7,99 €
Vernon Little sitzt im städtischen Gefängnis von Martirio, der "Barbecuesaucen-Hauptstadt von Texas". Er hat ein ernsthaftes Problem: Sein Kumpel Jesus hat soeben 16 Klassenkameraden ins Jenseits befördert und sich anschließend selbst erschossen. Auf Vernon konzentrieren sich nun die gesamten Rachegelüste der Stadt und die Sensationsgier der Medien. Ausgezeichnet mit dem renommierten Booker-Preis, bejubelt von der Kritik und wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste - eine literarische Sensation. "Wütend wie ein Song von Eminem und witzig wie ein Film von Tarantino." Bayerischer Rundfunk. "Raffinierter und treffsicherer als Michael Moore. Wir schwören, etwas Besseres hat man lange nicht gelesen." AMICA. "Die böseste und beste Satire auf Amerika." Die Welt. "Ein perfektes Buch." Literaturen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 489
DBC Pierre
Jesus von Texas
Roman
Aus dem Englischenvon Karsten Kredel
Inhaltsübersicht
Erster AktShit Happened
eins
zwei
drei
vier
fünf
sechs
Zweiter AktWas ich mit meinen Sommerferien anstellte
sieben
acht
neun
zehn
elf
zwölf
dreizehn
Dritter AktGegen jede Chance
vierzehn
fünfzehn
sechzehn
siebzehn
achtzehn
Vierter AktWas meine Sommerferien mit mir anstellten
neunzehn
zwanzig
einundzwanzig
zweiundzwanzig
Fünfter AktMe ves y sufres
dreiundzwanzig
vierundzwanzig
fünfundzwanzig
sechsundzwanzig
siebenundzwanzig
Danksagung
Informationen zum Buch
Über DBC Pierre
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Shit Happened
Es ist höllisch heiß in Martirio, doch die Zeitungen auf der Veranda sind voller frostiger Neuigkeiten. Ihr kommt nie drauf, wer am Dienstag die ganze Nacht mitten auf der Straße rumgestanden hat. Kleiner Tip? Denkt mal an die rotzige olle Mrs. Lechuga. Ihre Haut war gekräuselt wie ein Leichentuch im Wind. Schwer zu sagen, ob es am Verandalicht lag, das durch die Weiden fiel, und an den Motten, die darin herumflatterten, oder ob sie wirklich so sehr geschlottert hat. So oder so, als es hell wurde, sah man die Pfütze zwischen ihren Füßen. Hier ist nichts mehr normal, soviel steht fest – die Normalität ist schreiend aus der Stadt geflohen, wahrscheinlich für immer. Ich hab wirklich versucht, das Leben zu kapieren, manchmal kam es mir sogar großartig vor. Doch damit hat sich’s jetzt erst mal, nach allem, was passiert ist. Ich meine, was soll das denn für ein Scheißleben sein?
Heute ist Freitag, und ich sitze im Büro des Sheriffs. Fühlt sich an wie ein Freitag in der Schule oder so. Schule – noch so ein beschissenes Thema.
Ich hocke zwischen den Lichtfeldern, die aus den Türen in den Gang fallen, und warte. Abgesehen von meinen Schuhen und der Unterwäsche von Donnerstag, bin ich nackt. Sieht ganz so aus, als wär ich bis jetzt der erste, den sie drangekriegt haben. Nicht, daß ich irgendwie in Schwierigkeiten wäre, absolut nicht. Mit Dienstag hab ich nichts zu tun. Trotzdem wärt ihr heute lieber nicht an meiner Stelle. Da würde euch nämlich der alte schwarze Typ einfallen, der vergangenen Winter in den Nachrichten war – Clarence Soundso. Der Irre, der die ganze Zeit vor sich hin gedöst hat, und die Kamera immer direkt drauf. Das war in genau demselben holzvertäfelten Gang. Sie haben gesagt, seine Apathie zeigt, wie wenig ihn die Konsequenzen seiner Handlungen kümmern. Wobei mit »Konsequenzen« Axtwunden gemeint waren, wenn ich das richtig verstanden hab. Ol’ Clarence war kahlgeschoren wie ein Tier und hatte so ’nen Krankenhausanzug für Psychopathen an, dazu ’ne Brille mit Gläsern wie Flaschenböden, so eine, die Leute aufhaben, bei denen man nur noch Zahnfleisch, aber keine Zähne mehr sieht. Dann bauten sie ihm einen Zookäfig in den Gerichtssaal und verurteilten ihn zum Tode.
Ich sitz da und stiere auf meine Nikes. Jordan New Jacks, Mann. Ich würd sie ja mit Spucke auf Hochglanz bringen, aber was hätte das für einen Sinn, nackt, wie ich bin. Außerdem sind meine Finger klebrig. Ich könnt schwören, diese Farbe würde einen Atomkrieg überleben – Kakerlaken und diese beschissene Fingerabdrucksfarbe.
Ein riesiger Schatten wabert durch das dunkle Ende des Gangs, gefolgt von seinem Besitzer, einer Lady. Als sie näher kommt, erfaßt das Licht aus einer der Türen die Bar-B-Chew-Barn-Schachtel, die sie im Arm hält; außerdem einen Beutel mit meinen Klamotten und ein Telefon, in das sie versucht zu sprechen. Sie ist langsam, sie schwitzt, und ihre Gesichtszüge streben auf die Mitte zu – trotz der Uniform eindeutig eine Gurie. Ein anderer Polizist folgt ihr, aber sie wedelt abwehrend mit der Hand.
