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Elfriede Liebich

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Beschreibung

In Klaras Leben ist nichts mehr wie zuvor. Nach der Scheidung von ihrem narzisstischen Mann muss sie alles allein am Laufen halten. Es fällt ihr schwer, den Spagat zu schaffen zwischen Arbeit, Haushalt und der Erziehung ihrer fünfzehnjährigen Tochter Sophie, zumal sich diese plötzlich wie ein richtiger Teenager benimmt. Als Sophie auf einmal verschwindet, scheinen alle von Klaras Albträumen gleichzeitig wahr zu werden. Und auch sie selbst wird zum Ziel. Schon seit einiger Zeit zweifelt sie an ihrem Verstand - merkwürdige Dinge geschehen in ihrem Haus, aber erst als sie einen Einbrecher auf frischer Tat erwischt, wird ihr klar, dass vielleicht auch ihr Leben in Gefahr sein könnte. Aber warum? Wer hat es auf Klara und ihre Familie abgesehen?

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Über die Autorin

Elfriede Liebich wurde in Linz am Rhein geboren und ist mittlerweile stolze 84 Jahre alt. Sie heiratete jung und zog zwei Kinder groß, bevor sie in der Pflege in einem Altenheim arbeitete.

Sie schrieb für ihre Enkel Geschichten und es entwickelte sich ein wunderbares Hobby daraus. Jetzt als Rentnerin und dank der Ermutigung durch ihre Familie und ihre Lektorin, Andrea Benesch, traut sie sich, ein Buch zu veröffentlichen. Dem, wenn es nach ihrem Umfeld geht, noch viele weitere folgen werden.

Inhaltsverzeichnis

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EPILOG

DANKSAGUNG

1 DIENSTAG, 18.10.

Klara stand erstarrt und zitternd vor der offenen Küchentür. Vor wenigen Minuten hatte ein klirrendes Geräusch sie aus dem Schlaf gerissen und mit einem kräftigen Satz aus dem Bett gejagt. Wie jede Nacht hatte sie im Schlafzimmer bis spät in die Nacht gelesen in der Hoffnung, die Müdigkeit würde sich irgendwann einstellen. Doch wie jede Nacht war die Hoffnung umsonst gewesen. Irgendwann musste sie allerdings eingeschlafen sein, denn das Geräusch hatte sie immerhin geweckt.

Angespannt lauschte Klara in die Stille, auf ein weiteres Klirren oder Schritte oder irgendwas anderes. Dabei zögerte sie jeden Atemzug hinaus, um ein eventuelles Geräusch nicht zu überhören. Der Knall kam von oben, aus dem ersten Stock. Etwas war auf dem Boden aufgeschlagen, mehrere leisere Geräusche folgten. Sie waren über den Boden gehüpft, bevor sie verstummten und kaum war das Spektakel vorbei, war es wieder still im Haus und es blieb auch still und eben dieser Umstand hatte sie in Panik versetzt.

Das Zimmer ihrer fünfzehnjährigen Tochter Sophie befand sich im ersten Stock. Wäre ihre Tochter für das Poltern verantwortlich, hätte sie sofort einen lautstarken Fluch hinterhergeschickt, wie sie es immer machte, wenn ihr ein Missgeschick passierte. Weil sich sonst niemand im Haus aufhielt, konnte nur sie es gewesen sein. Absichtlich oder ungewollt, das ließ sich klären.

Am Vorabend war alles in Ordnung gewesen. Sie hatte ihrer Tochter eine gute Nacht gewünscht und Sophie versprach ihr, bald ins Bett zu gehen, weil sie am nächsten Morgen zur Schule musste. Alles war wie immer. Nun, nicht ganz wie immer. Seit der Trennung von Ulrich, ihrem (mittlerweile Ex-) Mann, war nichts mehr so, wie es vorher gewesen war. Ein Erdbeben der Stärke sieben hatte sie erschüttert, als sie das Alter der neuen Frau an Ulrichs Seite erfahren hatte. Augenblicklich hatte diese Nachricht den Glauben an Glück und Beständigkeit zerstört, sie erniedrigt und klein gemacht. Niemals würde sie diese Schmach überwinden können, dachte sie damals. Einundzwanzig, ein Altersunterschied von achtundzwanzig Jahren. So ein Klischee.

Jetzt, um vier Uhr morgens, wollte sie jedoch wissen, was es mit dem Knall auf sich hatte. Je schneller sich das Problem aufklärte, desto schneller kam sie wieder zur Ruhe. Klara setzte sich mit nackten Füßen in Bewegung. Ihr Herz raste wieder, als sie auf der ersten Treppenstufe stand und nach oben blickte. Hoffentlich klärte sich gleich alles auf. Gut, es war etwas herabgefallen und niemand hatte es wieder aufgehoben – davon ging sie jedenfalls aus. Das hätte sie mitbekommen, weil das nicht ohne weitere Geräusche abgelaufen wäre. Übertrieb sie nicht wieder einmal? Machte sie ein unnötiges Theater um einen harmlosen Knall? Um nichts? Musste sie sich immer wieder in die Angst hineinsteigern? Überall Gespenster vermuten, so übertrieben oft, dass sie sich ihrem eigenen Haus nicht mehr sicher fühlte? Stopp! Klara rief sich streng zur Ordnung. Es half nichts, sich selbst mit negativen Gedanken fertigzumachen, zumal diese Stimme, die sie da beschimpfte, eindeutig nicht die ihre war. Wie oft hatte Ulrich ihr genau diese Dinge vorgeworfen? Zu oft. Höchste Zeit damit aufzuhören sie andauernd in Gedanken zu wiederholen und sich zusammenzureißen. Sie musste dem Geräusch auf den Grund gehen, und zwar jetzt. Also beweg dich endlich und sieh nach!

Oben angekommen, stolperte Klara über einen Gegenstand. Sie spürte augenblicklich einen heftigen Schmerz. Etwas Spitzes hatte sich in ihren Fuß gebohrt. In was war sie da nur hineingetreten? In dem diffusen Flurlicht kein Wunder! Seit Wochen hatte sie die Glühbirne austauschen wollen. Das hatte sie nun von ihrer Nachlässigkeit. Klara bückte sich, um nachzusehen, wie schlimm der Fuß verletzt worden war, doch so sehr sie sich auch verrenkte, ohne Spiegel war das unmöglich. Sie musste sich sofort einen besorgen und den Fuß provisorisch umwickeln. Bevor sie sich erhob, nahm sie eine Scherbe in die Hand und sofort war ihr klar, dass sie zu ihrem Porzellanengel, ihrem Glücksbringer gehörte, den ihr Ex-Mann ihr vor vielen Jahren zum Geburtstag schenkte. „Damit er über dich wacht und das Glück dich nie verlässt“, sagte er damals und überreichte ihr ein besonders liebevoll dekoriertes Päckchen, mit einer dicken Schleife umwickelt. Überschwänglich vor Freude hatte sie es entgegengenommen. Es war damals das schönste Geschenk, das sie je bekommen hatte.

Seit Ewigkeiten stand der Engel auf dem Flurregal, weit hinten in der Ecke. Er hätte keinesfalls von alleine herabfallen können. Darum ging sie davon aus, dass Sophie dafür verantwortlich war. Jetzt lag er vor ihr, zerstört, in viele Einzelteile auseinandergebrochen und sie wunderte sich nicht darüber, dass sie statt tiefer Traurigkeit, ein angenehmes Gefühl der Erleichterung empfand.

Nachdem Klara ihren Fuß zunächst notdürftig verbunden hatte, öffnete sie leise Sophies Zimmertür. Das Licht wollte sie nicht anmachen, um sie nicht grob aus dem Schlaf zu reißen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Es war nur so ein Gefühl. Klara konnte es nicht genau benennen, allerdings war es hartnäckig und brachte ihre Beine dazu, sie in das Zimmer zu führen. Ein Kloß drückte in ihrer Kehle, noch bevor sie neben das Bett ihrer Tochter trat und feststellte, dass es unbenutzt war. Augenblicklich stockte ihr der Atem. Wo war sie? War sie auf der Couch eingeschlafen und hatte sich nicht mehr dazu aufraffen können, ins Bett zu gehen? Sie musste unbedingt nachsehen. An andere mögliche Erklärungen wollte sie im Moment gar nicht denken. Den Schmerz im Fuß unterdrückte Klara, Sophie war wichtiger. Sie hielt sich am Treppengeländer fest, humpelte auf Zehenspitzen nach unten. Im Wohnzimmer war sie nicht. Sie sah auch in den anderen Zimmern nach. Vergeblich. Eine schreckliche Ahnung durchfuhr sie. Hatte sie jemand aus dem Haus gelockt und sie schwebte in akuter Gefahr? Oder war sie aus freien Stücken verschwunden? War das von vorneherein so geplant? Sie war doch erst fünfzehn und normalerweise nicht gerade der aufsässige Typ. Sofort waren da Horrorvorstellungen in Klaras Kopf, eine schlimmer als die andere. Überall lauerten heut zu Tage Gefahren, besonders für junge, leicht zu beeindruckende Mädchen. Man hörte und las doch immer wieder von so etwas. Klara wollte alle Hebel in Bewegung setzen, um ihre Tochter zu finden. Mit aller Kraft drängte sie die Panik zurück, verscheuchte die furchtbaren Gedanken und nahm sich eine Minute, um sich zu beruhigen.

