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Joseph Roth

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Beschreibung

Mit Aufsatz zu Leben und Werk »Ich kann mich nicht im Literarischen kasteien, ohne im Körperlichen auszuschweifen.« - (Joseph Roth in einem Brief an Stefan Zweig, 22. September 1930) Joseph Roth - Literat, Denker, Provokateur, Trinker. Zeichnete er sich im Leben durch eine mentale Grobknochigkeit gegenüber fast alles und jedem aus, hinterließ er uns als Vertreter der »Neuen Sachlichkeit« auf Papier eine lupenreine und geschliffene Literatur. Wegen seines maßlosen und rastlosen Lebens immer am Limit arbeitend, die Vorschüsse seiner Verleger längst schon aufgebraucht, erging er sich Hasstiraden gegen seine »Kollegen« und eilte von Weltanschauung zu Weltanschauung, nur um doch heimatlos - im Geographischen wie im Seelischen - zu bleiben. Letztlich hatte er nur die Literatur als Heimat. Wie auch sein Meiste-Zeit-Freund Stefan Zweig: wieder ein Gescheiterter, wieder ein Getriebener der Weltpolitiken. Hinterlassen hat er uns mächtige und bedeutsame Werke des frühen 20. Jahrhunderts: »Der Radetzkymarsch«, »Hiob«, »Die Flucht ohne Ende« - jedes einzelne Buch hätte schon zu einem erfüllten Dichterleben gereicht. Es gehören gesunde Nerven zu diesem Leben und eine große Portion revolutionärer Überzeugung. Denn man muß voraussetzen, daß die Revolution, von lauter Feinden umgeben, keine anderen Möglichkeiten hat, ihre Macht zu sichern, als die, jedes Individuum zu opfern, wenn es nötig ist. Stelle Dir also vor: Man liegt jahrelang auf einem Altar und wird nicht geschlachtet. [Ausschnitt aus »Die Flucht ohne Ende«] Die wichtigsten Werke (Essays, Romane, Reportagen, Erzählungen und Lyrik) sind vertreten, u.a.: - Die Geschichte von der 1002. Nacht - Hotel Savoy - Hiob - Roman eines einfachen Mannes - Radetzkymarsch - Das Spinnennetz - Die Flucht ohne Ende - Reportagen aus Russland, Wien und Berlin - Die Legende vom heiligen Trinker Null Papier Verlag

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Joseph Roth

Joseph Roth

Gesammelte Werke

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Joseph Roth

Gesammelte Werke

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Jürgen Schulze 2. Auflage, ISBN 978-3-954184-66-8

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Inhaltsverzeichnis

Le­ben und Werk

Essays

Pan­op­ti­kum am Sonn­tag

Ge­dicht von Wand­ka­len­dern

Man mun­kelt bei Schwanne­cke

Trüb­sal ei­ner Stra­ßen­bahn im Ruhr­ge­biet

Der Rauch ver­bin­det Städ­te

Der Po­li­zei­re­por­ter Hein­rich G

Fräu­lein La­ris­sa, der Mo­de­re­por­ter

Der Nacht­re­dak­teur Gu­stav K

Der Kon­greß

Sen­ti­men­ta­le Re­por­ta­ge

An­kunft im Ho­tel

Der Por­tier

Der alte Kell­ner

Der Koch in der Kü­che

Der Pa­tron

»Ma­da­me An­net­te«

Ab­schied vom Ho­tel

Ein­zug in Al­ba­ni­en

Ar­ti­kel über Al­ba­ni­en

Die rus­si­sche Gren­ze

Brie­fe aus Deutsch­land

Brief aus Po­len

Weih­nach­ten in Co­chin­chi­na

Be­mer­kun­gen zum Ton­film

Sei­ne k. und k. apo­sto­li­sche Ma­je­stät

Bei der Be­trach­tung von Schlach­ten­bil­dern

Auf das Ant­litz ei­nes al­ten Dich­ters

Ro­ma­ne

Rechts und Links

Die Ge­schich­te von der 1002. Nacht

Zip­per und sein Va­ter

Der stum­me Pro­phet

Ho­tel Sa­voy

Die Ka­pu­zi­ner­g­ruft

Beich­te ei­nes Mör­ders, er­zählt in ei­ner Nacht

Die Re­bel­li­on

Hiob -- Ro­man ei­nes ein­fa­chen Man­nes

Ra­detz­ky­marsch

Das Spin­nen­netz

Das falsche Ge­wicht -- Die Ge­schich­te ei­nes Eich­meis­ters

Die Flucht ohne Ende -- Ein Be­richt

Ta­ra­bas

Re­por­ta­gen

Über Ruß­land

Aus Wien

Aus Ber­lin

Ly­rik

Der Schal­ter

Rit­ter Meu­chel­mord

Deut­sche Elends­rei­me

Kom­men­tar zu Kant

Prak­ti­sche An­wen­dung

Le­gen­de vom Ka­ser­nen­hof

Gas­gra­na­te

Der Ha­ken­kreuz­ler

Die In­va­li­den grü­ßen den Ge­ne­ral

Un­ge­zie­fer

Die In­ter­na­tio­na­le

Das neue Le­se­buch

Bür­ger­li­che Kul­tur

Er­zäh­lun­gen

April

Ein Ka­pi­tel Re­vo­lu­ti­on

Die Le­gen­de vom hei­li­gen Trin­ker

Sta­ti­ons­chef Fall­me­ray­er

Der stum­me Pro­phet

Der Le­via­than

In­dex

Dan­ke

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Ge­sam­mel­te Wer­ke bei Null Pa­pier

Ed­gar Al­lan Poe - Ge­sam­mel­te Wer­ke

Franz Kaf­ka - Ge­sam­mel­te Wer­ke

Ste­fan Zweig - Ge­sam­mel­te Wer­ke

E. T. A. Hoff­mann - Ge­sam­mel­te Wer­ke

Ge­org Büch­ner - Ge­sam­mel­te Wer­ke

Jo­seph Roth - Ge­sam­mel­te Wer­ke

Mark Twain - Ge­sam­mel­te Wer­ke

Kurt Tuchols­ky - Ge­sam­mel­te Wer­ke

Ru­dyard Kip­ling - Ge­sam­mel­te Wer­ke

Ril­ke - Ge­sam­mel­te Wer­ke

und wei­te­re …

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Leben und Werk

»Ein Ost­ju­de auf der Su­che nach ei­ner Hei­mat -- das mag, wenn man die Vo­ka­bel Hei­mat nur weit ge­nug ver­steht, jene For­mel sein, mit der sich Jo­seph Roths Le­bens­weg noch am ehe­s­ten an­deu­ten lässt.« -- (Mar­cel Reich-Ra­nicki in der Frank­fur­ter all­ge­mei­nen Zei­tung, 6. April 2010)

Der klei­ne Jos­se­le ge­rät am 2. Sep­tem­ber 1894 in einen über­schau­ba­ren Teil der bro­deln­den Welt: Das nahe der rus­si­schen Gren­ze ge­le­ge­ne Sch­tetl Bro­dy ge­hört zu Ös­ter­reich-Un­garn, des­sen Mon­arch im fer­nen Wien re­si­diert. Mut­ter Ma­ria ent­stammt ei­ner Kauf­manns­fa­mi­lie. Va­ter Na­chum be­tä­tigt sich als Ge­trei­de- und Holz­händ­ler. Die Roths ge­nie­ßen bür­ger­li­chen Wohl­stand, ein­ge­bet­tet in die Ge­mein­schaft chas­si­di­scher Ju­den.