»Laß mich das Vorgespräch machen – ich sag dir dann Bescheid, wenn’s soweit ist für die offizielle Aussage.« Sie schiebt sich das Telefon wieder vor den Mund und räuspert sich. Ihre Stimme wird scharf und schrill.
»Ch-chrr, wer sagt denn, daß du ein Trottel bist – ich versuch dir lediglich zu erklären, daß schtass-tistisch gesehen SWAT-Teams die Opferzahlen senken können.« Sie spricht so hoch, daß ihr die Schachtel runterfällt. »Mittagessen«, ächzt sie, als sie sich bückt. »Nur Salat, Pupselchen, ich schwör’s.« Dann sieht sie mich und beendet das Gespräch.
Ich setz mich auf, um zu erfahren, ob meine Mutter gekommen ist. Ist sie nicht. Ich hab’s vorher gewußt, so ein schlaues Kerlchen bin ich. Und so verflucht genial, daß ich trotzdem drauf hoffe. Vernon Genie Little.
Sie läßt die Klamotten in meinen Schoß fallen. »Hier entlang.«
So viel zu Mom. Wie üblich wird sie in der ganzen Stadt um Mitleid betteln. »Vern ist einfach total am Ende.« Sie nennt mich nur Vern, wenn sie mit ihren Kaffeefreundinnen zusammenhockt und vorführen will, wie verdammt nah wir uns stehen. Hauptsache, niemand kriegt mit, was für peinlich verkorkste Figuren wir abgeben. Ganz ehrlich, wäre meine alte Dame mit Gebrauchsanweisung geliefert worden, hätte garantiert dringestanden, daß man ihr am Ende einen Tritt in den Arsch geben soll. Jedem ist klar, daß es letzten Endes Jesus ist, der für Dienstag die Verantwortung trägt, außer meiner Mom. Ich brauch bloß bei den Ermittlungen zu helfen, und schon kriegt sie das bescheuerte Tourette-Syndrom, oder wie man das nennt, wenn deine Arme wild in der Gegend rumrudern.
Die Polizistin führt mich in einen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen. Kein Fenster, nur ein Bild von meinem Freund Jesus, das mit Klebestreifen an der Tür befestigt ist. Ich kriege den fleckigen Stuhl. Ich ziehe mir meine Sachen über und stell mir vor, es sei vergangenes Wochenende: nichts als vertraute, abgegriffene Augenblicke, die durch Klimaanlagen mit fehlenden Reglern in die Stadt tropfen; Spaniels, die von Rasensprengern trinken wollen und statt dessen einen Tritt vor die Nase bekommen.
»Vernon Gregory Little?« Die Lady bietet mir ein gegrilltes Rippchen an, doch das Angebot ist halbherzig, und, ehrlich gesagt, man würde sich schlecht fühlen, es anzunehmen, wenn man sieht, wie gierig ihre drei Kinne dabei zittern.
Sie legt mein Rippchen in die Schachtel zurück und greift sich selber ein anderes. »Ch-chr, fangen wir mal ganz am Anfang an. Dein fester Wohnsitz ist 17 Beulah Drive?«
»Ja, Ma’am.«
»Wer wohnt außer dir dort?«
»Niemand, nur meine Mom.«
»Doris Eleanor Little …« Barbecuesauce tropft auf ihr Namensschild. Deputy Vaine Gurie steht da drauf. »Du bist also fünfzehn Jahre alt – schwieriges Alter.«
Will sie mich verarschen oder was? Ich reibe meine New Jacks aneinander, zur moralischen Stärkung.
»Ma’am – dauert das noch lange?«
Einen Moment lang sind ihre Augen weit aufgerissen, dann verengen sie sich zu einem schmalen Schielen. »Vernon, es geht hier um Beihilfe zum Mord. Es dauert so lange, wie es dauert.«
»Aber …«
»Und erzähl mir bloß nicht, du wärst nicht eng befreundet gewesen mit dem Mexikaner-Bengel – sein einziger Freund sogar. Fang besser gar nicht erst damit an.«
»Aber, Ma’am, ich meine – es muß doch massenweise Zeugen geben, die mehr gesehen haben als ich.«
»Ach ja?« Sie schaut sich im Zimmer um. »Ich sehe sonst niemanden. Du etwa?«
Wie ein Idiot glotze ich umher. O Mann. Sie fängt meinen Blick auf und bringt ihn wieder auf Kurs. »Mr. Little, du weißt doch hoffentlich, warum du hier bist, oder?«
»Klar, glaub schon.«
»Dann hör mir mal gut zu. Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit herauszufinden. Wenn du denkst, das ist schwierig, dann laß dir gesagt sein, daß es schtass-tistisch gesehen nur zwei Faktoren gibt, die unsere Existenz bestimmen. Du weißt, welche das sind? Die zwei Faktoren, die allem Leben auf dieser Welt zugrunde liegen?«
»Ähm – Reichtum und Armut?«
»Reichtum und Armut sind es nicht.«
»Gut und Böse?«
»Nein. Ursache und Wirkung. Und bevor wir anfangen, wirst du mir noch sagen, welche zwei Kategorien von Menschen nachweislich diese Welt bevölkern. Also, ich höre – welche zwei Kategorien von Menschen gibt es?«
»Verursacher und, ähm, Bewirker?«
»Falsch. Es gibt Bürger – und Lügner. Verstehst du das, Mr. Little? Kannst du mir folgen?«
Mann, ist ja gut. Ich würd gern sagen: »Nee, ich folge gerade ihren blöden Töchtern runter zum See«, aber ich laß es lieber bleiben. Soviel ich weiß, hat sie nicht mal Töchter. Jetzt muß ich garantiert den ganzen Tag daran denken, was ich hätte sagen sollen. Was für eine Scheiße.
