John Workman - Hans Dominik - E-Book

John Workman E-Book

Hans Dominik

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Beschreibung

Hans Dominik erzählt die typische amerikanische Erfolgsgeschichte: vom Tellerwäscher – Pardon - Zeitungsjungen zum Millionär. In dieser spannenden Jugendgeschichte quer durch den amerikanischen Kontinent, erleben wir wie John Workmann zunächst als bitterarmer Zeitungsjunge eine Gewerkschaft gründet, später Journalist wird, Unternehmer, Lebensretter, Abenteurer und sogar Goldgräber. Grundlage dieser überarbeiteten Fassung ist die deutsche Erstausgabe von 1925. Der Verleger hat die Geschichte mit Fußnoten versehen, um Unstimmigkeiten aufzuklären oder Fakten zu vertiefen. Null Papier Verlag

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Hans Dominik

John Workman

Kommentierte und illustrierte Fassung

Hans Dominik

John Workman

Kommentierte und illustrierte Fassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-954187-31-7

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Über die­ses Buch

Der Au­tor

Hin­weis für den Le­ser

Band 1: Im Rei­che des Zei­tungs­rie­sen

1. Ka­pi­tel

2. Ka­pi­tel

3. Ka­pi­tel

4. Ka­pi­tel

5. Ka­pi­tel

6. Ka­pi­tel

7. Ka­pi­tel

8. Ka­pi­tel

9. Ka­pi­tel

10. Ka­pi­tel

11. Ka­pi­tel

12. Ka­pi­tel

Band 2: Wan­der­jah­re im Wes­ten

13. Ka­pi­tel

14. Ka­pi­tel

15. Ka­pi­tel

16. Ka­pi­tel

17. Ka­pi­tel

18. Ka­pi­tel

19. Ka­pi­tel

20. Ka­pi­tel

21. Ka­pi­tel

22. Ka­pi­tel

Band 3: Neue Wun­der der Gro­ß­in­dus­trie

23. Ka­pi­tel

24. Ka­pi­tel

25. Ka­pi­tel

26. Ka­pi­tel

27. Ka­pi­tel

28. Ka­pi­tel

29. Ka­pi­tel

30. Ka­pi­tel

31. Ka­pi­tel

32. Ka­pi­tel

33. Ka­pi­tel

Band 4: Lehr- und Meis­ter­jah­re im Sü­den

34. Ka­pi­tel

35. Ka­pi­tel

36. Ka­pi­tel

37. Ka­pi­tel

38. Ka­pi­tel

39. Ka­pi­tel

40. Ka­pi­tel

41. Ka­pi­tel

42. Ka­pi­tel

43. Ka­pi­tel

44. Ka­pi­tel

45. Ka­pi­tel

46. Ka­pi­tel

47. Ka­pi­tel

48. Ka­pi­tel

49. Ka­pi­tel

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Kin­der­bü­cher bei Null Pa­pier

Der Struw­wel­pe­ter oder lus­ti­ge Ge­schich­ten und drol­li­ge Bil­der (HD)

Hei­di

Der klei­ne Lord

Die wun­der­ba­re Rei­se des klei­nen Nils Hol­gers­son mit den Wild­gän­sen

Pi­noc­chio

Das Dschun­gel­buch

Die Aben­teu­er des Huck­le­ber­ry Finn

Der Trotz­kopf - Voll­stän­di­ge und il­lus­trier­te Fas­sung

John Work­man

Maja

und wei­te­re …

Über dieses Buch

Hans Do­mi­nik er­zählt die ty­pi­sche ame­ri­ka­ni­sche Er­folgs­ge­schich­te: vom Tel­ler­wä­scher – Par­don - Zei­tungs­jun­gen zum Mil­lio­när.

In die­ser span­nen­den Ju­gend­ge­schich­te quer durch den ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, er­le­ben wir wie John Work­mann zu­nächst als bit­ter­ar­mer Zei­tungs­jun­ge eine Ge­werk­schaft grün­det, spä­ter Jour­na­list wird, Un­ter­neh­mer, Le­bens­ret­ter, Aben­teu­rer und so­gar Gold­grä­ber.

Do­mi­nik, der selbst meh­re­re Jah­re in den USA leb­te, bringt hier dem deut­schen Ju­gend­li­chen der Kai­ser­zeit den »Ame­ri­can Way of Life« bei: ge­witzt und flei­ßig sein, nie­mals auf­ge­ben und bei Er­folg nicht die Zu­rück­ge­blie­be­nen aus den Au­gen ver­lie­ren. Manch­mal er­folgt die­se Ver­mitt­lung auch mit dem klei­nen Holz­ham­mer, aber nie­mals auf­dring­lich oder un­sym­pa­thisch – und im­mer un­ter­halt­sam. Man merkt dem Au­tor sei­ne Lie­be zur Tech­nik und zum Fort­schritt an.

Hans Do­mi­nik, ein Pio­ni­er der deut­schen Science-Fic­ti­on-Li­te­ra­tur ver­sucht sich hier erst­ma­lig (und über­aus er­folg­reich) als Jun­gend­buch­au­tor. Als ers­tem deutsch­spra­chi­gen Au­tor ge­lingt es ihm, eine span­nen­de Aben­teu­er- und Rei­se­ge­schich­te mit his­to­ri­schen, po­li­ti­schen und tech­ni­schen Fak­ten an­zu­rei­chern.

Der Autor

Hans Do­mi­nik war der Pio­ni­er des uto­pi­schen Ro­mans in Deutsch­land und ei­ner der er­folg­reichs­ten deut­schen Po­pu­lär­schrift­stel­ler des 20. Jahr­hun­derts. Er wur­de 1872 in Zwickau ge­bo­ren und starb 1945 wäh­rend des Kriegs­en­des in Ber­lin. Ne­ben Science-Fic­ti­on hat Do­mi­nik auch Sach­bü­cher und Ar­ti­kel mit tech­nisch-wis­sen­schaft­li­chen In­hal­ten ver­fasst.

Sei­ne Ju­gend­jah­re wie auch den größ­ten Teil sei­nes Le­bens ver­brach­te er in Ber­lin. Am Gym­na­si­um in Go­tha be­geg­ne­te er dem Leh­rer Kurd Laßwitz, selbst ein frü­her Ver­fas­ser uto­pi­scher Ro­ma­ne. Man kann da­von aus­ge­hen, dass die­se Be­geg­nung nicht ohne Ein­fluss auf Do­mi­nik und sein spä­te­res Werk blieb.

Ab 1893 stu­dier­te Hans Do­mi­nik an der Tech­ni­schen Hoch­schu­le Ber­lin Ma­schi­nen­bau und Ei­sen­bahn­tech­nik. Spä­ter war er für meh­re­re Un­ter­neh­men im Be­reich der Gro­ß­in­dus­trie und des Berg­baus tä­tig, u.a. auch für Sie­mens.

Nach 1901 mach­te er sich als Fach­au­tor selb­stän­dig. Für Auf­trag­ge­ber aus der In­dus­trie ver­fass­te er Wer­be­bro­schü­ren und Pro­spek­te. Sei­ne Lei­den­schaft galt aber der auf­kom­men­den Science-Fic­ti­on Li­te­ra­tur oder bes­ser den »tech­ni­schen Aben­teu­er­ro­ma­nen«, wie die­se in Deutsch­land noch ge­nannt wur­den. Do­mi­nik war auch ab­seits der Li­te­ra­tur sehr um­trie­big, er grün­de­te ein Un­ter­neh­men und er­hielt meh­re­re Pa­ten­te auf dem Ge­biet der Au­to­mo­bil­tech­no­lo­gie.

Sein ers­ter uto­pi­scher Ro­man »Die Macht der Drei« er­schi­en 1922 als Fort­set­zungs­ge­schich­te und wur­de kurz dar­auf als Buch ver­öf­fent­licht. Ab 1924 wid­me­te sich Do­mi­nik ganz der Schrift­stel­le­rei, in Jah­res­ab­stän­den er­schie­nen wei­te­re Ro­ma­ne.

Ne­ben den rei­nen Aben­teu­er­ge­schich­ten für eine er­wach­se­ne Le­ser­schaft ver­öf­fent­lich­te er auch die (im­mer noch sehr stark vom tech­ni­schen Fort­schritt ein­ge­färb­ten) Ju­gend­ge­schich­ten um den Auf­stieg des John Work­man vom Zei­tungs­jun­gen zum Mil­lio­när: »John Work­mann, der Zei­tungs­boy« (1925).

Die wich­tigs­ten Wer­ke:

Die Macht der Drei, 1921

Die Spur des Dschin­gis-Khan, 1923

At­lan­tis, 1924/25

Der Brand der Che­ops­py­ra­mi­de, 1925/26

Das Erbe der Ura­ni­den, 1926/27

Kö­nig Lau­r­ins Man­tel (Al­ter­na­tiv­ti­tel: Un­sicht­ba­re Kräf­te), 1928

Kaut­schuk, 1929/30

Be­fehl aus dem Dun­kel, 1932/33

Der Wett­flug der Na­tio­nen. Prof.-Eg­gerth-Se­rie. Teil 1, 1932/33

Ein Stern fiel vom Him­mel. Prof.-Eg­gerth-Se­rie. Teil 2, 1933

Das stäh­ler­ne Ge­heim­nis, 1934

Atom­ge­wicht 500, 1934/35

Him­mels­kraft, 1937

Le­bens­strah­len, 1938

Land aus Feu­er und Was­ser. Prof.-Eg­gerth-Se­rie. Teil 3, 1939

Treib­stoff SR. (Al­ter­na­tiv­ti­tel: Flug in den Wel­ten­raum oder Fahrt in den Wel­traum.) 1939/40

Hinweis für den Leser

Grund­la­ge die­ser über­ar­bei­te­ten Fas­sung ist die deut­sche Erst­aus­ga­be von 1925.

Der Ver­le­ger hat die Ge­schich­te mit Fuß­no­ten ver­se­hen, um Un­stim­mig­kei­ten auf­zu­klä­ren oder Fak­ten zu ver­tie­fen.

Band 1: Im Reiche des Zeitungsriesen

1. Kapitel

Ein ei­si­ger Abend­wind feg­te durch die Stra­ßen New Yorks und trieb die Men­schen zu grö­ße­rer Eile als ge­wöhn­lich an.

Wäh­rend sonst zu je­der Ta­ges- und Abend­stun­de vor den mäch­ti­gen Spie­gel­schei­ben des Ma­schi­nen­hau­ses der größ­ten Zei­tung Ame­ri­kas, des ›New York He­rald‹,1 Hun­der­te von Per­so­nen durch die großen Schei­ben einen be­wun­dern­den Blick auf die un­ge­heu­ren Druck­pres­sen war­fen, stan­den heu­te nur ei­ni­ge Zei­tungs­boys in der Säu­len­hal­le vor dem Ma­schi­nen­hau­se und war­te­ten auf die Aus­ga­be der letz­ten Abend­num­mer.

Um sich die Zeit zu ver­trei­ben, spiel­ten sie mit Cent­stücken Kopf oder Ad­ler: ei­ner von ih­nen nahm ein Cent­stück, wel­ches auf der einen Sei­te einen In­dia­ner­kopf, auf der an­de­ren einen Ad­ler zeigt, und warf es in die Luft, und je nach­dem, ob die Mit­spie­len­den rich­tig ge­ra­ten, wel­ches der bei­den Zei­chen nach oben lag, hat­ten sie ge­won­nen oder ver­lo­ren.

Man sah es die­sen Jun­gens nicht an, dass sie in ih­rer ab­ge­tra­ge­nen, dün­nen Klei­dung un­ter dem Ein­fluss der Käl­te lit­ten. Ihre Au­gen strahl­ten, ihre Ge­sich­ter wa­ren frost­gerötet, und sie schie­nen durch das täg­li­che von mor­gens bis abends auf der Stra­ße Ver­wei­len ge­gen die Un­bill der Wit­te­rung ge­feit zu sein.

Ab­seits von der spie­len­den Grup­pe stand ein schmäch­ti­ger, blond­lo­cki­ger Kna­be von 12 Jah­ren, press­te sein Ge­sicht dicht an eine der mäch­ti­gen Spie­gel­schei­ben und schau­te mit weit ge­öff­ne­ten Au­gen auf die große Drei­far­ben­pres­se, wel­che un­un­ter­bro­chen wie ein mär­chen­haf­tes Un­ge­heu­er große, far­bi­ge Zei­tungs­blät­ter mit ma­the­ma­ti­scher Ge­nau­ig­keit aus sei­nem In­nern her­aus be­för­der­te.

Im Ge­hirn des Kna­ben nahm die­se bun­te Far­ben­pres­se das größ­te In­ter­es­se ein.

