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Eine Sammlung von Weihnachtserzählungen berühmter amerikanischer Autoren des neunzehnten Jahrhunderts. Darunter Geschichten von Lyman Frank Baum, dem Schöpfer des Zauberers von Oz und Harriet Beecher Stowe, die mit 'Onkel Toms Hütte' ein Buch geschrieben hat, das Amerika veränderte. Einige der vier Erzählungen wurden vermutlich noch nie, oder jedenfalls nur sehr selten, ins Deutsche übersetzt.
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Inhaltsverzeichnis
Jimmy Vogelscheuche
Der Stechpalmenzweig
Dorothy und der Hase
Die gute Fee
Nachwort
Impressum
Mary E. Wilkins Freeman (1852 – 1930)
Jimmy Vogelscheuche hatte im Winter kein schönes Leben. Das größte Problem war die Tatsache, dass er nichts zu tun hatte. Er machte sich gerne nützlich, doch im Winter hatte er dazu keine Gelegenheit. Das Feld war abgemäht und es standen nur noch karge Stoppeln dort, wo vor kurzem noch das Korn wuchs. Für die Krähen gab es nichts zu holen, also blieben sie aus. Er fragte sich, wie viele solche langweilige Wintertage er noch würde ertragen müssen. Jimmy war noch eine junge Vogelscheuche und dieser Winter war der erste für ihn. Er war ziemlich stabil gebaut worden, und auch wenn sein Holzgestell knackte, wenn der Wind dazwischen fuhr, so war er doch in den zurückliegenden Wochen nicht wackliger geworden. Jeden Morgen, wenn die Wintersonne mit ihrem gelben Auge auf die Stoppeln des Kornfeldes herabblickte, war Jimmy etwas traurig, da er in dieser Zeit ziemlich nutzlos war. Doch als Weihnachten kam, da war er fast am Verzweifeln.
Am Heiligen Abend kam der Weihnachtsmann auf seinem Schlitten vorbei, auf dem sich die Geschenke türmten. Ohne Rast trieb er seine Rentiere über das Feld. Er war auf dem Weg zu dem Farmhaus, in dem Betsey mit ihrer Tante Hannah lebte. Betsey war ein kleines Mädchen mit weichen, gelben Locken. Für sie gab es ein besonders schönes Geschenk. Es war eine große Puppe. Der Weihnachtsmann hielt sie unter dem Arm geklemmt und drückte sie vorsichtig gegen das weiche Fell seines Mantels. Er befürchtete, dass sie zerbrechen könnte, wenn er sie zwischen die anderen Geschenke packte. Als der arme Jimmy Vogelscheuche den Weihnachtsmann sah, machte sein Herz einen Sprung.
„Weihnachtsmann“, rief er. „Hier bin ich.“
Doch der Weihnachtsmann hörte ihn nicht.
„Weihnachtsmann“, bat die Vogelscheuche. „Bring mir doch auch ein kleines Geschenk. Ich habe den ganzen Sommer über fleißig dafür gesorgt, dass die Krähen das Korn in Ruhe lassen. Jimmy Vogelscheuche hatte eine kräftige Stimme, doch der Weihnachtsmann rief ihm beim Vorbeifahren nur ein gut gelauntes ‚Hallo‘ zu, da der laute Klang der Glocken, die an seinem Schlitten befestigt waren, jedes Wort, das Jimmy an ihn richtete, übertönte.
Als der Weihnachtsmann wieder verschwunden war, stand Jimmy Vogelscheuche wieder alleine mitten in seinem Kornfeld und schluchzte, bis sein Gestell zu knacken anfing.
„Ich bin zu nichts mehr nütze“, sagte er . „Auf der ganzen Welt nicht. Jeder hat mich vergessen.“
Doch Jimmy irrte sich.
Am nächsten Morgen saß Betsey mit ihrem neuen Weihnachtsgeschenk, der Puppe, die ihr der Weihnachtsmann gebracht hatte, am Fenster und sah zu Jimmy Vogelscheuche hinaus, der alleine mitten im Stoppelfeld stand.
„Tante Hannah“, sagte Betsey.
Tante Hannah arbeitete an einer Patchwork-Decke, also an einer Decke, die aus verschiedenen Flicken zusammengenäht wurde,. Die Decke aus vielen bunten Stoffteilen war ein wenig verunglückt, und nun starrte Tante Hannah verzweifelt auf ein dreieckiges Stück aus rotem Stoff, auf das sie ein rundes, rosafarbenes Stück gelegt hatte und sich nun fragte, auf welche Weise sie die beiden zusammennähen sollte.
„Was ist?“, fragte die Tante ohne Betsey anzusehen.
„Hat der Weihnachtsmann der Vogelscheuche auch ein Geschenk gebracht?“
„Natürlich nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil es eine Vogelscheuche ist. Stell keine albernen Fragen.“
„Wenn ich eine Vogelscheuche wäre, dann wäre ich sehr unglücklich darüber, wenn der Weihnachtsmann mich vergessen würde“, sagte Betsey.
Doch ihre Tante hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Sie war bereits damit beschäftigt, aus dem runden, rosafarbenen Stück Stoff ein Dreieck auszuschneiden, so dass sie das rote Stück Stoff mit Federstichen daran festnähen konnte. Wie gesagt, die Patchwork-Decke sah ziemlich merkwürdig aus. Sehr bunt und schief. Tante Hannah hatte sich dafür einfach zu wenig Zeit genommen. Draußen schneite es kräftig und der Nordwind bließ. Der alte Mantel der Vogelscheuche war bald über und über weiß von Schnee. Manchmal verschwand die Vogelscheuche fast in dem Schneesturm und Betsey konnte sie bald vom Fenster aus kaum noch erkennen. Tante Hanna arbeitete bis zum späten Nachmittag an ihrer nicht ganz gelungenen Decke. Dann stand sie auf und breitete die Decke über dem Sofa aus.
„Fertig“, sagte sie. „Die Kante hier ist nicht ganz gerade. Und die Flicken vor allem, die passen nicht zusammen. Aber was solls. Das ist nun schon die achte Decke, die ich zusammengenäht habe. Ich habe eine für jedes Bett im Haus. Vier habe ich verschenkt. Wenn ich jemanden wüsste, der diese haben wollte, obwohl sie nicht ganz so sauber genäht ist, dann würde ich die auch noch verschenken.“
Tante Hannah setzte ihre Kapuze auf und legte sich ihren Schal um. Dann zog sie blaue Schoner aus Stoff über ihre Schuhe und ging nach draußen in den Schnee, um ihrer Schwester Susan, die nicht weit entfernt die Straße hinunter wohnte, eine Schale Pflaumenpudding zu bringen.