Sie reißt einen Streifen Fleisch vom Knochen und klatscht ihn sich in den Mund; es sieht aus wie Scheiße, die in den Arsch reinrutscht statt raus. »Ich nehm an, du weißt, was ein Lügner ist. Ein Lügner ist ein Psychopath – jemand, der graue Bereiche zwischen Schwarz und Weiß zeichnet. Es ist meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen, daß es keine grauen Bereiche gibt. Fakten sind Fakten – oder Lügen. Kannst du mir folgen?«
»Ja, Ma’am.«
»Das will ich hoffen. Kannst du hinreichend darüber Auskunft geben, wo du dich am Dienstag vormittag um zehn Uhr fünfzehn aufgehalten hast?«
»In der Schule.«
»Welches Fach du hattest, meine ich.«
»Äh – Mathe.«
Gurie läßt ihren Knochen sinken und glotzt mich an. »Welche wichtigen Grundsätze über Schwarz und Weiß hab ich dir eben zu vermitteln versucht?«
»Ich hab nicht gesagt, daß ich im Klassenzimmer war …«
Es klopft an der Tür, gerade noch rechtzeitig, bevor meine Nikes miteinander verschmelzen. Eine Betonfrisur schaut ins Zimmer. »Vernon Little, ist der hier? Seine Mutter ist am Telefon.«
»Okay, Eileena.« Gurie wirft mir einen stechenden Blick zu, um mir zu verstehen zu geben, daß ich mich nicht zu früh freuen soll, und deutet mit dem Knochen zur Tür. Ich folge der Betonlady zum Empfang.
Scheiße, ich wäre so was von dankbar, wenn’s nicht meine alte Dame wäre. Ganz unter uns – manchmal hab ich das Gefühl, daß sie mir bei der Geburt ein Messer in den Rücken gestoßen hat und seitdem ständig in der Wunde rumstochert, damit sie ja nicht zuheilt. Mit jedem blöden Pieps, den sie von sich gibt, bohrt sie ein bißchen darin rum. Und jetzt, wo mein Daddy nicht mehr da ist, um den Schmerz zu teilen, hat sie die Wunde sogar noch weiter aufgerissen. Als ich das Telefon erblicke, sinken meine Schultern nach vorn, und meine Kinnlade klappt runter. O Mann, Scheiße. Ich weiß genau, was sie sagen wird, in ihrem bohrenden Jammerton – ich kann’s direkt schon hören: »Vernon, ist alles in Ordnung?« Jede Wette.
»Vernon, ist alles okay?« Und immer rein in die Wunde.
»Mir geht’s gut, Ma.« Meine Stimme wird ganz zaghaft und dümmlich. Das ist eine unterschwellige Bitte an sie, nichts Peinliches von sich zu geben, aber es wirkt wie ’ne Möse bei ’nem verdammten Köter.
»Warst du heut schon auf der Toilette?«
»Verdammt, Mom …«
»Du weißt, du hast diese – Unannehmlichkeiten.«
Sie hat offenbar nicht angerufen, um in meiner Wunde zu bohren, sondern um Säure reinzukippen oder so. Nicht, daß es euch was angeht, aber als Kind war ich etwas unberechenbar, zumindest was »größere Geschäfte« betrifft. Die Details spielen keine Rolle, nur daß mich meine alte Dame die Sache seitdem spüren läßt. Einmal hat sie sogar meiner Lehrerin was davon geschrieben, und dieses Miststück hatte ihr eigenes Folterprojekt mit mir am Laufen und erwähnte es vor der Klasse. Ist das unglaublich, oder was? Ich hätte mich genausogut auf der Stelle einsargen lassen können. Bei der ganzen Scheiße, die seit meiner Geburt passiert ist, sieht meine Wunde mittlerweile aus wie ein verdammter Krater.
»Ich dachte nur – schließlich bist du ja heut früh nicht dazu gekommen«, sagt sie, »und da hab ich mir Sorgen gemacht, daß du – du weißt schon …«
»Mir geht’s gut, wirklich.« Ich bleibe höflich, für den Fall, daß sie die Salzsäure schon bereithält. Vernon Geisel Little.
»Was machst du eigentlich gerade?«
»Deputy Gurie zuhören.«
»LuDell Gurie? Sag ihr, ich kenne ihre Schwester Reyna von den Weight Watchers.«
»Es ist nicht LuDell, Ma.«
»Wenn es Barry ist, du weißt, Pam sieht ihn jeden zweiten Freitag beim …«
»Auch nicht Barry. Ich muß jetzt Schluß machen.«
»Na gut, also, der Wagen ist immer noch nicht in Ordnung, und ich hab ein paar Bleche Joy Cakes für die Lechugas im Ofen, also wird dich Pam abholen kommen. Und Vernon …«
»Was?«
»Sitz gerade im Auto – die ganze Stadt ist voller Kameraleute.«
Mein Rückgrat wird von heimtückischen Klettbändern eingeschnürt. Im Fernsehen gibt es bekanntlich keine grauen Bereiche, und an dem Tag, an dem sie die ganze Scheiße in Schwarz und Weiß zerlegen, will man lieber nicht in der Nähe sein. Ich meine, mich trifft keine Schuld oder so – überhaupt nicht. Ich bewahre die Ruhe, versteht ihr? Auf dem Boden meines Schmerzes leuchtet Gelassenheit, weil ich weiß, daß am Ende immer die Wahrheit siegt. Warum enden Filme gut? Weil sie das Leben imitieren. Ihr wißt es, ich weiß es, nur meiner alten Dame muß es entgangen sein, aber total.
