aufgabe widmen, nämlich neue Pumps zu kaufen.

Jedenfalls war der Umzug mit meinen Freundinnen ein Klacks.

Eine Woche vor der Abreise habe ich jeden Abend ein paar Kisten gepackt. Dann kam alles in den Siebeneinhalbtonner und ab ging die Post.

Zwar war es auf der Autobahn schon ein komisches Gefühl, mit meinem gesamten Hab und Gut fünfhundert Kilometer durchs Land zu ziehen. In diesem LKW war alles drin, was ich besitze: von der Zahnbürste über den Kleiderschrank, Fotos, Vasen, Stofftiere, CD´s, meine Froschklobürste bis zu tausend anderen Dingen, die mein Leben ausmachen. Allein der Gedanke, dass all diese Sachen durch einen Unfall oder Achsbruch auf der Straße liegen könnten, ließen mich vor jedem Schlagloch bremsen.

Nachdem ich einmal tatsächlich etwas heftiger gebremst hatte, schlugen meine Mädels ganz dezent einen Fahrerwechsel vor. Eine gab vor, dringend zur Toilette zu müssen. Also fuhr ich auf den nächsten Rastplatz.

Die Nächste meinte, sie wolle noch mal kurz die Reifen überprüfen, natürlich mit dem Hintergedanken, dass ich vor lauter Sorge sofort mit aus dem Lkw hüpfe und selbst nachsehe. Kaum hatte ich mich vom Fahrersitz gehangelt, da war er auch schon wieder besetzt.

Mit den Worten: „Entweder du steigst auf der anderen Seite ein, oder du bleibst hier“, wurde ich erpresst.

So sind sie, meine Mädels! Hart, aber herzlich.

Endlich in meiner neuen Wohnung angekommen, wussten alle, was zu tun war. Keine nörgelte über schlechtes Werkzeug, oder falsche Dübel, und alles war bestens organisiert.

Zum Schleppen der schweren Möbel hatte ich zwei kräftige Studenten übers Internet geordert. Kurze und knappe Einweisungen, wo was hin soll und schwuppdiwupp stand alles an seinem Platz. Sauerländer Frauenpower mitten in Berlin! Zugegeben, ein wenig männliche Muskelkraft war auch noch dabei.

Aber nun sind sie wieder weg, Alex, Tanja und Moni. Lediglich das bezogene Bett im Gästezimmer und die aufgepumpte Luftmatratze erinnern daran, dass die Drei heute Mittag noch hier waren. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass sie jeden Moment wieder zu Hause angekommen sein müssen, also im Sauerland. Denn mein Zuhause ist ja jetzt Berlin! Jawoll!

Die Sonne geht langsam unter. Ich beschließe, mein Glas noch einmal zu füllen und mich auf den Balkon zu setzen. Es ist herrlich, Ende April in der Abenddämmerung draußen zu sitzen und die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen. Hier ist überall Leben. Auch an einem Sonntagabend sind noch Menschen auf der Straße. Ich sehe Autos und Busse, anstatt Hühner und Kühe. Morgen früh werde ich nicht vom Hahn des Nachbarhofes geweckt werden, ein tolles Gefühl!

Langsam wird es doch frisch hier draußen. Am besten, ich weihe mal die Badewanne ein und pflege meine müden Muskeln. So ein Umzug ist doch anstrengend, vor allem wenn man keine zwanzig mehr ist. Ein Blick in den Spiegel beweist mir aber, dass ich mich noch ganz gut sehen lassen kann. Einssiebzig groß, schlank, lange, blonde Haare, nur schade, dass ich solche Mischmasch-Augen habe. Egal, wie lange ich hingucke, eine klare Farbe kann ich da nicht wirklich erkennen. Ein wenig Blau, ein wenig Grau, ein wenig Grün.

Als ich vor Jahren mal einen neuen Pass brauchte, fragte mich die Tante beim Amt die üblichen Dinge ab. Als sie bei den Augen ankam, sagte ich ihr, sie könne sich eine Farbe aussuchen. Sie schaute mich an und meinte: "Grün, Ihre Augen sind grün". Für mich ein Zeichen dafür, dass die gute Frau schon viel zu viel "Grün"zeug gefuttert, oder zu lange auf ihre "Grün"pflanzen gestarrt hatte. Seitdem sind meine Augen also offiziell grün!