Die Anspannung nahm zu. Klara beugte den Oberkörper ein wenig nach vorn und drückte die verschränkten Arme fest gegen den Bauch. Ein Versuch, das unangenehme Ziehen in der Magengegend zu mildern. Dabei atmete sie einige Male tief ein und aus. Was zuerst? Vor allem musste sie einen kühlen Kopf bewahren. Panik nützte ihr nichts. Und sofort handeln. Freunde anrufen, dann die Krankenhäuser. Zur Not auch die Polizei. Egal, wie spät es war. Sie konnte keinerlei Rücksicht nehmen, es ging um ihr Kind. Wo war ihr Handy? Klara blickte sich um. Hier lag es nicht. Dann hatte sie es wohl im Schlafzimmer liegen lassen. Bevor sie die Treppe erreichte, stolperte sie erneut über eine Scherbe und blieb ruckartig stehen. Der Kloß in ihrem Hals wurde größer. Wenn ihre Tochter den Engel nicht zerstört hatte, wer dann? Hielt sich doch jemand im Haus versteckt? Eigentlich unmöglich, sie hatte alle Zimmer gründlich durchsucht! Hing Sophies Verschwinden etwa mit dem zerbrochenen Engel zusammen und sie war vielleicht entführt worden? Nein, das käme zeitlich nicht hin. Sie hatte doch sofort auf den Knall reagiert und im Flur war niemand an ihr vorbei, nach draußen gelaufen. Gäbe es doch nur eine harmlose Erklärung dafür!

Klara entdeckte ihr Handy in ihrem Schlafzimmer auf dem Nachttisch. Es schaute unter einer Zeitung hervor. Es war eine ihrer Angewohnheiten, alles übereinanderzustapeln, wenn sie keinen freien Platz fand.

Die meisten Telefonnummern waren gespeichert. Sie begann mit Bryan, ihrem Stiefsohn. Es meldete sich nur die Mailbox. Sie sprach eine kurze Nachricht darauf. Klara überlegte kurz, wen sie als Nächsten anrufen sollte. Dann fiel ihr Emma, Sophies beste Freundin ein. Wenn jemand etwas wusste, dann sie. Dass sie Emma oder ihre Eltern aus dem Bett holen musste, war ihr sehr unangenehm. Wer mochte das schon mitten in der Nacht? Doch es war ein Notfall und der berechtigte sie dazu. Jetzt hoffte sie, dass auch jemand dran ging, während sich die Verbindung aufbaute.

Nach mehrmaligem Klingeln meldete sich Frau Fischer.

Klara legte gleich los. „Hier ist Frau Scheffler. Entschuldigen Sie die frühe Störung. Ich würde nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. Sophie ist verschwunden. Ihr Bett ist unbenutzt. Ich mache mir große Sorgen. Könnten Sie Emma fragen, ob Sophie ihr irgendetwas erzählt hat? Vielleicht hat sie einen Namen genannt, oder einen Ort. Irgendwas, das auf ihren derzeitigen Aufenthaltsort schließen lässt. Mir erzählt Sophie ja kaum noch was.“

„Du lieber Himmel! Verschwunden? Wirklich? Was ist nur aus der Welt geworden? Man hört ja alles Mögliche heutzutage. Bleiben Sie dran, ich wecke Emma. Hoffentlich ist sie nicht auch verschwunden.“

Frau Fischers Bemerkung hatte nicht gerade zu ihrer Beruhigung beigetragen. Jetzt war sie noch verstörter. Die Unruhe, die immer stärker in ihr wütete, ließ sie hin und her wandern und dabei auf das Handy starren. Ab und an meldete sich ihr Fuß, aber Klara konnte sich jetzt nicht setzen, auch wenn das klüger gewesen wäre. Sie atmete tief ein und stieß die Luft geräuschvoll wieder aus. Warum dauerte das denn so lange?

„Hören Sie, Frau Scheffler. Emma ist in ihrem Bett. Sie weiß von nichts. Ich merke, wenn sie lügt. Sie war zu sehr erschrocken über das Verschwinden ihrer Freundin. Sophie erzählt ihr auch nichts mehr. Ich wünschte, ich könnte Ihnen was anderes sagen.“

„Moment, Frau Fischer. Jemand macht sich an der Haustüre zu schaffen, es könnte Sophie sein, ich sehe nach …“

Klara nahm das Handy vom Ohr, ging auf die Schlafzimmertür zu, die einen Spaltbreit offen stand, öffnete sie weit und stand vor ihrer Tochter. Sophie, die ihre Schuhe in den Händen hielt, zuckte so heftig zusammen, dass sie einen Schuh fallen ließ und ihre Mutter mit weit aufgerissenen Augen ansah. Gleich darauf kniff sie die Augen zusammen, neigte den Kopf und sah zu Boden.

„Mit mir hast du wohl um diese Zeit nicht gerechnet. Wo warst du? Wo kommst du jetzt her? Wie siehst du nur aus?“ Klaras Stimme zitterte. Sophies Haare hatten sich teilweise aus dem Pferdeschwanz gelöst, verdeckten Gesicht und zum Teil auch die Augen. Ein Ende ihres warmen Schals war einmal um den Hals geschlungen, das andere Ende hing herab, berührte den Boden, war feucht und schmutzig. Sie roch nach Zigarettenqualm. Normalerweise achtete Sophie sehr auf ihr Äußeres. Sie war in letzter Zeit übertrieben pingelig, wenn es um Körperpflege und Mode ging. Ihr Anblick jetzt war ein kleiner Schock für Klara. Wo mochte sie sich bloß herumgetrieben haben? Und mit wem?

Die eingetretene Stille machte die angespannte Situation unerträglich. Beide warteten darauf, dass die jeweils andere zuerst etwas sagte.

Schließlich war es Frau Fischer, die diese Spannung durchbrach, indem sie Klaras Namen rief. Diese hatte ihr Handy noch in der Hand. Schnell führte sie es zum Ohr zurück.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ. Sophie ist zurück. Ich hoffe, dass sich gleich alles aufklärt.“

„Wir telefonieren später, in Ordnung?“

„Danke für Ihr Verständnis. Bis später.“

Dann wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu. „Willst du mir nicht endlich sagen, wo du um diese Zeit gewesen bist? Ich nehme mal an, du hast dich mit jemandem getroffen.“

Klara trat dichter an ihre Tochter heran, um ihr Kinn anzuheben, damit sie ihr in die Augen sah, doch Sophie wich zurück.

„Schau mich an, wenn ich mit dir rede. Weißt du, was ich mir für Sorgen um dich gemacht habe?! Antworte mir gefälligst.“

Wieder folgte nur Stille auf ihre Worte. Gut, dann versuchte sie es eben anders. Mit einem Gespräch auf Augenhöhe hatte sie vielleicht mehr Erfolg.

„Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst. Sieh mal! Weil ich nicht wusste, wo du mitten in der Nacht warst, bin ich vor Sorge fast durchgedreht. Kannst du das denn nicht verstehen?“

Endlich blickte Sophie auf. Trotz lag in ihrem Blick und ihre Stimme hatte einen vorwurfsvollen Unterton.

„Ich habe mich mit meiner Freundin Emma getroffen. Sie hat mich angerufen. Ihr Freund hat schlussgemacht. Sie brauchte jemanden zum Reden.“

„Ach, wirklich? Emma? Seltsam, noch vor wenigen Minuten, als ich bei ihren Eltern anrief, schlief deine Freundin tief und friedlich in ihrem Bett. Es war Frau Fischer, gerade am Telefon. Also, warum lügst du mich an? Sag mir, wo du wirklich gewesen bist.“

„Ich bin alt genug, um auszugehen! Ich bin kein blödes Baby mehr! Alle meine Freundinnen dürfen viel mehr als ich. Sie dürfen einen Freund haben und länger raus.“

„Weich mir nicht aus. Natürlich darfst du auch einen Freund haben. Aber ich kann doch nicht zulassen, dass du dich nachts aus dem Haus schleichst. Das ist zu gefährlich.“

„Lass mich doch in Ruhe. Ich bin müde. Es ist ganz allein meine Sache, mit wem ich mich wann und wo treffe.“

„Was ist los mit dir? Ich habe dir eine ganz normale Frage gestellt und darf erwarten, dass du mir ebenso normal darauf antwortest. Aber warte mal! Machst du das öfter? Wartest, bis ich eingeschlafen bin, und verlässt das Haus?“

„Ich hab nichts Schlimmes gemacht. Ständig meckerst du an mir herum. Lass mich doch endlich zufrieden.“

Sophie zwängte sich an ihrer Mutter vorbei, rannte die Treppe hinauf.