Mit al­ler Kraft sei­ner kind­li­chen In­tel­li­genz ver­such­te er, sich den Vor­gang klarzu­ma­chen und das Wun­der­werk der mo­der­nen Tech­nik zu ver­ste­hen.

Sein sehn­lichs­ter Wunsch war es, auch ein­mal eine sol­che Ma­schi­ne zu be­die­nen, ja, in sei­nem küh­nen Trau­me sah er sich so­gar als Be­sit­zer sol­cher Ma­schi­nen, und wenn er auf dem ›Broad­way‹ als ein­fa­cher ›Zei­tungs­boy‹ sei­ne Zei­tun­gen ver­kauf­te, dann hat­te er das Ge­fühl, als stün­de er im Diens­te ei­nes den Men­schen un­be­kann­ten, un­ge­heu­ren, me­cha­ni­schen Rie­sen. – Ein Ge­fühl von Stolz und Selbst­be­wusst­sein er­füll­te dann den ein­fa­chen Zei­tungs­boy, das ihn weit über sei­ne Käu­fer hin­aus­hob.

Die Uhr auf dem Zei­tungs­ge­bäu­de schlug mit hel­len, durch­drin­gen­den Tö­nen sie­ben Schlä­ge. Der Boy wand­te den Kopf von den Ma­schi­nen und lausch­te.

Er kann­te die Uhr.

Ein Wun­der­werk, wie al­les in dem Ge­bäu­de des Zei­tungs­rie­sen. Zwei in Erz ge­gos­se­ne dop­pelt le­bens­große Ar­beits­män­ner tra­ten nach je­der vollen­de­ten Stun­de über das Haupt­tor des Zei­tungs­rie­sen und schlu­gen mit großen er­ze­nen Häm­mern auf eine me­tal­le­ne Plat­te so oft, wie es die Zeit an­sag­te. Der er­ze­ne Ham­mer­schlag durch­drang den tol­len Lärm der Stra­ße und ließ die Men­schen ihre Köp­fe zu dem Ge­bäu­de des Zei­tungs­rie­sen hin­wen­den.

Kaum war der letz­te Klang ver­hallt, als der zwölf­jäh­ri­ge Boy sei­nen spie­len­den Ka­me­ra­den zu­rief:

»Kommt, Jun­gens, es ist Zeit.«

Dann schritt er, von sei­nen Ka­me­ra­den ge­folgt, zu ei­nem Sei­ten­tor, aus dem in fast end­lo­ser Rei­he klei­ne hoch­be­pack­te Kar­riol­wa­gen2 und Au­to­mo­bi­le in ei­nem Eil­tem­po, das fast un­na­tür­lich er­schei­nen muss­te, mit der letz­ten Abend­aus­ga­be in die Stadt fuh­ren.

An ih­nen vor­bei dräng­ten sich die Zei­tungs­boys und ge­lang­ten in einen klei­nen Hof vor ein Schal­ter­fens­ter, hin­ter dem der weiß­bär­ti­ge Kopf ei­nes Man­nes sicht­bar war.

Ei­ner der Boys nach dem an­dern trat an das klei­ne Fens­ter, sag­te kurz eine Num­mer, mit wel­cher er die ge­wünsch­te An­zahl von Zei­tungs­exem­pla­ren be­zeich­ne­te, warf das Geld auf das Schal­ter­brett und er­hielt ei­ligst die ge­for­der­ten Exem­pla­re hin­aus­ge­reicht.

So­bald ein Boy sei­ne Zei­tun­gen er­hal­ten, eil­te er in der­sel­ben Hast wie die Kar­riol­wa­gen und Au­to­mo­bi­le, und knapp zehn Mi­nu­ten nach sie­ben Uhr er­füll­ten die gel­len­den Rufe der Zei­tungs­jun­gen den ›Broad­way‹ und schreck­ten die Men­schen durch den Aus­ruf der neues­ten Ver­bre­chen oder sons­ti­ger sen­sa­tio­nel­ler Nach­rich­ten aus ih­ren Ge­dan­ken.

Be­reits um acht Uhr hat­ten die meis­ten Boys ihre Zei­tun­gen ver­kauft und be­ga­ben sich nach Hau­se, so sie ein Zu­hau­se be­sa­ßen. – Aber nur we­ni­ge un­ter den zehn- bis zwölf­jäh­ri­gen Jun­gen hat­ten ein Heim. –

Wie nest­lo­se Vö­gel, wie die Spat­zen, kro­chen sie in ir­gend­ei­nen ver­steck­ten Win­kel, der sie et­was ge­gen Käl­te und Re­gen schütz­te. – Dort schlie­fen sie – ein Pa­ket al­ter Zei­tun­gen un­ter dem Kopf – mit ei­ner al­ten De­cke, wie sie von den großen Aus­wan­der­er­damp­fern im Ha­fen ver­schenkt wur­den, zu­ge­deckt oder, wer eine sol­che nicht be­saß, wi­ckel­te sich in die großen Zei­tungs­blät­ter. – Wie­der an­de­re, die nicht so spar­sam wa­ren, be­zahl­ten in ei­nem der ver­ru­fe­nen 10-Cent-Ho­tels ein schmut­zi­ges, har­tes La­ger. –

Hart und un­er­bitt­lich ist der Weg der meis­ten un­ter den Zei­tungs­boys und doch – mit Stolz be­trach­tet der Ame­ri­ka­ner die wet­ter­har­ten, ziel­be­wuss­ten, flin­ken Bur­schen und nennt sie: die Finanz­gar­de. –

Denn aus die­sen Rei­hen, aus die­ser har­ten Schu­le kom­men die lei­ten­den großen Män­ner Ame­ri­kas – die Fürs­ten des Gol­des. – Die stren­ge Le­bens­schu­le stähl­te die Boys zu fel­der­prob­ten Sol­da­ten. –

Es war ein klei­nes, ärm­li­ches Heim von Stu­be und Kü­che in ei­nem Hin­ter­hau­se der 32. Stra­ße auf der Ost­sei­te in New York, wel­ches der blond­lo­cki­ge zwölf­jäh­ri­ge Zei­tungs­jun­ge auf­such­te.

In schar­fem Trab mach­te er den Weg nach Hau­se. – Ge­wandt wie eine Ei­dech­se, schlän­gel­te er sich durch den Wa­gen­ver­kehr, mit lus­ti­gem Hopp­la vor Pfer­den und Au­tos oft­mals so scharf vor­bei­sprin­gend, dass man an ein Wun­der glau­ben konn­te, wenn er mit hei­ler Haut auf dem Bür­ger­steig an­kam.

Aber er war an das sinn­ver­wir­ren­de Trei­ben und Ja­gen der Wa­gen auf dem Broad­way ge­wöhnt. –

Mit si­che­rem Blick prüf­te er die ihm zur Ver­fü­gung ste­hen­de Öff­nung zwi­schen Stra­ßen­bahn­wa­gen und Fuhr­werk – moch­ten Kut­scher und Wa­gen­füh­rer über sei­ne tur­ne­ri­sche Kühn­heit schel­ten – er war be­reits da­von und hör­te nichts.

Als er vor dem schmuck­lo­sen, nüch­ter­nen Miets­haus an­kam, in dem sei­ne Mut­ter wohn­te, ließ er einen gel­len­den Pfiff er­tö­nen – einen Kunst­pfiff auf zwei Fin­gern, den er er­lernt. – Das war je­des Mal sein Freu­den­si­gnal für die war­ten­de Mut­ter.

In le­bens­fro­her, kna­ben­kräf­ti­ger Lau­ne hops­te er, fi­del pfei­fend, durch den Flur, sprang mit zwei Sät­zen über den Hof und jag­te – zwei Stu­fen mit ein­mal neh­mend – die Trep­pen hin­auf.

Im vier­ten Stock zog er die über dem Tür­schild an­ge­brach­te Klin­gel; nur we­ni­ge Se­kun­den brauch­te er zu war­ten, als sich die Tür öff­ne­te und eine schlan­ke, blond­haa­ri­ge Frau mit dunklen Au­gen ihn um­arm­te und in die Woh­nung zog.

»Bist du end­lich da, John«, sag­te sie mit müt­ter­li­cher Zärt­lich­keit und strei­chel­te ihm das kal­te Ge­sicht. »Ich war schon recht in Sor­ge um dich, es ist heu­te bit­ter­lich kalt!«

»Das stimmt, Mut­ter«, ant­wor­te­te John Work­mann. »Da­für ha­ben wir Win­ter und ich habe mich schon or­dent­lich ge­freut, bei dir zu Hau­se zu sein. Hier ist es fein warm.«

»Bist ein tap­fe­rer Jun­ge. Komm, ich habe be­reits Tee, Rührei und Speck, dei­ne Lieb­lings­ge­rich­te, auf dem Tisch ste­hen und hof­fe, dass du einen gu­ten Ap­pe­tit mit­bringst.«

»Ei ja, Müt­ter­chen, ich brin­ge einen Wolfs­hun­ger mit. Wenn es so recht kalt ist, kann man für zwei es­sen. Und da –«

Er griff in die Ta­schen und hol­te meh­re­re Hän­de voll Cent- und Ni­ckel­stücke her­aus. – »Ich habe heu­te ein so gu­tes Ge­schäft ge­macht, wie seit lan­gem nicht! Weißt du, Müt­ter­chen, bei der Käl­te da ge­ben die Men­schen ger­ne ein Trink­geld. Vie­le las­sen sich auf ein Fünf-Cent­stück nichts her­aus­ge­ben. Ich glau­be, ich habe heu­te so viel zu­sam­men, dass ich dir ein schö­nes neu­es Win­ter­jackett kau­fen kann.«

»Nein, nein«, wehr­te sei­ne Mut­ter, »dir tut ein Win­ter­über­zie­her viel nö­ti­ger. Mein al­tes Jackett, das mir noch Va­ter kauf­te, wird die­sen Win­ter noch gut ge­nug sein.«

John Work­mann war zu ei­ner Wasch­schüs­sel ge­gan­gen, wel­che sei­ne Mut­ter für ihn hin­ge­stellt.

Er hät­te nie­mals mit den von Stra­ßen­schmutz ver­un­rei­nig­ten Hän­den sein Es­sen an­ge­rührt.

Als er sich ge­säu­bert, trat er zu dem mit­ten in der Kü­che ste­hen­den sau­ber ge­deck­ten Tisch und sag­te mit un­mu­ti­gem Ton:

»Im­mer verdirbst du mir mei­ne Freu­de. Für mich suchst du stets et­was Gu­tes, aber für dich darf ich das nicht. Da habe ich mich schon seit vier­zehn Ta­gen dar­auf ge­freut, dir ein war­mes Jackett, so wie es die Da­men jetzt tra­gen, kau­fen zu kön­nen, und nun willst du nicht?! Wes­halb ar­bei­te ich denn?«

»Aber John!«, be­ru­hig­te ihn die Mut­ter. »Du ar­bei­test, da­mit wir un­se­re Woh­nung ha­ben, und dein Müt­ter­chen ein war­mes Zim­mer und Es­sen und Trin­ken. Ist das nicht etwa ge­nug?«

Das Ge­sicht des klei­nen John glät­te­te sich bei den lie­be­vol­len Wor­ten sei­ner Mut­ter. Er setz­te sich und be­gann zu es­sen.

Mit leuch­ten­den Au­gen blick­te ihn sei­ne Mut­ter an und freu­te sich, wie tap­fer er dem Abend­brot zu­sprach.

Nach­dem er sei­nen Hun­ger ge­stillt und, wie es sei­ne Ge­wohn­heit war, auf­stand, um sei­ner Mut­ter für das Abend­brot zu dan­ken, sag­te sie:

»War­te ein­mal, John, ich habe noch et­was sehr Schö­nes für dich!«

Sie öff­ne­te einen Korb und hol­te ein hal­b­es Dut­zend rot­wan­gi­ger Äp­fel her­aus.