Ich liege in der Badewanne und lasse meine Gedanken schweifen: Nun habe ich noch eine volle Woche, bevor ich meinen neuen Job antrete. Sieben Tage, in denen ich in aller Ruhe die Stadt erkunden kann. Die üblichen Touri-Plätze, wie das Brandenburger Tor, die Goldelse, den Reichstag und den Potsdamer Platz kenne ich längst. Schließlich hatte ich der Stadt in den letzten Jahren schon oft genug einen Besuch abgestattet.

Nach dem Bad werde ich mich gleich noch gemütlich, in meine Decke eingemummelt, auf den Balkon setzen und den Abend ganz in Ruhe ausklingen lassen und morgen gaaanz lange schlafen.

Bing bang bong, bing bang bong ... Julia, du träumst. Was ist das, Hochzeitsglocken? Nein, ich will nicht heiraten! Bing bang bong. Oh Mann, ist das laut. Hallo Julia, aufwachen. Für einen Traum ist das viel zu laut. Und ich will auch wirklich nicht heiraten.

Uff, meine Augen sind offen, also bin ich wach. Ich drehe mich auf den Rücken, aber wieso höre ich immer noch das Glockengeläut aus dem Traum? Das kommt von draußen. Langsam stehe ich auf und gehe ans Fenster. Was versteckt sich da hinter den hohen Bäumen? Eine Kirche? Eine Kirche in meiner Nachbarschaft?

Oh nein! Wieso habe ich die nicht bei der Wohnungsbesichtigung gesehen? Wie spät ist es eigentlich? Sieben Uhr! Es ist erst sieben Uhr? Nein, es ist drei nach sieben und die Glocken schweigen. Endlich. Wieso darf eine Kirche am frühen Morgen schon so einen Lärm machen? In Kleinstädten darf man nach 22 Uhr nicht mehr im Biergarten sitzen und lachen. Kinder werden in der Mittagszeit von den Straßen gescheucht, weil sie die Mittagsruhe stören. Aber morgens dürfen diese Glocken mich aus dem Bett schmeißen. Muss ich das verstehen?

Ich lasse mich auf den Bettrand sinken. Okay, kein Hahn mehr um fünf, dafür Kirchenglocken um sieben. Ob das ein guter Tausch ist, weiß ich nicht. Was ich weiß, ist, dass das Fenster ab heute nachts geschlossen bleibt.

Meine erste Woche in Berlin ist schnell vorbei. Unfassbar! Was habe ich erlebt? Nüschte, wie der Berliner sagt. Einen ganzen Tag habe ich in der Wohnung mit Kleinkram erledigen zugebracht: aufräumen, waschen, bügeln, putzen. Hausfrauenleben! Was noch? Ach ja, ich habe mich umgemeldet, mein offizieller Wohnsitz ist jetzt Berlin. Dann habe ich Charlottenburg erkundet, auf Inlinern. Wie ich feststellen musste, ist das in dieser Stadt nicht so einfach, denn Berlin ist eine Hundestadt. Was zur Folge hat, dass man entweder kleinen braunen Haufen ausweichen, oder waghalsig-sportlich über diverse Hundeleinen springen muss. Deshalb entschied ich mich, in Richtung Wannsee zu fahren. Schließlich musste ja auch diese Gegend erkundet werden. Außerdem war es ungewiss, ob ich dazu noch viel Zeit haben würde, wenn ich erst wieder arbeite. Und für die nächsten Wochen hatten sich bereits die ersten Besucher angemeldet. Da wollte ich mich zumindest ein wenig auskennen und wissen, wo was ist.

Und Shoppen war ich. Als Landei bekommt man in Berlin die volle Breitseite an Reizüberflutung. Auf dem Ku'damm weiß man erstmal gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll, Geschäfte über Geschäfte, Läden über Läden. Am lustigsten ist es in Ullis Resterampe. Mein Gott, wer kauft bloß diesen kitschigen Chinakram? Kissen, von denen man schon Pusteln kriegt, wenn man sie nur ansieht, geschweige denn das Gesicht drauflegt. Zehn Paar weiße Tennissocken für zwei Euro. Die ziehen selbst die Sauerländer Bauern nicht mehr in den Gummistiefeln zum Stallausmisten an. Allein der Geruch in diesem Laden macht einen so schwindelig, dass der Verstand komplett versagt und man mit in den Billigrausch gezogen wird. Gut, dass die Riesenpackung Spülschwämme nah bei der Eingangstür lag, so dass mein Gehirn noch einen Rest Sauerstoff abbekam und mir die Frage stellte, wie viele Jahre ich als Single damit spülen wolle? Ich sah mich schon alt und schrumpelig meinen Enkelkindern erzählen, wie toll Ein-Euro-Läden sind, und dass ich diese fantastischen Spülschwämme schon vor dreißig Jahren in Ullis Resterampe gekauft hätte.