Als wol­le aber eine hö­he­re Macht da­für sor­gen, dass der Kna­be auch ja sein Po­ten­zi­al ent­fal­te, bre­chen zwei be­deu­ten­de Au­to­ri­tä­ten früh in sei­nem Le­ben weg: Na­chum be­schließt sein Le­ben bei ei­nem Wun­der­rab­bi, nach­dem er ei­ni­ge Zeit in ei­ner Ner­ven­heil­an­stalt zu­ge­bracht hat­te. Der in­zwi­schen schul­pflich­ti­ge Sohn er­in­nert sich nicht an sei­nen Va­ter.

Be­wusst nimmt er da­ge­gen den Ver­lust des Lan­des­va­ters wahr. Sein­er­zeit stu­diert Roth Phi­lo­so­phie und Ger­ma­nis­tik in Lem­berg und Wien, er ge­fällt sich in der Rol­le des Links-Pa­zi­fis­ten. All­mäh­lich ge­langt er zu der Er­kennt­nis, dass der Un­ter­gang der Habs­bur­ger gleich­be­deu­tend ist mit dem Ver­lust der Hei­mat.

Die toll­wü­ti­ge Kriegs­be­geis­te­rung er­greift den Stu­den­ten kei­nes­wegs. Sei­nen Wi­der­wil­len ge­gen den Ein­tritt in die Ar­mee über­win­det er erst 1916: Die pa­trio­tisch ge­wor­de­nen Frau­en in­ter­es­sier­ten sich vor­nehm­lich für Ver­wun­de­te, wie er ge­gen­über Gu­stav Kie­pen­heu­er re­sü­mie­ren wird.

Wohl­be­hal­ten wie­der in Wien ein­ge­trof­fen, muss Roth sein Stu­di­um nach dem Krieg we­gen Geld­man­gels auf­ge­ben. »Der neue Tag« be­schäf­tigt ihn ab 1919 als Re­dak­teur. Dort trifft er auf Egon Er­win Kisch, der ihm nach­wei­sen wird, dass sei­ne an­geb­li­che rus­si­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft ge­flun­kert ist. Er selbst sieht das frei­lich an­ders: Schon in jun­gen Jah­ren neigt er dazu, sich qua­si neu zu er­fin­den. Die Rea­li­tät ist für ihn un­er­heb­lich. Was zählt, ist die in­ne­re Wahr­heit.

Nach Ein­stel­lung der Zei­tung ar­bei­tet er in Deutsch­land für höchst un­ter­schied­li­che Blät­ter: Im so­zia­lis­ti­schen »Vor­wärts« zeich­net er als »Der rote Jo­seph«, nach­dem er den bür­ger­li­chen »Ber­li­ner Bör­sen-Cou­ri­er« ver­las­sen hat. Zwar be­we­gen ihn so­zia­le und po­li­ti­sche Er­schei­nun­gen, doch wenn ein kon­ser­va­ti­ves Blatt gut zahlt, ist ihm der Ma­gen nä­her als das welt­an­schau­li­che Ge­wis­sen. Noch 1929 wird er kol­le­gia­len Un­mut er­re­gen, als er von ei­nem na­tio­nal-kon­ser­va­ti­ven Ver­lag ein statt­li­ches Ho­no­rar für we­ni­ge Zei­len kas­siert.

Be­reits in den frü­hen 1920er Jah­ren ist Roth ein ge­frag­ter Feuil­le­to­nist: Er schreibt haupt­säch­lich für die Frank­fur­ter Zei­tung (FZ) so­wie für meh­re­re Wie­ner und zwei ost­eu­ro­päi­sche Ta­ges­zei­tun­gen. Als die von ihm er­war­te­te hö­he­re Wert­schät­zung bei der FZ aus­bleibt, be­sänf­tigt ihn nur das An­ge­bot, als Kor­re­spon­dent aus Pa­ris zu be­rich­ten. An­schlie­ßend ver­fasst er bis in die frü­hen 1930er um­fang­rei­che Rei­se­re­por­ta­gen.

Frie­de­ri­ke Reich­ler, die er 1922 ge­hei­ra­tet hat­te, er­trägt die­sen un­s­te­ten Le­bens­wan­del nicht. Ers­te Sym­pto­me ei­ner Geis­tes­krank­heit zeigt sie 1926. Roth lässt nichts un­ver­sucht, um die un­heil­bar Er­krank­te zu ret­ten. Dass ihn das Un­glück sei­ner Frau so­wohl emo­tio­nal als auch fi­nan­zi­ell er­heb­lich be­las­tet, geht aus zahl­rei­chen Brie­fen her­vor. Er trinkt un­mä­ßig und zer­quält sich die See­le; erst 1935 löst er die Ehe. Frie­de­rikes Odys­see durch ös­ter­rei­chi­sche Kli­ni­ken wird 1940 in der Hart­hei­mer Gas­kam­mer en­den.

»Ich kann mich nicht im Li­te­ra­ri­schen kas­tei­en, ohne im Kör­per­li­chen aus­zu­schwei­fen.« -- (Jo­seph Roth in ei­nem Brief an Ste­fan Zweig, 22. Sep­tem­ber 1930)

Seit 1923 in Ber­lin sein ers­ter Ro­man er­schi­en, be­greift sich Roth zu­neh­mend als Ro­man­cier. Die Not, wie er sagt, treibt ihn zu­rück zu den Zei­tun­gen. Die­sel­be Not lässt ihn auch dann nicht los, als ihm 1930 mit »Hiob« end­gül­tig der Durch­bruch ge­lingt: Die Freun­de mah­nen, mit den Vor­schüs­sen des Ver­lags aus­zu­kom­men, in Vor­ge­sprä­chen nicht so­fort er­heb­li­che Sum­men zu for­dern und das Trin­ken zu mä­ßi­gen ... Ste­fan Zweig, selbst Au­tor von Wel­trang, hilft mit Geld und ein­träg­li­chen Freun­des­diens­ten.

Roths Le­ben be­stim­men seit Frie­de­rikes Krank­heit Al­ko­hol, ma­ni­sches Schrei­ben und Exis­tenz­kampf. Die sechs­jäh­ri­ge Be­zie­hung mit An­drea Man­ga Bell sta­bi­li­siert ihn vor­über­ge­hend; erst im fran­zö­si­schen Exil wird das fa­mi­li­äre Mi­tein­an­der bre­chen. Den­noch klagt er in zahl­lo­sen Brie­fen über sei­ne Ar­mut, die we­der nach dem »Hiob« noch nach dem zwei Jah­re spä­ter er­schie­ne­nen »Ra­detz­ky­marsch« en­det. Bei­de Wer­ke sind kom­mer­zi­el­le Er­fol­ge, doch ihr Ver­fas­ser braucht die Vor­schüs­se schnel­ler auf, als die Le­ser sei­ne Bü­cher kau­fen kön­nen. Die stän­di­ge Geld­not zwingt ihn dazu, von ei­nem Pro­jekt zum nächs­ten zu het­zen -- er ist rast­los bis zur völ­li­gen Er­schöp­fung.