Kaum aber hat­te der klei­ne Blond­lo­cki­ge die Äp­fel er­blickt, als sich sei­ne Au­gen­brau­en von neu­em zu­sam­men­zo­gen und er sag­te:

»Eine Pelz­ja­cke willst du dir nicht kau­fen, aber sol­che un­nö­ti­gen Din­ge wie Äp­fel, die stellst du mir auf den Tisch!«

»Aber, John, ich mei­ne es doch gut mit dir!«

»Das weiß ich! Aber du meinst es nicht so gut mit mir, wenn du mir Äp­fel kaufst.«

Da sah er, dass sich die dunklen Au­gen sei­ner Mut­ter, in wel­chen stets ein ei­ge­ner, trau­ri­ger Glanz lag, mit Trä­nen füll­ten. Im nächs­ten Mo­ment war al­ler Un­mut aus dem Ge­sicht des Klei­nen ver­schwun­den. Has­tig sprang er auf sei­ne Mut­ter zu, um­arm­te sie, küss­te ihr den Mund und die Wan­gen und rief: »Nicht trau­rig sein, Müt­ter­chen! Ich bin ein bö­ser Jun­ge, ich seh’ es ein. Aber sieh’ mal – ich brau­che wirk­lich kei­nen Über­zie­her – ich habe noch nie einen ge­tra­gen. Das Geld wäre di­rekt fort­ge­wor­fen.«

»Aber du musst doch frie­ren!«

»Un­sinn!«, lach­te John Work­mann, »wir Zei­tungs­boys frie­ren nicht! Sieh’ mal, Müt­ter­chen, wir ha­ben nicht eine Se­kun­de Zeit, stil­le zu ste­hen. Das geht im­mer vor­wärts im Ga­lopp! Jetzt auf einen Stra­ßen­bahn­wa­gen hin­auf, dann wie­der hin­un­ter, auf einen nächs­ten, dann durch die Men­schen, und das geht so vor­wärts, bis man sei­ne letz­te Zei­tung ver­kauft hat; ich sage dir, da kann die Käl­te noch­mal so stark sein, uns ist so warm, als wäre es mit­ten im Som­mer.«

»Willst du wirk­lich kei­nen Ap­fel es­sen, John?«

Ener­gisch schüt­tel­te er den Kopf, dann aber kam in sein Ge­sicht ein freu­di­ger Aus­druck. Er nahm einen Ap­fel und sag­te:

»Die Äp­fel sol­len einen gu­ten Zweck ha­ben. Ich bit­te dich, pack sie mir in einen Korb und gib mir eine Fla­sche Spi­ri­tus mit. Ich will noch fort.«

»Wo willst du hin?«, frag­te die Mut­ter be­sorgt.

John Work­mann, wel­cher be­reits nach sei­ner Müt­ze griff, ant­wor­te­te:

»Der klei­ne Char­ly Beckers ist heu­te nicht zum Broad­way ge­kom­men. Ich hör­te von ei­nem Jun­gen, der in sei­ner Nach­bar­schaft wohnt, dass er krank sei. Er klag­te schon ges­tern Abend über Kopf­schmer­zen und hus­te­te stark. Da will ich nun nach­se­hen, was ihm fehlt. – Pack mir auch Tee und Zu­cker ein. Du weißt, er hat kei­ne El­tern. Und ich glau­be, da ist nie­mand, der sich um ihn küm­mert.«

»Schreck­lich«, flüs­ter­te die Mut­ter. »Was für arme Jun­gens un­ter dei­nen Ka­me­ra­den sind!«

»Pack nur alle sechs Äp­fel ein«, sag­te jetzt John Work­mann, wel­cher be­merk­te, dass die Mut­ter drei bei­sei­te­le­gen woll­te. »Ich weiß, der klei­ne Char­ly isst Äp­fel sehr gern.«

Die Mut­ter er­rö­te­te, als sie die feh­len­den Äp­fel in den Korb hin­ein­leg­te. Dann küss­te sie ih­ren Jun­gen auf die Stirn und sag­te: »Blei­be nicht zu lan­ge, John, du weißt, ich sor­ge mich um dich!«

»Sei un­be­sorgt, Mut­ter«, rief John Work­mann, »wir Zei­tungs­boys sind wie die Trop­fen im Was­ser, wir schwim­men.«

Da­mit nahm er den Korb, gab sei­ner Mut­ter einen Kuss und ver­ließ ei­ligst die Woh­nung.

»Puh!«, rief er, als er jetzt auf die kal­te Stra­ße trat. »Jetzt spürt man erst die Käl­te! – Hal­lo, da­ge­gen ist Lauf­schritt gut!«

Lus­tig pfei­fend setz­te er sich in Be­we­gung und durch­quer­te im Lauf­schritt die im­mer dunk­ler wer­den­den Stra­ßen, die nach dem Ha­fen von New York führ­ten.

Es war eins der ärm­lichs­ten und schmut­zigs­ten Vier­tel von New York, in das er sich be­gab. Pfer­de­stäl­le und Au­to­mo­bil­schup­pen, Wa­gen­spei­cher, La­ger­plät­ze und ver­ein­zel­te hohe Häu­ser, al­les nur not­dürf­tig er­leuch­tet.

Vor ei­nem Stall­ge­bäu­de, aus des­sen of­fe­nem Tor feuch­te, war­me Luft und das Schnau­ben und Schar­ren von Pfer­den auf die Stra­ße dran­gen, blieb John Work­mann ste­hen.

Vor­sich­tig tas­te­te er sich auf ei­nem dunklen Sei­ten­gang ne­ben dem Stall­ge­bäu­de zum Hofe und klet­ter­te dann eine an der äu­ße­ren Wand be­fes­tig­te schma­le Holz­stie­ge em­por.

Oben am Ende der Trep­pe stieß er eine Art Lat­ten­tür auf und, in­dem er sich bück­te, trat er in einen nied­ri­gen, kam­mer­ar­ti­gen Ver­schlag – die Woh­nung des klei­nen Char­ly Beckers.

Kein Licht er­hell­te den Raum, und da auf dem Hofe kei­ne La­ter­ne brann­te, so blieb John Work­mann in der Öff­nung des Ver­schla­ges ste­hen und rief:

»Hal­lo, Char­ly, bist du hier?«

Aus dem Dunklen ant­wor­te­te die dün­ne, hei­se­re, vom Hus­ten un­ter­bro­che­ne Stim­me ei­nes Kna­ben:

»Ja, John, ich lie­ge hier.«

»Hast du kein Licht?«

»Ja – gleich ne­ben der Tür steht eine La­ter­ne. Ich war zu schwach, mich auf­zu­rich­ten und sie an­zu­zün­den.«

John Work­mann kram­te aus sei­ner Ta­sche eine Schach­tel mit Streich­höl­zern, zün­de­te ein Hölz­chen an und steck­te die ne­ben der Tür ste­hen­de Stall­la­ter­ne an, wel­che statt Glas mit Öl­pa­pier be­klebt war.

Jetzt konn­te er den Raum not­dürf­tig über­se­hen.

Im hin­te­ren Win­kel gleich un­ter dem Dach lag auf ei­nem Hau­fen von Pa­pier, Stroh und Lum­pen der klei­ne sechs­jäh­ri­ge Char­ly Beckers. Eine alte Pfer­de­de­cke und aus­ran­gier­te Fut­ter­sä­cke deck­ten ihn bis an den Hals zu.

Mit fie­ber­glän­zen­den Au­gen schau­te der klei­ne Knirps auf sei­nen Ka­me­ra­den, wel­cher ne­ben dem La­ger nie­der­knie­te und ihm die Hand auf die glü­hen­de Stirn leg­te.

»Sag’ mal, Jun­ge, wie fühlst du dich?«, frag­te John Work­mann.

»Ich weiß nicht«, er­wi­der­te mit mat­ter Stim­me der klei­ne Char­ly Beckers, »ich habe so furcht­ba­ren Durst und nichts zu trin­ken. Es ist nur gut, dass du ge­kom­men bist. – Ich glaub­te schon, ich müss­te ster­ben.«

»Rede doch nicht sol­chen Un­sinn, Char­ly. Wir Zei­tungs­boys ha­ben doch ein Le­ben wie die Kat­zen, sag­te neu­lich der Ma­schi­nen­meis­ter un­se­rer Zei­tung. Du wirst schon wie­der durch­kom­men! – Hast du denn Schmer­zen?«

»Ja, hier –« Der klei­ne Char­ly Beckers zeig­te auf sei­ne Brust.

»Ich habe dir Äp­fel mit­ge­bracht, willst du einen es­sen?«

Ein mü­des Lä­cheln husch­te über das schma­le Ge­sicht Char­ly Beckers: »Ich mag nicht, ich habe gar kei­nen Ap­pe­tit! Aber bit­te, gib mir et­was zu trin­ken.«

John Work­mann nick­te und be­gann für den kran­ken, klei­nen Ka­me­ra­den auf ei­nem Spi­ri­tus­ko­cher Was­ser heiß­zu­ma­chen, da­mit er Tee be­rei­ten konn­te.

»Weißt du, John«, be­gann der Klei­ne nach ei­ni­gen Mi­nu­ten Still­schwei­gens, »ich möch­te ja ganz ger­ne noch le­ben, denn ich habe mir doch vor­ge­nom­men, als Mil­lio­när zu ster­ben. Weißt du, wie der Har­ri­man,3 dem alle Ei­sen­bah­nen ge­hö­ren.«

»Ja, ja«, stimm­te John Work­mann bei, »Mil­lio­när muss eine fei­ne Sa­che sein. Da liegt man, wenn man krank ist, in ei­nem sei­de­nen Bett, hat Ärz­te um sich und kann rei­sen und wohnt in der Fifth Ave­nue. Aber – du – ich glau­be, wenn ein Mil­lio­när krank ist, dann nut­zen ihm die Mil­lio­nen auch nichts. – Sieh’ mal, der Rocke­fel­ler darf bloß Milch­sup­pe es­sen und der Har­ri­man konn­te über­haupt nichts mehr es­sen. – Da hilft für al­les Geld kein Dok­tor mehr.«

»Du hast recht, aber er hät­te sich eben frü­her hei­len las­sen sol­len und nicht war­ten, bis es zu spät ist. – Weißt du, der Ei­sen­bahn­kö­nig Har­ri­man war auch Zei­tungs­boy. Ich habe sein Bild an die Wand ge­na­gelt. – Wenn ich ster­ben soll­te, dann sollst du das Bild ha­ben. Es ist fast neu. Ich habe es für fünf Cent ge­kauft.«

»Rede doch nicht in ei­nem fort vom Ster­ben, Char­ly, du bist doch noch jung und kein al­ter Mann wie der Har­ri­man.«

»Es ster­ben auch Jun­gens«, mein­te Char­ly Beckers. »Und ich weiß nicht, seit­dem ich hier lie­ge, habe ich eine mäch­ti­ge Angst vor dem Ster­ben. – Hör’ mal zu, wenn ich tief atme, dann pfeift es hier drin ge­ra­de so, wie drau­ßen der Wind vom Fluss. Da muss was ka­putt sein! – Und furcht­ba­re Schmer­zen habe ich auch. Ich kann mich gar nicht be­we­gen.« –

John Work­mann blick­te mit erns­ten Au­gen auf den Klei­nen, dann horch­te er auf die pfei­fen­de Brust und sag­te:

»Du bist wirk­lich krank, Char­ly. – Soll ich dich in ein Kran­ken­haus brin­gen las­sen?«

Mit angst­voll auf­ge­ris­se­nen Au­gen blick­te Char­ly Beckers ihn an.

»Nein – nein, John. – Bit­te, tu das nicht. – Lass mich zu Hau­se. – Hier ist es viel schö­ner als in ei­nem Kran­ken­haus. – Da darf ich mei­ne Sa­chen doch nicht mit­neh­men.«

»Das darfst du al­ler­dings nicht. Aber sag’ mal, hast du gar kei­ne Ver­wand­ten in der Stadt?«

Der Klei­ne schüt­tel­te den Kopf.

»Nie­mand, John. – Seit mei­ne Mut­ter tot ist – vor ei­nem Jah­re – habe ich nie­mand mehr. – Da­mals woll­ten sie mich durch die Po­li­zei ins Wai­sen­haus brin­gen las­sen und – du weißt ja – ich rück­te aus und fand die­se Woh­nung.«

»Hast du denn kei­nen Va­ter?«

»Nein, John – mei­ne Mut­ter sprach nie von mei­nem Va­ter.« – »Nie­mals?«

»Nein – nie­mals, John.«

Und John Work­mann saß er­schro­cken da, starr­te in das fla­ckern­de Stall­licht und wuss­te nicht, was er sa­gen soll­te. – Ein Frös­teln über­lief ihn, als ob ein ihm un­be­kann­tes schwar­zes Ge­s­penst, das ihm Furcht ein­flö­ße, durch den Raum schlich. – Er ver­such­te, sich das Nicht­vor­han­den­sein ei­nes Va­ters zu er­klä­ren. – Sei­ne Mut­ter er­zähl­te ihm stun­den­lang aus dem Le­ben sei­nes Va­ters. – Nach lan­gen Se­kun­den frag­te er:

»Du hast kein Bild von dei­nem Va­ter?«

»Keins.«

»Ist er schon ge­stor­ben?«

»Ich weiß nicht.«

»Du hast nie et­was von ihm ge­hört?«

»Nie­mals, John.«

Da pack­te John Work­mann die fie­ber­hei­ße Hand sei­nes tod­kran­ken, klei­nen Ka­me­ra­den und sag­te:

»Du – Char­ly – das ist sehr trau­rig.«

Char­ly Beckers wuss­te nicht, wie John Work­mann das mein­te. Wäh­rend­des­sen war der hei­ße Tee ab­ge­kühlt und er reich­te Char­ly Beckers den Blech­topf, in wel­chem er den Tee auf­ge­brüht hat­te. Eine Tas­se war nicht vor­han­den.