Am Mittwoch hat es geregnet. Ok, das ist man als Sauerländer gewohnt. Schade nur, dass ich meinen Haushaltskram schon komplett erledigt hatte.

Also habe ich mal ein paar Museen abgeklappert. Ein bisschen Kultur kann ja nicht schaden. Unschön war nur, dass ich nicht die Einzige war, die diese Idee hatte. Massen von gelben, blauen, grünen und roten T-Shirts, wohin das Auge blickte. Alle paar Meter ein anderer Farbklecks mit Schulklassen!

Den Lehrern ist wohl der Stoff ausgegangen. Es konnte doch nicht sein, dass in der fünften Klasse der gleiche Unterricht gemacht wurde, wie in der achten? Oder musste man als Berliner Kind jedes Jahr ins Museum? Die sollten lieber mal mit den Kids aufs Land fahren und sie ein paar Stunden auf dem Bauernhof helfen lassen, damit sie wissen, dass die Milch nicht schon mit zwei braunen Pappdeckeln versehen als Milchschnitte aus der Kuh kommt. Ich meine, welches Kind mag schon Museen? Und auf dem Land, da lernt man als Stadtkind eine Menge.

Donnerstag schien wieder die Sonne. Da ich den Muskelkater vom Skaten wieder los war, aber keine Lust hatte, über Hundeleinen zu hechten, habe ich mich auf mein Rad gesetzt. Ziel: an der Spree entlang zum Tiergarten. Ich bin immer noch überwältigt, wie viele Menschen hier tagsüber unterwegs sind. Müssen die alle nicht arbeiten? Zugegeben, ich bin ja auch unterwegs, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es all denen so geht wie mir, und sie am Montag ihre neuen Jobs aufnehmen. Oder haben die Urlaub? Ne, dann wären jetzt sämtliche Büros und Geschäfte ohne Personal. Genauer betrachtet, könnten die meisten Studenten sein. Sicher, manche würden eher als Professor durchgehen, aber das sind nur wenige.

Und dann kam er mir entgegen. Groß, gute Figur, nicht so ein Hungerhaken, aber auch nicht dick. Dunkle, etwas längere Haare wippten beim Joggen auf und ab. Hey, hatte der mich angelächelt? Ich drehte mich kurz nach ihm um, als mein Rad zu blockieren schien, und schon lag ich auf dem Gehweg. Treue Hundeaugen blickten mich an. Im nächsten Moment hörte ich sein Frauchen rufen: "Poldi, wat machste denn widda? Ne, ne, ne. Is Ihnen wat passiert?"

Ich war noch gar nicht so weit gekommen, um das zu checken. Aber es tat nichts weh, und bewegen konnte ich mich auch noch. Ich erwiderte, dass alles okay sei, aber es sei vielleicht besser, für so einen temperamentvollen Hund eine kurze Leine, statt dieser zehn-Meter-Schnappleine zu benutzen. Ich stand auf, klopfte mir den Staub ab und schaute noch kurz dem gutaussehenden Jogger hinterher. Prompt kommentierte die Hundebesitzerin, die ungefähr in meinem Alter war, meinen Blick mit der Bemerkung: "Ja, ja, det is ne echte Verschwendung mit die Schwule. Dat denk ick och immer, wenn ick die seh, wa?“ Und schon marschierten Poldi und Frauchen weiter.

Nach diesem kleinen Schock fuhr ich erstmal in den nächsten Biergarten und bestellte mir einen halben Liter Radler.

Woher wusste Poldis Frauchen, dass der Typ schwul war?

Freitag war dann irgendwie der Tag der Telefonie. Als hätten sie sich abgesprochen, riefen alle meine Freundinnen nach und nach an, um sich zu erkundigen, wie denn wohl meine erste Woche verlaufen sei, und ob ich schon nette Typen kennengelernt hätte.

Natürlich wurde über meinen kleinen Sturz herzlich gelacht.

Irgendwie habe ich den ganzen Tag gequatscht. Das war echt komisch nach einer kommunikationsarmen Woche. Aber auch sehr schön.