Die oh­ne­hin la­bi­le Si­tua­ti­on spitzt sich mit der Machter­grei­fung der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten zu. Roth hat­te früh vor­her­ge­se­hen, dass in die­sem Fall so­wohl das geis­ti­ge Eu­ro­pa als auch die Exis­tenz hu­ma­nis­ti­scher Schrift­stel­ler in Deutsch­land ver­lo­ren wä­ren. Er sieht die De­mo­kra­tie als ge­schei­tert an, über­häuft in Brie­fen die Lin­ke -- ins­be­son­de­re die jü­di­sche Lin­ke -- mit ver­ba­lem Un­flat und ver­ach­tet den »Völ­ki­schen Beo­b­ach­ter« eben­so lei­den­schaft­lich wie Tuchols­kys »Welt­büh­ne«. Meis­ter des Worts, der Roth ei­gent­lich ist, er­geht er sich hem­mungs­los in Fä­kal­spra­che, wenn er ge­gen sei­ne Kol­le­gen wet­tert.

Wäh­rend der vor­an­ge­gan­ge­nen Jah­re hat­te er sich vom So­zia­lis­ten zum Kon­ser­va­ti­ven ge­wan­delt. Nun, da er die de­mo­kra­ti­sche Na­ti­on als un­taug­lich auf­fasst, be­trach­tet Roth die Mon­ar­chie als ein­zi­ge funk­tio­nie­ren­de Staats­form. Die einst ge­wich­ti­gen Äu­ße­run­gen des be­kann­ten Feuil­le­to­nis­ten bü­ßen des­we­gen An­se­hen ein, den­noch wird er bis zum Ende das Wort als Waf­fe nut­zen. In der Emi­gra­ti­on lässt sei­ne Wut zwar nicht nach, doch sie keilt nicht mehr nach al­len Sei­ten: Aus der Schweiz schreibt er 1933 an Ste­fan Zweig, dass ge­gen die deut­sche Öf­fent­lich­keit »selbst mein al­ter Feind Tuchols­ky mein Waf­fen­ka­me­rad« ist.

Nach der Tren­nung von An­drea Man­ga Bell lernt Roth 1936 Irm­gard Keun ken­nen, mit der er bis 1938 Hass und Al­ko­ho­lex­zes­se tei­len wird. Wei­ter­hin schreibt er ge­ra­de­zu ma­nisch, pu­bli­ziert Ar­ti­kel in der Emi­gra­ti­ons­pres­se so­wie Ro­ma­ne und No­vel­len in ei­gens für die deut­schen Exilan­ten ge­grün­de­ten Ver­la­gen. Sei­ne Bü­cher ge­lan­gen nach Eng­land und in die USA, der »Hiob« wird ver­filmt.

Doch Roth hält sein Le­ben für ver­pfuscht, es geht ihm zu oft über die Kraft und der Al­ko­hol for­dert ho­hen Tri­but. Freun­de cha­rak­te­ri­sie­ren ihn in den Jah­ren vor sei­nem Tod als eben­so trau­rig wie has­s­er­füllt. Sei­nem Selbst­bild ent­spricht die Trau­er durch­aus, den Hass leug­net er: Zu­rück­ge­kehrt zum jü­di­schen Glau­ben, mög­li­cher­wei­se auf der Su­che nach dem Hei­mi­schen dar­in, deu­tet er Hass als Sün­de. Uner­bitt­lich­keit frei­lich ist er­laubt ...

Jo­seph Roth ver­steht sich »auf die ös­ter­rei­chi­sche Kunst, [...] noch aus dem Le­bens­über­druss wah­re Meis­ter­wer­ke der Lie­bens­wür­dig­keit zu schaf­fen.« -- (Mar­cel Reich-Ra­nicki in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung, 6. April 2010)

Nach­dem er 1939 be­rühmt und völ­lig ver­armt in Pa­ris ge­stor­ben ist, bleibt von Roth eine Fül­le wi­der­sprüch­lich be­schrie­be­nen Pa­piers: Sei­ne er­zäh­len­de Wer­ke ha­ben nichts von der men­ta­len Grob­kno­chig­keit, die er in Kor­re­spon­denz und Pres­se ger­ne de­mons­triert. Dort wi­der­spricht er sich selbst, will ge­recht sein und häuft im nächs­ten Satz Ti­ra­den über Kol­le­gen, will in den 1920ern sei­nen So­zia­lis­mus nicht ver­leug­nen und macht lin­ke Au­to­ren ver­ächt­lich, nicht ohne de­ren jü­di­sche Ab­stam­mung ins Feld zu füh­ren ...

Letzt­lich kann Roth den Kampf um sei­ne See­le aus­schließ­lich in der Li­te­ra­tur ge­win­nen. In sei­ne fik­tio­na­le Pro­sa ar­bei­tet er eben­so fein­füh­lig wie ge­witzt ein, was ihn be­drückt und wo­von er träumt. Das ins Über­per­sön­li­che ge­rück­te Pri­va­te er­scheint dar­in gleich­sam li­te­ra­risch ver­edelt.

Als Roths wich­tigs­tes Buch gilt heu­te der 1932 er­schie­ne­ne »Ra­detz­ky­marsch«, worin die be­deut­sams­ten Pro­tago­nis­ten den Na­men ih­res Schöp­fers tra­gen. Na­tür­lich ist es mög­lich, den Stoff aus­schließ­lich his­to­risch auf­zu­fas­sen. Aber im Grun­de ist er das nicht -- nicht ge­mäß der Wirk­lich­keit des Ver­fas­sers, der sich nir­gends so ge­nau kennt wie in sei­nen Ro­ma­nen.

Essays

Panoptikum am Sonntag

Für Ben­no Rei­fen­berg

Ei­nes Ta­ges -- es war ein Sonn­tag -- wich die Scheu, mit der ich oft an dem Musée Gre­vin vor­bei­ge­gan­gen war. Es reg­ne­te in Ab­stän­den. Die Wol­ken, die aus Schwe­fel zu sein schie­nen, ström­ten ein gel­bes Licht aus. Am Nach­mit­tag be­ka­men die sonn­täg­lich ge­klei­de­ten Men­schen den Aus­druck ab­ge­kämpf­ter, fei­er­li­cher und ver­geb­lich auf­er­stan­de­ner Schat­ten. Es war, als ob der Sonn­tag, zu dem sie aus­ge­zo­gen wa­ren, aus­ge­fal­len sei. An sei­ner Stel­le be­fand sich eine Art ver­reg­ne­ter und trüber Lücke, die den ver­flos­se­nen Sams­tag vom künf­ti­gen Mon­tag trenn­te und in der die ver­lo­re­nen Spa­zier­gän­ger um­her­schwank­ten, geis­ter­haft und kör­per­lich zu­gleich und alle wie aus Wachs. Mit ih­nen ver­gli­chen wa­ren die wäch­ser­nen Pup­pen im Musée Gre­vin auf­rich­ti­ge­re Imi­ta­tio­nen. Das gel­be Licht der Lam­pen in den fens­ter­lo­sen Räu­men, die nie­mals den Tag ge­kannt hat­ten, ver­misch­te sich so in­nig mit dem Däm­mer, der aus den Win­keln kam, daß bei­de aus dem glei­chen Stoff zu sein schie­nen und Hell und Dun­kel Ge­schwis­ter. Die Ge­stal­ten der Ge­schich­te und die be­schei­nig­te Authen­ti­zi­tät ih­rer Ge­sich­ter, Bra­ten­rö­cke, Ko­stü­me, Zy­lin­der; die Schat­ten, die sie wie zum Be­weis ih­rer Le­ben­dig­keit auf den Fuß­bo­den war­fen; die wäch­ser­ne Starr­heit ih­rer Stel­lun­gen; und schließ­lich die un­heim­li­che Stumm­heit, die le­ben­de Zeit­ge­nos­sen und längst Ver­stor­be­ne gleich­mä­ßig aus­ström­ten: das al­les kam mir wie eine an­ge­neh­me­re Fort­set­zung und Be­stä­ti­gung je­nes gel­ben Sonn­tags vor, den ich eben ver­las­sen hat­te. Man­che Per­sön­lich­kei­ten hiel­ten den einen Fuß vor­ge­streckt, die Hose warf un­ter dem Knie eben­so le­bens­wahr un­be­ab­sich­tig­te Fal­ten wie über dem Hals das Kinn ein Dop­pel­kinn, und hun­dert klei­ne Nach­läs­sig­kei­ten des Schnei­ders und der Na­tur wa­ren be­müht, selbst dem ver­stock­ten Zweif­ler die wah­re Exis­tenz der Fi­gu­ren zu be­wei­sen. Ja, der Zuschau­er kam oft dazu, mit dem ei­ge­nen Wunsch die Ab­sicht des Pan­op­ti­kums zu un­ter­stüt­zen.