„Vor deiner Tür liegen Scherben!“, rief ihr Klara noch hinterher.

Doch ihre Worte wurden von der zugeschlagenen Tür verschluckt. Fassungslos starrte Klara weiterhin die Treppe hinauf. Warum hatte ihre Tochter so übertrieben schnippisch reagiert? Was verbarg sie vor ihr? Sie war ja in letzter Zeit schon einiges von Sophie gewohnt. Widerworte, knappe oder gar keine Antworten. Doch so etwas wie diesen Auftritt, hatte sie noch nie hingelegt. Sophie war ein gutes Kind, ein Teenager, ja und deswegen per se launisch, aber sie hatte sich immer an die Regeln gehalten – zumindest soweit Klara wusste. Was, wenn sie sich schon länger jeden Abend rausschlich? Kannte sie ihre Tochter überhaupt noch?

Da sie vorerst in dieser Sache nichts mehr erreichen würde, konzentrierte sich Klara seufzend wieder auf die Scherben. Mittlerweile pochte ihr verletzter Fuß ziemlich ungehalten, und da das Adrenalin aufgebraucht war, konnte sie den Schmerz auch nicht mehr einfach so ignorieren. Also humpelte sie los, holte Schaufel samt Handfeger, damit Sophie nicht das gleiche passierte wie ihr, und quälte sich die Treppen hinauf.

Nachdem das erledigt war, ging sie in die Küche, legte ein Pad in die Kaffeemaschine und sah dabei zu, wie sich langsam die Tasse füllte. An Schlaf war nicht mehr zu denken, vor allem, weil sie sowieso bald wieder aufstehen müsste. Klara brauchte einen starken Kaffee, um sich im Bad für den Tag zurechtzumachen. Am Tisch stützte sie mit der einen Hand ihren Kopf, mit der anderen Hand trank sie ihren Kaffee und fixierte eine Stelle auf der Tischplatte. Was hatte Sophie nur so verändert? Warum rückte sie immer weiter von ihr ab und näher zu ihrem Vater hin? Sophie telefonierte ihm ständig hinterher, obwohl er sich nur noch selten bei ihr meldete. War sie zu streng mit ihr? Dass sich Sophie nachts aus dem Haus schlich, konnte sie nicht dulden. Da blieb sie hart. Sie tat sich schwer damit, anzunehmen, dass etwas Harmloses hinter Sophies Verschwinden stecken könnte. Wäre es so, hätte Sophie ihr das bestimmt erzählt. Gut, ihre Tochter war fünfzehn. Da waren die Kinder in der heutigen Zeit schon sehr weit in ihrer Entwicklung. Aber trotzdem musste es Grenzen geben. Klara konnte die Sorge um ihr Kind nicht einfach abstellen und so erwachsen sich Sophie auch fühlte, ihre Handlungen sprachen eine ganz andere Sprache.

Klara sah auf die Uhr und fuhr erschrocken zusammen. Schon bald musste Sophie zur Schule und sie kurz danach zur Arbeit. Ihre Tochter würde dazu gar nicht in der Lage sein. Auch sie fühlte sich matt und übernächtigt, als hätte sie in den Tag hineingefeiert. Eines war sicher: Die Sache mit Sophies Ausflug war noch nicht geklärt und Klara würde das auch nicht einfach auf sich beruhen lassen.

2 MITTWOCH, 19.10. GEMEINSCHAFTSPRAXIS

Eine lange Menschenreihe hatte sich vor der Absperrung in der Hausarzt-Gemeinschaftspraxis gebildet, als Klara leicht verspätet zur Arbeit kam. Das gewohnte Bild. Ungeduldig traten die Wartenden von einem Fuß auf den anderen oder stützten sich an der Wand ab. Einige beschwerten sich mit vorgehaltener Hand.

Es war Oktober, Erkältungszeit. Ein Husten und Niesen war aus allen Ecken zu hören. Dazu rote Nasen und vermummte Hälse.

Ihre Kollegin Olga hatte ihre Arbeit bereits aufgenommen und bat die Patienten der Reihe nach zu sich. Sie rief gerade ihre Daten im Computer auf, als Klara abgehetzt, humpelnd an ihr vorbeieilte. Klara hatte Olga freundlich zugenickt, Olga jedoch schnell weggeschaut, ohne den Gruß erwidert zu haben. Dann eben nicht, dachte sie. Sie hatte sich vorgenommen, sich über die Launen ihrer Kollegin nicht mehr aufzuregen. Es gelang ihr heute allerdings nicht. Während sie sich von Mantel und Handtasche befreite, stieg Wut in ihr auf. „Dumme Kuh“, murmelte sie leise. Dieses Mal würde sie den Ärger nicht unterdrücken. Sie atmete noch einmal kräftig durch und eilte zu ihrem Arbeitsplatz – so schnell es eben mit ihrem schmerzenden Fuß ging. Natürlich tat es Klara leid, dass sie zu spät war, aber das hatte sie ja nicht mit Absicht getan und Olga hatte immer ein Problem mit ihr, auch wenn sie pünktlich war.

Nicht alle Patienten hatten einen Termin. Einige hofften, noch dazwischen geschoben zu werden, weil sie über Nacht irgendwelche Schmerzen peinigten oder sie ganz einfach der Langeweile entfliehen wollten. In der Praxis traf man immer jemanden zum Reden. Zwei Ärzte, Dr. med. Friedrich Winkler, der kurz vor der Rente stand, und sein jüngerer Kollege, Dr. med. Pascal Schubert sowie vier Arzthelferinnen bildeten das Team dieser Praxis. Es war eine eingespielte Truppe. Die Routine der langen Zusammenarbeit zahlte sich aus. Wenn auch manchmal einer von ihnen ungehalten auf Stress reagierte, vertrugen sie sich im großen Ganzen gut. Kleine Reibereien kamen überall vor, wo Menschen auf engem Raum zusammenarbeiteten. Immer öfter war ihr Tagespensum kaum zu schaffen. Zu viele Patienten, zu wenig Zeit.

Klara änderte alle paar Minuten ihre Sitzposition, weil die Schmerzen in ihrem Fuß langsam, aber sicher unerträglich wurden. Er pochte beharrlich und schwoll auch noch an. Erst nachdem sie den rechten Schuh ausgezogen hatte, ließen die Schmerzen ein wenig nach. Ihre Freundin Charlotte, die aus dem Labor gekommen war, hatte das mitbekommen. Sie ging zu Klara hinüber.

„Was ist mit deinem Fuß?“

„Ich bin in eine Scherbe getreten und kann nicht mehr richtig auftreten. Ich weiß nicht, wie ich ohne Schuhe nach Hause kommen soll.“

„Du kannst mit uns fahren. Frank holt mich ab. Wir wollen nach Dienstschluss eine neue Couch kaufen, die alte ist durch-gesessen, aber das weißt du ja. Wir können dich vorher absetzen. Ich würde den Fuß Dr. Schubert zeigen. Nicht, dass du noch eine Blutvergiftung bekommst oder so.“

„An so was hab ich noch gar nicht gedacht. Das würde mir gerade noch fehlen. Wenn der nächste Patient aus seinem Sprechzimmer kommt, frage ich ihn, wann ich ihm den Fuß zeigen darf.“

„Ja, mach es so. Sag mal, ist es nur der Fuß oder ist da noch mehr? Du bist so blass, und hass mich nicht, aber deine Augenringe sehen gefährlich aus. Hängt das mit den Schmerzen zusammen oder hast du wieder einmal schlecht geschlafen?“

Klaras Handy begann zu klingeln. Mist. Sie hatte den Ton doch auf leise stellen wollen. Sie ärgerte sich, weil sie andauernd etwas vergaß, abgelenkt und unkonzentriert war. Sie meldete sich nur, weil sie annahm, dass es Sophie sein könnte. Klara sah zu Olga hinüber, die ihr einen grimmigen Blick zuwarf. Natürlich war ihr das nicht entgangen.

„Ich bin es, Bryan. Du hast mich heute früh angerufen? Ich habe letzte Nacht woanders geschlafen. Ist es wichtig?“

„Hat sich schon erledigt, Bryan. Ich rufe dich später an. Wenn ich beim Telefonieren erwischt werde, bekomme ich Ärger.“

„Okay. Bis nachher.“

„Bis nachher, Bryan.“

„Was wollte der so früh am frühen Morgen von dir?“ „Ich hatte ihn angerufen, weil Sophie letzte Nacht verschwunden war und erst am Morgen zurückkam.“

„Oje, das klingt nicht gut. Wenn sie jetzt schon mit so was anfängt, kriegst du noch Spaß. Hat sie dir erzählt, wo sie gesteckt hat?“

„Nein. Sie hat auf stur geschaltet, nachdem sie zurück war. Ich habe absolut nichts aus ihr herausbekommen. Aber was meinst du damit, dass ich noch Spaß kriege? Glaubst du, es wird noch schlimmer mit ihr?“

„Ich habe zwar selbst keinen Teenager zu Hause, aber ich weiß noch genau, wie das damals bei meiner Schwester war, als es mit den Jungs losging. Sich rausschleichen ist da noch das harmloseste. Tut mir leid, jetzt muss ich aber. Ich muss Frau Maier Blut abnehmen. Sie braucht das Ergebnis für ihre Augenoperation nächste Woche. Wir reden nachher weiter.“ Und weg war sie.