Und am nächsten Morgen sollte ich in meinen ersten Arbeitstag starten.

Montagmorgen, halb acht, die Frisur sitzt.

Nun ja, was soll auch an meinen blöden Spaghetti-Haaren nicht sitzen? Da gibt es nur glatt oder ganz glatt. Mehr ist damit ohnehin nicht zu machen. Doch, einen Zopf, aber ohne Ponny sieht das eher streng aus. Da dies am ersten Tag unter den neuen Kollegen einen schlechten Eindruck hinterlassen könnte, bleiben die Haare offen.

Schnell die Treppen runter, links um die Ecke, eine Straße überqueren, und schon bin ich da. Purer Luxus, kein Auto, keine S- oder U-Bahn, einfach nur ein paar Minuten Fußmarsch. Fantastisch!

"Ah, Frau Soltau", begrüßt mich mein neuer Chef, "schön, dass Sie schon da sind. Wir werden uns gleich zu einem kleinen Meeting zusammensetzen, damit Sie Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen kennenlernen. Nehmen Sie doch schon mal Platz, die anderen kommen auch gleich.“ Prima, so gefällt mir das. Ich hätte es nämlich schrecklich gefunden, jedem einzeln vorgestellt zu werden und allen immer wieder das gleiche zu erzählen. Spätestens beim Dritten hat man dazu keine Lust mehr und wirkt bereits am ersten Tag gelangweilt.

Nachdem alle sitzen, stellt sich jeder kurz mit seinem Namen vor und erzählt, was er in der Firma macht und wie lange er oder sie schon in der Firma ist. Vom Polsterer über den Raumausstatter bis zu den Näherinnen ist alles da, was einen Innenausstatter ausmacht. Sehr schön, dann kann ja nichts mehr schief gehen. Nachdem wir uns auf ein unkompliziertes "Du" geeinigt haben, führt mich mein neuer Kollege André durch den Betrieb und zeigt mir meinen neuen Arbeitsplatz. "Wenn du nischt dajegen hast, werd ick dir mal hier eenarbeeten, wa?"

Ne, was sollte ich dagegen haben? Ist ja wirklich sehr nett, dieser André. Allerdings werde ich irgendwie das Gefühl nicht los, dass dies meine nächste Begegnung mit einem Schwulen ist. Seine Gestik war irgendwie... leicht übertrieben, um es vorsichtig auszudrücken. "Sag mal“, näselte er, "und du kommst wirklich janz alleene vom Dorf in die Jroßstadt Bärlin?". "Ja“, antworte ich, "nachdem ich sämtliche Lebensläufe aller Tiere in meinem kleinen Dorf auswendig kannte, wollte ich mal ein paar Menschen kennenlernen, und schauen, ob ich mit denen auch klar komme." Er grinst, "Kleene, du has Humor. Det find ick jut. Wenn de am Wochenende noch nischt vorhast, können wir jerne mal zusammen losziehen. Jibt et bei euch och schwule Viecher?" Jetzt muss ich lachen. Mein Verdacht, dass André schwul ist, hatte sich bestätigt. Ich finde ihn echt witzig, und habe das Gefühl, dass ich gerade dabei bin, Freundschaft mit ihm zu schließen. "Na klar", gebe ich keck zurück, "das waren mir immer die liebsten."

Das war also der Auftakt zu meinem ersten Arbeitstag in Berlin. Den Rest des Tages mühte ich mich durch das spezielle Computerprogramm und ließ mir sämtliche Abläufe erklären.

Feierabend! Mein Kopf qualmt von den vielen neuen Eindrücken. Ich werde wohl noch einiges lernen müssen, bis ich mich in der Firma richtig zurechtfinde. Aber Flexibilität ist eine meiner leichtesten Übungen. Ha! Ich habe doch schon in ganz anderen Situationen versagt. Mit ein bisschen Spucke klappt alles, wenn frau es nur will.

Nachdem ich einen Salat gegessen habe, sitze ich nun wieder auf meinem Balkon und genieße aufs Neue das bunte Treiben auf der Straße unter mir.

Ja, so lasse ich mir das Leben gefallen. Toller Job, tolle Wohnung! Ich kann den Abend ganz entspannt ausklingen lassen.