Auf den Ge­sich­tern der le­ben­di­gen Be­su­cher wie­der la­ger­te eben­falls eine Stumm­heit, die aus Ehr­furcht, Schre­cken und Stau­nen be­stand, wie ein mat­ter Wi­der­schein je­ner Fi­gu­ren. Nie­mand wag­te laut zu spre­chen. Alle flüs­ter­ten oder mur­mel­ten, als be­fän­den sie sich wirk­lich in der Nähe der be­deu­ten­den oder furcht­ba­ren Per­sön­lich­kei­ten und als könn­ten sie durch einen stär­ke­ren Laut die Pup­pen zu ei­nem un­wil­li­gen Fluch ver­an­las­sen. Ein Ge­ruch von lan­ge un­ge­lüf­te­ten Klei­dern schweb­te um alle Denk­mä­ler und mach­te sie noch rea­ler. Gleich­zei­tig aber mit der Furcht, die sie ein­flö­ßten, fühl­te man eine Art Mit­leid mit ih­nen, den ewig ein­ge­schlos­se­nen, und emp­fand es fast als ein Un­recht, daß ihre Vor­bil­der, die noch leb­ten, in der schö­nen frei­en Luft und an den grü­nen Ti­schen der Welt­ge­schich­te at­men und han­deln durf­ten. Es war, als stün­de hier im Pan­op­ti­kum der wah­re Poin­caré zum Bei­spiel und drau­ßen füh­re ir­gend­wo in ei­nem Auto zu ei­nem of­fi­zi­el­len Er­eig­nis der nach­ge­mach­te. Denn al­les We­sent­li­che und Kenn­zeich­nen­de schi­en die wäch­ser­ne Pup­pe dem le­ben­di­gen Vor­bild ab­ge­lauscht und weg­ge­nom­men zu ha­ben, so daß die­ses ohne sei­ne sta­bi­len Züge in der Welt her­um­lief. Und eben­so wie die Zeit­ge­nos­sen der Erde, so schie­nen die to­ten Hero­en dem Jen­seits ent­wen­det wor­den zu sein; und für die Dau­er mei­nes Auf­ent­halts im Pan­op­ti­kum war es mir klar, daß sich in der Un­ter­welt nur die bil­li­gen Durch­schnitts­schat­ten auf­hal­ten konn­ten, die für die Ge­schich­te wie für das Musée Gre­vin über­haupt nicht von Be­deu­tung wa­ren.

Im Ster­be­zim­mer Na­po­le­ons auf St. He­le­na roch man das schwe­len­de Licht, ob­wohl es von ei­ner elek­tri­schen Bir­ne kam, und man er­starr­te in Ehr­furcht vor dem dop­pel­ten Schwei­gen des To­des: dem me­ta­phy­si­schen und dem imi­tier­ten. Für die Ewig­keit fest­ge­hal­ten war die Ewig­keit selbst, und das Flü­gel­rau­schen des To­de­sen­gels hat­te sei­ne Flüch­tig­keit ver­lo­ren und war be­stän­dig ge­wor­den, ein­ge­fan­gen im Ster­be­zim­mer. Die au­then­ti­schen Ge­gen­stän­de aus Na­po­le­ons Be­sitz, sei­ne Ta­schen­uhr zum Bei­spiel, die auf dem Nacht­tisch lag, ström­ten eine über­zeu­gen­de Echt­heit aus, wie Ge­wür­ze Düf­te ver­brei­ten. Jede kleins­te Lücke zwi­schen den nach­ge­mach­ten Tat­sa­chen, in die etwa die Phan­ta­sie des Be­trach­ters hät­te schlüp­fen kön­nen, war aus­ge­füllt mit ei­ner nach­ge­mach­ten Wahr­schein­lich­keit zu­min­dest. Also war die Wirk­lich­keit nicht nur imi­tiert, son­dern so­gar über­trof­fen. Es war eine Welt, in der jede kör­per­li­che Er­schei­nung der mensch­li­chen Phan­ta­sie vor­griff, um sie über­flüs­sig zu ma­chen, und in der al­les plas­tisch vor­han­den zu sein schi­en, was man sich sonst mit ge­schlos­se­nen Au­gen kaum in ver­schwim­men­den Um­ris­sen aus­ma­len darf. Die Schat­ten wa­ren eben Kör­per ge­wor­den und war­fen ei­ge­ne Schat­ten.

Über al­lem lag eine ma­ka­b­re Stim­mung. Aber sie ent­ström­te nicht so sehr den dar­ge­stell­ten Ka­ta­stro­phen (wie etwa der Chris­ten­ver­fol­gung in Rom und der un­ter­ir­di­schen Welt der Ka­ta­kom­ben), son­dern viel eher der un­er­bitt­li­chen Kör­per­lich­keit, in die alle Aus­ge­bur­ten der Phan­ta­sie hin­ein­ge­sprun­gen wa­ren, die­ser wäch­ser­nen Här­te, um­ge­ben von his­to­risch un­an­fecht­ba­ren Re­qui­si­ten und die­sem le­gi­ti­men Ge­schichts­un­ter­richt, an dem nicht mehr ge­zwei­felt wer­den konn­te, ein­fach, weil er aus Wachs war und gar nicht vom Fleck zu rüh­ren. Es war wie eine Be­geg­nung mit ok­kul­ten Er­schei­nun­gen, ob­wohl al­les Ok­kul­te und der Ver­nunft schwer Zu­gäng­li­che ra­tio­na­lis­tisch prä­pa­riert al­len ir­di­schen Sin­nen auf­ge­drängt wur­de. Man konn­te Wun­der mit kör­per­li­chen Au­gen se­hen und war in­fol­ge­des­sen ein biß­chen nie­der­ge­drückt und in Sor­ge, die lie­be Erde zu ver­lie­ren, auf der man so ger­ne glau­bend und zwei­felnd her­um­wan­dert.