Ich schlurfe den Gang entlang zu meinem vorgefleckten Stuhl. »Mister Little, wir fangen noch mal von vorne an – und jetzt will ich ein paar Fakten hören, junger Mann. Sheriff Porkorney hat eindeutige Ansichten zu den Ereignissen vom Dienstag – du kannst froh sein, daß du es nur mit mir zu tun hast.« Sie will sich an die Möse greifen und läßt im letzten Moment die Hand zur Pistole wandern.
»Ma’am, ich war hinter der Turnhalle, ich hab nicht mal gesehen, wie’s passiert ist.«
»Eben hast du gesagt, du warst in der Mathestunde.«
»Ich hab gesagt, es war während der Mathestunde.«
Sie guckt mich von der Seite an. »Du hast Mathe hinter der Turnhalle?«
»Nein.«
»Also, warum warst du nicht in der Klasse?«
»Ich sollte etwas für Mr. Nuckles erledigen, und dann wurde ich, also, aufgehalten.«
»Mr. Nuckles?«
»Unser Physiklehrer.«
»Er unterrichtet Mathe?«
»Nein.«
»Ch-chrrr. Mr. Little, dieser Bereich sieht aber ziemlich grau aus. Verdammt grau.«
Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich mir wünsche, Jean-Claude Van Damme zu sein. Ihr die scheiß Knarre in den Arsch zu rammen und mit einem Höschen-Model abzuhauen. Aber schaut mich doch an: büschelweise störrische braune Haare, Wimpern wie von einem Kamel und ein überdimensioniertes Welpengesicht, als hätte mich Gott unter ’ner beschissenen Lupe gemacht – ein Blick, und man weiß, daß ich niemals der Held des Films bin, sondern nur der Typ, der sich auf die Füße kotzt und es höchstens mit einer Krankenschwester zu tun kriegt.
»Ma’am, ich habe Zeugen.«
»Ach, tatsächlich?«
»Mr. Nuckles hat mich gesehen.«
»Und wer noch?« Sie stopft die trockenen Knochen in die Schachtel.
»Alle möglichen Leute.«
»Ach ja? Und wo sind diese Leute jetzt?«
Ich versuche zu überlegen, wo sie sind, aber die Erinnerung gelangt nicht zum Gehirn, sondern steigt als Träne in mein Auge und schießt wie eine durchnäßte Patrone von meiner Wimper. Benommen sitze ich da.
»Ach nein«, sagt Gurie, »machen sie sich etwa ein klein wenig rar, diese Leute? Vernon – ich stelle dir jetzt zwei einfache Fragen. Nimmst du Drogen?«
»Äh – nein.«
Sie treibt meine Pupillen über die Wand und fängt sie mit ihren wieder ein. »Bist du im Besitz einer Schußwaffe?«
»Nein.«
Sie preßt ihre Lippen zusammen, zieht das Telefon aus der Hülle an ihrem Gürtel, läßt einen Finger über einer Taste schweben und schaut mich dabei fortwährend an. Dann drückt sie die Taste. Irgendwo den Gang runter piepst das Titelthema von Mission Impossible. »Sheriff?« sagt sie. »Könnten Sie wohl mal in den Verhörraum kommen?«
Das würde nicht passieren, wenn noch Fleisch in ihrer Schachtel wäre. Sie hat die Fassung verloren, weil kein Fleisch mehr da ist, und braucht Ersatz – das habe ich gerade begriffen. Ich bin jetzt das verdammte Fleisch.
Eine Minute später geht die Tür auf, und ein Streifen Büffelleder schrammt ins Zimmer, im Zaum die Seele von Sheriff Porkorney. »Das ist der Junge?« fragt er. Nein Mann, Dolly Parton. Scheiße! »Und er ist kooperativ, Vaine, nehm ich an?«
»Kann ich nicht behaupten, Sir.«
»Dann lassen Sie mich mal einen Moment.« Er zieht die Tür hinter sich zu.
Gurie schiebt ihr Tittenfett auf der Tischkante beiseite und dreht sich weg, als wäre sie dadurch abwesender als vorher. Der Sheriff atmet mir eine Säule Verwesung ins Gesicht.