Die restliche Arbeitswoche besteht hauptsächlich darin, dass ich zu Aufmaßen mitgenommen werde, Kunden kennenlerne und mich mit dem umfangreichen Sortiment an Gardinenstoffen, Sonnenschutz, Tapeten und Teppichmustern vertraut mache. Da ich vieles davon schon aus meinem vorherigen Job kenne, fasse ich schnell Fuß und fühle mich sauwohl. Meine neuen Kolleginnen und Kollegen, inklusive Chef, sind alle sehr nett, so dass es mir sehr viel Spaß macht, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

André habe ich aufgrund seines Humors besonders ins Herz geschlossen. Alles in allem fühle ich mich rundherum wohl. Und schwupp ist die erste Woche auch schon rum. Ich sitze also wieder mal auf meinem Balkon, um den Tag zu beschließen.

Das Telefon reißt mich volle Kanne aus meinen Gedanken. Alex! "Hi Julia! Wir platzen alle vor Neugierde. Erzähl mal! Ist dein Chef nett? Wie sind die Kollegen?" Fragen über Fragen. Ich bemühe mich, alles bis ins kleinste Detail zu berichten. Natürlich muss auch Alex über André lachen. "Das scheint ja wirklich ein lustiges Kerlchen zu sein, aber wenn du endlich einen Freund haben willst, solltest du nicht zu viel Zeit mit André verbringen. Sonst wird das nie was mit dir und Familie."

Da hat sie wohl Recht, aber auch leicht reden. Alex hatte nämlich während des Studiums in Köln ihren jetzigen Mann Thomas kennengelernt, der nicht nur groß ist und gut aussieht, sondern ihr auch noch jeden Wunsch von den Augen abliest und sie auf Händen trägt. Gut, er ist beruflich viel unterwegs, und Alex muss dann sehen, wie sie mit den mittlerweile drei Kindern alleine klarkommt. Aber dafür hat sie auch viele Freiheiten. Die beiden sind eben ein absolutes Vorzeigepaar in einer modernen Neubausiedlung. Alex erzählt mir noch, was sie am Wochenende alles mit ihren Kids unternehmen wollen, wünscht mir zwei schöne Tage und wir legen auf.

Während ich mich abschminke und mir die Zähne putze, denke ich darüber nach, wie mein Wochenende wohl aussehen wird. Vermutlich werde ich wieder alleine irgendwelche Aktivitäten starten müssen. Aber nach zwei Wochen in einer neuen Stadt kann man kaum erwarten, dass man schon eine Menge Menschen kennt. "Alles wird gut, Julia", beruhige ich mich und gehe schlafen.

Wenn man morgens ausschlafen kann, ist die schönste Phase das Wachwerden. Im Kopf wird es leicht hell, so als würde jemand einen Dimmer einschalten und ihn langsam heller stellen. Ein sehr angenehmes Gefühl. Als nächstes kommen auch die Gedanken gaaanz langsam in Bewegung. Zuerst erscheinen die letzten Fetzen eines Traums, die immer mehr verblassen, bis man gar nicht mehr weiß, ob man überhaupt etwas geträumt hat. An dem Punkt angekommen, stellt man sich die Frage: Bin ich wirklich schon wach? Man öffnet die Augen und genießt noch ein paar Minuten lang die wohlige Wärme des Bettes, ein wunderbares Gefühl.

Just in diesem Moment klingelt mein Telefon. Mit einem Blick auf die Uhr schlage ich die Bettdecke weg und fröstele sofort. Wer wagt es, mich an einem Samstagmorgen um neun Uhr schon anzurufen?

"Julia Soltau", nuschle ich verschlafen. "Hallo Julia! Ick bins, André. Hab ick dir etwa jeweckt?" Das "etwa" hätte er sich sparen können. "Ich dachte, in der Großstadt, wo man nicht vom Hahnenschrei bei Sonnenaufgang geweckt wird, ticken die Uhren an einem Samstagmorgen etwas langsamer...", gab ich zurück.

"Da der Teil deinet Jehirns, in dem der Humor sitzt, schon aktiv ist, kann et ja so schlimm nicht sein!" Eins zu null für André.

"Ick dachte, bevor du so alleene zu Hause rumsitzt, könnteste och mit meener Schwester und mir brunchen jehen. Wir treffen uns um elfe am KaDeWe. Haste Lust?" Klar hatte ich Lust. War ja ne echte Alternative, anstatt alleine ein trockenes Brot zu essen. Mein Kühlschrank hatte nämlich außer weißen Wänden nichts mehr vorzuweisen und musste dringend gefüllt werden.