Nur in ei­ner ein­zi­gen Ab­tei­lung -- Palais de Mi­ra­ges, im Mär­chen­pa­last also -- war die Be­geg­nung mit dem Wun­der­ba­ren nicht schreck­lich, son­dern hei­ter. In die­sem Palast sind alle Wän­de und die De­cke aus Spie­geln. In der Mit­te ste­hen ein paar Säu­len, de­ren Auf­ga­be es ist, nicht die De­cke zu stüt­zen, son­dern sich selbst zu ver­viel­fäl­ti­gen. Es ist ein be­son­de­res Sys­tem dreh­ba­rer Spie­gel, die ein un­wahr­schein­li­ches Ge­tö­se ver­ur­sa­chen, so­bald man sie in Be­we­gung bringt. Um das Ge­tö­se zu über­tö­nen, ver­an­stal­tet ein Or­gel­me­cha­nis­mus eine Opern­mu­sik, die aus Por­zel­lan­him­meln, Mes­sing­sphä­ren und Stan­ni­ol­pla­ne­ten zu kom­men scheint. Eine Zeit­lang ist es stock­fins­ter. Eine Pau­se, die dazu dient, die er­reg­ten Sin­ne auf ein neu­es Mär­chen vor­zu­be­rei­ten, und al­len Be­su­chern Ge­le­gen­heit gibt, die Kör­per ih­rer ver­trau­ten Beglei­te­rin­nen wie frem­de Wun­der im Fins­tern zu füh­len. Dann leuch­tet es lang­sam auf, von hun­dert­tau­send Lam­pen und Am­peln, vio­lett, gelb, grün, blau, rot, und man be­fin­det sich im ori­en­ta­li­schen Palast, der von durch­sich­ti­gen Säu­len ge­tra­gen wird. Vor ei­ni­gen Mi­nu­ten wa­ren es noch dicht­be­laub­te Ei­chen und Ahorn­bäu­me, und man be­fand sich in ei­nem deutsch-fran­zö­si­schen Mär­chen­wald mit Or­gel­ge­zwit­scher. Bald dröhnt es wie­der, und flugs ste­hen wir un­ter ei­nem blau­en Ster­nen- und Ko­me­ten­zelt.

Erst in die­sem Palast ge­lang­ten die Be­su­cher aus der flüs­tern­den Furcht in ihre na­tür­li­che Spek­ta­kel­freu­de. Denn so­sehr auch hier das Un­wahr­schein­lichs­te wirk­lich ge­wor­den war, so blieb doch die­se von vorn­her­ein zu­ge­stan­de­ne Mär­chen­haf­tig­keit ein Kin­der­spiel, ver­gli­chen mit den Wahr­schein­lich­kei­ten und Wirk­lich­kei­ten der mensch­li­chen Ge­schich­te. Es war kei­nes­wegs merk­wür­dig, aus dem Wald in die Al­ham­bra mit ei­nem Schlag ver­setzt zu wer­den. Aber un­mög­lich schi­en die Kreu­zi­gung Chris­ti, der Tod Na­po­le­ons, die Er­mor­dung Ma­rats, das Zir­kuss­piel der Rö­mer. Ja, selbst die zeit­ge­nös­si­schen Po­li­ti­ker, de­ren Leis­tun­gen erst in hun­dert Jah­ren die pan­op­ti­ka­le Rei­fe er­langt ha­ben wer­den, wirk­ten schon so, wie sie da­stan­den, im Bra­ten­rock und Zy­lin­der, un­mög­lich und ge­spens­tisch. Wie we­ni­ge von all den Be­su­chern wuß­ten, daß sie vor sich selbst er­schro­cken wa­ren und ei­gent­lich noch in den Stra­ßen hät­ten er­schre­cken müs­sen -- -- vor ih­rem ei­ge­nen Spie­gel­bild in ei­nem Schau­fens­ter! Da gin­gen sie wie­der her­um, aus Wachs und aus Gips, mit al­len Schreck­nis­sen des Pan­op­ti­kums in der ei­ge­nen Brust, und ei­nes je­den See­le war eine Fol­ter­kam­mer. Es reg­ne­te im­mer noch, schief und strich­wei­se, die gel­ben Wol­ken ga­lop­pier­ten über den Dä­chern, und tau­send Re­gen­schir­me schwank­ten un­heim­lich über den Köp­fen der Un­heim­li­chen ...

Gedicht von Wandkalendern

In mei­ner Kind­heit (und viel­leicht nur in dem Land, in dem ich sie ver­lebt habe) gab es eine be­son­de­re Art von Wand­ka­len­dern, an die ich mich je­des Jahr in den Win­ter­mo­na­ten er­in­ne­re, wie man sich an Weih­nachts­bäu­me und Groß­müt­ter er­in­nert, an Bil­der­bü­cher und Bon­bons, an alle Per­so­nen und Din­ge, die einen Glanz, eine Süße und eine Wär­me hat­ten und die in ein glä­ser­nes Grab ge­sun­ken schei­nen, im­mer noch sicht­bar, aber tot, Re­li­qui­en der hei­li­gen Kind­heit. Die Wand­ka­len­der be­stan­den, wie die heu­ti­gen auch, aus ei­nem di­cken Bün­del neu­er, glän­zen­der, schwar­zer und ro­ter Tage, über die wie ein Büh­nen­vor­hang ein bun­tes Blätt­chen ge­legt war, dar­stel­lend einen Ast voll ro­ter Kir­schen oder ein Bü­schel Veil­chen, je­den­falls im­mer ein blü­hen­des Ver­spre­chen des neu­en noch zu­ge­klapp­ten Jah­res. Das Bün­del der 365 Tage steck­te an ei­nem ziem­lich großen und brei­ten Pap­pen­de­ckel, der die Wand, das senk­rech­te Fun­da­ment war, auf dem sich das neue Jahr zu er­he­ben ge­dach­te. Die­ses har­te Pa­pier war von ei­nem noch här­te­ren Glanz über­zo­gen, von ei­ner la­ckier­ten Schicht, ei­ner spie­geln­den, ge­wölb­ten Ober­flä­che, in der sich die Son­ne kon­zen­trier­te, wenn der Wand­ka­len­der ge­gen­über dem Fens­ter hing, und in der, wie eine fer­ne Er­zäh­lung vom Wet­ter, die Fär­bun­gen des Him­mels und der Luft zu le­sen wa­ren. Doch war die­se Ei­gen­schaft des Glan­zes nur eine an­ge­neh­me se­kun­däre. Wäh­rend das Wich­tigs­te die ge­preß­te, er­ha­be­ne Il­lus­tra­ti­on auf dem Pap­pen­de­ckel war, die, ob­wohl sie das gan­ze Jahr na­tur­ge­mäß nicht wech­sel­te, den­noch nicht die glei­che zu blei­ben schi­en und ihre Ak­tua­li­tät bis zum 1. De­zem­ber be­wahr­te, zu wel­cher Zeit schon die Er­war­tung des neu­en Ka­len­ders das Bild auf dem al­ten ge­wohnt und ge­wöhn­lich mach­te.