Dann stütz­te er ihn im Rücken und mit has­ti­gen Zü­gen trank der Fie­bern­de den Tee.

»Ach, das tat gut«, sag­te der Klei­ne und leg­te sich woh­lig auf sein ärm­li­ches La­ger zu­rück. »Jetzt möch­te ich schla­fen.«

»Fühlst du dich et­was bes­ser?«, frag­te John Work­mann.

Aber ver­ge­bens war­te­te er auf eine Ant­wort. Der Klei­ne hat­te die Au­gen ge­schlos­sen und lag er­mat­tet im Schlaf. –

Noch meh­re­re Se­kun­den lausch­te John Work­mann auf den has­tig ar­bei­ten­den Atem sei­nes Ka­me­ra­den, dann lösch­te er die qual­men­de La­ter­ne, öff­ne­te lei­se die Lat­ten­tür, an de­ren in­ne­re Sei­te als not­dürf­ti­ger Schutz ge­gen den Wind von Char­ly Beckers al­tes Sack­lei­nen ge­na­gelt war, und glitt die Lei­ter zum Hof hin­un­ter. – Im Lauf­tem­po kam er zu Hau­se an. Auf sein schril­les Klin­geln öff­ne­te die Mut­ter ängst­lich die Tür.

Aber ohne sie son­der­lich zu be­ach­ten, stürm­te John Work­mann zu sei­ner Kom­mo­de, riss den obe­ren Kas­ten auf und nahm ein Lein­wand­beu­tel­chen, das alle sei­ne Er­spar­nis­se ent­hielt, her­aus.

Die Mut­ter hat­te kaum noch Zeit, zu ru­fen:

»Was gibt es, John, wo willst du noch hin?«

Da war er schon wie­der aus der Woh­nung ver­schwun­den.

Meh­re­re Stra­ßen durch­eil­te er, bis er das fand, was er such­te, ein Mes­sing­schild, auf dem zu le­sen stand:

DR. HARPER ARZT FÜR INNERE UND ÄUSSERE KRANKHEITEN.

»Was willst du?«, frag­te ein Ne­ger­boy, mit ge­ring­schät­zi­gem Blick John Work­manns ein­fa­che Klei­dung mus­ternd.

»Ich will den Dok­tor spre­chen!«

»Jetzt sind kei­ne Sprech­stun­den!«, er­wi­der­te der Ne­ger.

»Ach was!«, rief John Work­mann, »da­nach fra­ge ich dich nicht. Mel­de dei­nem Herrn, dass ich ihn spre­chen will.«

Der Ne­ger­boy, wel­cher einen Kopf grö­ßer war als John Work­mann, är­ger­te sich über den her­ri­schen Ton und woll­te, ohne et­was zu er­wi­dern, die Türe zu­schla­gen.

Aber John Work­mann sah das vor­aus und stell­te sei­nen Fuß zwi­schen die Tür, so dass der Ne­ger­boy sie nicht schlie­ßen konn­te.

Als er ihn jetzt mit Ge­walt aus der Tür drän­gen woll­te, flamm­te es in den dunklen Au­gen John Work­manns auf, sei­ne klei­ne har­te Faust ball­te sich zu­sam­men, und be­vor der Ne­ger­boy sich ver­tei­di­gen konn­te, gab ihm John Work­mann einen re­gu­lä­ren Bo­xer­hieb vor den Ma­gen.

Da öff­ne­te sich auf der rech­ten Sei­te des Flu­res eine Tür. Dr. Har­per, den der Lärm an­ge­lockt, er­schi­en.

»Was gibt es hier?«, frag­te er mit miss­mu­ti­gem Ge­sicht. Frei­mü­tig trat John Work­mann zu ihm und sag­te:

»Ich habe Ihrem schwar­zen Boy An­stand bei­ge­bracht, er scheint sich nicht für Ihr Ge­schäft zu eig­nen, Dok­tor.«

Dr. Har­per wuss­te nicht, was er er­wi­dern soll­te. End­lich frag­te er: »Ja, was willst du denn ei­gent­lich von mir!?«

John Work­mann blick­te ihn starr an, dann rief er:

»Sie schei­nen wohl nicht zu wis­sen, dass Sie ein Ge­schäft als Dok­tor ha­ben.« –

Be­vor sich der Arzt von sei­nem Er­stau­nen er­holt, war John Work­mann wie ein Wie­sel aus dem Hau­se ver­schwun­den und lief die Stra­ßen hin­un­ter, um einen an­de­ren Dok­tor zu fin­den.

»Ist das ein Narr«, sprach er zu sich selbst. »Fragt die Men­schen, was sie bei ihm wol­len. Er scheint wirk­lich nicht zu wis­sen, dass er Dok­tor ist. Ich möch­te nicht von dem be­han­delt wer­den!«

Jetzt blieb er vor ei­nem Schild ste­hen, auf dem ein Arzt na­mens »Wal­ter« ver­zeich­net war.

Als er ihm ge­gen­über­stand und ihn bat, mit ihm zu kom­men, sag­te der Dok­tor kurz:

»Der Gang kos­tet fünf Dol­lar. Hast du das Geld bei dir?«

John Work­mann maß den Arzt mit ei­nem stol­zen Blick und er­wi­der­te:

»Das ist selbst­ver­ständ­lich.«

Er knüpf­te den Lein­wand­beu­tel auf und be­gann dem Dok­tor in klei­ner Mün­ze den Be­trag von fünf Dol­lar auf den Tisch zu zäh­len. Es war eine statt­li­che Rei­he von Cent­stücken, bis die fünf Dol­lar auf dem Ti­sche auf­ge­zählt la­gen, und über die Hälf­te vom In­halt des Lein­wand­beu­tel­chens war ver­schwun­den.

Be­hut­sam, als fürch­te­te er sich schmut­zig zu ma­chen, zähl­te der Arzt die Mün­zen durch.

John Work­mann är­ger­te sich dar­über und sag­te:

»Ich bin Zei­tungs­boy, Dok­tor, und das Geld ist ehr­lich er­wor­ben! Sie brau­chen sich nicht zu ge­nie­ren, es zu neh­men!«

Ohne wei­te­re Wor­te zu ver­lie­ren, folg­te ihm der Dok­tor zu der Woh­nung des klei­nen Char­ly Beckers.

Es kos­te­te John Work­mann alle Über­re­dungs­küns­te, um ihn zu be­we­gen, die steil em­por­ge­hen­de ein­fa­che Lei­ter zu be­stei­gen.

Flu­chend und brum­mend voll­führ­te end­lich der Dok­tor das tur­ne­ri­sche Kunst­stück und muss­te tief ge­bückt, da er sich sonst den Kopf ge­sto­ßen hät­te, zu dem La­ger des klei­nen Char­ly Beckers hin­krie­chen.

Char­ly Beckers fan­ta­sier­te, als ihn der Arzt un­ter­such­te.

»Ist das dein Bru­der?«, frag­te er, nach­dem die Un­ter­su­chung be­en­det war.

»Nein, Dok­tor. Es ist mein Ka­me­rad. Es ist der jüngs­te un­ter uns Broad­way­boys.«

»Soso –«, er­wi­der­te der Dok­tor. »Dann kann ich dir ja die Wahr­heit sa­gen. Mit dem Boy wird nichts mehr an­zu­fan­gen sein. Er ist schwind­süch­tig und hat eine Lun­gen­ent­zün­dung da­zu­be­kom­men. Es hät­te nicht ein­mal Zweck, ihn noch in ein Kran­ken­haus brin­gen zu las­sen. Wer weiß, ob er noch bis mor­gen Abend lebt.«

»Ar­mer Char­ly«, flüs­ter­te John Work­mann und Trä­nen füll­ten sei­ne Au­gen. »Nun ist es nichts mit dem Mil­lio­närs­wer­den.«

»Nein«, sag­te der Dok­tor und muss­te lä­cheln, »da­mit ist es für den vor­bei.«

Dann ver­schrieb er ei­ni­ge Trop­fen, um die Schmer­zen des Kran­ken zu lin­dern, und be­gab sich wie­der nach Hau­se.

Ver­ge­bens war­te­te voll Un­ru­he und Sor­ge die Mut­ter in die­ser Nacht auf John, dass er nach Hau­se käme.

Erst am frü­hen Mor­gen, um die Zeit, als sie ihm wie sonst vor sei­nem Weg­gang den Kaf­fee mach­te, kam er an, setz­te sich mit ver­stör­tem, blas­sen Ge­sicht an den Tisch und sag­te:

»Ich war bis jetzt bei Char­ly Beckers. Der Dok­tor sag­te, bis zum Abend stirbt er. Ich wer­de heu­te Mit­tag nicht nach Hau­se kom­men, son­dern zu ihm ge­hen.«

»Hol’ dir nur kei­ne an­ste­cken­de Krank­heit!«, sag­te die Mut­ter.

»Ich weiß«, nick­te Work­mann. »Eine an­ste­cken­de Krank­heit kann ich auch sonst über­all be­kom­men; sor­ge dich nicht um mich.«

Da­mit ging er durch die dunklen Stra­ßen zu sei­nem Ar­beits­platz – zum Broad­way.

Der New York He­rald war eine auf­la­gen­star­ke Zei­tung mit Sitz in New York City, die zwi­schen dem 6. Mai 1835 und 1924 exis­tier­te. Nach Tod des Her­aus­ge­bers ging der New York He­rald 1922 im Kon­kur­renz­blatt New York Tri­bu­ne auf.  <<<

ein­spän­ni­ge Kut­schen  <<<

Ed­ward Hen­ry Har­ri­man; 1848-1909; ame­ri­ka­ni­scher Ei­sen­bahn­un­ter­neh­mer, der auf Grund von Bör­sen­spe­ku­la­tio­nen welt­weit (so­gar in den USA) als Raub­tier­ka­pi­ta­list und Aus­beu­ter ver­schri­en war  <<<

2. Kapitel

An dem dun­kel­grau­en Win­ter­mor­gen ver­sam­mel­ten sich die Zei­tungs­boys vor dem Ge­bäu­de des Zei­tungs­rie­sen und, wie alle Mor­gen, stan­den die meis­ten von ih­nen bei dem Kü­chen­wa­gen des Zei­tungs­rie­sen, wel­cher je­dem Ar­men New Yorks, der es wünsch­te, des Mor­gens an die­ser Stel­le eine Blechtas­se mit heißem Kaf­fee und ein Stück Brot um­sonst ver­ab­reich­te.

Ent­setz­li­che Rei­hen des Elends ka­men frost­be­bend aus dem Dun­kel zu dem Wa­gen.

Fa­den­dünn um­schlos­sen schmie­ri­ge Lum­pen die Ent­gleis­ten, oft­mals durch große Lö­cher die käl­te­geröte­te Haut zei­gend.

Mit gie­ri­gen Au­gen späh­ten sie auf den Mo­ment, wo sie den er­sehn­ten hei­ßen Trank, das er­sehn­te Stück Brot er­hiel­ten. –

In ihre mü­den, aus­ge­hun­ger­ten Ge­sich­ter trat ein Schim­mer von neu­er Le­bens­hoff­nung, so sie mit zit­tern­den Hän­den den Blech­napf voll hei­ßen Kaf­fee zum Mun­de führ­ten und in das Brot hin­ein­bis­sen. –

Kein Laut wur­de un­ter ih­nen hör­bar.

Schweig­sam tauch­ten sie, wie Schat­ten ei­ner Welt des Grau­ens, aus dem halb­dunklen, ne­bel­brü­ten­den Broad­way, schweig­sam ver­schwan­den sie in dem­sel­ben Ne­bel­grau. –

Und doch – falls sie spre­chen woll­ten – sie konn­ten das Grau­en ver­kün­den.

Als John Work­mann zu dem Platz sei­ner Ka­me­ra­den kam, be­ant­wor­te­te er ih­ren lau­ten Gu­ten­mor­gen­gruß mit ei­nem stil­len Ni­cken des Kop­fes. Dann wink­te er ih­nen mit der Hand zum Zei­chen, dass sie ihm fol­gen soll­ten.

Die Boys wa­ren ge­wohnt, John Work­mann zu fol­gen.

Er war un­ter ih­nen un­zwei­fel­haft der In­tel­li­gen­tes­te, und manch ei­ner der Boys hat­te sich von ihm schon Rat und Aus­kunft ge­holt.