„Um elf?“ frage ich, „das ist ja erst in zwei Stunden, und da rufst du jetzt schon an?“

André lacht. „Ick wollte uf der sicheren Seite seen, det du och jenuch Zeit zum Stylen has, wa? Also wat is nu?“

Eine absolute Frechheit, mir zu unterstellen, dass ich zwei Stunden brauche, um vorzeigbar auszusehen.

"Klar, ich bin dabei! Wenn deine Schwester nichts dagegen hat?" "Ne, ne, die is och immer die janze Woche uf Arbeit und freut sich, wenn se mal een neuet Jesicht sieht."

Als ich den Hörer auflege, frage ich mich, wie man sich in so einer großen Stadt darauf freuen kann, ein neues Gesicht zu sehen. Hier sind doch überall neue Gesichter!

Zwei Stunden später gehe ich aufs KaDeWe zu, und blicke mich suchend nach André um. Ein kleiner weißer Hund kommt mir in dem Menschengewühl entgegen. Am Ende seiner Leine erkenne ich ein bekanntes Gesicht. Klar, das sind Poldi und sein Frauchen. Bevor ich "hallo" sagen kann, springt Poldi schon an mir hoch. Große Kulleraugen blicken mich erwartungsvoll an. Es folgt der Satz, den ich kürzlich schon einmal aus demselben Mund gehört habe: "Poldi, wat machste denn widda?"

"Na, das ist ja ein Zufall", höre ich mich sagen, während ich Poldi kurz streichle. "Det kannste wohl laut sajen, wa?" antwortet die Hundebesitzerin. Ein bisschen hilflos stehen wir in uns in der hektischen Menschenmenge gegenüber, als André abgehetzt um die Ecke biegt. Er entschuldigt sich für seine Verspätung und schaut uns überrascht an. "Ihr kennt euch schon?" Jetzt gucken Poldis Frauchen und ich verwirrt von einem zum anderen. "Ne...", sagen wir gleichzeitig. "Also nicht wirklich", bemerke ich. "Na, det is Anna, meene Schwester, und det is Julia, meene neue Kollegin, von der ick dir erzählt habe". Mit großen Augen sehen Anna und ich uns an und müssen beide lachen. "Wat is denn jetzte daran so lustig?" will André wissen. "Dette erzählen wa dir mal später. Jetzt lass und ersma wat essen jehen, ick verhungere sonst jleich", meint Anna, hakt sich bei André und mir ein und wir schieben uns zwischen den Passanten ein paar Strassen weiter zu einem der vielen Cafés.

Da es das Wetter zulässt, entschließen wir uns, an einem der letzten freien Tische draußen Platz zu nehmen.

Anna und ich verstehen uns auf Anhieb richtig gut. Wir reden wie ein Wasserfall über Gott und die Welt. Sie erzählt mir, dass sie "uf Büro" arbeitet und dafür zuständig ist, die Außendienstmitarbeiter so effektiv wie möglich einzusetzen. Zwar würde sie sehr viel telefonieren, aber oft den ganzen Tag über kaum einen Menschen zu Gesicht bekommen. Daher also Andrés Hinweis, dass seine Schwester sich freue, mal ein neues Gesicht zu sehen. Zwischendurch lästern wir über die vorbeigehenden Leute, die schrill angezogen sind, komische Frisuren haben, oder sich einfach komisch benehmen. Natürlich erzählen wir André auch von unserer ersten Begegnung an der Spree. Danach war der Gute aber irgendwie ein wenig abgeschrieben. Kein Wunder bei unserem Geschnatter. Zwischendurch schaffen wir es tatsächlich mal kurz in unsere frischen Brötchen, sorry, ich meine natürlich Schrippen, zu beißen, um dann mit vollem Mund weiterzureden, so als würden wir uns schon ewig kennen. Natürlich möchte Anna wissen, wo ich denn herkomme, und was mich dazu bewogen hat, vom Sauerland nach Berlin zu ziehen. Ich erzähle ihr in kurzen Sätzen, soweit das bei frau möglich ist, meine Geschichte. Dabei blickt sie immer wieder zwischen meinem Teller, auf dem eine üppig belegte Schrippenhälfte liegt, und mir hin und her. "Ist etwas?" unterbreche ich meinen Bericht. "Darf ick meene Zähne mal in deene Schrippe schlagen?" Den Rest des Satzes hören André und ich vor lauter Lachen nicht mehr. Da war noch was mit "sieht so lecker aus", oder so.