Was wa­ren das für Il­lus­tra­tio­nen! Wie leuch­te­ten die star­ken und ein­fa­chen Far­ben, Rot, Blau, Gold, Grün hoch­som­mer­lich mit­ten im Win­ter, von je­ner Kraft, hin­ter der die Kraft der Phan­ta­sie zu­rück­bleibt und von der die Träu­me den­noch be­fruch­tet wer­den! Eine Frau, schwarz von Haar, das ein tiefro­tes Kopf­tuch zur Hälf­te be­deck­te, mit ro­ten Wan­gen und knall­blau­en Au­gen, mit ei­nem Hals und ei­ner Büs­te wie wei­ßer, noch vom Was­ser glän­zen­der und in Son­ne se­geln­der Schwan, mit schwe­ren Zöp­fen, die sich an der Brust zu­sam­men­fan­den wie von ei­nem ko­ket­ten Wind hin­ge­legt -- -- solch eine Frau hielt mit bei­den Ar­men ein pa­pie­re­nes Körb­chen, das schräg im Pap­pen­de­ckel steck­te, wie mit der Laub­sä­ge ge­ar­bei­tet schi­en und nichts we­ni­ger als einen Korb voll Wein­trau­ben dar­stell­te, saf­ti­ger grü­ner und dun­kelblau­er, de­ren Far­be zwar an Kar­bon­pa­pier er­in­nern moch­te, aber an ein Kar­bon­pa­pier, das man nur in der Kind­heit kennt, das eine Art Wun­der be­deu­tet, weil es fer­ne Stri­che und Buch­sta­ben fer­nen Blät­tern ver­mit­telt und das noch um­ständ­li­che­ren Schmutz er­zeugt als ein Tin­ten­stift. Welch eine Frau! Sie war of­fen­bar vom Lan­de, eine Win­ze­rin, ihre ro­ten Lip­pen wa­ren so weit ge­öff­net, daß man den sieg­rei­chen und ge­fähr­li­chen Glanz ih­rer Zäh­ne se­hen konn­te. Ob­wohl sie aus Pa­pier war und of­fen­sicht­lich ohne Un­ter­leib, schi­en sie den­noch im gan­zen Zim­mer einen merk­wür­di­gen und er­re­gen­den Duft von Fleisch, Milch und Som­mer­re­gen zu ver­brei­ten, sie war le­ben­dig und mehr noch: eine Per­sön­lich­keit, Ver­tre­te­rin al­les Weib­li­chen und Ir­di­schen. Mit ihr ver­band ich den Be­griff des »Heid­nischen« und der Lie­be zu­erst, und lan­ge Jah­re spä­ter, als ich in nach­bar­li­chen Dör­fern die Bau­ern­mäd­chen such­te, trug ich ein kin­di­sches Ver­lan­gen nach je­ner Ka­len­d­er­frau, und je­dem ro­ten Kopf­tuch, das zwi­schen Grün auf­brann­te, ent­sprach ein klei­nes ro­tes Feu­er in mei­nem Her­zen. Ja, heu­te noch lebt in dem von Skep­sis ver­schont ge­blie­be­nen Teil mei­ner See­le die Sehn­sucht nach dem schwar­zen Mäd­chen -- und ob­wohl ich das kur­ze Haar der Frau­en lie­be, kann ich an die Zöp­fe nicht ohne Weh­mut den­ken.

Und je­des Jahr kam eine an­de­re Frau. Es ka­men Wand­ka­len­der mit sen­ti­men­ta­len, zar­ten, blon­den Feen, mit halb­wüch­si­gen Back­fi­schen, die an Scho­ko­la­de er­in­ner­ten, mit Feen, die Krän­ze im Haar tru­gen. Und jede Frau ver­sank bis zur Brust im Körb­chen, das, wie ich spä­ter ein­mal er­fuhr, dazu die­nen soll­te, Brie­fe auf­zu­be­wah­ren, in dem ich aber ge­fun­de­ne Haar­na­deln ger­ne ver­barg. Aber so weit ich mich heu­te er­in­ne­re, wur­den die Wand­ka­len­der im­mer sach­li­cher, nach den blas­sen Frau­en ka­men nur noch Fir­men­in­schrif­ten, es scheint, daß sich die Phan­ta­sie der Ka­len­d­er­fa­bri­kan­ten all­mäh­lich er­schöpf­te oder daß sie die Er­fah­rung ge­macht hat­ten, das die Re­kla­me wirk­sa­mer sei, wenn kein Bild von ihr ab­len­ke.

Vi­el­leicht aber gab es die­se Ka­len­der auch spä­ter noch, nur ich sah sie nicht, weil ich in­zwi­schen so groß ge­wor­den war, daß ich die Nä­gel über­rag­te, an de­nen die Ka­len­der hin­gen. Denn wir wach­sen über un­se­re al­ten Freu­den hin­aus, an­dern ent­ge­gen, die so hoch hän­gen, daß wir sie nie er­rei­chen.

Man munkelt bei Schwannecke

Ob­gleich der Lärm, den die re­den­den Gäs­te ver­ur­sa­chen, weit be­deu­ten­der ist als die Ge­gen­stän­de, die sie be­han­deln, er­gibt er doch jene Art der ge­sel­li­gen und un­deut­li­chen Äu­ße­rung, die man Mun­keln nennt. Die sehr be­stimm­te Laut­heit näm­lich, mit der ei­ner dem an­dern eine Neu­ig­keit mit­teilt, er­zeugt schon selbst das akus­ti­sche Halb­dun­kel, die tö­nen­de Däm­me­rung, in der jede Mit­tei­lung ihre Kon­tu­ren ver­liert, die Wahr­heit den Schat­ten ei­ner Lüge wirft und die Nach­richt die Züge ih­res ei­ge­nen De­men­tis trägt. Und wie im Licht ei­ner zwar grel­len, aber fla­ckern­den Flam­me ein Ge­gen­stand nicht deut­lich agnos­ziert wer­den kann, eben­so fällt es dem an­ge­streng­ten Lau­scher schwer, eine Äu­ße­rung zu wer­ten, die man ihm zu­ge­tra­gen hat; ins­be­son­de­re wenn sie ein Ge­heim­nis ist, wie in den meis­ten Fäl­len.

Das Lo­kal der Ber­li­ner Künst­ler und Li­te­ra­ten, in dem man um Mit­ter­nacht alle fin­den kann, die noch am Abend ver­si­chert hat­ten, sie gin­gen prin­zi­pi­ell nicht mehr hin, ja, sie wä­ren seit Jahr und Tag nicht dort ge­we­sen, be­her­bergt eine Art ar­ri­vier­ter Bo­he­me, de­ren Kre­dit­fä­hig­keit be­reits au­ßer Zwei­fel ist. Kei­ner von die­sen Gäs­ten hät­te es nö­tig, sei­ne Schlaf­s­tät­te spä­ter auf­zu­su­chen, als es ihm sein bür­ger­li­cher In­stinkt be­fiehlt. Auch be­schließt je­der jede Nacht, die­sen Ort in der nächs­ten zu mei­den. Aber die Angst, sei­ne Freun­de, die ihn er­war­ten, um mit ihm Gu­tes zu re­den, könn­ten von ihm Schlech­tes re­den, wenn er nicht käme, ver­an­laßt ihn, sich tap­fer dort zu zei­gen, wo es viel­leicht mu­tig wäre, ab­we­send zu sein. Er kommt, um die Ein­tracht nicht zu stö­ren, die, aus Angst und Miß­trau­en ge­bil­det, in den Ni­schen nis­tet, und um sich und sei­nen Tisch vor je­ner üb­len Nach­re­de zu be­wah­ren, die schon am nach­bar­li­chen ge­mun­kelt wird. Hät­te ei­ner die Fä­hig­keit, an al­len Ti­schen gleich­zei­tig zu sit­zen, man wür­de an al­len nur Gu­tes von ihm re­den; und das Wun­der, das er selbst voll­bräch­te, wäre noch ge­ring im Ver­gleich zu je­nem, das die an­de­ren sich ab­zu­rin­gen hät­ten. Im­mer­hin er­rei­chen die meis­ten we­nigs­tens die Gren­ze des Wun­der­ba­ren, in­dem sie sehr schnell einen Tisch nach dem an­dern kon­trol­lie­ren. Aber im­mer noch blei­ben sie hin­ter der Schnel­lig­keit zu­rück, mit der die Sit­zen­den das The­ma zu wech­seln ver­ste­hen -- -- und ge­le­gent­lich auch die An­schau­ung.