»Aufgebrachte Leute da draußen, mein Sohn. Aufgebracht und schnell mit einem Urteil bei der Hand.«
»Ich war überhaupt nicht dort, Sir – ich hab Zeugen.«
Er hebt eine Augenbraue in Richtung Gurie. Eines ihrer Lider flattert. »Wird überprüft, Sheriff.«
Porkorney nimmt einen blanken Knochen aus der Bar-B-Chew-Barn-Schachtel, stellt sich vor das Bild an der Tür und zieht eine Linie um Jesus’ Gesicht, um das herabrinnende Blut und seine verlassenen Augen. Dann schwenkt sein Blick zu mir. »Er hat mit dir gesprochen, oder etwa nicht?«
»Nicht darüber, Sir.«
»Du gibst aber zu, daß ihr eng befreundet wart.«
»Ich wußte nicht, daß er vorhatte, jemanden zu töten.«
Der Sheriff wendet sich Gurie zu. »Die Klamotten von Little, hat sich die schon jemand angeschaut?«
»Mein Partner.«
»Unterwäsche?«
»Normale Y-Front-Slips.«
Porkorney überlegt einen Moment und kaut auf seiner Lippe. »Die Rückseiten, Vaine? Da mal einen Blick draufgeworfen? Sie wissen, daß bestimmte Praktiken den Schließmuskel eines Mannes lockern können.«
»Schienen sauber zu sein, Sheriff.«
Ich weiß, worauf das verdammt noch mal hinausläuft. Typisch für die Gegend hier, daß keiner geradewegs damit rausrückt. Ich versuch, mich zu beherrschen. »Sir, ich bin nicht schwul, wenn es das ist, was Sie meinen. Wir waren schon als Kinder befreundet, da wußte ich noch nicht, was mal aus ihm wird …«
Unter dem Schnurrbart des Sheriffs erscheint ein unbestimmbares Lächeln. »Ganz normaler Junge also, nicht wahr, mein Sohn? Magst Autos und Gewehre, richtig? Und Mädchen natürlich?«
»Klar.«
»Klar? Okay, dann werden wir mal sehen, ob das klar ist. Wie viele Gänge hat ein Mädchen, in die mehr als ein Finger paßt?«
»Gänge?«
»Kanäle – Löcher.«
»Äh – zwei?«
»Falsch.« Der Sheriff bläst sich auf, als hätte er gerade die beschissene Relativität entdeckt. Fuck. Ich meine, woher soll ich das wissen? Ich hatte meine Fingerspitze nur ein einziges Mal in einem Loch, keine Ahnung, welches das war. Jedenfalls müffelt die Erinnerung wie der Ladebereich vom Mini-Mart nach einem Sturm: ein strenges Lüftchen von durchgeweichter Pappe und geronnener Milch. Und mit so was macht die Pornoindustrie Millionen? Kein Vergleich zu diesem einen Mädchen, das ich kenne – Taylor Figueroa.
Sheriff Porkorney wirft seinen Knochen in die Schachtel und nickt Gurie zu. »Nehmen Sie die Aussage auf. Und halten Sie ihn weiter fest.« Er knarrt zur Tür hinaus.
»Vaine?« ruft ein Polizist ins Zimmer rein. »Fasern.«
Gurie strafft ihr Fett. »Du hast gehört, was der Sheriff gesagt hat. Ich bin gleich mit einem anderen Beamten zurück, dann nehmen wir deine Aussage auf.«
Als sich das Reiben ihrer Schenkel im Gang verliert, hebe ich meine Nasenflügel und schnüffle nach irgend etwas, das Trost spenden könnte, und sei er noch so schwach – nach einem Hauch von warmem Toast vielleicht oder von Spearmint-Atem. Doch alles, was ich hinter dem Schweiß und der Barbecuesauce wahrnehme, ist der Geruch von Schule – die Ausdünstungen stumpfer Schlägertypen, die den stillen Jungen, den Sprachkünstler, in einer Ecke erspäht haben. Das Aroma von Holz, aus dem ein verdammtes Kreuz gezimmert wird.
Moms dickste Freundin heißt Palmyra. Jeder nennt sie Pam. Sie ist dicker als Mom, deshalb fühlt Mom sich gut in ihrer Nähe. Moms andere Freundinnen sind schlanker. Sie sind nicht ihre dicksten Freundinnen.
Pam ist da. Drei Countys weit kann man hören, wie sie die Sekretärin des Sheriffs anbrüllt: »Herr im Himmel, wo ist er nur? Eileena, hast du Vern gesehen? Hey, super Frisur!«
»Nicht ein bißchen zu ausgefallen?«
»Gott, nein, das Braun steht dir richtig gut.«
Man muß Palmyra wahrscheinlich einfach mögen – nicht, daß man sie sich beim Rumvögeln vorstellen will oder so. Sie hat ein zitrusfrisches Desinteresse an offenen Wunden. Ihr Ding ist essen.
»Habt ihr ihm zu essen gegeben?«
»Vaine hat Rippchen gekauft, glaub ich«, sagt Eileena.
»Vaine Gurie? Ich dachte, sie macht die Pritikin-Diät – das wird Barry sicher brennend interessieren!«
»Na dann gute Nacht! Sie wohnt ja fast bei Bar-B-Chew Barn!«
»Großer Gott.«
»Vernon ist da drin, Pam«, sagt Eileena. »Besser, du wartest draußen.«
Die Tür fliegt auf. Pam wackelt herein, kerzengerade, als ob sie auf dem Kopf Bücher balanciert. Das liegt an ihrem Körperschwerpunkt. »Vernie, du ißt Rippchen? Was hast du heute gegessen?«
»Frühstück.«
»Herr im Himmel, wir schauen mal lieber beim Barn vorbei.« Glaubt mir, egal, was man sagt – sie schaut mal lieber beim Barn vorbei.
»Geht nicht, Pam, ich kann hier nicht weg.«
»Schnickschnack, komm jetzt.« Sie zieht heftig genug an meinem Ellbogen, daß meine Füße sich mit dem Boden bekannt machen. »Eileena, ich parke in der zweiten Reihe und nehm Vern mit – sag Vaine, er hat noch nichts gegessen, und sie soll besser ein paar Pfunde abspecken, bevor ich Barry treffe.«
»Laß ihn hier, Pam, Vaine ist noch nicht fertig …«
»Ich sehe nirgendwo Handschellen, und ein Kind hat das Recht auf eine Mahlzeit.« Pams Stimme bringt mittlerweile die Möbel zum Klappern.