Er war un­ter den Boys das, was die Ame­ri­ka­ner mit dem Na­men »Boss« be­zeich­nen, d. h. auf Deutsch ein »Füh­rer«.

Die Zei­tungs­boys folg­ten ihm un­ter die Hal­le, wel­che von dem strah­len­den Licht aus dem Ma­schi­nen­raum er­leuch­tet war. In­dem sich John Work­mann ge­gen eine der mäch­ti­gen Spie­gel­schei­ben lehn­te, sag­te er mit lau­ter Stim­me, da­mit die Boys je­des Wort trotz der pol­tern­den und stamp­fen­den Ma­schi­ne hö­ren konn­ten:

»Wenn ei­ner von euch Char­ly Beckers noch ein­mal se­hen will, dann kann er heu­te Mit­tag nach der Schu­le mit mir kom­men. Char­ly Beckers wird heu­te ster­ben.«

Es war, als ob plötz­lich die Win­ter­käl­te sich auf die­se Schar le­bens­fri­scher und le­bens­mu­ti­ger Jun­gens mit ih­rem ei­si­gen Hauch ge­legt hät­te.

Das fro­he blit­zen­de Lä­cheln aus den fri­schen Ge­sich­tern war ver­schwun­den. Die Au­gen blick­ten ernst, und kei­ner von ih­nen ver­moch­te John Work­mann et­was zu ant­wor­ten.

Sie wuss­ten ja alle, dass Char­ly Beckers krank ge­wor­den, aber dass er so jung ster­ben soll­te, war für sie et­was Un­fass­ba­res.

»Kommt ihr mit?«, frag­te John Work­mann.

Da nick­ten alle Jun­gens mit dem Kopf, als Zei­chen, dass kei­ner von ih­nen zu­rück­blei­ben wür­de. –

An die­sem Mor­gen moch­ten sich die New Yor­ker dar­über wun­dern, dass kei­ner der Zei­tungs­boys mit dem ge­wöhn­li­chen gel­len­den In­dia­ner­ge­heul die Zei­tun­gen aus­rief, son­dern dass die Jun­gens mit merk­wür­di­gem Ernst ihr Ge­schäft aus­üb­ten.

John Work­mann hat­te nur die Mor­ge­n­aus­ga­be be­sorgt, dann war er, so schnell ihn sei­ne Füße tru­gen, zum klei­nen Beckers ge­eilt.

Als er in des­sen Schlaf­raum kroch, lag der Klei­ne mit Fie­ber­wan­gen und weit ge­öff­ne­ten Au­gen auf sei­nem La­ger. Er war so schwach, dass er kaum den Kopf em­por­he­ben konn­te, um zu se­hen, wer zu ihm her­ein­kam.

»Ich bin’s, Char­ly«, sag­te John Work­mann und hock­te sich ganz dicht an das La­ger des Kran­ken. – »Er­kennst du mich?«

»Ja«, hauch­te Char­ly Beckers, »ich habe schon ge­war­tet auf dich. Kurz be­vor du kamst, träum­te ich von ei­nem gol­de­nen En­gel, der durch die Tür her­ein­kam und mich mit sich neh­men woll­te. – Und dann be­kam ich wie­der furcht­ba­re Angst und wach­te auf. – – Gut, dass du da bist.«

John Work­mann nahm die ne­ben dem Bett ste­hen­de Me­diz­in­fla­sche und flö­ßte Char­ly Beckers ei­ni­ge Trop­fen zwi­schen die Lip­pen.

»Hast du noch Schmer­zen?«

»Nein«, flüs­ter­te Char­ly Beckers, »mir tut gar nichts weh. Ich glau­be, ich wer­de jetzt wie­der ge­sund.«

John Work­mann ver­such­te, zu lä­cheln.

»Na­tür­lich wirst du wie­der ge­sund, und jetzt pro­bier’ mal, ob du einen von den Äp­feln es­sen kannst, die ich dir mit­ge­bracht habe.«

Er gab Char­ly Beckers in jede Hand einen Ap­fel, was der aber nicht be­ach­te­te.

»Ich habe mir schon Sor­ge ge­macht«, flüs­ter­te er, »was aus mei­nen Sa­chen wer­den soll­te. Weißt du, hier un­ter mei­nem Kopf­kis­sen habe ich sie­ben Dol­lar lie­gen, die ich mir er­spart habe. – Und dann in der klei­nen Kis­te dort in der Ecke habe ich al­ler­lei Din­ge, die ich ge­sam­melt. – Da ist eine Ta­baks­pfei­fe, die ich am Broad­way fand. – Auch ein No­tiz­buch und ein Ta­schen­mes­ser und sons­ti­ge Klei­nig­kei­ten. Ich will das spä­ter al­les ein­mal, wenn ich reich wer­de, ge­brau­chen. Sieh mal, John, dann ist es doch ganz gut, wenn man ein Ta­schen­mes­ser und ein No­tiz­buch schon be­sitzt. Da braucht man es sich nicht erst zu kau­fen. Und rei­che Leu­te ha­ben sol­che Sa­chen! – Ich den­ke mir, wenn man das hat, kann man auch Mil­lio­när wer­den. Nicht wahr?«

»Ganz ge­wiss, Char­ly. – Du wirst ein Mil­lio­när.«

»Weißt du, John«, flüs­ter­te Char­ly wei­ter, »am meis­ten hät­te ich mich ge­fürch­tet, wenn man mich wie die ar­men Leu­te in ein Mas­sen­grab ge­wor­fen hät­te. Ich habe es mir im­mer am schöns­ten vor­ge­stellt, wie der rei­che Har­ri­man in ei­nem ei­ge­nen Gra­be zu lie­gen, und ein großer Stern muss auf dem Hü­gel ste­hen, dass alle Leu­te sa­gen: Hier liegt Char­ly Beckers, der Mil­lio­när.«

John Work­mann strei­chel­te ihm die Stirn und sag­te:

»Das wirst du al­les ha­ben, mein lie­ber Char­ly! Sprich nur nicht so viel, der Dok­tor hat es ver­bo­ten.«

»War denn ein Dok­tor hier?«

»Ja, Char­ly!«

»Ein wirk­li­cher Dok­tor?«

»Ein wirk­li­cher Dok­tor!«

»Aber wer hat ihn be­zahlt?«

»Ich habe ihn be­zahlt.«

»Wie viel hat das ge­kos­tet?«

»Fünf Dol­lar, Char­ly.«

»Hm –« nach­denk­lich sah der klei­ne Knirps auf die De­cke aus Sack­tü­chern. Dann hob er den Kopf ein we­nig, blick­te John Work­mann dank­bar an und sag­te:

»Du bist ein gu­ter Jun­ge, John, ich schul­de dir dem­nach fünf Dol­lar. Scha­de, den Dok­tor hät­test du spa­ren kön­nen, da ich nun wie­der ge­sund wer­de!«

Dann leg­te er sich mit dem Kopf zur Wand und schloss vor Er­schöp­fung die Au­gen.

John Work­mann aber saß still ne­ben dem La­ger sei­nes Ka­me­ra­den, lausch­te auf die un­re­gel­mä­ßi­gen Atem­zü­ge und be­kam Herz­klop­fen, wenn der Atem ein­mal län­ge­re Zeit aus­blieb.

So kam der Mit­tag her­an und die Zeit, wo die an­de­ren Boys vom Broad­way noch ein­mal Char­ly Beckers se­hen woll­ten.

Wohl an die hun­dert Jun­gens wa­ren es, die sich auf dem Hofe hin­ter dem Stall ver­sam­mel­ten und laut­los ei­ner nach dem an­dern zu dem en­gen Ver­schlag em­por­klet­ter­ten.

Und der klei­ne Ster­ben­de wach­te auf und freu­te sich, dass alle sei­ne Freun­de ge­kom­men wa­ren, ihn zu be­su­chen.

Je­der der Boys schüt­tel­te ihm die Hand und hat­te ein Trost­wort für ihn. –

Und Char­ly Beckers fühl­te sich, als sei er der Prä­si­dent, mit lä­cheln­dem Mun­de flüs­ter­te er:

»Sorgt euch nicht. – Mor­gen bin ich wie­der ge­sund –«

Im­mer mat­ter wur­de sein Lä­cheln, ein mü­der Schat­ten leg­te sich vor sei­ne Au­gen, er er­kann­te nichts mehr und mit ei­nem letz­ten Auf­fla­ckern sei­ner Le­bens­kraft flüs­ter­te er ster­bend:

»Mor­gen – ge­sund.«

Dann ver­sank das graue Licht des Win­ter­ta­ges in ewi­ge Nacht vor sei­nen Au­gen.

Char­ly Beckers war schon lan­ge tot, als sei­ne Ka­me­ra­den im­mer noch nicht wuss­ten, dass er nicht mehr un­ter ih­nen weil­te.

Erst als John Work­mann merk­te, dass die Hand des klei­nen Char­ly, wel­che er hielt, käl­ter und käl­ter wur­de, und die Au­gen sich nicht mehr öff­ne­ten, beug­te er sich über ihn und rief:

»Char­ly, willst du et­was trin­ken?«, und nach­dem er es mehr­mals ge­ru­fen, ohne Ant­wort zu be­kom­men, be­mäch­tig­te sich John Work­manns eine un­er­klär­li­che Furcht.

Mit zit­tern­den Hän­den nahm er die Me­diz­in­fla­sche und ver­such­te in Char­ly Beckers fest­ge­schlos­se­nen Mund ei­ni­ge Trop­fen zu gie­ßen. – Um­sonst.

Char­ly Beckers klei­ner Mund, der so fröh­lich plau­dern konn­te, war für im­mer ver­schlos­sen.

»Er ist sehr kalt«, flüs­ter­te John Work­mann sei­nen Ka­me­ra­den zu, »ich wer­de ihn in den Arm neh­men und ihn wär­men.«

»Es wird nichts nut­zen«, sag­te Har­ry Tom­son, »als mei­ne klei­ne Schwes­ter starb – wir schlie­fen im­mer in dem­sel­ben Bett – war sie auch ganz kalt. – Ich glau­be, Char­ly Beckers ist nun im Him­mel.«

Da wur­de es ganz still un­ter den Boys wie in ei­ner Kir­che. – Als ei­ner von ih­nen mit dem Fuß das Strohl­a­ger Char­ly Beckers be­rühr­te, dass es ra­schel­te, fuh­ren sie er­schreckt zu­sam­men und schli­chen zu ih­ren auf dem Hof wei­len­den Ka­me­ra­den.

Dort stan­den sie eng zu­sam­men­ge­drängt, als brü­te ein schwe­res Un­heil über ih­ren Köp­fen.

»Boys!«, sag­te John Work­mann mit trä­nen­feuch­ten Au­gen, »der klei­ne Char­ly ist tot. Sein letz­ter Wunsch war, so be­gra­ben zu wer­den, wie un­se­re Mil­lio­näre. Ich den­ke, wenn wir alle mal drei Tage lang hun­gern und un­se­ren Ver­dienst zu­sam­men­schmei­ßen, dann wird es da­für aus­rei­chen, dass wir dem klei­nen Char­ly auf ei­nem Kirch­hof in Long Is­land einen fes­ten Platz kau­fen und ihn in ei­nem schö­nen Sarg zu Gra­be tra­gen. Seid ihr alle da­mit ein­ver­stan­den?«

In die erns­ten Mie­nen der Boys brach­ten die Wor­te John Work­manns wie­der Son­nen­schein. Jetzt hat­ten sie eine Pf­licht an dem klei­nen Char­ly Beckers, ih­rem Ka­me­ra­den, zu er­fül­len!

Fast zu­frie­den ver­lie­ßen sie den Hof und be­ga­ben sich wie­der zu ih­rem Ar­beits­platz, zum Broad­way.

John Work­mann aber ging in den Raum des To­ten zu­rück. Nach­dem er noch­mals ei­ni­ge ban­ge Mi­nu­ten ver­geb­lich auf ein Le­bens­zei­chen von ihm ge­lauscht, be­gann er die Hab­se­lig­kei­ten – das Erbe des klei­nen Char­ly Beckers – zu­sam­men­zu­pa­cken.

Mit fast from­mer Scheu fass­te er die wert­lo­sen und doch für Char­ly Beckers einst­mals so kost­ba­ren Din­ge an.

Wie hat­te der klei­ne Knirps an den Sa­chen ge­han­gen!

John Work­mann er­in­ner­te sich, mit welch stol­zen Au­gen ihm Char­ly Beckers die Ta­baks­pfei­fe und das Ta­schen­mes­ser ge­zeigt. – Vor al­lem aber das No­tiz­buch! – Das soll­te Char­ly Beckers Weg­wei­ser zum Reich­tum wer­den.