Klara war froh, dass sie mit Charlotte über alles reden konnte. Sie vertrauten einander blind. Sie war die liebenswerteste Person, die sie kannte, aber auch die neugierigste.

Sie bat den nächsten Patienten zu sich. Hans Reuter kam hektisch und gestikulierend auf Klara zu. Oh nein, den konnte sie heute nun wirklich nicht ertragen. So ein schmieriger, ungehobelter Mann. Mit seiner ruppigen Art hatte er sie schon oft zur Weißglut gebracht. Im Dunkeln würde sie dem nicht begegnen wollen. Klara wappnete sich innerlich.

„Vor zehn Minuten habe ich Ihrer Kollegin einen Zettel gegeben, wo die Tabletten drauf standen, die meine Frau dringend braucht. Aber sie läuft in der Gegend rum, statt mir ein Rezept zu geben. Ich habe nicht vor, hier zu übernachten.“

„Nun mal langsam, Herr Reuter. Ihre Frau, Margot, hat schon zum zweiten Mal ihren Termin verpasst. So geht das nicht. Sie will doch sicher auch wissen, wie ihre Werte sind. Sie hat es noch längst nicht überstanden. Die Nachuntersuchungen müssen regelmäßig wahrgenommen werden, damit man die künftige Behandlung anpassen kann. Wenn sie nicht in der Lage ist, hierherzukommen, muss sie in ein Krankenhaus. Dann werden dort die nötigen Untersuchungen gemacht. Sie sollten ihr gut zureden.“

„Wenn meine Frau nicht zu ihnen in die Sprechstunde kommen will, dann zwinge ich sie auch nicht.“

„Das muss ich aber von ihr hören. Sie ist doch so eine umgängliche Patientin und kommt gern her. Ich rufe sie gleich an und frage sie selbst.“

„Das können Sie sich sparen, sie geht an kein Telefon. Aber ich sorge dafür, dass sie den nächsten Termin wahrnimmt, wenn es denn unbedingt sein muss. So viele Umstände, bloß für ein paar Pillen. Es geht echt bergab mit Deutschland.“

Als er endlich weg war, konzentrierte sich Klara wieder auf ihre Arbeit, was ihr nicht leicht fiel. Ihre Gedanken glitten immer wieder ab. Wie sie befürchtet hatte, wollte Sophie am Morgen nicht aufstehen. Es war ein regelrechter Kampf gewesen, sie aus dem Bett zu kriegen. Klara hatte sich jedoch letztlich durchgesetzt. Am liebsten hätte sie ihre Tochter zur Schule begleitet, musste allerdings davon ausgehen, dass ihre Tochter dann völlig dichtgemacht hätte, und darauf hatte sie es nicht ankommen lassen wollen. Jetzt quälte sie sich mit dem Gedanken herum, ob Sophie vielleicht die Schule schwänzte. Das wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf. Sie überlegte hin und her, ob sie in der Schule anrufen sollte. Nach der nächtlichen Aktion wäre das wohl gerechtfertigt, wenn nicht sogar ihre Pflicht. Wozu sie sich auch entschloss, beides barg ein Risiko. Und weil sie zu keinem Ergebnis kam, ließ sie es bleiben. Natürlich hoffte sie insgeheim, dass sie sich umsonst sorgte.

Der Schmerz in ihrem Fuß war inzwischen so stark geworden, dass sie ihn nicht mehr aushielt. Sie klopfte an die Sprechzimmertür von Dr. Schubert und ging hinein. Der Arzt drehte sich seiner Sprechstundenhilfe zu und sah sie humpelnd näher kommen.

„Nanu, was haben Sie denn gemacht?“

„Ich bin letzte Nacht – oder vielmehr war es heute früh – in eine Scherbe getreten und habe große Schmerzen. Mein Fuß pocht immer stärker. Ich kann nur noch auf Zehenspitzen laufen.“

„Dann legen Sie sich mal auf die Liege, damit ich mir den Fuß anschauen kann.“

Dr. Schubert suchte einiges zusammen und legte alles auf die Seite der Liege. Er entfernte Strumpf und Verband. „Es sieht ganz so aus, als ob sich die Stelle schon entzündet hat. Höchste Zeit, die Wunde zu behandeln. Ich fürchte, da sind auch noch Splitter drin, die dringend entfernt werden müssen. Wie ist das denn passiert?“

„Ich bin in der Nacht von einem Knall geweckt worden. Als ich nachgesehen habe – leider barfuß – bin mitten in die Scherben getreten. Eine Engelsfigur war zerbrochen.“

„Hätte auch schlimmer ausgehen können“, sagte der Arzt, nachdem er den Fuß gründlich untersucht hatte. So tief ist die Wunde zum Glück nicht.“

Mit einer Pinzette zog er die kleinen Splitter heraus, die Klara übersehen hatte. Trug eine Salbe auf und verband den Fuß.

„Sie müssen den Fuß schonen. Ich schreibe Ihnen eine Salbe und Schmerztabletten auf. Wie kommen Sie denn jetzt nach Hause?“

„Charlotte nimmt mich mit. Zu Hause ziehe ich Pantoffel an, damit komme ich zurecht.“

„Wenn nicht, schreibe ich Sie krank. Melden Sie sich, wenn es mit dem Laufen nicht geht.“

Dr. Schubert blieb noch eine Weile sitzen und schaute sie so seltsam an. Klara hatte das Gefühl, als ob er noch was sagen wollte, doch zu ihrer Enttäuschung blieb er stumm. Er stand auf und ging an seinen Schreibtisch zurück. Schade! Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe und hätte die Behandlung gern noch hinausgezögert, den Blickkontakt gehalten und einige Worte mit ihm gewechselt. Es sollte wohl nicht sein. Sie hatte sich wieder einmal etwas eingebildet. Sie bedankte sich und verließ enttäuscht den Raum.

Nach Feierabend stieg sie in Charlottes und Franks Auto. „Stell dir vor Klara! Charlotte will unbedingt eine neue Couch. So ne moderne, an der man das Kopfteil verstellen kann. Mir ist die Alte noch gut genug.“

„Eine neue Couch ist fällig, basta! Ich traue mich ja kaum noch, jemand einzuladen, mit dem alten Schrottding.“ Sie zog eine Grimasse.

„Der Klügere gibt nach“, sagte Frank in gedämpften Ton. Schielte kurz zu Klara rüber, die wegen des verletzten Fußes vorne saß. Er zwinkerte ihr zu. Dann wurde er lauter:

„Drück mir die Daumen, Klara, dass Charlotte keine Couch gefällt.“

„Das hättest du wohl gern“, erwiderte Charlotte. „Ohne eine Couch gekauft zu haben, fahren wir nicht nach Hause. Selbst wenn wir sämtliche Möbelhäuser im Umkreis von 100 km abklappern müssen. Also, freu dich nicht zu früh.“

Bald darauf hielt Frank vor Klaras Haus. Vorsichtig stieg sie aus und versuchte dabei, möglichst wenig Gewicht auf den verletzten Fuß zu verlagern. Klara bedankte sich bei ihren beiden Freunden, wünschte ihnen viel Glück beim Couchaussuchen und ging ins Haus hinein. Kaum, dass sie den Flur betrat, klingelte das Festnetztelefon. Klara meldete sich und wurde direkt mit Vorwürfen überhäuft. Ihr Ex-Mann, Ulrich, nahm sich nicht einmal die Zeit für ein „Hallo.“ Genau das, was Klara heute noch gefehlt hatte …

„Warum gehst du nicht an dein Handy? Was ist los bei euch? Sophie rief mich an. Sie will zu mir ziehen. Wie stellt ihr euch das vor? Ich habe wenig Zeit. Bin manchmal Tage unterwegs und Lydia hat auch ihre Verpflichtungen.“

„Ulrich halt die Klappe!“, donnerte Klara schließlich, als ihr endgültig der Geduldsfaden riss. Was hatte sich Sophie nur dabei gedacht? Egal, das würde sie später mit ihr klären, jetzt musste sie erst mit Ulrich fertig werden. „Erstens musst du nicht so schreien, ich bin nicht schwerhörig. Zweitens wirst du nicht in diesem Ton mit mir reden und drittens, ich weiß nichts davon, dass sie zu dir ziehen will. Oder wirfst du mir jetzt auch noch vor, sie dazu angestiftet zu haben, weil ich sie loswerden will? Es klingt ganz danach.“

„Es muss doch bei euch was vorgefallen sein, ohne Grund will sie bestimmt nicht von dir weg.“

„Wenn du dich um sie kümmern würdest, wüstest du, dass es mit ihr zurzeit sehr schwierig ist. Sie ist ein Teenager! Sie will sich nichts mehr sagen lassen, sich an keine Regeln mehr halten, ist der Meinung, sie sei ja sooo erwachsen. Und weil ich ihr Grenzen setze, im Gegensatz zu dir, bin ich die Böse. So einfach ist das.“