Für Anna scheint das völlig normal zu sein. Trotzdem lacht sie mit. Dabei wippen ihre schulterlangen, braunen Locken lustig auf und ab. Ich schiebe den Teller zu ihr rüber. "Natürlich Anna, du kannst es auch gerne aufessen, ich bin eh schon lange satt." André, der nach einer Stunde Frauengeschnatter auch mal wieder zu Wort kommen will, spielt den Entrüsteten: "Anna, dir kann man echt für jut nich mitnehmen." "Na det sacht jrad der Richtije!" kontert Anna schlagfertig. "Wat wollten wir zwee noch jleich machen? Nen Kleid für dich koofen für den Christopher Street Day?"

"Klar, da muss ick doch jut aussehen, wenn ick uf dem Wagen mitfahre", lautet seine Antwort. Und an mich gewandt: "Julia, falls et dir noch nich ufjefallen ist, meene Schwester hat immer det letzte Wort." Da könnte André Recht haben.

Anna fragt, ob ich nicht mitkommen möchte. „Det wird bestimmt witzig."

Ich gebe zu, der Gedanke ist verlockend. Aber ich bin mir nicht sicher, ob André das so toll findet, wenn ich ihm beim Kleideranprobieren zusehe. Auch wenn wir uns wirklich gut verstehen und sehr viel Spaß zusammen haben, sind wir doch Arbeitskollegen, und das auch noch nicht besonders lange.

Dankend lehne ich ab und begründe meinen Entschluss damit, dass ich dringend meinen Nahrungsmittelvorrat auffüllen muss, wenn ich nicht das ganze Wochenende mit knurrendem Magen herumlaufen will. Dafür hat Anna großes Verständnis.

"Aber wenn ihr erfolgreich ward, schau ich mir gerne bei Gelegenheit das Ergebnis an", verspreche ich, denn dieser ungewöhnliche Kleiderkauf interessiert mich sehr… Frauen wurde die Neugier ja bekanntlich mit in die Wiege gelegt.

Wir entschließen uns zu zahlen, und sind uns einig, dass dies sicher nicht das letztemal war, dass wir Zeit miteinander verbracht haben.

Beim Abschied plaudern Anna und ich noch darüber, was wir in nächster Zeit gemeinsam unternehmen könnten. André schüttelt nur lächelnd den Kopf, schnappt sich schon mal die Hundeleine mitsamt Poldi dran, und geht langsam vor, was Poldi nicht besonders zu gefallen scheint, denn er dreht sich immer wieder zu seinem Frauchen um. "Du, sei mir nich böse, aber bevor meen Poldi widda an mangelndem Selbstbewusstsein leidet, weil meen Bruder dem armen Hündchen wieder sacht, wie dumm er ist, weil er uf "sitz" und "Platz" nicht reagiert, jehe ick ma lieba. Sonst muss ick den Poldi nämlich widda mit janz viel Leckerchen ufbauen." Sprachs, geht los, und dreht sich nochmal winkend zu mir um.

Also, dass Poldi zu viele Leckerchen nicht bekommen, das konnte ich anhand seines "leicht" gewölbten Bauches sehen. Aber dass man das Selbstbewusstsein eines Hundes aufbauen muss, weil andere sagen, der Hund sei dumm, das konnte wohl nur ein Hundeliebhaber verstehen. Schmunzelnd schaue ich den Dreien hinterher, bevor ich mich ebenfalls auf den Weg mache. Schon zwei Uhr, wie schnell die Zeit vergangen ist. Da hier die Geschäfte auch am Wochenende länger geöffnet sind, habe ich jedoch keine Eile.

Anders als in meiner sauerländischen Heimat, wo schon seit einer Stunde alle Läden dicht sind und kein Mensch mehr auf der Straße ist. Dort hätte ich in keinem Café zum Brunch sitzen können. Bei uns gibt es nur Frühstück. Sonntags. Von neun bis elf! Wer bitte schön, steht am einzigen Tag der Woche, an dem man ausschlafen kann, freiwillig um neun Uhr auf, um spätestens um zehn Uhr zum Frühstück im Café zu sitzen? Das können doch nur Leute mit Schlafproblemen sein, die vor Langeweile sterben.

Wieso rege ich mich eigentlich auf? Ich bin satt und hatte einen sehr schönen und lustigen Vormittag.