Mit Trä­nen in den Au­gen schlug John Work­mann das klei­ne Buch auf.

Da stand auf der ers­ten Sei­te mit un­ge­len­ken Kna­ben­buch­sta­ben: »Char­ly Beckers« und dar­un­ter mit ro­ter Tin­te: »Mil­lio­när« – auch sei­ne Woh­nung war ge­nau an­ge­ge­ben.

Die­ser ärm­li­che Stall­ver­schlag un­ter dem Da­che war in Char­ly Beckers Fan­ta­sie sein Mil­lio­när­spa­last.

Dann stand auf den nächs­ten Sei­ten ge­nau an­ge­ge­ben, was Char­ly Beckers ver­aus­gabt und wie viel er ver­dient.

Mit ro­ter Tin­te hat­te er auf je­der Sei­te sei­ne Er­spar­nis­se un­ten aus­ge­schrie­ben. – Sie­ben Dol­lar wa­ren es auf der letz­ten Sei­te – und nun?

John Work­mann schau­te auf den stil­len Schlä­fer – in sei­ner Keh­le würg­te es – am liebs­ten hät­te er laut auf­ge­brüllt, dass der klei­ne tap­fe­re Kerl nun tot war.

Dann er­in­ner­te er sich, dass nie­mand bis jetzt bei dem To­ten ein Ge­bet ge­spro­chen. – Es zwang ihn förm­lich, das zu tun; und so knie­te er bei Char­ly Beckers nie­der und be­te­te mit hal­b­er­stick­ter Stim­me:

»Lie­ber Gott – der klei­ne Char­ly war ein gu­ter Jun­ge. – Du weißt das bes­ser als ich, und auch, dass er kei­nen Va­ter be­ses­sen. – Nun ist er bei dir, lie­ber Gott. – Amen!«

Dann nahm er die Hän­de des Klei­nen und, als ob er noch hö­ren kön­ne, sag­te er:

»Char­ly, du brauchst dich nicht zu sor­gen, du sollst ein schö­nes Grab ha­ben.«

Lei­se ver­ließ er jetzt den Raum, schloss ihn fest ab, und als er auf der Stra­ße war, wich die Trau­rig­keit von ihm und sein Ge­hirn be­gann, sich prak­tisch für Char­ly Beckers zu be­schäf­ti­gen.

Be­reits am Abend hat­te er das nö­tigs­te Geld zur Hand, und als zwei Tage ver­gan­gen wa­ren, fehl­ten ei­nes Nach­mit­tags auf dem Broad­way die ge­sam­ten Zei­tungs­boys, um Char­ly Beckers die letz­te Ehre zu er­wei­sen.

Ein pracht­vol­ler Lei­chen­wa­gen, wie ihn die dunkle Ost­sei­te von New York, in wel­cher das größ­te Elend und die bit­ters­te Ar­mut herrsch­ten, nie ge­se­hen, führ­te den Sarg des klei­nen Char­ly Beckers durch die Stra­ßen zum Broad­way.

Ein Mu­sik­korps, wel­ches einen fei­er­li­chen Trau­er­marsch spiel­te, schritt dem Sarg vor­an. Dicht hin­ter ihm ging John Work­mann, dem in lan­gem Zuge die Zei­tungs­boys vom Broad­way folg­ten.

Starr hin­gen die Au­gen von John Work­mann an den mäch­ti­gen wei­ßen Schlei­fen ei­nes Lor­beer­kran­zes, die wie ein Ban­ner von dem Sarg fast bis zum Bo­den hin­a­b­reich­ten und auf dem in großen Gold­let­tern ge­druckt stand:

»Ihrem to­ten Ka­me­ra­den Char­ly Beckers Sei­ne Ka­me­ra­den vom Broad­way!«

Und die New Yor­ker stau­ten sich zu bei­den Sei­ten der Stra­ßen, wel­che der Zug pas­sier­te und blick­ten mit scheu­er Be­wun­de­rung auf die ärm­lich ge­klei­de­ten Zei­tungs­boys, wel­che ih­rem Ka­me­ra­den ein so glän­zen­des Be­gräb­nis zu­teil­wer­den lie­ßen.

Als der Zug vor dem Ge­bäu­de der Zei­tung lang­sam vor­über­kam, mach­te der Zei­tungs­rie­se in sei­nen kost­ba­ren Ar­beits­mi­nu­ten eine Pau­se.

Die Ar­bei­ter ver­lie­ßen die Ma­schi­nen, die un­er­müd­li­chen rie­si­gen Wer­ke stan­den still.

Drei­mal neig­te sich die Flag­ge am Fah­nen­mast des Zei­tungs­rie­sen vor dem Sarg sei­nes Zei­tungs­boys, als wäre er ein Fürst.

Vom Broad­way bis zu dem Fähr­boot, das den Sarg des klei­nen Char­ly Beckers nach Long Is­land hin­über­set­zen muss­te, stan­den die Men­schen­mas­sen dicht ge­drängt, und zum ers­ten Male flüs­ter­ten sie sich den Na­men ei­nes spä­te­ren Ge­wal­ti­gen un­ter ih­nen von Mund zu Mund:

»John Work­mann.«

Wie ein Lauf­feu­er ging es durch die Men­schen­mas­sen, dass John Work­mann es war, der das Be­gräb­nis zu­stan­de ge­bracht hat­te. Tau­sen­de von Au­gen sa­hen neu­gie­rig auf das blas­se Ge­sicht des blond­lo­cki­gen zwölf­jäh­ri­gen Kna­ben, der hin­ter dem Sarg schritt.

Und die wirk­lich Se­hen­den konn­ten auf dem Ant­litz John Work­manns den Adel sei­ner In­tel­li­genz wie ein pro­phe­ti­sches Leuch­ten für eine große Zu­kunft lie­gen se­hen.

Als der be­glei­ten­de Pre­di­ger das Ge­bet über der Gru­be ge­spro­chen, trat John Work­mann an das Grab und warf als letz­te Lie­bes­tat drei Hän­de voll Erde auf Char­ly Beckers letz­te Ru­he­stät­te.

Dann sag­te er:

»Boys! – Wenn Char­ly Beckers bei uns ste­hen wür­de, dann könn­tet ihr se­hen, wie sehr er sich über das schö­ne Be­gräb­nis freu­te, das wir ihm ge­ge­ben ha­ben. – Für Char­ly Beckers dan­ke ich euch und wün­sche, dass ihr ein­mal ein eben­so schö­nes Grab be­kommt wie un­ser Char­ly Beckers.«

Als John Work­mann am Abend still und schweig­sam sei­ne Woh­nung auf­such­te, emp­fing ihn sei­ne Mut­ter zum ers­ten Male mit ei­ner scheu­en Ehr­furcht, als sei es nicht ihr Jun­ge, son­dern ein Frem­der.

Eine Stun­de, be­vor er ge­kom­men, hat­ten ihr Nach­ba­rin­nen die Abend­zei­tun­gen ge­bracht, und an ers­ter Stel­le konn­te sie den Na­men ih­res Jun­gen le­sen mit großen Buch­sta­ben, wie sie die Zei­tun­gen nur bei Kö­ni­gen, Fürs­ten oder großen Er­eig­nis­sen ge­brauch­ten. Und dar­un­ter die Be­schrei­bung vom Be­gräb­nis des klei­nen Char­ly Beckers nebst Bil­dern.

Wie eine Hel­den­tat prie­sen die Zei­tun­gen John Work­manns Tat.

Die Au­gen voll Trä­nen um­arm­te ihn sei­ne Mut­ter und rief im­mer wie­der:

»John, mein lie­ber gu­ter John!«

John Work­mann aber wehr­te sei­ne Mut­ter sanft ab und sag­te:

»Weißt du, Mut­ter, seit drei Ta­gen habe ich kaum ge­ges­sen noch ge­schla­fen. Schaf­fe mir jetzt Abend­brot und dann will ich mich zu Bett le­gen.«

Als John Work­mann im Bett lag, at­me­te er er­leich­tert auf.

Er dach­te an den klei­nen Char­ly Beckers, der nun doch nach sei­nem Tode wie ein Mil­lio­när in ei­nem vor­neh­men Gra­be in Long Is­land lag. – Nicht un­ter den Sand­dü­nen drau­ßen am Ozean, wo man die Grab­stät­te statt ei­nes Na­mens nur mit ei­nem Holz­pfahl be­zeich­net, auf dem eine Num­mer ge­schrie­ben – Char­ly Beckers konn­te zu­frie­den sein!

Auf sein Grab kam ein Stein, auf dem ein je­der le­sen konn­te, dass hier Char­ly Beckers letz­te Ru­he­stät­te war.

Als John Work­mann am nächs­ten Tage er­wach­te, be­gab er sich, wie stets zur ge­wohn­ten Zeit, zu sei­nem Ar­beits­platz.

Als er an den Schal­ter trat, um sei­ne Zei­tun­gen in Empfang zu neh­men, schob ihm der alte Be­am­te einen Brief zu und sag­te:

»Lies den, John. Ich glau­be, man kann dir gra­tu­lie­ren!«

Er­staunt nahm John Work­mann den Brief, wel­cher sei­nen Na­men trug und in ei­nem Ku­vert steck­te, wie es der Zei­tungs­rie­se ge­brauch­te.

Aber erst, nach­dem er sei­ne Mor­ge­n­aus­ga­be in den Hoch- und Un­ter­grund­bah­nen ver­kauft, nahm er sich die Zeit, den Brief zu öff­nen. Mit er­staun­ten Au­gen las er:

Dear Sir!

Im Auf­tra­ge des Mis­ter Ben­nett1 habe ich Ih­nen mit­zu­tei­len, dass Sie heu­te zwi­schen 2 und 3 Uhr sich in sei­nem Büro ein­fin­den möch­ten.

Hochach­tungs­voll Ge­or­ge Ty­ler, Se­kre­tär.

Zwei­mal las John Work­mann den Brief. Dann wur­de er glü­hend rot.

Scheu steck­te er das Schrei­ben in sei­ne Brust­ta­sche und be­nutz­te zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben die Stra­ßen­bahn, um schnel­ler nach Hau­se zu kom­men. Er woll­te sei­nen An­zug wech­seln.

Zum ers­ten Male auch ge­sch­ah es, dass er als »Herr« an­ge­re­det wur­de.

Und der­je­ni­ge, der ihn als Herr an­re­de­te, war ei­ner der Mäch­tigs­ten der Welt, ei­ner der ers­ten Mil­lio­näre: der Be­sit­zer der un­ge­heu­ren Ma­schi­nen, der Ar­beit­ge­ber von Tau­sen­den von Men­schen, ein Kö­nig in sei­nem Rei­che.

Ja­mes Gor­don Ben­nett ju­ni­or, 1841-1918; ame­ri­ka­ni­scher Zei­tungs­ver­le­ger, Sohn und Erbe des gleich­na­mi­gen Grün­ders und Her­aus­ge­bers des New York He­rald, Ja­mes Gor­don Ben­nett Sr. über­nahm 1866 die Verant­wor­tung für den Ver­lag.  <<<

3. Kapitel

Als John Work­mann die brei­te Mar­mor­trep­pe im Ge­bäu­de des Zei­tungs­rie­sen zu dem im ers­ten Stock­werk be­find­li­chen Empfangs­raum em­por­stieg, er­schi­en es ihm gar nicht so au­ßer­ge­wöhn­lich, trotz­dem er noch nie in sei­nem Le­ben über mit ro­ten Samt­läu­fern be­leg­ten Mar­mor­stu­fen ge­schrit­ten war.

Auch der dun­kel ge­tä­fel­te Empfangs­saal mit den mäch­ti­gen, mit grü­nem Tu­che be­spann­ten Ti­schen, auf de­nen Zei­tun­gen und Bü­cher aus al­ler Her­ren Län­der zur An­sicht la­gen, im­po­nier­te ihm nicht.

Als sei es et­was Selbst­ver­ständ­li­ches, nahm er in ei­nem der be­que­men, rot­le­der­nen Ses­sel Platz und war­te­te der Din­ge, die nun kom­men muss­ten.

Es dau­er­te nicht lan­ge, so nä­her­te sich ihm ein vor­nehm ga­lo­nier­ter1 Die­ner, wel­cher die Be­su­cher nach ih­ren Wün­schen zu fra­gen hat­te.

Von dem Empfangs­raum gin­gen wohl ein Dut­zend Tü­ren nach den ver­schie­de­nen Rich­tun­gen des Zei­tung­s­pa­las­tes und brach­ten die Be­su­cher zu den ver­schie­de­nen Re­dak­tio­nen.

Da war ein ewi­ges Kom­men und Ge­hen.

Hun­der­te von Men­schen ka­men tag­täg­lich in den Saal, um mit ih­ren An­lie­gen die Re­dak­tio­nen des Zei­tungs­rie­sen auf­zu­su­chen.