„Sei doch nicht wieder so hysterisch. Du hast schon immer mächtig übertrieben. Bist wohl mal wieder überfordert mit allem.“

„Spinnst du?! Du bist doch derjenige, der bei jedem Gespräch gehetzt wirkt. Sich nicht mal Zeit für seine Tochter nimmt und ausgerechnet du, wirfst mir Überforderung vor? Weißt du was? Mir reichts! Ich bin gerade erst von der Arbeit gekommen und hab jetzt wirklich nicht den Nerv, mir deine Vorwürfe anzuhören. Ruf mich wieder an, wenn du dich abgeregt hast.“

„Warte! Dann sprich wenigstens mit Sophie. Bring ihr schonend bei, dass ich im Moment viel zu tun habe und sie mich demnächst mal, an einem Wochenende, besuchen darf.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst! Hätte ich mir ja denken können, dass du mir mal wieder den schwarzen Peter zuschiebst. Das kannst du ihr gefälligst selber sagen.“

Klara ließ ihr Handy kurz sinken, schloss für einen Moment die Augen. Sie atmete tief durch und besann sich darauf, was wichtig war und sich einen Schlagabtausch mit ihrem Ex-Mann zu liefern, war es definitiv nicht. Nachdem sie noch ein weiteres Mal tief Luft geholt hatte, öffnete Klara ihre Augen wieder und schlug versöhnliche Töne an.

„Ich mach dir einen Vorschlag zur Güte, Ulrich, damit wir das Gespräch zu Ende bringen. Warte, ich schau mal auf den Kalender. Heute ist Mittwoch. Wie sieht es Freitag aus? Komm Freitag vorbei, dann reden wir mit Sophie darüber. Ein Gespräch zu dritt, hatte ich dir schon längst vorschlagen wollen. Was meinst du dazu?“

„Du kannst doch nicht einfach über meinen Kopf hinweg bestimmen! Freitag habe ich bestimmt schon was anderes vor. Es reicht doch, wenn wir das telefonisch klären.“

„Ich möchte aber, dass du zu uns kommst. Wir müssen persönlich miteinander reden. Überlegen, wie wir sie zur Vernunft bringen können. Auf dich hört sie zurzeit eher, als auf mich. Ich kann von dir erwarten, dass du dich auch mal einbringst. Dann können wir ihr in einem beibringen, dass sie nicht zu dir ziehen kann. Ich würde das sowieso nicht zulassen. Nenn mir wenigstens einen anderen Termin, aber zeitnah.“

„Das kann ich nicht, das müssen wir kurzfristig machen.“

„Verdammt noch mal, jetzt reicht es aber! Du sagst doch immer, dass du keine Zeit hast, egal, ob ich etwas mit dir besprechen will oder Sophie dich anruft. So geht das nicht weiter! Wenn du nicht kommst, stehe ich mit Sophie Freitag Nachmittag vor deiner Tür. Und wenn du uns nicht die Tür aufmachst, werden sich die Nachbarn freuen. Dann wird es laut. Und glaub bloß nicht, dass ich das nicht ernst meine. Also überleg es dir.“

Klara legte auf, ohne Ulrich die Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben. Dieses Mal hatte sie nicht klein bei gegeben. Jetzt hoffte sie, dass er sie ernst nahm. Es brauchte deutliche Worte, um zu ihm durchzudringen. Er machte normalerweise nur dann Zugeständnisse, wenn er jemand für seine Zwecke gewinnen wollte im geschäftlichen Umfeld oder bei jungen Frauen. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie hatte sich durchgesetzt, hatte ihm klare Ansagen gemacht und war deswegen stolz auf sich.

Klara hatte noch immer ihren Mantel an und nur einen Schuh. Die Fliesen im Flur waren kalt. Sie spürte das durch den dicken Verband. Jetzt wollte sie zuerst einmal ihre Pantoffeln anziehen und richtig zu Hause ankommen, sich einen Kaffee kochen, durchatmen und für ein paar Minuten zur Ruhe kommen. Das Essen musste sie auch noch vorbereiten. Die Wohnung würde sie aber erst morgen aufräumen, falls es ihrem Fuß etwas besser ging. Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Dann klingelte es an der Haustüre. Wer konnte das sein? Hoffentlich Sophie. Irgendwie spürte sie Erleichterung. Sie öffnete die Tür und stand Bryan gegenüber.

„Hallo Klara. Entschuldige den Überfall, aber vorhin am Telefon klangst du etwas … ich weiß nicht, als wäre was passiert. Ich kenne dich. Irgendetwas stimmt nicht. Außerdem habe ich dich schon viel zu lange nicht mehr besucht. Und jetzt sag bitte, was los ist.“

„Komm erst mal rein, Bryan. Geh schon mal vor in die Küche. Ich koche uns gleich einen starken Kaffee. Ich zieh mir nur schnell Pantoffel an.“

„Danke, den kann ich gut gebrauchen. Du humpelst ja, warum?“

„Ich bin in eine Scherbe getreten, halb so schlimm.“ Innerlich seufzte Klara, obwohl sie sich sehr über den Besuch freute. Sophie würde gleich nach Hause kommen. Sie würde bestimmt annehmen, dass sie Bryan um Hilfe gebeten hatte. In letzter Zeit war sie nicht gut auf ihn zu sprechen. Warum das so war, hatte sie bisher noch nicht herausgefunden. Eigentlich waren die beiden immer gut miteinander ausgekommen. Wenn sie es sich recht überlegte, war ihre Tochter momentan auf niemand gut zu sprechen. Lag das nur daran, dass Sophie ein Teenager war oder steckte da noch mehr dahinter?

Bryan war anders als Sophie. Pflegeleicht, manchmal zwar in sich gekehrt, abwesend, doch meistens gut gelaunt. Wenn sie Hilfe brauchte, kam er immer gleich vorbei. Er war so begabt, wenn es um handwerkliche Tätigkeiten ging. Ob tropfender Wasserhahn, streikender Staubsauger oder launischer Computer, er reparierte einfach alles. Sie wunderte sich oft, wie unterschiedlich Verwandte sein konnten. Ulrich wusste nicht mal, wie man eine Zange hielt, geschweige, wie man sie benutzte. Sie mochte Bryan von dem Tag an, als er in ihre Familie kam. Damals war er neun.

„Ich weiß nicht mehr weiter“, begann Klara. Dabei hielt sie ihre Kaffeetasse mit beiden Händen umschlungen, als wollte sie sich daran festhalten. Sie trank einen Schluck, stellte sie zurück auf den Tisch. Ließ sie aber nicht los, sondern drehte sie leicht hin und her.

„Ein Knall hatte mich in der Nacht geweckt. Ich entdeckte meinen zerbrochenen Engel vor Sophies Tür. Als ich nach Sophie schaute, weil ich dachte, ihr wäre das passiert, war ihr Bett unbenutzt. Sie musste sich irgendwann aus dem Haus geschlichen haben. Du kannst dir ja vorstellen, dass ich kurz vor dem Durchdrehen war. Ich rief dich und Frau Fischer an und während ich mit ihr telefonierte, kam sie zurück.“

„Ich war nicht zu Hause, hätte dir aber gern beigestanden. Ich weiß leider auch nicht, wo sie gewesen sein könnte. Weißt du es denn inzwischen?“

„Nein, sie hat es mir nicht verraten. Sie dachte wohl, dass sie unbemerkt an mir vorbeischleichen könnte. Ich habe sie konfrontiert, aber sie log mich an, fühlte sich im Recht und dementsprechend trotzig, fiel ihre Antwort aus. Natürlich spreche ich sie noch mal darauf an. So kann ich das nicht stehen lassen. Ich vermute, dass sie sich mit einem Jungen getroffen hat. Nicht mit irgendeinem, sondern mit einem, den man verschweigen muss, den man den Eltern nicht vorstellen kann. Man hört doch so viel!“

„Wie meinst du das, einen Jungen, den man nicht vorstellen kann?“

„Ich weiß doch auch nicht. Dass er die Schule schwänzt oder die Lehre geschmissen hat. So was in der Art, aber dafür könnte man ja noch irgendwie, wenn man es großzügig auslegt, Verständnis aufbringen. Was wäre aber, wenn er Drogen nimmt, oder sie in irgendwas mit reinzieht? So was hört man doch tagtäglich.“

„Jetzt verstehe ich, warum du so von der Rolle bist. Kein Wunder, wenn du dir so etwas einredest. Du musst nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen, Klara. Damit machst du dich nur verrückt. Und ehrlich gesagt, ich finde deine Vermutung sehr weit hergeholt. Du musst lockerer werden, wenn es um Sophie geht.“

„Mir ist auch klar, dass nicht immer der schlimmste Fall eintreten muss. Aber so hat sich Sophie noch nie aufgeführt. Ich mache mir einfach Sorgen. Ich weiß, ich muss die Zügel lockern und ihr mehr vertrauen. Nur wie soll ich das tun, wenn sie sich rausschleicht und mich anlügt?“

„Sieh es doch mal aus ihrer Sicht. Sie war wütend, weil sie sich ertappt fühlte. Sie wird sich bestimmt wieder beruhigen. Mir weicht sie doch auch aus. Ich habe das Gefühl, dass sie mir aus dem Weg geht. Wenn ich sie treffen will, hat sie nie Zeit. Beim Telefonieren fällt ihr regelmäßig ein, dass sie noch was erledigen muss, weshalb das Gespräch schnell beenden wird. Aber so sind halt Teenager. Lehnen sich gegen alles auf. Zum Glück ist das bei den meisten kein Dauerzustand.“

„Du hast recht. Nachher werde ich versuchen, noch mal in aller Ruhe mit ihr zu reden. Ich weiß ja, dass Sophie dabei ist, erwachsen zu werden. Es ist utopisch zu glauben, dass sie mir weiterhin alles erzählen wird. Sie nabelt sich von mir ab. Trotzdem, irgendwas stimmt nicht, eine Mutter spürt das.“

Bryan legte beruhigend eine Hand auf Klaras Arm.