Meinen Balkon liebe ich mit jedem Tag mehr. Nach dem Einkauf habe ich mir noch schnell zwei Balkonpflanzen im Blumengeschäft gegenüber geholt. So langsam wird es bei mir richtig gemütlich. Wie praktisch, alle Geschäfte so nah beieinander zu haben. Vom Bäcker über das Lebensmittelgeschäft bis hin zur Reinigung ist alles in drei bis vier Minuten zu erreichen. Sogar ein Brautmodenladen ist schräg gegenüber. Daneben gleich das Blumengeschäft.

Wahrscheinlich ist in dem großen Gebäude zwei Häuser weiter auch gleich die Kanzlei eines Scheidungsanwalts. Und wer da nach einem Termin herauskommt, landet gleich in der Kneipe an der Ecke, um, je nach Anwaltsprognose seiner finanziellen Zukunft, auf selbige anzustoßen oder sich vor lauter Frust zu besaufen.

Davon bin ich weit entfernt. Stattdessen sitze ich mal wieder in meine warme Decke eingemuckelt auf dem Balkon und begutachte meine neu angeschafften Pflanzen.

Ob es schon zu spät ist, um Tanja anzurufen und ihr von meinem abwechslungsreichen Vormittag zu erzählen. Ich probiere es einfach mal.

Natürlich hat Tanja kein Verständnis dafür, dass ich nicht mit André und Anna shoppen gegangen bin. "Das kannst du dir doch nicht entgehen lassen. Da kannst du schon mal was erleben in der Hauptstadt, und du gehst lieber nach Hause! Der kennt bestimmt tolle Insiderläden, die du mir dann mal hättest zeigen können. Vielleicht hättest du für dich auch ein tolles Abendkleid gefunden..."

"Klar", antworte ich "und wann soll ich das bitteschön anziehen? Oder habe ich was verpasst und ihr heiratet bald?" Tanja ist nämlich seit gefühlten siebenundneunzig Jahren mit Kai zusammen, aber irgendwie war von Hochzeit nie die Rede. "Solange er mir keinen vernünftigen Antrag macht, werde ich ihn nicht heiraten. Da bin ich altmodisch, das weißt du!" Ja, weiß ich. Und ich weiß auch, dass Tanja sich nicht damit zufriedengibt, wenn Kai sich einfach vor sie hinkniet und ihr mit einem Ring in der Hand einen Heiratsantrag macht. Vermutlich steht der arme Kerl so unter Druck, sich etwas Besonderes einfallen zu lassen, dass er irgendwann kapituliert. So kann man den Männern das Heiraten auch vermiesen. Aber bei diesem Thema ist Tanja wirklich eigen. Da sie auch gerne ein Kind haben möchte, und ihre biologische Uhr mit vierunddreißig immer lauter tickt, wird sie sicher bald ihre Ansprüche zurückschrauben. Kai muss das nur lange genug aussitzen. Das Gemüt dazu hat er jedenfalls.

Mit dem Versprechen, dass ich mir in Zukunft keine Gelegenheit mehr entgehen lasse, etwas zu erleben, wünschen wir uns eine gute Nacht und legen auf.

Heute werde ich jedenfalls nichts mehr erleben. Ich bin hundemüde und gehe schlafen.

Was sagt der Sauerländer, wenn er mit der Arbeit fertig ist? So!!! Die Bude ist geputzt, die Blumen versorgt und die Wäsche fertig. Genauso wie ich. Mit einem zufriedenen Seufzer plumpse ich auf mein Sofa.

Zu irgendetwas muss so ein verregneter Sonntag ja gut sein. Ausnahmsweise scheint im Sauerland die Sonne, wie mir Alex am Telefon versichert. Sie rief an, um mir freudig mitzuteilen, dass sie am übernächsten Wochenende Ausgang hat. Thomas sei der Meinung, dass sie sich ein freies Wochenende verdient habe. Kein Haushalt, keine Kinder! Da Alex und ich uns seit meinem Umzug nicht mehr gesehen hätten, sei es doch sicher an der Zeit, dass sie mich besuchen komme. Außer Thomas kenne ich keinen Mann, der von alleine auf die Idee käme, ein Wochenende lang freiwillig drei kleine Kinder zu hüten, damit seine Frau ein freies Wochenende hat, um ihre Freundin in Berlin zu besuchen. Alex ist und bleibt ein Glückspilz.

Mein Magen knurrt. Ist ja auch kein Wunder. Es ist fünf Uhr, und ich habe seit dem Frühstück