»Ich mach hier nicht die Regeln«, sagt Eileena, »ich sag lediglich …«
»Vaine kann ihn hier nicht festhalten, das weißt du ganz genau. Wir gehen jetzt«, sagt Pam. »Super Frisur.«
Eileenas Seufzer folgt uns zur Tür hinaus. Meine Ohren lauschen in alle Richtungen, ob etwas vom Sheriff oder von Gurie zu hören ist, doch der ganze Gang scheint unbelebt zu sein – der vom Sheriff, meine ich. Einen Moment später bin ich in Palmyras Kraftfeld schon fast aus dem Gebäude gelangt. Vollkommen zwecklos, mit dieser enorm modernen Frau zu argumentieren, im Ernst.
Draußen hat ein Dickicht von Wolken die Sonne überwuchert. Wenn diese Wolken aufziehen, riecht es hier immer nach nassem Hund, und ein Sturm mit Blitzen wie geräuschlose Rülpser kündigt sich an. Schicksalswolken. Sie wollen dir sagen: Mach, daß du aus der Stadt kommst, fahr Granny besuchen oder sonst was, bis sich die Aufregung gelegt hat und die Wahrheit ans Licht kommt. Laß zu Hause die Drogen verschwinden und mach ’ne Spritztour.
Im Dunst über der Motorhaube von Pams altem Mercury zittern Martirios prüde Gebäude; aufgereiht entlang der Gurie Street flimmern die verschwommenen Pferdeköpfe der Ölpumpen. Richtig: Öl, Karnickel und Guries – das ist es, was Martirio anzubieten hat. Das war mal der zweithärteste Ort in Texas, nach Luling. Jeder, der in Luling verprügelt wurde, muß rüber nach Martirio gekrochen sein. Heutzutage ist das Härteste hier der Stau am Drive-in jede Samstagnacht. Ich kann nicht behaupten, daß ich weit rumgekommen bin, aber diesen Ort hier hab ich mir genau angeschaut, und die Erkenntnisse können sich nicht groß unterscheiden: Das Stadtzentrum schmückt sich mit dem ganzen Geld und der Bereitschaft der Leute, Sachen in Schuß zu halten; die Reste davon werden in einer versickernden Welle nach außen gespült. In der Mitte federn gesunde Mädchen in blütenweißen Höschen umher, ringsherum dehnen sich Regionen von Shorts und bedruckter Baumwollwäsche, die dann zu den Rändern hin abstrahlen, wo struppige Bräute in ausgebeulten violetten Schlüpfern rumhängen. Am Ortsausgang: eine heruntergekommene Autowerkstatt. Keine Rasensprenger mehr und kein Rasen.
»Herr im Himmel«, sagt Pam, »wie kommt es nur, daß ich den Geschmack von Chick ’n’ Mix schon auf der Zunge habe?«
Macht sie Witze? Selbst im Winter stinkt der verdammte Mercury nach gebratenem Hähnchen, geschweige denn an Tagen wie heute, wo er einem Höllenschlund ähnelt. Pam hält an und zieht eine Sonnenblende unter den Scheibenwischern vor; als ich mich umschaue, sehe ich, daß an jedem Auto eine ist. Seb Harris radelt durch den Dunst am Ende der Straße und verteilt sie von seinem Fahrrad aus. Pam faltet das Ding auseinander und liest mit zusammengekniffenen Augen die Aufschrift: »Harris’ Store – More, More, More!«
»Schau dir das an«, sagt sie. »Wir haben gerade das Geld für einmal Chick ’n’ Mix gespart.«
Meine Euphorie hält sich in Grenzen, und schuld daran ist ein Riesenhaufen Ärger. Pam gießt ihre Massen ins Auto. Man sieht, daß ihre Seele schon mit der Frage der Beilage ringt. Am Ende nimmt sie sowieso Krautsalat, weil Mom sagt, der ist gesund. Krautsalat ist Gemüse, deshalb. Ich persönlich brauch heute was Gesünderes. Den Nachmittagsbus stadtauswärts zum Beispiel.
An der Ecke Geppert Street heult eine Sirene an uns vorbei. Keine Ahnung, was das soll, Kinder können sie jetzt jedenfalls keine mehr retten. Pam vergißt hier sowieso abzubiegen, wie immer – na, was sag ich! Jetzt muß sie zwei Straßen zurückfahren und wird sich wieder beschweren: »Herr im Himmel, bleibt denn in dieser Stadt kein Stein auf dem anderen?« Reporter und Kameraleute durchstreifen in Rudeln die Straßen. Ich halte meinen Kopf gesenkt und suche den Boden zwischen meinen Füßen nach Feuerameisen ab. »Feuermeisen« nennt Pam sie. Ich möcht nicht wissen, wieviel Fauna hier sonst noch reinklettert in dem Jahrhundert, das sie zum Ein- und Aussteigen braucht. Ein komplettes Reich der verdammten Tiere, ich schwör’s.
Die Leute vom Barn tragen heute Schwarz, abgesehen von den Nikes an ihren Füßen. Ich identifiziere die verschiedenen Modelle, während sie das Hühnchen einpacken. So ’ne Stadt, muß man wissen, ist wie ein Klub. Man erkennt die Mitglieder an ihren Schuhen. Bestimmte Schuhe werden nicht an Leute von außerhalb verkauft, das ist einfach so. Ich betrachte die schwarzen Formen, wie sie in ihren verschiedenfarbigen Füßen umherhuschen, und wie immer, wenn man durch das Mercury-Fenster auf irgendein extrem seltsames Bild schaut, fängt in Pams altem Kassettengerät Glen Campbell an, »Galveston« zu singen. Das ist ein Naturgesetz. Pam hat nur diese eine Kassette – The Best of Glen Campbell. Beim ersten Abspielen ist sie im Schlitz steckengeblieben, und seitdem läuft sie ständig. Schicksal. Pam singt jedesmal dieselbe Stelle mit, die mit dem Mädchen. Ich glaub, sie hatte mal einen Freund aus Wharton, das ist näher an Galveston als Martirio. Über Wharton gibt’s wahrscheinlich keine Lieder.