„Mach dich nicht verrückt. Vielleicht war das nur eine einmalige Sache, letzte Nacht?

Ich rege mich manchmal auch schrecklich über irgendwas auf, glaube die Welt geht unter und dann stellt sich der vermeintlich schlimme Grund für meine Überreaktion, als völlig harmlos heraus. Dann ärgere ich mich darüber, dass ich wegen nichts, mich derart hinreißen ließ. Aber ich glaube, das geht jedem Mal so.“

„Umso besser, wenn Sophie eine harmlose Erklärung für ihr Verschwinden hat. Aber warum besucht sie dann niemand mehr? Nicht mal ihre beste Freundin Emma, die früher täglich hier war. Das wird mir erst jetzt so richtig bewusst. Ob sie ihre Freundinnen auch so abweisend behandelt? Das wäre eine Erklärung dafür.“

In diesem Moment knallte die Haustür ins Schloss. Klara hatte sich so erschrocken, dass ihre Hände zu zittern begannen, ihr Kaffee überschwappte. Sophie war zurück. Das war beiden sofort klar. Bryan erhob sich, blieb aber in der Küchentür stehen, an der Sophie vorbei musste. Als Sophie ihren Halbbruder entdeckte, blieb auch sie stehen. Beide erkannten, wie ihre Gefühle in ihr hochkochte, bereit, sich in einem Wutanfall zu entladen. Diese Teenager-Jahre waren wirklich alles andere als ein Spaß. Ablehnung blitzte in Sophies Augen auf, während Bryan die Situation aufzulockern versuchte.

„Tag Sophie, wie geht es dir? Ich wollte mich mal wieder sehen lassen, habe dich vermisst.“

„Ja, klar. Hat Mama dich hierher bestellt, um dir von letzter Nacht zu erzählen? Komm nur nicht auf die Idee, mir einen Vortrag zu halten.“

„Sie hat mich nicht hierher bestellt. Ich bin spontan vorbeigekommen. Ich bin dein Bruder, nicht dein Vater. Das ist eine Sache zwischen euch beiden. Da halte ich mich raus. Natürlich hat sie mir davon erzählt. Aber nicht, weil sie Verstärkung braucht, oder über dich herziehen wollte. Deine Mutter ist immer noch ziemlich fertig, nach der ganzen Aufregung.“

„Ich geh in mein Zimmer. Sag ihr, dass ich für heute meine Ruhe haben will.“

Sophie ließ ihren Bruder einfach stehen, ging an ihm vorbei und eilte die Treppe hinauf. Wenige Minuten später knallte auch die Tür ihres Zimmers hinter ihr zu.

Klara wartete bis zum Abend. Sie wollte gerade nach ihrer Tochter rufen, da hörte sie Sophie die Treppe hinunterkommen.

„Das Essen ist fertig“, sagte Klara.

Sophie nickte, was Klara für ein „Ja“ auf teenagerisch hielt. Sie ging voraus und Sophie folgte ihr in die Küche. Wie kam es wohl zu dem plötzlichen Sinneswandel? Es erstaunte sie, dass ihre Tochter ihr bereitwillig folgte. Bröckelte etwa ihr Widerstand? Entweder wollte sie wirklich einlenken, oder sie hatte einen Wahnsinnshunger. Früher war Sophie nie nachtragend gewesen. Erst recht nicht, wenn durch ihre Schuld eine gedrückte Stimmung herrschte. Dann war sie normalerweise kleinlaut und entschuldigte sich. Jetzt war sie wieder übers Ziel hinausgeschossen, mehr als jemals zuvor, doch dieses Mal weigerte sie sich strikt, das einzusehen. Klara hoffte inständig, dass sie das würden klären können, ohne dass das Gespräch wieder mit Türenknallen endete.

Sie saßen einander gegenüber und während sie aßen, sagte keine von ihnen ein Wort. In der anhaltenden Stille war nur das Klappern von Geschirr und Besteck zu hören. Die Uhr tickte lauter als sonst. Beide richteten den Blick stur auf ihren Teller. Einer musste doch diese unerträgliche Spannung durchbrechen. Klara war bereit dazu.

„Wie kommt es, dass du morgen, am Donnerstag, schon schulfrei hast? Die Herbstferien beginnen doch erst am Freitag.“

Sophie hatte das vor einigen Tagen erwähnt. Klara war nicht näher darauf eingegangen, weil sie telefonierte. Danach hatte sie es ganz einfach vergessen. Jetzt nutzte sie diese Information zur Einleitung. Irgendwie musste sie ja das Gespräch in Gang bringen.

„Die Schule wird renoviert. Deshalb ist es ein Brückentag.“

„Da hätte man ja noch einen Tag mit warten können, darauf wäre es doch bestimmt nicht angekommen.“ Dann sprang Klara über ihren eigenen Schatten. Sie beugte sich vor.

„Stumm vor sich hinzustarren ist keine Lösung für unser Problem. Ich möchte, dass wir wieder normal miteinander reden. Das ist mir sehr wichtig. Komm, Sophie, lass uns doch den dummen Zoff vergessen.“ Sophie blickte auf.

„Über was willst du mit mir reden?“

„Zum Beispiel über letzte Nacht. Sei ehrlich zu mir Sophie. Hast du dich mit jemand getroffen? Wenn du mir jetzt die Wahrheit sagst, halte ich dir das nicht vor und fange auch nicht mehr davon an.“

„Du glaubst mir ja doch nicht. Gut, ich konnte nicht schlafen und bin etwas herumgelaufen. Mehr war da nicht. Zufrieden?“

„Du hast recht. Ich glaube dir das nicht. Wie wäre es denn zur Abwechslung mal mit der Wahrheit? Bitte Sophie, ich will dich doch nur vor einer Dummheit bewahren.“

Sie versuchte es ja im Guten, doch ihre Tochter log weiter. Wenn Sophie so weiter machte, musste sie deutlicher werden und wenn es gar nicht anders ging, auch mal auf den Tisch hauen. Das ewige Rumgezicke wurde ihr langsam zu viel.

„Was ist dein Problem mit mir, Sophie? Warum reagierst du schroff? Ich möchte vernünftig mit dir reden. Sag mir, was dich stört. Wenn ich nicht weiß, was ich in deinen Augen falsch mache, kann ich das auch nicht ändern.“

„Du engst mich ein. Ich will auch mal weggehen und zurückkommen, ohne dass du schon im Flur stehst, mich abpasst und mir sofort eine Ansage machst. Darauf habe ich keine Lust mehr. Das nervt.“

„Ich habe ganz einfach Angst um dich, wenn du nachts unterwegs bist. Das kann mir doch nicht egal sein! Ich habe nichts dagegen, wenn du mit deinen Freundinnen auf eine Party gehst. Ich möchte nur, dass du mir Bescheid sagst und um elf wieder zurück bist. Du musst verstehen, dass ich dir in deinem Alter nicht erlauben kann, die ganze Nacht wegzubleiben. Noch muss ich dir Grenzen setzen. Das ist doch nur zu deinem Besten.“

„Dann bleibt ja alles, wie es ist. Du kriegst wie immer deinen Willen. Ich muss ganz genau aufzählen, wo ich hingehe und mit wem. Muss nach Hause, wenn es auf der Party so richtig losgeht und es ertragen, wie die andern über mich lästern, weil ich die einzige bin, die so früh Sperrstunde hat. Weißt du, wie schlimm das für mich ist?“

„Du bist erst fünfzehn! Vergiss das bitte nicht. Was wäre ich für eine Mutter, wenn ich dich einfach so herumziehen ließe? Ich mache mir Sorgen um dich, Sophie, weil du mir wichtig bist. Ich liebe dich. Ich habe weiß Gott nichts dagegen, wenn du mal einen Jungen mit nach Hause bringst, aus deiner Schule zum Beispiel.“

Sophie ließ sie nicht ausreden.