Es gab viel­leicht kei­ne Na­ti­on in der Welt, die nicht täg­lich hier ver­tre­ten war: Be­tur­ban­te In­der, Tür­ken mit dem Fez, Per­ser mit Lamm­fell­müt­zen, Chi­ne­sen mit blaus­ei­de­nen Kafta­nen und eben­holz­schwar­ze Ne­ger; Kau­ka­si­er, Fran­zo­sen, Ita­lie­ner, Deut­sche und Eng­län­der. – Ja, selbst die Es­ki­mos der letz­ten Nord­pol­ex­pe­di­ti­on hat­ten den Raum schon be­tre­ten.

Alle Spra­chen der Welt durch­schwirr­ten den mäch­ti­gen Saal. Kein zwei­ter Platz der Welt konn­te eine der­ar­tig in­ter­essan­te Ge­sell­schaft auf­wei­sen wie der Empfangs­raum des Zei­tungs­rie­sen.

Aber nicht nur Aus­län­der wa­ren hier zu tref­fen, son­dern auch vie­le Mit­bür­ger John Work­manns, um sich Rat und Aus­kunft oder auch Hil­fe zu ho­len.

Und für alle wuss­te der gi­gan­ti­sche Ap­pa­rat des Zei­tungs­rie­sen Rat zu schaf­fen!

Da ka­men arme Leu­te, wel­che kei­ne Feue­rung be­sa­ßen, und er­hiel­ten von ihm für den gan­zen Win­ter das Brenn­ma­te­ri­al. Da wa­ren im hei­ßen Som­mer Leu­te, wel­che bei der tro­pi­schen Glut, die in New York herrsch­te, kein Eis hat­ten, und sie er­hiel­ten wel­ches.

Da wa­ren an­de­re, wel­che um ein Frei­bett in ei­nem Kran­ken­haus ba­ten, um einen Rechts­an­walt in schwie­ri­gen Fäl­len, um ein ba­res Dar­le­hen, um Schutz ge­gen Fein­de, um einen Ar­beits­platz.

Und wie Hārūn ar-Raschīd, der mäch­ti­ge Herr­scher aus dem Mär­chen von ›Tau­send­und­ei­ne Nacht‹, er­schi­en al­len den Hil­fe­su­chen­den der ih­nen selbst nicht zu Ge­sich­te kom­men­de Zei­tungs­rie­se, und die we­nigs­ten wuss­ten sich selbst ein Bild von ihm zu ma­chen.

Fast wie der lie­be Gott, so un­sicht­bar und so mäch­tig war er für Tau­sen­de von Men­schen.

Es ge­hör­te auch zu den größ­ten Sel­ten­hei­ten, dass ihn ir­gend­ein Mensch zu Ge­sicht be­kam. Selbst sei­ne Un­ter­ge­be­nen sa­hen ihn jah­re­lang nicht.

Nur sein Ver­trau­ter, sei­ne rech­te Hand, sein Se­kre­tär, Ge­or­ge Ty­ler, war der Mit­tels­mann, des­sen er sich be­dien­te, um sei­ne kur­z­en und bün­di­gen Be­feh­le zu er­tei­len.

Als der Saal­die­ner zu John Work­mann trat, um ihn zu fra­gen, zu wem er wün­sche, ant­wor­te­te John Work­mann:

»Zu Mis­ter Ben­nett.«

Der Saal­die­ner, wel­cher die­se Ant­wort wohl hun­dert­mal am Tage hör­te, ant­wor­te­te je­des Mal das­sel­be:

»Mis­ter Ben­nett ist nicht zu spre­chen. – Falls Sie mir sa­gen, was Sie wün­schen, wer­de ich Sie zu sei­nem Ver­tre­ter sen­den.«

»Er­lau­ben Sie mal«, er­wi­der­te John Work­mann und zog sei­nen Brief aus der Ta­sche, »ich glau­be nicht, dass Mis­ter Ben­nett zu den Leu­ten ge­hört, wel­che sich einen Spaß mit ei­nem an­de­ren er­lau­ben. Über­zeu­gen Sie sich, Mis­ter Ben­nett hat mich um die­se Zeit her­be­stellt.«

Der Saal­die­ner nahm den Brief und wäh­rend er ihn las, ver­än­der­te sich sein freund­lich her­ab­las­sen­der Ge­sichts­aus­druck zu ei­ner re­spekt­vol­len und stren­gen Mie­ne:

»Ent­schul­di­gen Sie, Sir«, sag­te er mit ei­ner höf­li­chen Ver­beu­gung, wel­che sonst nicht zu sei­nen Ge­wohn­hei­ten ge­hör­te. »Das än­dert al­ler­dings die Sach­la­ge! Sie wer­den ver­ste­hen kön­nen, dass ich Ih­nen erst die Ant­wort er­tei­len muss­te. Bei den vie­len Be­su­chen, die hier ein­lau­fen, wür­de Mr. Ben­nett kei­ne Zeit zu ir­gend­wel­chem Ge­schäft mehr be­sit­zen, wenn er sie alle selbst emp­fan­gen woll­te. Bit­te, ha­ben Sie die Güte, mir zu fol­gen.«

Er schritt zu ei­ner klei­nen Eben­holz­tür und drück­te auf einen Klin­gel­knopf. Kaum eine Se­kun­de ver­ging, so öff­ne­te sich die Tür, ein Ne­ger­boy trat aus ei­nem Lift her­aus, lüf­te­te sein Käp­pi vor John Work­mann und der Saal­die­ner be­deu­te­te ihm, den Lift zu be­tre­ten.

Er schloss hin­ter ihm die Tür, der Ne­ger­boy trat an das Han­drad, setz­te den Lift in Be­we­gung und lang­sam und ge­räusch­los stieg er in die Höhe.

Fast end­los deuch­te John Work­mann die Zeit, wel­che der Lift zum Em­por­stei­gen ge­brauch­te. End­lich hielt er.

Der Ne­ger­boy öff­ne­te die Tür des Lifts, zog wie­der­um sein Käp­pi re­spekt­voll vor John Work­mann und ließ ihn in ein dun­kel ge­tä­fel­tes Zim­mer ein­tre­ten, in wel­chem an ei­ner Schreib­ma­schi­ne eine jun­ge Dame saß.

Höf­lich frag­te die­se John Work­mann nach sei­nem Be­gehr und er­such­te ihn dann, vor­läu­fig Platz zu neh­men, da Mis­ter Ben­nett sich noch in ei­ner Kon­fe­renz be­fän­de.

John Work­mann nahm in nächs­ter Nähe des brei­ten mäch­ti­gen Fens­ters Platz und blick­te mit kind­li­chem Ent­zücken auf die un­ge­heu­er wei­te Fern­sicht über die mäch­ti­ge Stadt.

Es war das höchs­te Ge­schoss, der 36. Stock des Zei­tung­s­pa­las­tes,2 in wel­chem sich fern von al­lem Ge­tö­se der Groß­stadt der Pri­vat­raum des Zei­tungs­rie­sen be­fand. Nur ganz dumpf, wie ein weit ent­fern­ter Don­ner, tön­te der Lärm aus der Tie­fe em­por.

Weit über die Häu­ser fort zum Ha­fen, wo die Frei­heits­sta­tue gol­den auf­blink­te, über die grü­ne In­sel von Sta­ten Is­land fort reich­te der Blick zu dem blau­grün schim­mern­den Ozean.

Ganz deut­lich konn­te John Work­mann so­eben in der Ha­fen­ein­fahrt einen der Rie­sen­pas­sa­gier­damp­fer aus Deutsch­land er­ken­nen, trotz­dem er nicht grö­ßer wirk­te als eine Nuss­scha­le.

Auch die un­ge­heu­ren Brücken über den East Ri­ver er­schie­nen aus die­ser Höhe fast wie das Werk von Spinn­fä­den.

Als klei­ne dunkle Punk­te kro­chen über die­se Brücken die Stra­ßen­bah­nen, wäh­rend die Men­schen fast so lä­cher­lich win­zig wirk­ten, dass man sie mit bloßem Auge kaum wahr­neh­men konn­te.

Wäh­rend John Work­mann das ir­di­sche Wun­der aus der Höhe mit in­ne­rer Freu­de ge­noss, wur­de er plötz­lich durch zwei laut und scharf klin­gen­de Män­ner­stim­men auf­ge­schreckt.

Die mit dickem ro­ten Fries3 be­schla­ge­ne Tür, wel­che zu dem Al­ler­hei­ligs­ten des Zei­tungs­rie­sen führ­te, war wohl durch ir­gend­ei­nen Zu­fall nicht fest ver­schlos­sen, so dass durch einen schma­len Spalt je­des Wort deut­lich in das Vor­zim­mer drang.

Klar ver­nahm John Work­mann die pro­non­ciert, wie Me­tall klin­gen­de Stim­me ei­nes Man­nes:

»Ich ver­mag Ih­nen, Ge­ne­ral, nicht zu ver­spre­chen, dass ich nicht die Ini­tia­ti­ve ei­ner Ag­gres­si­on er­grei­fe, falls Ja­pan sich noch ein­mal einen Über­griff durch die Kri­tik un­se­rer Ein­wan­de­rungs­ge­set­ze er­laubt.«

Da­rauf ließ sich nach ei­ner Pau­se die ab­ge­hack­te eng­li­sche Re­de­wei­se, wie sie die Ja­pa­ner ge­brau­chen, ver­neh­men und er­wi­der­te:

»Be­den­ken Sie, Mis­ter Ben­nett, dass Sie uns dann mit Ame­ri­ka zum Krie­ge brin­gen.«

Und wie­der klang es wie har­tes, dröh­nen­des Me­tall:

»Herr Ge­ne­ral Joka Sumo: Ame­ri­ka fürch­tet kei­nen Krieg mit Ja­pan. Sie wer­den es mir zu­ge­ste­hen müs­sen, dass ich ge­nau be­ur­tei­len kann, was mei­nem Va­ter­lan­de not­tut.«

Und wie­der eine Pau­se, nach wel­cher der Ja­pa­ner sag­te:

»Wol­len Sie uns nicht ein we­nig ent­ge­gen­kom­men, da­mit mei­nen ja­pa­ni­schen Lands­leu­ten die Ein­wan­de­rung et­was er­leich­tert wird?«

»Nein!«, klang es kurz zu­rück. »Ich sehe für mein Va­ter­land, für Ame­ri­ka, kei­nen Nut­zen dar­in, dass uns Ihre Lands­leu­te un­ser Wis­sen und un­se­re Kennt­nis­se und Er­fah­run­gen aus dem Lan­de tra­gen.«

»Das ist Ihr letz­tes Wort?«

»Mein letz­tes Wort!«

We­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter öff­ne­te sich die Tür, und ein Ge­ne­ral der ja­pa­ni­schen Ar­mee trat aus dem Zim­mer. Das gelb­li­che Ge­sicht hoch ge­rötet, die sonst müde bli­cken­den Au­gen blit­zend vor ver­hal­te­nem Zorn.

Fast atem­los vor Span­nung hat­te John Work­mann al­lem zu­ge­hört. Zum ers­ten Mal stand er an der Schwel­le zu ei­nem Raum, in dem über die Ge­schich­te von Völ­kern, von Krieg und Frie­den ent­schie­den wur­de.

Und zu dem, der bei­des in der Hand hat­te, der Tau­sen­de von Men­schen in den Krieg ja­gen, der Hun­der­te von Ka­no­nen zum Brül­len brin­gen, der Verzweif­lung und Ent­set­zen aus­sä­en konn­te, zu die­sem Ge­wal­ti­gen der Welt schritt jetzt John Work­mann mit klop­fen­dem Her­zen hin­ein.

Vom Ge­sicht Mis­ter Ben­netts war noch nicht der Aus­druck ver­schwun­den, wel­chen es bei dem Ge­spräch mit dem ja­pa­ni­schen Ge­ne­ral an­ge­nom­men hat­te.

Hart, wie aus Stein ge­mei­ßelt, sah das gelb­li­che, ha­ge­re, glat­tra­sier­te Ge­sicht aus, und in den Au­gen lag ein stäh­ler­ner Glanz, wel­cher John Work­mann be­fan­gen mach­te.

»Neh­men Sie Platz, Sir«, sag­te Ben­nett und mach­te eine Hand­be­we­gung zu ei­nem ne­ben dem Schreib­tisch ste­hen­den Klub­ses­sel.

Wäh­rend sich John Work­mann setz­te, be­trach­te­te Mis­ter Ben­nett mit schar­fen Bli­cken den Kna­ben, und der Ein­druck, wel­chen John Work­mann auf ihn mach­te, muss­te ein sehr be­frie­di­gen­der sein, denn der har­te Ge­sichts­aus­druck mil­der­te sich und in die grau­en Au­gen des Zei­tungs­rie­sen trat ein war­mes Leuch­ten.