»Vern, iß die unteren Stücke, sonst weichen sie durch.«
»Dann sind aber die oberen unten.«
»Herr im Himmel.« Sie langt nach der Schachtel, kommt aber nicht weiter als bis zu den Frischetüchern – dann biegen wir in den Liberty Drive ein. Sie hat scheinbar vergessen, was los ist auf dem Liberty Drive.
Die vielen weinenden Mädchen vor der Schule.
»Galveston, oh, Galveston …«
Vor uns kommt gerade eine weitere Großraumlimousine an, um hinter den anderen zu parken und noch mehr Blumen und noch mehr Mädchen abzuladen. Behutsam rollt sie um die Flecken auf der Straße herum. Fremde Leute mit Fotoapparaten treten ein paar Schritte zurück, um alles aufs Bild zu bekommen.
»I still hear your sea waves crashing …«
Hinter den Mädchen mit den Blumen stehen die Mütter, und hinter den Müttern, wie ältere Brüder im Streichelzoo, die Anwälte.
»While I watch the cannons flashing …«
Überall an der Straße stehen die Leute vor ihren Fliegengittertüren und sind total am Ende. Moms sogenannte Freundin Leona war letzte Woche schon mal total am Ende, als Penney’s die Küchenvorhänge in der falschen Farbe lieferte. Typisch für sie, daß sie’s nicht abwarten konnte.
»Herr im Himmel, Vernie, o mein Gott – die ganzen winzigen Kreuze …« Palmyras Hand legt sich auf meine Schulter, und auf einmal bin ich am Schluchzen und Sabbern.
Das Bild von Jesus, das beim Sheriff hinter der Tür hängt, wurde am Tatort aufgenommen. Aus einer anderen Perspektive als meiner, als ich ihn zum letzten Mal sah. Die Körper sind nicht mit drauf – all die verzerrten, unschuldigen Gesichter. Ganz anders auf dem Bild in meiner Seele. Der Dienstag bricht sich in meinem Inneren Bahn wie eine verfluchte Blutung.
»I clean my gun, and dream of Galves-ton …«
Jesus Navarro kam mit sechs Fingern an jeder Hand auf die Welt, und das war noch nicht mal das Absonderlichste an ihm. Es war aber das, was ihn schließlich zur Strecke brachte. Er hatte nicht damit gerechnet, daß er am Dienstag sterben würde; als sie ihn fanden, trug er Seidenhöschen. Jetzt liegt ein Hauptaugenmerk der Ermittlungen auf Mädchenunterwäsche – daraus soll jemand schlau werden. Sein alter Herr meint, die Cops haben sie ihm untergeschoben. »Höschenkommando! Keine falsche Bewegung!« oder wie? Ich glaub kaum.
In meinem Kopf wimmelt es von Erinnerungen an jenen Morgen. Ich weiß noch, was ich ihm zugebrüllt hab: »Heeeysuuuß, nicht so schnell, verdammt!«
Es ist der letzte Dienstag vor den Ferien; Wind von vorne bedrückt uns auf dem Weg zur Schule und lastet schwer auf unseren Rädern – fast so schwer wie dieser Tag. Physik, dann Mathe, dann noch mal Physik, irgendein bescheuertes Experiment im Labor. Die verfluchte Hölle auf Erden.
Jesus’ Pferdeschwanz tanzt durch die Strahlen der Sonne; es sieht aus, als ob sich mein alter Kumpel im Takt mit den Baumkronen über uns wiegt. Er verändert sich, wird hübscher – auf so eine indianische Art. Die Stümpfe seiner Extrafinger sind so gut wie unsichtbar. Er ist aber immer noch wahnsinnig tolpatschig, und sein Verstand ist es auch. Die Gewißheiten unserer alten Kinderlogik sind davongespült worden; zurückgeblieben sind Kiesel der Wut und des Zweifels, die bei jeder neuen Welle von Gefühlen aneinanderklappern. Mein Kumpel, der einst der beste David-Letterman-Imitator war, den ihr euch vorstellen könnt, ist von Drüsenflüssigkeiten entführt worden. Ich glaub, sein Gehirn dampft aufsässige Lieder und Geruchshormone aus – solche, die gerinnen, sobald deine Mom eine Ahnung davon kriegt. Aber irgendwie hat man das Gefühl, das sind keine normalen Hormone. Er verheimlicht Dinge vor mir, das hat er früher nie gemacht. Er ist seltsam geworden, und keiner weiß, warum.