Es gibt frei­lich auch Sit­zen­de, de­nen ihr Rang ge­ra­de noch er­laubt auf­zu­ste­hen, nicht aber mehr, Be­su­che ab­zu­stat­ten. Auch sie sind nicht ge­feit vor der Angst, ir­gend je­mand könn­te ir­gend et­was von ih­nen er­zäh­len. Aber sie tra­gen die Last, nicht wohl­ge­lit­ten zu sein, wie einen Be­weis für ihre Be­deu­tung -- und das Miß­trau­en, das die noch nicht so weit Ar­ri­vier­ten in Zu­vor­kom­men­heit pa­cken, ver­wan­deln die Be­deu­ten­den in Ver­ach­tung und in Ge­ring­schät­zung. Alle, die man im Au­gen­blick nicht brau­chen kann, sind für den, der sie erst nach ei­nem Jahr brau­chen wird, heu­te nur Luft, die er zwar at­met, aber nicht sieht. Ge­mach, ge­mach! Sie wer­den sich bald aus ih­rer durch­sich­ti­gen An­ony­mi­tät zu je­ner pseud­ony­men Kör­per­lich­keit ent­wi­ckelt ha­ben, ohne die man un­mög­lich einen Lehn­stuhl vor ei­nem Bü­ro­tisch ein­neh­men kann. Sie, de­ren Sehn­sucht es heu­te noch ist, Schat­ten von Kör­pern zu sein, wer­den ein­mal so­gar ei­ge­ne Schat­ten wer­fen, Pro­tek­ti­ons­schat­ten auf An­ony­me, Durch­sich­ti­ge und Luf­ti­ge. Sie wer­den selbst die Film­re­fe­ra­te zu ver­tei­len ha­ben, die heu­te nur ei­ni­ge Male im Jahr wie gött­li­che Gna­den auf sie fal­len, sie wer­den selbst in Kon­fe­ren­zen be­grif­fen sein, we­gen de­ren sie heu­te noch fort­ge­schickt wer­den, und sie wer­den bei Pre­mie­ren ne­ben den Kri­ti­kern sit­zen, sel­ber Kri­ti­ker, aber von ei­ner »neu­en Rich­tung«, mit ei­ner neu­en Ter­mi­no­lo­gie, dank der sie vor Ur­tei­len be­wahrt und zu Vor­ur­tei­len an­ge­regt wer­den. Des­halb emp­fiehlt es sich für Vor­sich­ti­ge, auch nicht die Ge­rings­ten un­ter den An­we­sen­den zu über­se­hen, ja selbst die Un­sicht­ba­ren mit ei­ner ge­wis­sen Ach­tung ins Auge zu fas­sen und die Schat­ten so zu be­grü­ßen, als wä­ren sie be­redt und könn­ten er­wi­dern. In den lan­gen Jah­ren, in de­nen ich den deut­schen Li­te­ra­tur­be­trieb be­ob­ach­ten darf, habe ich schon ge­se­hen, wie Nul­len sich an Zif­fern häng­ten und zu­sam­men Zah­len er­ga­ben, mit de­nen man na­tür­lich rech­nen muß­te. Ja ei­ni­ge, die in der Ge­sell­schaft bei Schwanne­cke die un­be­deu­ten­de Funk­ti­on von or­na­men­ta­len ver­ti­ka­len Li­ni­en aus­zuü­ben schie­nen, ver­wan­del­ten sich in Stri­che, durch ah­nungs­lo­se Rech­nun­gen ge­macht. Und man­che Anal­pha­be­ten, die, wäh­rend sie in den Vor­zim­mern der Re­dak­tio­nen war­te­ten, die Zei­tun­gen buch­sta­bier­ten, be­gan­nen auf ein­mal, Bü­cher zu be­spre­chen.

Auch Feind­schaf­ten un­ter den Gäs­ten von Schwanne­cke kön­nen über­ra­schen­de Fol­gen zei­ti­gen, und nur ein Ah­nungs­lo­ser ist im­stan­de, an eine Feind­schaft zu glau­ben und aus ihr etwa Nut­zen für sich selbst zie­hen zu wol­len. Selbst nach ei­ner un­miß­ver­ständ­li­chen Er­klä­rung der so­ge­nann­ten Tin­ten­feh­de -- die zu­sam­men mit der Tin­ten­ra­che die ge­fähr­lichs­te Sit­te der Schwanne­cke-Stäm­me bil­det -- kann nie­mand vor­aus­se­hen, wie schnell ein Feuil­le­to­nist im­stan­de ist, eine ur­al­te, seit Wo­chen und Ta­gen stam­men­de Feind­schaft ge­gen einen Au­tor in ei­ner lan­gen, lo­ben­den Kri­tik zu be­gra­ben, ohne daß je­mand zu sa­gen wüß­te warum, wie­so und wozu. Ganz be­son­ders un­ter­rich­te­te Zwi­schen­trä­ger wis­sen dann manch­mal zu be­rich­ten, daß ge­mein­sa­me In­ter­es­sen für einen neu­en Typ ele­gan­ter Sport­au­to­mo­bi­le die Geg­ner ein­an­der na­he­ge­bracht hät­ten. Denn seit ei­ni­ger Zeit hat die Ver­pflich­tung zum »Tem­po«, in dem sich Um-, Neu- und Wie­der­auf­bau­ten auf dem Kur­fürs­ten­damm und auch sonst im Lan­de voll­zie­hen, so­gar die Die­ner am Geist so­wie des­sen Be­dien­te er­faßt, und alle sind im­stan­de, hin­ter eine Fahrt mit 80-Ki­lo­me­ter-Ge­schwin­dig­keit eine Wel­t­an­schau­ung zu­rück­zu­stel­len. Vor dem Er­leb­nis der meß­ba­ren Ge­schwin­dig­keit, mit der sie eine Stra­ße da­hin­ra­sen, bleibt auch die Sen­sa­ti­on je­ner un­meß­ba­ren zu­rück, mit der sie ein Be­kennt­nis ver­ges­sen. Und seit­dem in un­se­rer zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur ein Mo­no­kel ein Auge er­set­zen kann, ist selbst in den Bli­cken ein­zel­ner Geg­ner Zu- oder Ab­nei­gung nicht mehr zu er­ken­nen. Ge­druck­te An­grif­fe und Be­lei­di­gun­gen in un­se­ren li­te­ra­ri­schen Blät­tern lese ich des­halb schon lan­ge so, als wä­ren es be­reits Wi­der­ru­fe und Ent­schul­di­gun­gen.