»Sie le­ben bei Ih­rer Mut­ter?«, be­gann Mis­ter Ben­nett und blät­ter­te in ei­nem klei­nen Ak­ten­stück, in dem, ohne dass es John Work­mann wuss­te, alle sei­ne Per­so­na­li­en, ja, man konn­te fast sa­gen, der ge­sam­te Le­bens­lauf bis zum heu­ti­gen Tage auf Er­kun­di­gun­gen von Mis­ter Ben­nett ein­ge­tra­gen wa­ren.

»Ja­wohl«, ant­wor­te­te John Work­mann.

»Ich habe er­fah­ren«, sprach Mis­ter Ben­nett wei­ter, »dass Sie Ihre Mut­ter, die kränk­lich ist und nicht er­werbs­fä­hig, be­reits seit Jah­ren er­näh­ren.«

»Ja­wohl, das tue ich.«

»Ihr Va­ter starb vor vier Jah­ren. Er war ein Deut­scher von Ge­burt. Und, wie ich ge­hört habe, ein nicht be­son­ders prak­ti­scher Mensch. Er mal­te Por­träts, nicht wahr?«

Wie­de­r­um be­jah­te John Work­mann und wun­der­te sich im Stil­len, wo­her der Zei­tungs­rie­se das al­les wuss­te.

Mis­ter Ben­nett las noch eine Wei­le in dem Ak­ten­stück, dann klapp­te er es zu, blick­te John Work­mann fest an und sag­te:

»Ich glau­be, Sie sind aus dem Holz ge­schnitzt, aus dem ein­mal gan­ze und tüch­ti­ge Män­ner wer­den. Ich lie­be es, sol­che Män­ner in mei­nem Be­trieb zu be­schäf­ti­gen. Ha­ben Sie Lust, bei mir als Ar­bei­ter ein­zu­tre­ten, so bin ich gern be­reit, Ih­nen den Platz, an dem Sie zu ste­hen wün­schen, an­zu­wei­sen. Wo­für in­ter­es­sie­ren Sie sich?«

»Für Ma­schi­nen.«

»Recht so«, er­wi­der­te Mis­ter Ben­nett, »die Ma­schi­nen sind die Be­herr­scher der ge­sam­ten Welt. In den Ma­schi­nen liegt das Höchs­te, was wir be­sit­zen kön­nen; das heißt, in prak­ti­scher Be­zie­hung. Sie ha­ben also dem­nach Lust, bei den Ma­schi­nen in mei­nem Be­trie­be als Ar­bei­ter tä­tig zu sein. Ha­ben Sie sich schon ent­schie­den, wel­che von den Ma­schi­nen Ihr be­son­de­res In­ter­es­se er­regt?«

»Oh, ja«, ent­geg­ne­te John Work­mann, und sei­ne Au­gen leuch­te­ten, »ich be­wun­de­re im­mer die großen Ma­schi­nen, wel­che die schö­nen bun­ten Bil­der her­vor­brin­gen.«

»Die Drei­far­ben­druck-Pres­sen, nicht wahr?«

»Ich glau­be, ja«, nick­te John Work­mann, »ich ken­ne sie nicht bei Na­men. Ich könn­te sie Ih­nen nur zei­gen.«

»Schön«, sag­te Ben­nett, wäh­rend er gleich­zei­tig das Te­le­fon, das ihn mit dem Ma­schi­nen­raum ver­band, zur Hand nahm:

»Ich wün­sche den Ma­schi­nen­meis­ter der Far­ben­pres­se«, sag­te Mis­ter Ben­nett und leg­te den Hö­rer auf sei­nen Platz zu­rück.

»Sie wa­ren wohl gut mit dem klei­nen Char­ly Beckers be­freun­det, dass Sie so um ihn be­sorgt wa­ren?«

»Wir wa­ren Ka­me­ra­den«, ent­geg­ne­te John Work­mann, »und da steht ei­ner für den an­de­ren ein. Falls ich krank ge­wor­den wäre, wür­den mei­ne Ka­me­ra­den wohl das­sel­be für mich ge­tan ha­ben.«

»Das wun­dert mich ei­gent­lich von euch Zei­tungs­boys!«

»In­wie­fern?«, frag­te John Work­mann er­staunt, »wir sind ei­ner auf den an­de­ren an­ge­wie­sen. Und au­ßer­dem müs­sen Sie sich doch des­sen er­in­nern, wie es un­ter uns zu­geht.«

»Wie mei­nen Sie das?«

»Nun, wa­ren Sie nicht auch ein­mal Zei­tungs­boy?«

»Nein«, lach­te Mis­ter Ben­nett. »Ich habe einen an­de­ren Weg ge­macht.«

In die­sem Au­gen­blick wur­de die Tür lei­se ge­öff­net und die Se­kre­tä­rin mel­de­te den Ma­schi­nen­meis­ter.

Scheu und mit fast zit­tern­den Kni­en trat der Ma­schi­nen­meis­ter, ein schwe­rer, breit­schult­ri­ger Mann, in das Zim­mer und blieb be­schei­den an der Tür ste­hen.

»Tre­ten Sie nä­her, Mis­ter John­son«, sag­te Mis­ter Ben­nett, »ich möch­te Ih­nen eine per­sön­li­che An­wei­sung ge­ben. – Ich wün­sche die­sen Boy bei Ih­nen an der Far­ben­pres­se be­schäf­tigt.«

»Sehr wohl, Mis­ter Ben­nett.«

»Das ist al­les. Sie kön­nen wie­der ge­hen.«

Als der Ma­schi­nen­meis­ter den Raum ver­las­sen hat­te, er­hob sich Mis­ter Ben­nett von sei­nem Ses­sel als Zei­chen, dass er nun die Un­ter­re­dung mit John Work­mann zu be­en­den wün­sche.

»Tre­ten Sie also mor­gen früh bei dem Ma­schi­nen­meis­ter an und hal­ten Sie sich wei­ter so brav wie bis­her. Ich wer­de Sie sehr im Auge be­hal­ten.«

John Work­mann war gleich­falls auf­ge­stan­den, dreh­te sei­ne Müt­ze ver­le­gen in den Hän­den, und eine jähe Röte schoss plötz­lich über sein Ant­litz.

»Ich muss mir noch eine Fra­ge er­lau­ben, be­vor ich gehe«, sag­te er in be­schei­de­nem, aber fes­tem Ton. »Sie ver­ga­ßen mir zu sa­gen, wel­chen wö­chent­li­chen Ver­dienst ich an der Ma­schi­ne ha­ben wer­de!«

Über das Ge­sicht von Mis­ter Ben­nett husch­te ein leich­tes Lä­cheln.

»Selbst­ver­ständ­lich, da hast du ganz recht!«, er­wi­der­te er, plötz­lich sei­ne An­re­de wech­selnd. »War­te ei­ni­ge Se­kun­den dort.«

Er nahm wie­der das Te­le­fon zur Hand und sprach mit ir­gend­ei­ner Be­triebs­stel­le be­treffs des Loh­nes.

Als er den Hö­rer hin­leg­te, sag­te er:

»Du er­hältst vor­läu­fig zwei Dol­lar die Wo­che und kannst, falls du flei­ßig bist und dei­nen Platz gut aus­füllst, in meh­re­ren Mo­na­ten schon sech­zehn Dol­lar ver­die­nen.«

Da schüt­tel­te John Work­mann sei­nen Kopf.

»Nein, Herr«, er­wi­der­te er, »ich muss Ih­nen für Ihre Freund­lich­keit, mich bei den Ma­schi­nen zu be­schäf­ti­gen, dan­ken. –«

»Was musst du?«, frag­te der Zei­tungs­rie­se er­staunt. »Du willst den Platz, den ich dir an­bie­te, nicht an­neh­men? Du sag­test doch noch eben, dass es di­rekt dein Wunsch sei?«

»Es ist auch mein Wunsch«, ent­geg­ne­te John Work­mann. »Aber ich habe nicht das Recht, mei­nen Wün­schen ge­mäß le­ben zu kön­nen. – Ich habe mei­ne Mut­ter zu er­näh­ren.«

Ei­ni­ge Se­kun­den lang war es ganz still in dem Raum. Man hör­te nur das schwe­re gleich­mä­ßi­ge Tick­tack der Nor­mal­uhr,4 das lei­se Grol­len der im Keller­ge­schoss des rie­si­gen Ge­bäu­des be­find­li­chen Ma­schi­nen.

Der Kopf des Zei­tungs­rie­sen neig­te sich auf die Brust, sei­ne Au­gen blick­ten in tie­fem Sin­nen auf den Tep­pich. Es war, als ob et­was Hei­li­ges plötz­lich den Raum er­füll­te, et­was an­de­res als kal­te Zah­len, Ma­schi­nen und nüch­ter­ner Ver­stand.

End­lich rich­te­te sich der Zei­tungs­rie­se wie­der hoch und blick­te auf John Work­mann, der ihn mit of­fe­nen ge­ra­den Au­gen an­schau­te. Dann sag­te er:

»Darf ich den Ver­dienst wis­sen, den du als Zei­tungs­boy hast?«

»Zwölf bis fünf­zehn Dol­lar die Wo­che.«

»Zwölf bis fünf­zehn Dol­lar?«, wie­der­hol­te Mis­ter Ben­nett, »das ist ja ein Ver­dienst, wie ihn nur ein gu­ter Ar­bei­ter er­zielt. Wie ist das mög­lich?«

Jetzt mach­te John Work­mann ein ver­wun­der­tes Ge­sicht. Er konn­te sich nicht den­ken, dass der Zei­tungs­rie­se nicht wis­sen soll­te, wie das zu­sam­men­hin­ge.

Da Mis­ter Ben­nett aber auf eine Ant­wort zu war­ten schi­en, sag­te er:

»Ich habe eine gute Ware zu ver­kau­fen, wie sie die Leu­te wün­schen. Hät­te ich eine schlech­te Zei­tung, wür­de ich nicht so viel Geld ver­die­nen. – Aber Ihre Zei­tun­gen sind gut, Mis­ter Ben­nett.«

Ein leich­tes Lä­cheln um­spiel­te den Mund Mis­ter Ben­netts, und in­dem er sich setz­te, zün­de­te er sich eine Zi­gar­re an, wie um sei­ne Ge­dan­ken zu sam­meln.

Nach­dem er ei­ni­ge Züge ge­raucht hat­te, sag­te er:

»Ich bin be­reit, eine Aus­nah­me mit dir zu ma­chen. Ich glau­be, du kannst für mich in mei­nem Be­trieb noch ein­mal eine äu­ßerst tüch­ti­ge Stüt­ze wer­den. Und des­halb bin ich be­reit, dir den­sel­ben Ver­dienst jede Wo­che zu zah­len, wie du ihn bis­her als Zei­tungs­boy hat­test.«

Und von neu­em schüt­tel­te John Work­mann sei­nen blond­lo­cki­gen Kopf.

»Es geht nicht, Herr.«

Jetzt zog Mis­ter Ben­nett sei­ne Au­gen­brau­en un­mu­tig zu­sam­men. Er war es nicht ge­wohnt, Wi­der­stand zu fin­den. Ja, es war viel­leicht das ers­te Mal, dass ein Mensch sich nicht sei­nem Wil­len fü­gen woll­te.

Sein Ge­sicht wur­de hart, es schi­en wie aus Bron­ze.

John Work­mann aber, der jede Furcht vor dem mäch­ti­gen Mann ver­lo­ren hat­te, sah ihm frei­mü­tig in die Au­gen und sag­te:

»Es geht eben nicht, Mis­ter Ben­nett. Denn ich habe bei Ih­nen von mor­gens neun Uhr bis abends fünf Uhr zu ar­bei­ten. Da wür­de ich kei­ne Zeit üb­rig be­hal­ten, um die Schu­le zu be­su­chen und hät­te fer­ner­hin kei­ne freie Zeit, um mich zu er­ho­len und mich um mei­ne Mut­ter zu küm­mern.«

»Du bist ein gu­ter Rech­ner«, sag­te jetzt Mis­ter Ben­nett. »Ich glau­be, wenn ich so wie du in mei­nen jun­gen Jah­ren be­reits ge­rech­net hät­te, ich wür­de noch mehr in der Welt zu­stan­de ge­bracht ha­ben. – Was möch­test du denn ein­mal wer­den?«

»Das­sel­be wie Sie, Mis­ter Ben­nett.«

Jetzt ver­schwand der har­te Ge­sichts­aus­druck aus Mis­ter Ben­netts Ge­sicht, als er sag­te: