Johanns Bruder - Stephan Lohse - E-Book

Johanns Bruder E-Book

Stephan Lohse

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Beschreibung

Paul wird in einem Dorf nördlich von Celle von der Polizei aufgegriffen. Er hat siebzehn Hühnern den Kopf abgeschlagen. Weil er zu dem Vorfall beharrlich schweigt, wird er in eine psychiatrische Klinik gebracht. Von dort soll ihn sein jüngerer Bruder Johann abholen – die beiden haben sich seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Als Paul seinen Bruder schließlich bittet, ihn auf eine Reise zu begleiten, willigt Johann ein. Ihre erste Station ist jenes Dorf bei Celle: Altensalzkoth. Dort versteckte sich zwischen 1946 und 1950 Adolf Eichmann, dessen Weg Paul minutiös verfolgt und aufgezeichnet hat. Johann erkennt bald, was es mit den Hühnern auf sich hat und warum Paul und er in Richtung niederländische Nordseeküste weiterreisen, immer entlang des 52. Breitengrades.
Stephan Lohse nimmt uns in seinem neuen Roman mit auf eine Reise in die Geschichte: in eine Familiengeschichte voller Gewalt und in das dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit. Empfindsam und eindringlich erzählt er von einem ungleichen Brüderpaar und zugleich vom Holocaust in Europa – von einer überraschend wiederaufgetauchten Liebe sowie einer ungeheuren Wut, die einen verstummen lassen, aber auch zum Handeln zwingen kann.

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Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Stephan Lohse

Johanns Bruder

Roman

Suhrkamp

Für O.

Eins

52° 37' 15'' N, 10° 4' 0'' O

Paul schlief wie früher. Die Knie nah am Körper, die Hände zwischen den Beinen, das Ohr ins Kissen gedrückt. Johann lag neben ihm und sah eine True-Crime-Dokumentation. Ein neunzehnjähriger Afroamerikaner wurde des Mordes an einem weißen Ehepaar beschuldigt. Ein Ermittler, der mithilfe der Chemikalie Luminol auf der Rückbank eines Pick-ups Blutanhaftungen nachgewiesen hatte, nannte den jungen Mann einen schlechten Menschen, der den Tod verdient habe. Die Schwester des Beschuldigten, Halterin des Pick-ups, hatte ein wasserdichtes Alibi. Die Beute belief sich auf 68 Dollar Bargeld und einige Stücke wertlosen Modeschmucks. Johann wollte Paul wecken und ihn fragen, warum ein Mörder, der seine Opfer mit einem Pick-up fortschafft, auf die Idee kommen sollte, sie auf der Rückbank des Wagens zu transportieren und nicht auf der Ladefläche, verdeckt von einer Plane. Die Schwester schwor unter Tränen, nicht zu wissen, was ihr Bruder angerichtet habe, sie sei nach der Spätschicht noch im Supermarkt gewesen und erst in der Nacht zurückgekehrt. Johann legte seinen Kopf auf Pauls Kissen und lauschte Pauls Atem.

Es war nie anders gewesen: Johann hatte sich in Pauls Zimmer geschlichen, war unter die Decke gekrochen, hatte seinen Kopf auf Pauls Kissen gelegt und auf Pauls Atem gehorcht, um sich zu vergewissern, dass Paul noch lebte. Er selbst hatte wach gelegen und Bibelkassetten gehört, auf Stufe zwei, das Ohr am Lautsprecher. Am liebsten die Kassette mit der Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Nachdem sie Josef für zwanzig Silberlinge an die Ismaeliter verkauft hatten, hatten die Brüder einen Ziegenbock geschlachtet und Josefs Rock im Blut des Tieres getränkt. Den Rock hatten sie dem Vater geschickt. »Zerfetzt ist Josef«, hatte Jakob geklagt, »zerfetzt, ein wildes Tier hat ihn gefressen.« Luminol hätte die Brüder überführt.

Das Zimmer sah wie bemoost aus. Aus dem Teppich schien Feuchtigkeit aufzusteigen. Ein Weberknecht verharrte totenstarr auf dem Holzdekor unter der Zimmerdecke. Die Bettwäsche roch vergoren. In der Dusche tropfte das Wasser auf die Kalkränder eines Jahrzehnts und gab den Takt zu Pauls Atem vor. Kempinski, dachte Johann.

Er versuchte, die Bäume zu bestimmen, die am Ufer des Sees standen, in dem nach Ansicht des FBI der junge Afroamerikaner das getötete Ehepaar versenkt hatte. Die Stämme waren fleckig und reflektierten die Signallichter der Einsatzwagen. Paul atmete, als wolle er keine Umstände machen. Johann betrachtete ihn mit Argwohn. Pauls Schlaf barg ein Geheimnis, und Johann hatte damals geglaubt, es enthüllen zu müssen. Er hatte Pauls Haltung eingenommen und auf Pauls Art die Bettdecke gehalten. Er hatte versucht, im selben Moment wie Paul die Augen zu schließen. Eine Zeitlang hatte er sogar dasselbe wie Paul zu Abend gegessen. Doch die Angst, Paul im Schlaf zu verlieren, hatte ihn stets wach gehalten. Also hatte er Bibelkassetten gehört. Am nächsten Morgen hatte er dafür gesorgt, dass Paul wieder aufwachte und nicht im Geheimnis eines fernen Traumes für immer verschwand.

Auf der Kommode lauerte ein Iltis. Das ausgestopfte Tier starrte mit gläsernem Blick ins tote Licht der Straßenbeleuchtung. Johann stand auf und zog an einer Schnur. Der Kunstledersaum des Vorhangs klatschte träge gegen die Wand.

Der Fall des jungen Afroamerikaners war abgeschlossen. Das Gericht hatte ihn zu lebenslanger Haft verurteilt. Mittlerweile berichtete ein Bezirksstaatsanwalt von einer Beziehungstat. Ein Chirurg, der ein Verhältnis mit einer Krankenschwester eingegangen war, hatte in einer Pause zwischen zwei Operationen seine Ehefrau getötet. Er war den kurzen Weg von der Klinik nach Hause gefahren, hatte seine Frau im Badezimmer angetroffen, sie zunächst gewürgt, bis sie das Bewusstsein verloren hatte, und ihr dann mit einer schneckenförmigen Skulptur den Schädel eingeschlagen. Kleinste Blutspritzer auf der Innenseite seines Hemdsärmels hatten ihn verraten.

Birken, dachte Johann. Gewöhnliche Birken. Er rüttelte an Pauls Schulter. »Ist dir aufgefallen, dass dem Iltis ein Stück von seiner Schnauze fehlt?«

Ohne die Augen zu öffnen, noch im Halbschlaf, griff Paul nach Johanns rechtem Arm und zeichnete ein Dreieck aufs Handgelenk.

»Nein«, sagte Johann daraufhin. »Ich kann nicht schlafen. Außerdem habe ich gestern Nacht Drogen genommen.«

52° 29' 54'' N, 13° 20' 58'' O

Aus den Kratern, die ausgedrückte Zigaretten im Plastik des Spülkastens hinterlassen hatten, barg Johann die Reste fremden Kokses. Während sein Zahnfleisch taub wurde, betätigte er die Spülung. Die Nacht war vorbei, bald würde die Neonbeleuchtung angehen. Er beeilte sich hinauszukommen. Auf der Straße durchsuchte er seine Taschen. Er fand ein Stück Karamellgebäck, in der Packung zu Pulver zerrieben, und siebzig Euro, die er Lukas gestohlen hatte, seinem Freund, der nun vermutlich sein Ex-Freund war. Der Himmel über ihm war blank wie eine Kachel.

Zu Hause blinkte der Anrufbeantworter. Johann wusste nicht, wer seine Festnetznummer haben sollte. Er zog sich aus, setzte sich in die leere Badewanne und duschte seinen Schwanz, bis der Schmerz in der Eichel nachließ. Er versuchte, sich zu erinnern, woher die Verletzung auf seinem rechten Handrücken kam und bei wem er sich dafür entschuldigen musste.

Als er später den Anrufbeantworter abhörte, erfuhr er, dass man Paul vor sechs Tagen wegen eines Vorfalls in einem Ortsteil der niedersächsischen Stadt Bergen in der Psychiatrisch-Psychosomatischen Klinik Celle aufgenommen habe, man allerdings beabsichtige, ihn aus der stationären Behandlung zu entlassen. Weiter erfuhr Johann, dass die Mitarbeiter des Sozialdienstes angesichts der Umstände überrascht gewesen seien, von Paul ein Mobiltelefon zu erhalten, verbunden mit dem Wunsch, mit dem einzigen darin gespeicherten Teilnehmer Kontakt aufzunehmen. Man bitte um baldigen Rückruf zur Klärung, in welcher Beziehung der Teilnehmer zu ihrem Patienten stehe und ob es gegebenenfalls möglich sei, den Patienten zur Sicherstellung der nachstationären Versorgung in dessen Obhut zu übergeben.

Johann suchte ein paar Sachen zusammen, warf sie in einen Koffer und nahm sich ein Taxi zum Bahnhof. Es hielt ihn nichts. Er bezahlte den Fahrer mit zwanzig der siebzig gestohlenen Euro. Beim Einsteigen in den überfüllten Zug schien es ihm, als ziehe er Fäden, eine Folge des nächtlichen Drogenkonsums. Während der nächsten Stunden würde ihm alles dickflüssig vorkommen. Er zwängte sich auf einen Fensterplatz und sah hinaus. Die Schallschutzwand, an der der Zug entlangfuhr, wirkte wie in die Landschaft gecremt.

Ihm wurde übel, und er ging auf die Zugtoilette. Das Fenster war mit einer Zierfolie beklebt. Ein Gewächs, dessen Fruchtkapseln unter dem Einfluss der Intoxikation der letzten Nacht über die Kunststoffwände wucherten, in Ritzen und Hohlräumen ihren Samen ablegten und durch den Abfluss der Toilette ins Freie wuchsen. Johann klappte den Deckel hinunter, setzte sich und schlief ein. Das Gewächs trieb eine weitere Fruchtkapsel aus.

52° 37' 41'' N, 10° 5' 15'' O

Die Lider des Mannes flatterten. »Ich habe BLIPS«, flüsterte er. »Brief Limited Intermittent Psychotic Symptoms. Ich habe Glück. Lies mal meine Aufzeichnungen.« Bei den Aufzeichnungen handelte es sich um ein etwa zwei Quadratmeter großes taxonomisches Schaubild, auf dem durch ein Gewirr von Linien die Arten ins Verhältnis gesetzt worden waren: Hunde, Hundeähnliche, Paarhufer, stumme Vögel, Tiere mit Stacheln und Tiere kleiner als ein Zehennagel. Flugfähige Käfer, im Moor heimische Tiere, Tiere, die mittels Elektrizität ihre Feinde in die Flucht schlagen können, Mäuse und Drosseln. Die Rehe seien ihm jedoch die liebsten. Für sie empfinde er tiefe Freundschaft. Der Mann holte eine Sammlung abgegriffener Glanzbildchen hervor. Äsende Rehe, flehmende Rehe, trollende Rehe, eingerollte Kitze, Rehe im Sprung. Gabelböcke, Ricken, Jährlinge. Er sah sich um und rief mit Showmasterstimme: »Quick! The thicket! Faster, faster, Bambi! Don't look back! Keep running! Mother? Mother, where are you? Mother? Your mother can't be with you anymore.« Der Mann faltete das Schaubild zusammen. Im Gehen sagte er, Rehe seien Trughirsche, doch Bambi sei gar kein Reh, sondern ein Weißwedelhirschkalb.

Man hatte Johann mitgeteilt, dass sich Paul zurzeit in der Ergotherapie befinde. Frau Dr. Al-Nour, seine behandelnde Ärztin, wünsche allerdings ein Gespräch, sobald sich dies ergäbe. Am Ende des Stationsflurs befinde sich ein Aufenthaltsbereich, der auch Besuchern zugänglich sei.

An einer Wand hing ein Reinigungsplan. Er verzeichnete eine Reinigung um 10:30 Uhr. Ein oder eine Vuković hatte eine Flächendesinfektion durchgeführt und hierfür das Mittel ProrusSept® verwendet. Während Johann dem Rehfreund nachsah, erinnerte er sich, dass ProrusSept® ein Mittel aus einer quartären Ammoniumverbindung war. Vor einigen Jahren hatte er sich den Namen eines ähnlichen Produktes einfallen lassen und damit ziemlich viel Geld verdient.

Pauls Ärztin besaß die Fähigkeit, sich vollkommen lautlos zu bewegen. »Auch ihr Bruder hielt es für eine gute Idee, wenn zunächst wir uns ein wenig unterhalten.« Sie bat Johann in ihr Büro, ein unerwartet dunkler Raum mit Möbeln aus Palisander, Leder und Chrom. In einem Regal standen vor Bänden psychiatrischer Fachliteratur einige Krankenwagenminiaturen. Dr. Al-Nour wies auf einen Sessel. Sie lächelte mit einer Offenheit, die Johann verwirrte. Schließlich erklärte sie, was vorgefallen war.

Johann erfuhr, dass Paul von der Polizei in die Klinik gebracht worden war, nachdem man ihn zuvor an der Bushaltestelle eines Dorfes namens Altensalzkoth aufgegriffen hatte. Offenbar hatte er sämtliche Hühner des Dorfes, insgesamt 17 Stück, zusammengetrieben und an Ort und Stelle getötet, indem er ihnen mit einem Beil den Kopf abgeschlagen hatte. Gegenüber den Polizeibeamten hatte Paul jegliche Auskunft verweigert.

In der Aufnahmesituation habe eine tiefgreifende Sprechstörung des Patienten imponiert, sagte die Ärztin, eine Verbalisation habe nicht stattgefunden, allerdings habe Paul mittels eines Kinderspielzeugs kommuniziert, einer Art Zaubertafel, verblüffend für einen neunundvierzig Jahre alten Mann. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in der Klinik sei Paul zu Zeit, Ort und Person orientiert gewesen, bewusstseinsklar, adäquat schwingungsfähig und im Antrieb sowie mimisch und mnestisch unauffällig. Johann tat so, als würde er die Ärztin verstehen. Frau Dr. Al-Nour ergänzte, dass formale und inhaltliche Denkstörungen nicht feststellbar gewesen seien. Auch Anzeichen einer akuten Suizidalität hätten nicht vorgelegen.

Im weiteren Verlauf der Aufnahmesituation habe Paul mithilfe der Zaubertafel erklärt, als Kind nur mit seiner Mutter gesprochen zu haben und im Alter von zwölf Jahren vollständig verstummt zu sein, nachdem die Mutter die Familie verlassen habe. Zum Vater, der erneut verheiratet sei, halte er bis heute sporadisch Kontakt. Trotz seiner Kommunikationsstörung habe er die Hochschulreife erlangt und ein Geographiestudium erfolgreich abgeschlossen. Zu einem möglichen Arbeitsplatz habe er sich nicht äußern wollen.

»Er arbeitet in der Kartenabteilung einer Universitätsbibliothek«, sagte Johann.