„Igitt, die sind so doof. Ich suche mir meine Freunde woanders.“

„Es war ja nur ein Beispiel. Sei doch nicht gleich wieder so gereizt. Darf ich überhaupt noch was sagen, ohne dass du gleich an die Decke gehst?“

„Ich hab keine Lust mit dir über Jungs zu reden. Ich geh in mein Zimmer.“

„Na gut, wie du willst.“

So langsam verlor sie die Geduld. Sophie trieb es zu weit. Mit diesem Gespräch wollte sie sich eigentlich ihrer Tochter wieder annähern. Was war so falsch daran? Sie glaubte inzwischen, dass sie aus Sophies Sicht überhaupt gar nichts richtig machen konnte. Jedes ihrer Worte verdrehte sie ins Gegenteil und dann noch diese abfälligen Bemerkungen. Sie drang nicht zu ihr durch. Deshalb hatte sie keine andere Wahl, als es für heute aufzugeben. Sicher war es besser so. Eines musste sie jedoch noch loswerden.

„Morgen ist mein langer Tag, wie jeden Donnerstag. Es lohnt sich nicht, in der Mittagspause nach Hause zu kommen. Du kannst dir eine Pizza machen, wir haben noch einige im Gefrierschrank.“

Sophie blieb in der offenen Tür stehen und drehte sich zu ihrer Mutter hin.

„Wann kommst du denn morgen nach Hause?“

„Wie immer donnerstags, um vier“

„Ich geh dann mal, gute Nacht.“

„Gute Nacht“, erwiderte Klara. Wenigstens das. Aber warum das plötzliche Interesse? Klara ging zu der geöffneten Tür und sah ihrer Tochter noch eine Weile hinterher.

Was hatte sie erwartet? Etwa eine 180-Grad-Wendung?

Klara ging ins Bad, um sich für die Nacht zurechtzumachen. Sie fühlte sich plötzlich so schlapp, als bahne sich da was an. Wäre ja auch kein Wunder, bei den vielen Erkältungskranken, die heute in der Praxis waren. Sie wollte sich beeilen, zog ihren Pulli aus und brachte ihn zum Wäschekorb. Da erstarrte Klara. Was war denn das? Sie ließ den Pullover fallen, starrte in den Wäschekorb und zog ein Handtuch heraus. Es lagen weitere Handtücher darin, insgesamt vier. Eines nach dem anderen nahm sie in die Hand. Es waren doch genau die vier, die sie vor der Arbeit aus dem Trockner geholt, zusammengelegt und in den Schrank geräumt hatte. Da jeweils nur zwei der Handtücher das gleiche Muster hatten, war eine Verwechslung ausgeschlossen. Jetzt waren sie zerknautscht und dreckig. Das hatte jemand mit voller Absicht gemacht! Nur wer? Jetzt reichte es ihr, ein für alle Mal. Erst der Engel und jetzt das. Irgendetwas stimmte hier doch nicht.

Sophie konnte sie als Täterin mit gutem Gewissen streichen. Sie war heute Morgen nur kurz unten im Bad, bevor sie zur Schule aufbrach. Klara hatte die Handtücher erst danach in den Schrank geräumt. Sie stützte sich auf dem Waschbeckenrand ab, weil ihr Herz wieder zu rasen begann. Sie beugte sich nach vorn und versuchte, ihren Atem zu kontrollieren. Reflexartig fasste sie sich an die Stirn, die ungewöhnlich heiß war. Oh nein, bitte kein Fieber! dachte sie. Während sie stocksteif vor sich hinstarrte, erinnerte sie sich plötzlich an die Gemeinheiten, die Ulrich ihr gegen Ende ihrer Ehe ständig an den Kopf geworfen hatte.

Vor ein paar Jahren hatte es angefangen. Es verschwanden Gegenstände, die nicht mehr auftauchten. Ulrich hatte ihr eingeredet, sie wäre selbst dafür verantwortlich, indem sie vergesslich und nachlässig wäre, sicher hätte sie das Vermisste woanders hin geräumt. Manchmal verdächtigte er sie, sich das nur eingebildet zu haben. Er beschuldigte sie so oft der Schusseligkeit, dass sie an sich selbst zu zweifeln begann. Es lag auch nicht am Schlafmangel oder Überforderung, wie Ulrich immer wieder behauptet hatte. Wie hatte sie sich seine Unverschämtheiten nur so lange gefallen lassen können? Nun, diese Zeiten waren vorbei. Sie würde sich von ihm nicht mehr so runtermachen lassen.

Wenn sie sich doch nur trauen würde, mit Dr. Schubert darüber zu reden. Nein, das wäre ihr zu peinlich. Denn seit dem Reinfall bei der Polizei hatte sie sich nur noch Sophie, Bryan und Charlotte anvertraut.

Nachdem Ulrich ausgezogen war und die Vorkommnisse weitergingen, hatte sie sich an die Polizei gewandt. Dort hatte man sie angehört, eine Anzeige aufgenommen, ihr viele Fragen gestellt. Es war auch jemand zu ihr nach Hause gekommen, hatte sich das Haus angesehen und das war’s. Irgendwann war dann ein Brief gekommen. Das Verfahren war wegen Mangel an Beweisen eingestellt worden. Seitdem hatte sie wohl oder übel selbst damit fertig werden müssen. Verdrängen war auf Dauer keine Lösung.

Über einen längeren Zeitraum hatte sie Ulrich verdächtigt. Inzwischen glaubte sie nicht mehr, dass er es war. Sie war ihm für diese Psychospielchen viel zu unwichtig.

Klara hielt sich noch immer am Beckenrand fest. Nachdem sie die trüben Gedanken abgeschüttelt hatte, wollte sie nur noch ins Bett. Über die Handtücher konnte sie sich morgen Gedanken machen. Im Moment fühlte sie sich so zerschlagen, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Es war ja auch ein wirklich langer und ereignisreicher Tag gewesen, aber nicht im positiven Sinne.

Im Schlafzimmer angekommen, ließ sie die Tür weit offen stehen. Sie hatte den Schock, den das nächtliche Herumtreiben ihrer Tochter ausgelöst hatte, noch nicht überwunden. Sophie könnte es wieder versuchen, sobald sie eingeschlafen war.

3 DONNERSTAG, 20.10.

Am nächsten Morgen wachte Klara mit Kopf und Glieder-schmerzen auf. Sie konnte sich kaum rühren. Wenn sie den Kopf hob, pochte es heftig hinter der Stirn. Trotzdem musste sie sich aufraffen, auf der Arbeit verließ man sich auf sie. Eine Kollegin war bereits krank, da konnte sie nicht auch noch fehlen. Es kostete Klara ungewöhnlich viel Kraft, den Arm auszustrecken und die Nachttischlampe anzuschalten. Kaum brannte das Licht, kniff sie gepeinigt die Augen wieder zusammen. Es schmerzte. Sie griff nach dem nächstbesten Wäscheteil und hängte es über die Lampe. Das verschaffte ihr ein wenig Linderung. Jetzt bemerkte sie auch, dass sie fror und das nicht nur ein wenig, sondern so sehr, dass ihr die Zähne klapperten. Klara schlang sich ihren Pullover über die Schulter und humpelte ins Bad. Die Abgeschlagenheit, die sie deutlich spüren konnte, ließ erahnen, dass es kein gemütlicher Tag werden würde. Ausgerechnet heute, an ihrem langen Tag, musste sie krank werden.

Klara verschwieg ihren elenden Zustand auf der Arbeit. Doch er ließ sich nicht lange verbergen. Sie konnte sich ja kaum auf den Beinen halten. Obwohl sie fror, schwitze sie, sodass ihr der Pullover am Körper festklebte. Immer wieder zog sie sich den Rollkragen vom Hals weg, damit sie besser atmen konnte und er nicht so unangenehm kratzte. Hätte sie doch bloß einen anderen Pullover angezogen! Wie dumm von ihr, sich extra den dicksten auszusuchen, weil sie gedacht hatte, die Wärme würde das Fieber senken.

Klara hing halb über dem Tresen, den Kopf auf ihre Hände gestützt. Eigentlich war sie auf der falschen Seite des Tresens. Wie gern hätte sie die Seite gewechselt, denn heute war sie wirklich nicht in der Lage dazu, zu arbeiten. Charlotte konnte sie nichts vormachen. Sie sah auf den ersten Blick, was mit ihrer Freundin los war. Ohne sich auf eine Diskussion mit Klara einzulassen, die, das musste sie ehrlich zugeben, doch nur behauptet hätte, es ginge ihr gut, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach, wandte sich ihre beste Freundin an Dr. Pascal Schubert. Der bat Klara daraufhin in sein Sprechzimmer.