Ich hab mal eine Sendung über Jugendliche gesehen, in der sie gesagt haben, daß Vorbilder der Schlüssel zur Entwicklung sind, genau wie bei Hunden. Wer auch immer die Sendung gemacht hat, er hat nie Jesus’ Dad kennengelernt. Oder meinen. Obwohl meiner besser war als Mr. Navarro, bis auf die letzte Zeit zumindest, obwohl ich immer sauer war, daß er mich nicht an sein Gewehr gelassen hat; Mr. Navarro hat Jesus seines benutzen lassen. Heute verfluche ich den Tag, an dem ich auch nur ’nen Blick auf die Knarre meines Vaters geworfen hab, und ich schätze mal, Jesus geht’s genauso. Er hat ein anderes Vorbild gebraucht, aber es gab niemanden, der für ihn da war. Mr. Nuckles, unser Lehrer, hat ständig Zeit mit ihm verbracht, nach der Schule, aber ich bin mir nicht sicher, ob die alte Puderquaste mit ihrem Zirkus hübscher Wörter wirklich zählt. Ich meine, der Typ ist über Dreißig und setzt sich zum Pinkeln hin, das merkt man doch sofort. Er hat ’ne Menge Zeit mit Jesus verbracht, bei sich zu Hause oder unterwegs im Auto, und er redete immer ganz leise, mit gesenktem Kopf, genau wie diese einfühlsamen Leute im Fernsehen. Einmal hab ich gesehen, wie sie sich umarmten, wahrscheinlich wie Brüder oder so, keine Ahnung – muß man echt nicht vertiefen, das Thema. Der Punkt ist, daß Nuckles schließlich einen Psychiater vorschlug. Und von da an ging’s bergab mit Jesus.
Lothar »Fettsack« Larbey fährt im Pick-up-Truck seines alten Herrn an uns vorbei und streckt meinem Kumpel die Zunge raus. »Tacoschwuchtel!« schreit er.
Jesus senkt nur den Kopf. Manchmal schmerzt es mich, wie er rumläuft, mit seinen geschusterten Jordan New Jacks aus zweiter Hand und seinem verfluchten alternativen Lifestyle, oder wie man diesen neuen tuntigen Trend nennt. Dabei paßte ihm sein Wesen immer perfekt wie eine Sportsocke – damals, als wir uns wie Könige fühlten und ein Schmutzfleck auf unseren Sneakers mehr zählte als die Sneakers an sich. Wir haben die Wildnis vor der Stadt mit dem Gewehr von seinem Dad durchstreift und alte Bierdosen und Wassermelonen und Müll terrorisiert. Irgendwie waren wir schon Männer, bevor wir überhaupt richtige Jungs wurden – bevor wir zu dem wurden, was wir jetzt sind, was auch immer das ist. Ich spüre, wie die Eigenartigkeit des Lebens meine Lippen zusammenpreßt; dann läßt sich mein Kumpel auf seinem Rad zu mir zurückfallen und fährt neben mir her. Seine Augen nehmen diesen Glanz an, das passiert ständig, seit er zu diesem Psychoheini geht. Man merkt ihm an, daß er in einen seiner philosophischen Hirnficks versunken ist.
»Hey Mann, erinnerst du dich an diesen Großen Denker, den wir letzte Woche in der Schule hatten?« fragt er.
»Der wie ›Manual Cunt‹ klang?«
»Ja, der gesagt hat, daß nichts tatsächlich passiert, solange man es nicht passieren sieht.«
»Ich erinnere mich nur, daß ich Naylor gefragt hab, ob er schon mal von einer manuellen Fotze gehört hat, und er meinte, er fährt nur mit Automatik. Wir haben uns bepißt vor Lachen.«
Jesus schnalzt mit der Zunge. »Scheiße, Vermin, das ist echt alles, was du im Kopf hast – wann du dich bepißt hast vor Lachen. Nichts als Pisse, Scheiße und Mädchendünste. Das hier ist der echte Scheiß, Mann. Manual Cunt hat diese Frage mit der Katze gestellt – dieses Rätsel, wo du eine Kiste hast, und in der Kiste ist ’ne Katze und dazu noch eine offene Flasche mit tödlichem Gas oder so – die Katze kippt also auf jeden Fall gleich um …«
»Wem gehört die Katze denn? Ich wette, die sind sauer.«
»Verdammt, Verm, ich mein’s ernst. Das ist ein absolut brennendes philosophisches Problem. Die Katze ist in der Kiste und wird jeden Augenblick sterben, und Manual Cunt fragt, ob man sie nicht theoretisch schon als tot bezeichnen könnte, sofern nicht jemand da ist, der bezeugt, daß sie noch lebt, der also weiß, daß sie existiert.«
»Wäre es nicht einfacher, der blöden Katze einen kräftigen Tritt zu geben?«
»Es geht nicht darum, die Katze zu erledigen, Arschloch.« Man kann Jesus zur Zeit ganz leicht hochbringen. Seine Logik ist total ernsthaft geworden.
»Scheiße, Jeez, worauf willst du hinaus?«
Er runzelt die Stirn und antwortet so langsam, als ob er jedes Wort mit der Schaufel ausgräbt. »Daß, wenn Sachen nicht passieren, außer man sieht, wie sie passieren – passieren sie dann auch, wenn du weißt, daß sie passieren werden, aber du sagst es keinem …?«
Die Worte erreichen mein Ohr genau in dem Moment, als hinter den Bäumen die Umrisse der Martirio High School sichtbar werden – ein Gebäude wie ein Mausoleum. Ein minimaler Schauder windet sich wie ein Wurm durch meinen Körper.
Scheiße, zu spät. Sobald man ein Karnickel sieht, sieht es einen automatisch auch – das ist ein Naturgesetz, falls es jemand noch nicht wußte. Dasselbe gilt für Vaine Gurie, die ich auf der Straße vor unserem Haus sichte. Über ihrem Streifenwagen hängen Sturmwolken.
»Pam, halt mal an! Ich steig hier gleich aus …«
»Reiß dich zusammen, wir sind fast zu Hause.« Wenn Pam erst mal in Bewegung ist, hält sie so schnell nicht wieder an.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!