Die Ärztin machte eine Notiz und legte sie in Pauls Akte. Sie fuhr fort, Paul habe angegeben, unverheiratet zu sein und keine Kinder zu haben. Am Ende des Gesprächs habe er einen vier Jahre jüngeren Bruder erwähnt, zu dem der Kontakt vor über fünfundzwanzig Jahren abgebrochen sei. Hierüber habe Paul großes Bedauern geäußert.

Johann zerrte unter dem Tisch an den Fingern seiner linken Hand. Die Ärztin beschrieb Paul im Kontakt als zugewandt und freundlich. Er kommuniziere gestisch oder schreibe auf die Zaubertafel, ein Spielzeug, das durch mechanisches Löschen von bereits Geschriebenem mehrfaches Beschreiben erlaube. Allerdings weigere er sich beharrlich, zur Aufklärung der Beweggründe beizutragen, die ihn zur Tötung der 17 Hühner des Dorfes Altensalzkoth veranlasst hätten. Trotz mehrfacher Intervention verschiedener Mitarbeiter bleibe er in diesem Punkt unnachgiebig. Dennoch gelinge es ihm, glaubhaft zu versichern, dass die Angelegenheit mit dem Tod der Tiere erledigt sei. Er habe nicht grundsätzlich etwas gegen Hühner, seine Tat habe sich ausschließlich gegen die Hühner dieses einen Dorfes gewandt.

In der Musiktherapie habe sich Paul als rhythmusstark und taktsicher erwiesen. Johann dachte an die Posaune und daran, wie sich Paul beim Spielen des Instruments hinter dem Schallbecher versteckt hatte. In der Bewegungstherapie sei Pauls Erfolg allerdings eher unterdurchschnittlich gewesen, bemerkte die Ärztin, und Johann erinnerte sich an unzählige misslungene Handstände. Auch zeige Paul auffallend wenig Interesse an der Ergotherapie. Statt die vorgeschlagenen künstlerischen Arbeiten durchzuführen, fertige er umfangreiche Notizen an. Der Bericht der Ärztin schloss mit mehreren Diagnosen, von denen jede wie ein Urteil klang.

»Gestern hat ihr Bruder übrigens den Pflanzenbestand um die Klinik herum kartiert. Ich habe ihn um eine Kopie gebeten. Ich glaube, unser Gebäudemanagement wird sich darüber freuen.« Dr. Al-Nour schob ein Blatt über den Palisander. »Bemerkenswert ist der Olivenbaum am rechten Rand, der dort eigentlich gar nicht steht.«

Johann rang nach Luft. »Es ist ein Olivenbaum aus dem Garten Gethsemane. Auf den Karten, die Paul anfertigt, befindet sich immer irgendwo ein solcher Olivenbaum. Meistens bleibt er unbemerkt.«

Gethsemane war der Ort des Verrats, der Achtlosigkeit, des Glaubens und der Unschuld. Oft hatte ihr Vater sie aufgefordert, wach zu bleiben für den heiligen Dienst und nicht in sündigen Schlaf zu sinken wie einst die Jünger Jesu oder wie Jörg Grabow, der, als sie in der Sonntagsschule die Ereignisse in Gethsemane als Theaterstück aufgeführt hatten und Johann einen Busch am Fuß des Ölbergs darstellen musste, als Jakobus der Ältere tatsächlich eingeschlafen war. »Bleibet hier und wachet«, hatte Regula Schmidt, die Darstellerin des Jesus, durch den Jutebart gelispelt. »Bleibet hier und wachet«, und: »Meine Seele ist zu Tode betrübt.« Nicht einzuschlafen, wach zu bleiben für den Dienst, galt bis heute.

»Wir sind religiös aufgewachsen. Sehr religiös sogar«, sagte Johann.

Dr. Al-Nour nickte wortlos. »Warum ist Ihr Bruder stumm?«

Über diese Frage hatte Johann nie nachgedacht. »Paul kann nicht lügen«, sagte er. Es schien ihm eine vernünftige Antwort zu sein. Pauls Schweigen war nichts Außergewöhnliches gewesen. Hätte man Johann damals gebeten, seinen Bruder zu beschreiben, hätte er dessen braune Haare, die spitzen Knie, die rachitisch eingefallene Brust erwähnt und vielleicht Pauls nervtötende Angewohnheit, auf dem Telefon zu Hause immer wieder die eigene Nummer zu wählen und sich so selbst anzurufen. Paul war der Hängeschulternjunge, der Landkarten zeichnete und beim Gottesdienst die Posaune spielte. Dass er schwieg, hätte Johann damals nicht erwähnt. Erst als Erwachsener erkannte er, wie ungewöhnlich es war, einen Bruder zu haben, der sich so anhaltend weigerte, auch nur ein einziges Wort zu sprechen.

»Als Kind hat er viel geredet. Meistens flüsternd. Manchmal wie ein Wasserfall. Allerdings nur mit unserer Mutter. Als sie weggegangen ist, hat er aufgehört. Damals war seine Stimme noch hoch. Irgendwoher wusste er, dass man täglich Tausende Wörter mit durchschnittlich acht Menschen spricht, sich selbst nicht eingerechnet. Er hat da wohl nicht mehr mitmachen wollen.«

»Ist er damals wegen seiner Sprachlosigkeit einem Arzt vorgestellt worden?«

»Paul ist nicht sprachlos. Im Gegenteil. Er schreibt jede Kleinigkeit auf. Er konnte es schon mit vier Jahren. Unsere Mutter hat es ihm beigebracht. Er hat Karten gezeichnet und neben die Wege Wörter gepflanzt. Und ja, man hat ihn dauernd zu irgendwelchen Ärzten geschickt.«

»Zu welchem Ergebnis ist man damals gekommen?«

»Zu dem Ergebnis, dass Paul nicht spricht.«

»Und hat er seit dem Weggang Ihrer Mutter jemals etwas gesagt?«

»Nein. Ich glaube, nicht.« Johann seufzte. »Er verspricht sich nichts vom Sprechen.« Der Witz klang abgestanden, und Johann entschuldigte sich damit, freischaffend als Texter für eine Werbeagentur zu arbeiten. »Eine Zeitlang hat er geglaubt, kein Deutsch mehr sprechen zu können. Er hat angefangen, Hebräisch zu lernen. Doch auch das hat er nur aufgeschrieben, und um es aufzuschreiben, ist Hebräisch zu kompliziert.«

»Und das Mobiltelefon? Das hat uns überrascht.«

»Er spricht zwar nicht, aber er kann Kurzmitteilungen versenden.«

Dr. Al-Nour blätterte in Pauls Akte. Wenn Kooperation die Grundlage menschlicher Kommunikation sei, also das Bedürfnis, einander zu helfen, habe Paul möglicherweise wenig Hilfe erwartet.

»Wie gesagt, wir sind religiös aufgewachsen. ›Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.‹ Dafür reicht Nicken und Kopfschütteln.«

»Und Sie haben sich wirklich vor fünfundzwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen?«

»Nein, vor achtundzwanzig.« Für einen Moment ließ sich Johann von dem Gedanken aus der Fassung bringen, dass Pauls Ärztin zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch Grundschülerin gewesen war.

Dr. Al-Nour fragte, ob Paul ausschließlich die Zaubertafel zur Kommunikation verwende.

»Nein. Er schreibt auch massenhaft Zettel. Die meisten bewahrt er in Tüten auf. Wir nennen das Ding übrigens Wunderblock.«

Pauls Ärztin lächelte, und Johann begann, die Maserung im Palisander des Tisches zu bestaunen. »Was geschieht nun mit ihm?«

»Wir entlassen ihn. Ihr Bruder ist bei Ihnen in guten Händen, davon bin ich überzeugt. Auch wenn die rechte verletzt ist. Brauchen Sie ein Pflaster?«

Johann verneinte. Lautlos begleitete ihn Dr. Al-Nour zur Tür.

52° 37' 41'' N, 10° 5' 15'' O

– Ergotherapie. Ich soll zur Stärkung des Selbstausdrucks mit Wachsmalkreiden hantieren. N. sitzt mir gegenüber. Er begreift die Tageszeiten nicht. Es heißt, er leide unter dem Ausbruch einer verkappten Psychose. Das gefällt mir: ein Irresein unter der Kapuze. N. hatte mit seinen Freunden im Haus seiner Eltern eine Party gefeiert und den Eindruck bekommen, dass sich seine Gäste wohlfühlten und er sie für eine Weile allein lassen könne. Er war in den Park gegangen, zum Luftschnappen, wie er zögernd sagt, und hatte den nächtlichen Joggerinnen zugesehen. Als er nach einigen Stunden zurückgekehrt war, hatte er niemanden mehr erkannt, auch das Haus nicht, allerdings auch nicht angenommen, versehentlich auf eine falsche Party geraten zu sein.

Er sitzt im Hoodie am Tisch wie ein Gespenst und glaubt sich von jedem Blick durchschaut. Er spricht wenig. Er signalisiert, er sendet Zeichen. Er übermittelt Botschaften aus den Trümmern seines Unbewussten. Seit dem Ausbruch der verkappten Psychose waren seine Mutter und sein Stiefvater viermal auf Bali und einmal auf Mauritius.

Mir wird geraten, zum Einüben der Stresstoleranz Treppen zu steigen, Chilischoten zu essen oder saures Kaugummi. Meine Sinne anzusprechen. Wandliegestütze zu machen. Ich soll mein Problemverhalten in die Bewertungsskalen auf der Diary-Karte eintragen. Meinen Wunsch, mich zu suizidieren, auf einer Skala von 1-5, meinen Wunsch, mich selbst zu verletzen, auf einer Skala von 1-5, und ob ich Sport gemacht habe. Ich soll lernen, achtsam zu sein und nicht alles in Frage zu stellen. Mich einlassen, die Weichheit spüren.

L. hat Feldhockey auf Landesliganiveau gespielt. Das sei nun leider nicht mehr möglich, trotzdem sei sie optimistisch, und diesen Optimismus wolle sie in die Gruppe tragen, um so die Stimmung zu verbessern. Auf die Frage der Therapeutin, woher die schlechte Stimmung in der Gruppe ihrer Meinung nach komme, sagt sie, sie sei von den Wänden herabgefallen.

R., Impulskontrollstörung, also übermütig, ein Handyvertrag nach dem anderen, verlangt, dass N. (der andere N.) sie nicht anblicke, denn er blicke wie ein »Züchopath«. N. kann nichts dafür. Er ist kataton. Die Hände ausgebreitet auf dem Tisch, die Finger zu Astwerk erstarrt, verharrt er in seinem Geheimnis wie in einem Nest.

K. ist mein Bettnachbar. Sein Bett ist zerwühlt und vollgestellt mit Gegenständen. Gummistiefel, alte Zeitungen, vorwiegend die Seiten mit den Karikaturen, mehrere leere, ineinander gesteckte Joghurtbecher, ein Gebinde aus Islandmoos, ein Nähset, die Schere darin daumengroß, Kamillentee und ein Fragebogen zum Einstufen der Fröhlichkeit auf einer Skala von 1-5, von »sehr fröhlich« bis »überhaupt nicht fröhlich«. Sein kostbarster Besitz ist ein Buch mit Heiligengeschichten. Als er sich mir vorstellt, fragt er, ob ich mit meinem Namen zufrieden sei oder ob er mich lieber mit einem anderen Namen ansprechen solle, er habe eine lange Liste von Namen angelegt, die er zunächst für sich selbst in Betracht gezogen, dann aber sämtlich verworfen habe, obwohl sie alle sehr schön klängen. Ich schreibe ihm, dass ich mittlerweile an »Paul« gewöhnt sei. K. versucht, das Heilige verborgen zu halten. Es habe heutzutage von allen Seiten eine psychiatrische Diagnose zu gewärtigen. Wenn es überhaupt behandelt werden müsse, wünsche er eine traditionelle Behandlung mittels Ruten und Stöcken zum Beispiel. Auch der Einsatz von Elektrizität sei vorstellbar oder von auf der Haut ausgesetzten Ameisen. Die moderne Psychiatrie, unpromoviert und kittellos, sei für den Umgang mit dem Heiligen ungeeignet. Seinen Ärzten gelte es bereits als Meilenstein auf dem Weg zur Genesung, dass er nachts für jeweils zwei bis drei Stunden auf sein Zimmer gehe. Diese seichten Nervenstrippenzieher, frei von jedem wahren Mitgefühl, seien das Ergebnis einer Negativauslese der medizinischen Fakultät. Die Therapieräume gestalteten sie nach den Regeln des Feng-Shui, beim Mobiliar bevorzugten sie runde Formen, da das Runde dem Unbewussten angenehmer sei, und die Farbgebung folge der Harmonie der fünf Elemente. Wäre es einem ernst mit der Psychiatrie, müsste sie wie ein Schlachtfeld aussehen, wie die Städte Rakka oder Homs. Doch hier, an diesem Ort, begnüge er sich damit, tagsüber im Aufenthaltsbereich auf einem abgewetzten Kunstledersofa zu sitzen und das Fernsehprogramm zu verfolgen, in Gesellschaft eines Mittvierzigers, der draußen als Busfahrer nur auf abgelegenen Strecken eingesetzt worden sei, hier aber den besten Platz vorm Fernseher und, entgegen der Absprache im Morgenkreis, die Macht übers Programm beanspruche. In der ersten Nacht werde ich von K. geweckt. Er bittet mich, für einen Moment das Zimmer zu verlassen. Dabei zeigt er auf eine der Steckdosen: »Der Vietcong. Da muss ich kurz rangehen.«

Die Ergotherapeutin möchte, dass wir nach innen lauschen, um unser Clowns-Ich aufzuspüren. Ich kann die Zuversicht in ihrer Stimme nur noch schwer ertragen, und mein Clowns-Ich beginnt, die Interessen eines Serienmörders zu verfolgen. Das behalte ich aber für mich, um meine Entlassung nicht zu gefährden.

Hochachtungsvoll Paul

52° 37' 41'' N, 10° 5' 15'' O

Auf dem Flur klammerte sich eine Patientin an das flache Holzgeländer, das zugleich als Kollisionsschutz gegen achtlos geschobene Betten diente. Im Aufenthaltsbereich wurde gestritten. Johann atmete absichtlich flach. Er entdeckte Paul in einer Gruppe, die soeben durch die Stationstür kam. Wie die meisten trug er, was hier üblich zu sein schien: Trainingsanzug, Frotteestrümpfe und Plastiklatschen. Als er Johann sah, lächelte er. Früher hatten sie es sein Butterlächeln genannt, ein Lächeln, das jeden schläfrig machte und faul und die Fragen, die Paul zu stellen waren, verstummen ließ. Johann grüßte mit einer schlaffen Handbewegung. Paul schrieb ein Ausrufezeichen auf das Zelluloid seines grünen Wunderblocks.

»Immer noch der Wunderblock.«

– Nein, schrieb Paul, der ist neu.

Er ließ den Satz mit einer schnellen Bewegung wieder verschwinden.

»Hallo«, sagte Johann.

Sie umarmten sich, sachlich, dann behutsam. Johann glaubte, unter Pauls Haut seine Knochen hören zu können, ein hölzernes Singen, als wüchsen sie noch immer. Der Klang war ihm so unerwartet vertraut, dass ihn die Erkenntnis der Stille, die ihn selbst umgab, erstarren ließ. Er machte sich los und zwang sich ein Grinsen auf.

»Ich habe zugenommen. Fünf Kilo Übergewicht.«

– Über was?, schrieb Paul.

»Über dem Idealgewicht.«

– Du siehst gut aus.

»Das sind zwanzig Stück Butter. Selbst nackt fühle ich mich, als würde ich einen Pullover tragen.«

Paul lächelte.

– Schicke Schuhe. Stadtschuhe.

»Du auch«, sagte Johann mit Blick auf die Plastiklatschen an Pauls Füßen.

Paul lächelte noch immer. Er nahm Johanns Hand und machte das Zeichen für Hunger, das zugleich das Zeichen für Wahrheit war. Außer einem zerriebenen Karamellkeks hatte Johann seit Stunden nichts gegessen.

»Hier? In der Psychiatrie?«

– 13:00 Uhr. Kassler, Kartoffeln und Katharsis.

»Und zum Nachtisch?«

– Kekse und Kuchen.

Paul lachte tonlos. Paul, Paule, Paulchen, Paulemann, Paolo, Pollek, Paulinho, Paulinator, Paulitschkowski, Pavel, Paulerich. Johann folgte seinem Bruder in den Speisesaal.

Auf dem Weg zu einem Tisch unter einem großen Fenster hielt sie ein Mann auf. Er wolle Paul dringend mal was sagen, nämlich, dass er praktisch auch stumm sei. Sein Satzverständnis sei nur halb eingestellt. Es sei ein einziges, großes Absacken im Geiste. Paul lächelte und schob Johann durch den Saal.

Das Mittagessen türmte sich auf ihrem Tablett. Paul nahm die beiden abgedeckten Teller und stellte sie auf den Tisch. Als sie sich gesetzt hatten, schrieb er auf den Wunderblock:

– Und? Kassler oder Hackbraten?

Johann hob die Speisehaube von seinem Teller. »Kassler.«

– Schade, schrieb Paul und sah ungläubig unter die Speisehaube seines Tellers.

Ein Herr trat an den Tisch. Er war ungewöhnlich klein. Er deutete einen Knicks an, dann setze er sich.

– Karl. Mein Bettnachbar, schrieb Paul auf den Wunderblock.

Er zog einen Zettel, den er offenbar vorbereitet hatte, aus der Trainingsjacke und legte ihn auf den Tisch.

– Er ist mein Bruder. Er holt mich ab.

»Hocherfreut, jüngerer Bruder«, sagte Karl und gab Johann die Hand. »Schmecken dir salzlose Kartoffeln?«

»Ich habe noch nicht probiert. Essen Sie gar nichts?«

»Doch. Zum Abendessen eine Scheibe Feinbrot mit Paprikamortadella und Harzer Käse in der Größe eines Fünfmarkstücks. Das ist völlig ausreichend für jemanden, dessen bescheidene physische Existenz die Mühe des Selbstmords nicht lohnt.«

Johanns Nacken verkrampfte sich. Er fühlte sich aufgefordert, etwas zu sagen, wusste aber nicht, was. Trost schien in jeder Hinsicht unangebracht zu sein, ihn zu verweigern jedoch mitleidlos und kalt. Er zerteilte eine Kartoffel. Sie zerfiel in drei wässrige Stücke.

»Sieh mich mal an«, sagte Karl und wies mit beiden Händen auf sich. »Und nun sag mir, woran du bei einem Pechvogel eher denkst. An einen zerrupften Raben oder einen Pfau?«

»An eine Amsel«, sagte Johann.

Karl und Paul lachten, Karl meckernd, Paul sein tonloses Mutistenlachen.

»Ihr scheint euch hier irgendwie wohlzufühlen, oder?«

Paul fasste an Johanns rechten Ellenbogen und machte das Zeichen für »Er ist weg«, das zugleich »Beruhige dich« bedeutete. Er lächelte, drehte den Zettel auf dem Tisch um und schrieb auf die Rückseite:

– Ich falle hier nicht auf. Ich bin es leid aufzufallen. 

Johann versuchte, das fasrige Fleisch des Kasslers zu zerteilen. Karl sah ihm zu. »Dein Bruder hat recht. Wir sind hier unter unseresgleichen. Egal, was uns im Einzelnen verrückt gemacht hat, nach durchschnittlich siebzehn Tagen Klinikaufenthalt hat uns die Psychiatrie verrückt gemacht. Diejenigen, die zucken und eckige Bewegungen machen, während ihnen der Speichel aus den Mundwinkeln rinnt, die Augen und Münder weit aufgerissen wie Tiere im Schmerz, sind die Gesunden, die Simulanten, die sich hier nur verstecken. Die wahren Irren lächeln.« Er zeigte auf Paul. »Es ist ihre Maske für eine Welt, die die Teilhabe des Irren nicht vorsieht. Dein Bruder kann froh sein, dass du ihn hier rausholst.« Karl stand vom Tisch auf, griff an seine Brust und tat so, als richte er ein Einstecktuch. »Ich muss leider zur VA. Ich melde mich ab. Für mindestens dreitausend Jahre.« Er gab Johann die Hand, küsste Paul flüchtig aufs Ohr, deutete einen weiteren Knicks an und verließ den Saal.

Nach einer Weile fragte Johann, was der kleine Herr mit »VA« gemeint habe.

– Verhaltensanalyse, schrieb Paul.

Eine Dame mit makellos frisiertem Scheitel betrat den Speisesaal. Sie beschenkte die Anwesenden mit der Andeutung eines Lächelns und öffnete die Tür zur Terrasse.

– Die Oberärztin. Ein Gesicht wie angemietet. Das Personal fürchtet sich vor ihr.

Paul nahm zwei kleine Teller mit Kuchen vom Teewagen und ging hinaus.

Sie aßen den Kuchen unter einer Steinbirke, deren junger Stamm wie frisch bandagiert aussah. Zwei Frauen bewegten sich wie Roboter über den Rasen.

»Birken sind übrigens keine Bäume«, sagte Johann.

– Was denn sonst?, schrieb Paul.

»Gräser. Birken sind Gräser. Große Gräser.«

Ein Kaninchen kauerte nahe dem Zaun, der den Grünstreifen jenseits des Weges begrenzte. Einige Patienten versuchten, das Tier zu füttern. Ein junger Mann redete auf die Oberärztin ein, man könne ihm nicht einfach vorwerfen, hier herumzuhängen. Die Oberärztin nickte teigig. Dort, wo Paul auf der Karte den Olivenbaum aus Gethsemane eingezeichnet hatte, stand der Rehfreund, in die Betrachtung eines Glanzbildchens versunken.

»Ich möchte hier weg«, sagte Johann.

– Ja, schrieb Paul, ich auch. Ich möchte hier auch weg.

52° 37' 41'' N, 10° 5' 15'' O

– Johann ist gekommen.

52° 37' 15'' N, 10° 4' 0'' O

Für einen Moment hatte es der Wirtin die Sprache verschlagen, als Johann sie am Abend zuvor gefragt hatte, ob es möglich sei, das Frühstück aufs Zimmer serviert zu bekommen. Dann war sie über ihn hergefallen: »Das hat in dreißig Jahren noch keiner gefragt. Das ist ja unerhört. Wir sind doch nicht das Kempinski. Was denn noch? Massage vielleicht? Aber nur von einem männlichen Mitarbeiter, hab ich recht? Von mir aus können Sie sich Ihre Brötchen im Frühstücksraum abholen. Bis 9:30 Uhr. Danach schließt die Küche.« Johann hatte Paul zu einem billigen Gasthaus in Bahnhofsnähe überredet, um gegebenenfalls schnell fliehen zu können, falls sich herausstellen sollte, dass Paul irgendwo sonst noch etwas getötet hatte. Dass das Gasthaus selbst der Grund zur Flucht sein könnte, hatte er nicht erwartet. Er weckte Paul und schickte ihn Frühstück holen.

Es schien Johann, als sei ihm sein Körper vorausgeeilt. Sich selbst hatte er auf einer Zugtoilette zurückgelassen, dem hypertrophen Wuchern einiger Fruchtkapseln ausgesetzt. Er empfand nichts außer Scham über die Gewissheit, dass nicht eine Sekunde der letzten achtundzwanzig Jahre es wert gewesen war, Paul im Stich gelassen zu haben. Seine Schuhe gehörten Lukas, sein Anzug war aus zweiter Hand, und selbst seine Brille war Betrug, eine Fundusbrille mit Fensterglas, ein Geschenk von jemandem, dem er einen geblasen und der fürs Fernsehen gearbeitet hatte.

Auf dem Psychiatrieflur hatte Johann erwartet, in Tränen auszubrechen, doch stattdessen hatte er den Bauch eingezogen und versucht, den Harndrang zu bezwingen, der ihn dort befallen hatte. Später hatte er bei der Wirtin Zigaretten gekauft, fast ein halbes Päckchen geraucht und es dann ins Klo geworfen, um nicht nach zwei Jahrzehnten wieder anzufangen.

Paul kehrte mit einem vollgeladenen Tablett zurück. Er stellte es aufs Bett und zog weitere Brötchen aus seinen Jackentaschen. Es gab reichlich Marmelade, Wurst und Käse sowie einen Wochenvorrat an Butter. Paul nahm den Wunderblock vom Nachttisch und schrieb:

– Die Aprikosenmarmelade riecht wie das Waschmittel in der Psychiatrie.

»Willst du zurück?«

– Nein. Wieso?

»Naja. Wo ist der Kaffee?«

Paul zog ein Glas Instantkaffee aus der Hosentasche, stellte es aufs Tablett und grinste. Er sah aus wie ein Kind von bald fünfzig Jahren. Seine Haut war glatt und rosig, seine Augen blank, sein Gesicht an unablässiges Staunen gewöhnt. Sein Haar war etwas dünner als früher, und er ging leicht gebeugt. Auf seinem linken Handrücken befand sich eine kreisrunde Verbrennungsnarbe von etwa zwei Zentimetern Durchmesser. »Was hast du da gemacht?« Johann legte einen Finger auf die starre Haut. Paul schüttelte den Kopf und lächelte.

Sie zogen Decken und Laken von den Betten und türmten die Kissen übereinander. Dann schmierten sie Brötchen, belegten sie mit Wurst und Käse und rührten in den Zahnputzbechern aus dem Bad lauwarmen Instantkaffee an. Es war wie damals, als sie zu dritt an der Ostsee waren, ohne ihren Vater, der zu jener Zeit in Tansania Missionsdienst leistete. Ihre Mutter hatte sich von der Nachbarin ein gelbes Sommerkleid geliehen und sah darin aus wie ein Mannequin aus München. Sie hatten Kissen und Decken von den Betten gezogen und aus einigen Wäschestücken eine Feuerstelle gebaut. Zur Nacht gab es in Flammen aus Unterhosen geröstete Würste und in Strümpfen gegarte Bohnen, das Gericht wackerer Trapper und Scouts. Am nächsten Morgen spielten sie Verschlafen. »Oh Mann, schon so spät«, jammerte Johann, und Paul schnitt dazu Grimassen. Mittags gingen sie zum Strand hinunter. Es war stürmisch, die Möwen kämpften gegen den auflandigen Wind, die Gischt sprang von den Wellen. Rote Warnbeflaggung wies auf das Badeverbot hin. Sie rollten ihre Handtücher in einer Kuhle aus, machten sich flach wie Flundern und ließen sich von ihrer Mutter ihre Lieblingsstrandgeschichte erzählen, die Lebensgeschichte der nonkonformistischen Krabbe Konrad von Stolzenburg. Nachdem sie die Geschichte beendet hatte, stand ihre Mutter auf und streckte sich. »Ich bin eine olympische Schwimmerin. Für mich gilt der rote Wimpel nicht. Ihr bleibt hier und passt auf, dass ihr nicht wegweht.«

Sie schwamm hinaus wie eine wahre Olympionikin. Für sie musste sich das Wasser nicht teilen, sie teilte es selbst. Sie war Moses und das Meer zugleich, dachte Johann, sie war Prophet und Mannequin. Sie verschwand in den Tälern, tauchte auf, wurde über die Kämme gehoben, verschwand wieder und tauchte wieder auf. Zwischen zwei Tälern winkte sie. Das Winken erinnerte Johann an seine Puppe Cordula. Sie hatte gestrickte Gelenke und ein aufgenähtes Gesicht. Johann winkte zurück. Eine Zeitlang blieb ihre Mutter verschwunden, dann tauchte sie wieder auf und winkte, nun mit beiden Händen. Plötzlich stand Paul vor Johann und fuchtelte herum. Er ließ die Arme durch die Luft wirbeln, als hätte auch er gestrickte Gelenke. Er schien keine Luft zu bekommen. Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze, und er schlug sich gegen den Kopf. Irgendwann stieß er hervor: »Mami geht unter.« Der Satz klang wie dünnes Husten. Es war das letzte Mal, dass Johann Pauls Stimme hören sollte. Paul zeigte auf die Strandwache in den Dünen und rannte los.

Der Gummizug an Johanns Badehose war ausgeleiert, er musste die Hose festhalten, während er Paul hinterherlief. Paul fuchtelte noch immer mit den Armen, er grimassierte und trat in den Sand. Die Wachgänger versuchten, ihn zu beruhigen, doch Paul begann, auf sie einzuschlagen. Erst als Johann die Wache erreichte, hörte er auf damit. Johann tat, was er immer tat. Er übersetzte: »Unsere Mutter geht unter.«

Ihre Mutter wurde gerettet. Sie war unverletzt, nur sehr müde. Zu dritt kehrten sie in die Strandpension zurück, räumten Kissen und Decken auf die Betten, und ihre Mutter schlief bis zum nächsten Morgen. Dann fuhren sie nach Hause. Ihre Mutter blieb müde. Tagelang lag sie auf dem Sofa. Einige Monate später verschwand sie.

Ein halbes Jahr nach ihrem Verschwinden erhielt ihr Vater den Unfallbericht einer Versicherung. Ihre Mutter hatte einen Verkehrsunfall verschuldet. Durch den Aufprall des Wagens war die Werbeaufschrift eines Linienbusses beschädigt worden, was durch die Versicherungsleistungen nicht gedeckt war. Der Wagen ihrer Mutter hatte einen Totalschaden erlitten, ihr selbst war nichts geschehen. Paul brachte sich bei, den Ort des Unfalls mittels geographischer Koordinaten zu bestimmen. 50° 6' 37'' N, 8° 40' 55'' O. Für welches Produkt die Aufschrift auf dem Bus geworben hatte, war nicht mitgeteilt worden. Dieser Umstand beschäftigte Paul noch lange Zeit.

»War Gunni wirklich eine olympische Schwimmerin?« Paul durchsuchte lächelnd eine seiner Zetteltüten. Er hatte zwei Tüten mit aufs Zimmer genommen, drei weitere hatte er im nahen Bahnhof in ein Schließfach eingeschlossen. Er schien genau zu wissen, was er tat, als er die Blätter auf unterschiedlich hohe Stapel verteilte. Während er sie ordnete, bewegte er die Lippen. Dann zog er einen Zettel aus einem der Stapel, als vollführe er einen Zaubertrick, und reichte ihn Johann.

– 1960 tritt Mutter bei den Olympischen Spielen in Rom für die Mühlheimer Wassersportfreunde an und lernt während der Wettkämpfe John Devitt, den australischen Goldmedaillengewinner über 100 Meter Freistil, kennen. Sie selbst scheidet im Vorlauf über 400 Meter Schmetterling aus. Sechs Jahre später studiert sie in Frankfurt Erziehungswissenschaften. Sie verliebt sich in Vater, der dort Pharmazie studiert, folgt ihm in die elterliche Apotheke und lernt beten.

Johann gab Paul den Zettel zurück. Paul steckte ihn in den Stapel, von dem er ihn genommen hatte, und legte die Zettel zurück in die Tüte. Dann durchsuchte er einen zweiten Stapel. Wieder bewegte er die Lippen. Er hielt inne und schien zu zählen, schließlich legte er den Stapel zur Seite, nahm einen dritten und zog einen abgegriffenen Zettel hervor.

– Johann hat mich gefragt, ob ich ihm Mutter beschreiben kann. Das fragt er dauernd. Kannst du mir Mutter beschreiben? Kannst du mir Mutter beschreiben? Ich glaube ihm nicht, dass er sich nicht an sie erinnert. Er will nur, dass ich es ihm aufschreibe. Wenn ich etwas aufschreibe, das nicht stimmt, zerreißt er den Zettel und will einen neuen. Neulich habe ich geschrieben, dass Mutter gesagt hat, dass ich vom Herrn erwählt sei. Den Zettel hat er nicht zerrissen. Er hat ihn eingesteckt, ist in sein Zimmer gegangen und hat geweint.

»Was soll das?« Johann schnippte den Zettel auf die Matratze. »Gunni hat dich nicht für erwählt gehalten. Nicht für erwählter als mich.«

Paul fasste an Johanns rechten Ellenbogen, nahm den Zettel von der Matratze und schrieb auf den unteren Rand:

– Johann hat recht. Mutter hat mich niemals für erwählt gehalten. Ich habe es mir nur ausgedacht.

Er zerknüllte den Zettel und bewarf den ausgestopften Iltis damit. Dann rollte er sich auf die Seite.

Johann beobachtete Paul und leckte dabei die Reste der Aprikosenmarmelade aus den Plastikschälchen. Er war gereizt. Pauls Stummheit war maßlos geworden. Mutismus galt als Kinderkrankheit wie Masern, Röteln oder Windpocken. Spätestens als junge Erwachsene fanden die meisten Erkrankten zum Sprechen zurück. Doch Paul war nie erwachsen geworden. Er war das Kind geblieben, das »Mami geht unter« zu sagen versucht hatte. Gefangen in diesem Satz, war die Zeit für ihn nicht mehr in gewohnter Weise verlaufen. Er erfuhr sie nicht als etwas, das verging, sondern als etwas, das blieb: eine Fläche, die sich auf Flächen legte, Zeitflächen, die sich übereinanderschichteten und so Geschichten hervorbrachten, durch die Paul sich erst in einer Welt zurechtfand, in der Kinder ihre Mütter verlieren. So stellte es sich Johann jedenfalls vor.

– Zeit ist Landschaft, hatte Paul einmal geschrieben, und meine Karten sind Kalender.

Früher hatten ihn Fragen nach der Uhrzeit oft in Panik versetzt. Seine Schrift war dann über das Papier geflogen:

– Es ist fünf nach vier und elf nach acht und sieben vor fünf am 6. und 18. September.

Paul lebte in einem Zustand schwebender Gleichzeitigkeit, deren Preis, so schien es Johann, eine endlose Einsamkeit war, in der er sich, seit ihre Mutter fortgegangen war, verloren hatte.

Tatsächlich hatte Johann Paul häufig gebeten, ihm ihre Mutter zu beschreiben. Manchmal beschrieb Paul dann ihren Geruch als Duft aus vielen Düften, aus Rasen und Brombeeren und Seife und ein bisschen Pferd, aus klarem Wasser und Zimt, manchmal beschrieb er ihre Hände, die nie kalt wurden, und manchmal den Klang ihrer Stimme als Ton eines Musikinstruments. Manchmal blieb er die Antwort schuldig, und manchmal fiel sie sachlich aus. Diese Zettel waren Johann die liebsten.

– Mutter ist schlank, sie ist 173 cm groß, obwohl in ihrem Führerschein 172 cm steht. Sie hat glatte Haut. Auf ihrem linken Arm unterhalb der Schulter befinden sich elf Leberflecke, auf ihrem rechten Arm nur sieben, auf der übrigen Haut habe ich sie nicht gezählt. Sie hat blaue Augen. Früher trug sie ihre Haare aufgetürmt, jetzt trägt sie sie kurz, sie sind brünett und nur wenig gelockt.

Johann legte sich neben Paul auf die Matratze, schloss die Augen und atmete im Takt von Pauls Atem. Leise sagte er: »Vielleicht ein bisschen erwählt.«

Zwei

52° 37' 15'' N, 10° 4' 0'' O

Nachdem er mehrfach gegen die Möbel gelaufen war, wollte Paul in die Stadt. Er sei von der Psychiatrie noch zu benebelt, er müsse dringend an die Luft. Wegen eines Termins bei Dr. Al-Nour hatte er zwei Tage zuvor den Patientenausflug verpasst. Seine Therapiegruppe war geschlossen in eine Eisdiele gegangen, in der man auch gemischten Salat bestellen konnte. Das wollte Paul nun nachholen. Johann weigerte sich. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett und verfolgte die Muster auf der Innenseite seiner Lider. »Weißt du eigentlich, wie du aussiehst? Wie entflohen. In dem Trainingsanzug gehe ich mit dir nirgendwohin. Sonst werden wir noch verhaftet.«

Paul schrieb, dass auch seine Kleidung im Bahnhof eingeschlossen sei und er für das Eis mit gemischtem Salat aufkommen werde. Johann rieb über sein Gesicht. Es war unangenehm warm.

Die meisten der Kleidungsstücke, die Paul zwanzig Minuten später aus dem Schließfach zog, waren mit Hühnerblut besudelt und klebten starr aneinander.

»So werden wir erst recht verhaftet. Diese Mörderkluft kannst du nicht anziehen. Wir müssen in einen Waschsalon.«

– Aber dafür müssten wir in die Innenstadt, schrieb Paul auf den Wunderblock.

– Im Trainingsanzug. Zur Eisdiele. Der Waschsalon ist in der Innenstadt. Tut mir leid.

Während sie durch die Innenstadt gingen, flüsterte Johann das Wort »beschaulich«, bis es, nur noch Klang, seine bedrückende Bedeutung verloren hatte. Die Stadt war wie von Kulissenbauern aufgestellt, ein Filmset vor einem wolkenlosen Himmel aus Folie, eine Attrappe, die Vergangenheit simulierte. Die Häuser waren gebaute Lügen, betrügerisch detailliert, jeder schiefe Balken verwies auf den Vorsatz der Täuschung. Hinter den Fassaden vermutete Johann die wahre Stadt. Greise Bewohner zwängten sich unter niedrige Zimmerdecken, Zurückgelassene an einem toten Ort. Auf der Straße, die hier eine Fußgängerzone war, waren sie auf Gehhilfen angewiesen. Nur das Geschäft einer bekannten Modemarke nahm sich in der Enge Platz. Es beanspruchte zwei nebeneinanderstehende Häuser für seine Verkaufsfläche. Trotz schrill beworbener Sonderangebote in den Fenstern wirkte es schlecht besucht.