„Sie sehen aus, als hätten Sie Fieber. Ihr Gesicht glüht ja regelrecht. “

„Ja, ich habe, bevor ich aus dem Haus ging, noch schnell gemessen. 39 Grad.“

„Damit können Sie doch nicht arbeiten. Wie sieht es mit Halsschmerzen und Husten aus? Das macht ja zurzeit die Runde.“

„Ich spür nur so ein Kratzen im Hals. Aber das ist noch auszuhalten, die Kopfschmerzen sind schlimmer. Letzte Nacht hatte ich auch noch Schüttelfrost.“

„In diesem Zustand hätten Sie erst gar nicht zur Arbeit erscheinen dürfen. Sie gehören ins Bett.“

„Ich weiß. Ich dachte nur, dass ich es schon irgendwie hin-bekomme. Aber jetzt merke ich, dass es doch nicht geht.“

„Ich schreibe Ihnen was gegen das Fieber und die Kopfschmerzen auf und schreibe Sie für heute und morgen krank. Wenn es Ihnen am Montag nicht besser geht, verlängern wir das. Bevor ich Sie gehen lasse, möchte ich Ihnen noch den Blutdruck messen.“

Klara streckte dem Arzt den Arm hin. Er kam näher, legte die Manschette um ihren Oberarm und nachdem er sie mit dem Klettverschluss befestigt hatte, sah er sie an. Sofort spürte Klara wieder dieses Kribbeln, diese Unruhe in sich, die sie immer spürte, wenn er sie so ansah. Ach, würden bei ihm doch nur die gleichen Gefühle hochkommen, wie bei ihr! Soll sie ihn einfach darauf ansprechen? Wenn sie sich doch nur trauen würde! Mein Gott wäre das peinlich, wenn er ihr einen Korb geben würde. Nie wieder würde sie einen Schritt in die Praxis setzen können.

„Ihr Blutdruck ist ein wenig erhöht, das kann an der ganzen Aufregung liegen. Meistens haben Sie doch normale Werte. Vermeiden Sie in den nächsten Tagen alle Anstrengungen.“

Natürlich kommt das von der Aufregung, dachte Klara. Der Grund lieber Dr. Schubert ist aber nicht diese Erkältung, sondern Sie.

Nachdem Klara den Mantel angezogen und die Tasche über die Schulter gehangen hatte, verabschiedete sie sich von den Kolleginnen und verließ die Praxis. Nichts wie ins Bett, Augen zu und erst nach drei Tagen wieder aufwachen. Der Gedanke an ihr weiches, gemütliches Bett trieb sie an. Sie ging noch schnell in die Apotheke, neben der Praxis, besorgte sich ihre Medikamente und eilte geradewegs nach Hause – gut sie humpelte und bewegte sich wie eine altersschwache Schildkröte, aber das war nicht weiter wichtig.

Im Haus war alles ruhig. Sie zog den Mantel aus, nahm die Medikamente mit in die Küche und machte sich einen Tee. Der würde sie innerlich wärmen und mit ihm wollte sie die Tabletten hinunterspülen. Danach wollte sie ihrer Tochter mitteilen, dass sie aus Krankheitsgründen den Tag zu Hause verbringen würde. Wenn Sophie erfuhr, dass sie krank war, kam sie ihr vielleicht entgegen.

Langsam stieg sie die Treppen hinauf. Es strengte sie an. Immer wieder blieb sie stehen, weil Luftprobleme ihr zu schaffen machten. Die Krankheitserreger zwangen sie in die Knie. Mussten sie ihr gerade jetzt in die Quere kommen? Bevor ihr Ex bei ihr aufkreuzen würde, hätte sie gern noch die Probleme mit Sophie aus der Welt geschafft.

Sie klopfte an Sofies Tür und weil sie keine Antwort erhielt, öffnete sie diese einfach. Was sie dann sah, riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie hielt sich am Türrahmen fest und erstarrte. Ein etwa dreißigjähriger Mann saß mit nacktem Oberkörper auf dem Bett ihrer Tochter. Sophie, nur in Unterwäsche. Sie hatten sich gerade geküsst und fuhren auseinander wie verschreckte Hühner, als sich die Tür öffnete. Klara fehlten die Worte. Das kam ihrem schlimmsten Albtraum schon verblüffend nahe. Sophie ging ihrerseits gleich in die Offensive.

„Ich hab dich nicht hereingebeten.“ Sie griff nach einer Decke und hielt sie sich vor. Nach einigen Sekunden gelang es Klara den Schock so weit abzuschütteln, dass sie die dringend benötigten Worte fand, um ihren Gefühlen Luft zu machen.

„Wie soll ich dir vertrauen, wenn du so etwas tust?!“ Als sie sich dann dem Mann zuwandte, verlor sie völlig die Beherrschung. Mit vor Wut funkelnden Augen sah sie ihn an. Ihre Stimme überschlug sich.

„Wie können Sie es wagen, sich in ihrem Alter an meine minderjährige Tochter heranzumachen und das auch noch in meinem Haus! Meine Tochter ist fünfzehn. Das ist strafbar! Sie Perverser, ich rufe jetzt die Polizei. Viel Spaß im Knast.“

Klara drehte sich ruckartig herum und während sie sich mit dem verletzten Fuß langsam Stufe für Stufe abwärts quälte, um ihr Handy zu holen, das sich leider noch in ihrer Handtasche befand, rannte der Verbrecher mit seinen wenigen Habseligkeiten unter dem Arm geklemmt, an ihr vorbei und flüchtete nach draußen.

Sophie kam ebenfalls die Treppe heruntergerannt, zog von hinten an der Jacke ihrer Mutter, um sie aufzuhalten, und flehte sie an: „Bitte Mama, lass es dir doch bitte erklären. Wir haben nur ein bisschen geknutscht. Das ist alles. Glaub mir doch bitte.“ Klara blieb stehen und wandte sich ihrer Tochter zu, die auf der Treppe stand.

„Ich habe genug gesehen, um mir ein eigenes Bild zu machen. Sag mir nicht, dass da nichts war. Ihr wart beide halb nackt, Sophie, ist das etwa nichts? Wo und wann hat sich dieser Mistkerl an dich herangemacht? Geht das schon länger?“

„Noch nicht so lange. Er hat mich mal von der Schule nach Hause gefahren. Einmal zum Eisessen eingeladen und wir waren mal im Kino. Das ist alles. Er ist nur ein guter Freund und heißt Jürgen.“

„Wie oft war er schon hier? Warst du letzte Nacht mit ihm zusammen? Natürlich warst du das, warum frage ich überhaupt.“

„Er war heute zum ersten Mal hier. Und ich war letzte Nacht nicht bei ihm. Ehrenwort.“

Aus Klaras Stimme wich die Heftigkeit, als sie in das verzweifelte Gesicht ihrer Tochter blickte. Sie senkte die Stimme, weil herumzuschreien, sicher das falsche Mittel war, sie zur Vernunft zu bringen.

„Sieh mal, Sophie. Dass ich dir den Umgang mit diesem Mann verbiete, ist doch nur zu deinem Besten. Ich mach das doch nicht aus reiner Boshaftigkeit. Er ist doppelt so alt wie du. In dem Alter hat man normalerweise andere Interessen. Es liegen Welten zwischen euch.“

„Das stimmt nicht. Jürgen ist erst 28, er hat die gleichen Interessen wie ich.“

„28 ist immer noch zu alt für dich, Sophie! Ich weiß, du fühlst dich erwachsen, aber du bist ein Teenager und er ein erwachsener Mann.“

„Wir sind nur gute Freunde. Glaub es mir doch endlich!“

Sie log. Klara war sich sicher, dass Sophie gerade so ziemlich alles sagen würde, um seine Haut zu retten. Oh Gott – ein 28-jähriger Mann, der mit ihrer Tochter rummachte! Wie konnte sie das nur übersehen? Wie konnte es sein, dass Sophie nicht sah, wie falsch das war? Aber nein, wenn Klara jetzt die Polizei rief, war natürlich wieder sie die Böse. Wie immer.

Die Aufregung war zu viel für sie. Von einer Sekunde zur anderen war ihre Kraft verbraucht. Jetzt rauschte ihr Kopf, der Flur drehte sich in rasender Geschwindigkeit, sie musste sich am Treppengeländer festhalten, um nicht umzufallen. Schnell schloss Klara die Augen und hoffte, das Karussell sei verschwunden, wenn sie die Augen wieder öffnete. Leider war es das jedoch nicht. Schwer atmend stand sie da, ihr Herzschlag beschleunigte sich und ihr Mund war trocken. Sie war nicht mehr imstande, die Diskussion fortzuführen. Aber sie konnte die Sache auch nicht einfach auf sich beruhen lassen! Sie musste dafür sorgen, dass dieser Perverse zur Verantwortung gezogen wurde. Sie musste Sophie beschützen. Aber jetzt gerade war sie dazu nicht im Stande. Klara brauchte dringend eine Pause. Ihr Kopf glühte und das Fieber stieg weiter an. Sobald es ihr wieder etwas besser ginge, würde sie sich darum kümmern, aber jetzt …

„Ist dir nicht gut?“, fragte Sophie. Sie klang ehrlich erschrocken. Klara wusste, sie würde sich nicht mehr lange auf den Beinen halten können.

„Soll ich einen Arzt rufen?“