Paul griff nach Johanns rechtem Mittelfinger und zog daran. Es bedeutete: »Beeil dich.«

Sie setzten sich in den Außenbereich der Eisdiele. Paul überließ Johann den Schatten. An einem der Nebentische entdeckte Johann den Rehfreund aus der Psychiatrie. Der Rehfreund grüßte abwesend. Dann murmelte er: »Eine Hirschkuh.« Vor ihm stand eine kleine Waldlandschaft, einige Bäume, etwas Unterholz, mehrere Tiere, aus Brotkrumen modelliert und mit Salatresten umstellt.

»Eine Hirschkuh?«, fragte Johann und fürchtete sich vor der Antwort.

»Mach mal ein Geweih aus Brot.« Der Rehfreund schüttelte den Kopf. Er erhob sich, räumte den modellierten Wald vom Tisch und aß ihn auf. »Man was in the forest«, sagte er und ging. Paul lachte. In einer Parkbucht gegenüber übte ein Fahrschüler einparken.

Johann bestellte bei einer Frau mit einem Spitzenhäubchen auf der Frisur. »Einen gemischten Salat für mich und für meinen Bruder drei Kugeln Eis mit Sahne und Streuseln. Nuss, Nugat und Schokosplit. Und zusätzlich Löffelbiskuit, bitte.« Paul sah wie ein zufriedenes Geburtstagskind aus. Johann war seiner Einladung gefolgt, mehr verlangte er nicht. Er würde Johann Platz einräumen, wie er in seinem Regal Johanns Bibelkassetten Platz eingeräumt hatte. Er würde neue Zeichen erfinden und sie auf Johanns Haut zeichnen. Er würde ihm die Welt erklären und alles, was in ihr vorging. Doch Johann wollte von der Welt nichts wissen. Er wünschte sich an einen Schwundort, an dem nichts wirklich existierte.

Sie hatte zwischen zwei Wellentälern wie die Puppe Cordula gewinkt, und Johann hatte geglaubt, sie teile mit ihm den Sieg über das Wasser. Dieses eine Mal hatte seine Mutter ihn gemeint und nicht wie üblich Paul. Nachdem sie verschwunden war, war Johann in ihr Nähzimmer gezogen. Er hatte sich die Haare wachsen lassen, hatte sich geweigert, die Finger- und Fußnägel zu schneiden, und hatte seine Kleidung nur noch selten gewechselt. Stundenlang hockte er auf dem Teppich, räumte das Nähkästchen aus und ordnete das Stopfgarn der Farbe nach, von warm nach kalt. Er verhakte die Sicherheitsnadeln und stellte auf diese Weise eine Kette von über zwei Metern Länge her. Er systematisierte die Knopfsammlung. Er sortierte die Knöpfe in schöne Knöpfe und langweilige Knöpfe. Die schönen waren Knöpfe aus Messing, Horn oder Holz oder Knöpfe, die mit Stoff bespannt waren. Eine Ausnahme bildeten Wäscheknöpfe, sie zählten trotz ihrer Stoffbespannung zu den langweiligen Knöpfen, ebenso wie sämtliche Knöpfe aus Kunststoff. Einem Satz Mantelknöpfe mit einer feinen Rillenstruktur räumte er die Stellung als beste Knöpfe ein, sie erhielten im Nähkästchen ein eigenes Fach. Er zeichnete mit der Schneiderkreide Linien auf den Teppich und nutzte sie als Straßen für seine Spielzeugautos. Er stach sich mit Nähnadeln die Fingerspitzen blutig und ließ ein Hosengummi gegen sein Gesicht schnellen. Er bereitete sich ein Bett aus Schnittmustern, schlief ein und lernte im Schlaf, seine Mutter zu vergessen. Je vollkommener er sie vergaß, umso unwahrscheinlicher war es, dass sie jemals existiert hatte. Als er sich zu einer Geburtstagsfeier eines Schulfreundes mit einem der Hüte ihrer Mutter kostümierte und Paul darüber lachte, verließ Johann das Nähzimmer und betrat es nicht wieder. Er nahm nur einen Fingerhut mit. Wenn er allein war, steckte er ihn auf und klopfte ein paar der Lieder, die er kannte.

Nachdem die Frau mit dem Spitzenhäubchen ihnen Eis und Salat gebracht hatte, sagte er: »Vielleicht hat sie sich der RAF angeschlossen.«

– ?

»Gunni.«

– ?

»Oder den Sannyasins.«

– ?

»Als Kind habe ich geglaubt, dass sie der Teufel geholt hat.«

– Ich kann es nicht ausstehen, wenn du Mutter Gunni nennst.

Paul schrieb auf die Rückseite der Werbung einer Diskothek, die der Eiskarte beigelegt war.

– Du nennst doch Vater auch Vater. Pastor Berger meint, es stelle eine Beeinträchtigung des elterlichen Führungsanspruchs und somit letztlich der göttlichen Autorität dar, wenn die Eltern sich von ihren Kindern mit Vornamen anreden ließen.

»Ich nenne Vater auch Martin.«

– Seit wann?

»Seit Ewigkeiten.«

Paul starrte auf den Flyer, schrieb aber nichts.

»Sie war plötzlich verschwunden. Ohne jede Erklärung. Wie vom Teufel geholt. Jahrelang habe ich jedem, der mir zu nahe kam, heimlich auf die Füße gesehen, ob sich nicht ein Ziegenfuß im Schuh versteckt.« Johann stocherte in seinem gemischten Salat auf der Suche nach einer Tomate. Sie schmeckte nach Gurke. »Er hat gesagt, sie wäre durchgebrannt. Ich habe gedacht, wie eine Sicherung. Kannst du sie mir noch einmal beschreiben?«

Paul kratzte die Reste des Nugateises aus dem Becher, stellte den Becher zur Seite, durchsuchte die Zetteltüten, die er aus dem Bahnhofsschließfach mitgenommen hatte, legte mehrere Zettelstapel übereinander auf den Tisch und beschwerte sie mit dem Holzblock, in dem die Eiskarte steckte. Dann nahm er Maß, zog einen Zettel aus einem der Stapel und legte ihn vor Johann auf den Tisch.

– Mutter erzählt Geschichten. Sie kann aber auch gut vorlesen. Als sie fortgegangen ist, habe ich angefangen, selbst Bücher zu lesen. Bis zu meinem Tod oder, wenn ich Pech habe und erblinde, bis zu dem Tag, an dem ich mein Augenlicht verliere, werde ich mehr Zettel geschrieben und mehr Bücher gelesen haben, als Mutter Geschichten erzählt hat. Der Ausgang von Mutters Geschichten verändert sich nach ihrer oder Johanns oder meiner Laune. Die Geschichten in den Büchern, die ich lese und noch lesen werde, enden alle gleich. Mutter hat eine schöne Stimme. Ich kenne keine schönere. Hochachtungsvoll Paul

»Hast du mir den Zettel irgendwann schon mal gezeigt?«

– Nein. Er ist von letzter Woche.

Johann fasste an Pauls rechten Ellenbogen und nahm ihm den Wunderblock aus der Hand.

– Ich glaube, ich vermisse sie, schrieb er.

– Ich weiß, dass ich sie vermisse, schrieb Paul.

Der Fahrschüler wendete.

52° 37' 23'' N, 10° 4' 42'' O