Nicht ohne Grund är­ge­re ich mich über die In­nen­ar­chi­tek­tur Schwanneckes, den lan­gen Raum, den Kor­ri­dor, an des­sen bei­den Sei­ten vier­e­cki­ge Ni­schen an­ge­näht sind, so daß die Gä­ste­grup­pen von­ein­an­der ge­trennt sind, als ge­hör­ten sie nicht zu­sam­men. Mich kränkt die Enge die­ses Rau­mes und der Um­stand, daß er nicht alle faßt, die hin­ein­ge­hö­ren. Ich er­ge­be mich ger­ne der Vi­si­on, die mich manch­mal auf­sucht, wenn ich in ei­ner der Ni­schen am frü­hen Mor­gen sit­ze, der hier ein An­hang an die Nacht ist. Ich sehe einen ko­los­sa­len, über­sicht­li­chen Schwannecke­bau mit ei­ner Kup­pel, er faßt die gan­ze Li­te­ra­tur, die Öf­fent­lich­keit und ihre Kri­tik, die Film­pro­duk­ti­on und ihre Re­zen­sen­ten, die Büh­ne und ihre Re­fe­ren­ten und so­gar die Ar­beits­zim­mer der ein­zel­nen, die dem Sno­bis­mus der Ein­sam­keit hul­di­gen, die ih­nen nicht zu­steht -- aus­ein­an­der­ge­fal­le­ne und auf­ge­lös­te Ar­beits­zim­mer, in de­nen nur die Schreib­ma­schi­nen die tö­nen­de Lee­re der Ge­dan­ken un­ter­bre­chen. Ich sehe ein un­er­meß­li­ches, ge­wis­ser­ma­ßen über­sinn­li­ches Schwanne­cke, ein Pan­the­on der le­ben­den, wenn auch nicht le­ben­di­gen künst­le­ri­schen Öf­fent­lich­keit, in der auch die Au­to­ga­ra­gen der küh­nen Schnel­lig­keits­dich­ter Raum fän­den und eine Au­to­renn­bahn für die Be­sin­ger der Ge­gen­wart und ein Flug­platz für die Feuil­le­ton-Ho­me­re der Ozean­flie­ger.

Trübsal einer Straßenbahn im Ruhrgebiet

Es reg­net dünn und dau­er­haft. Um zwölf Uhr fünf­zehn geht die Stra­ßen­bahn ab. Um ein Uhr fünf­und­vier­zig wird sie in der nächs­ten Stadt sein. Die Hal­te­stel­le ist vor ei­ner Schen­ke. Ich trin­ke ein Kir­sch­was­ser und sehe durch die Netzornamen­te der Vor­hän­ge auf die Stra­ße. In so ei­nem Re­gen wer­den die Geräusche un­hör­bar, ge­nau wie im Schnee. Ja, hät­ten die­se Vor­hän­ge kei­ne Or­na­men­te, hät­te die­se gute Schen­ke über­haupt kei­ne Vor­hän­ge -- wozu Vor­hän­ge? --, dann könn­te ich wohl die Stra­ßen­bahn kom­men se­hen. Ich zit­te­re, sie könn­te mir da­von­fah­ren, und gleich­zei­tig wün­sche ich, sie täte es. Ich wür­de dann viel­leicht mit der schnel­le­ren, so­li­de­ren, be­que­me­ren Ei­sen­bahn fah­ren. Nun aber ste­he ich im Bann ei­ner frei­ge­wähl­ten Qual. Je mehr Zeit, Ge­duld, Käl­te­ge­fühl, Kir­sch­was­ser und Ab­scheu ich in die­ses Un­ter­neh­men in­ves­tie­re, de­sto schwe­rer fällt es mir, dar­auf zu ver­zich­ten. Die Zeit und der Re­gen rin­nen.

Pünkt­lich, sie war gar nicht dazu ver­pflich­tet, kommt die Stra­ßen­bahn. Ihr Tritt­brett ist hoch und naß, auch der Fuß­bo­den im In­nern des Wa­gens ist feucht, ein al­ter Mann raucht Pfei­fe, eine Frau sitzt, einen ver­hüll­ten Korb auf dem Schoß. Schul­mäd­chen stei­gen ein, mit häß­li­chen, har­ten Schul­tor­nis­tern, auf die der Re­gen ge­trom­melt hat; Er­tüch­ti­gungs­in­stru­men­te mit bau­meln­dem Schwamm. Zwei Ar­bei­ter leh­nen auf dem Hin­terper­ron ne­ben dem Schaff­ner. Eine länd­li­che Magd ist da, sie trägt eine gold­ge­faß­te Bril­le und ist bar­fuß. Sie mahnt mich an einen Pflug, der von ei­ner Lo­ko­mo­ti­ve ge­zo­gen wird. Nie­mand spricht. Alle ma­chen sich auf die Qual ei­ner lan­gen Fahrt ge­faßt. Eine sol­che Samm­lung be­darf der voll­kom­me­nen Schweig­sam­keit. Die har­ten Sit­ze aus glän­zend po­lier­tem Holz sind nicht nur kurz, son­dern auch ab­schüs­sig. Hier sit­zen heißt: fort­wäh­rend und frucht­los hin­auf­rücken.

Wir fah­ren durch eine lan­ge Stra­ße, an schwar­zen Häu­sern und Häu­ser­lücken vor­bei, an Bret­tern, an Zäu­nen, an ei­nem Ge­län­de, das kei­nen Sinn hat, nicht die Er­war­tung, je­mals einen Gar­ten, einen Acker oder ein Haus zu tra­gen. Es ist die Lei­che ei­nes Ge­län­des. Die Stadt hört nicht auf. Wenn sie aber ein­mal auf­hört, be­ginnt so­fort die an­de­re. Die Städ­te rei­chen ein­an­der die Stra­ßen. Je­des­mal hal­ten wir vor brau­nen War­te­häus­chen aus ge­teer­tem Holz, sie se­hen aus wie die Ur­for­men von Bahn­hö­fen in den wil­den Tei­len Ame­ri­kas. Jetzt kom­men Schre­ber­gär­ten, klei­ne Häu­schen aus Dach­pap­pe, die Som­mer­schlös­ser des klei­nen Man­nes und des Ka­nin­chens. Auf spit­zen Zaun­lat­ten sind Krü­ge, Töp­fe, Schüs­seln auf­ge­spießt wie ab­ge­schnit­te­ne Häup­ter. Eine Fa­brik, rote Zie­gel, Back­stei­ne, ein ei­ser­nes Git­ter, ein klei­nes Por­tier­häus­chen aus weißem Stein, mit sicht­ba­rer Kon­troll­uhr, da­hin­ter große Schlo­te, vier, fünf, sechs, be­reit, sich noch zu ver­meh­ren, ih­nen soll’s nicht dar­auf an­kom­men.

Das Land will im­mer wie­der an­fan­gen, Land zu sein -- und kann’s nicht. Da sind kei­ne Häu­ser. Jetzt könn­te es eine Land­stra­ße wer­den. So­gar Bäu­me ste­hen zu bei­den Sei­ten und sind be­reit, sie zu be­stä­ti­gen. Aber un­se­re Stra­ßen­bahn be­darf der Dräh­te, und die Dräh­te be­dür­fen der lan­gen, höl­zer­nen Pfos­ten, der kah­len, an de­ren höchs­tem Ende ein paar wei­ße Por­zel­lan­ge­fäße zu elek­tri­schen Zwe­cken blü­hen. Ka­ri­ka­tu­ren von Schnee­glöck­chen.

Hin­ten, weit, am Ho­ri­zont, sind Be­stre­bun­gen der Na­tur im Gan­ge, einen Wald her­vor­zu­brin­gen. Aber es ist kein Wald. Es ent­steht eine Art be­gin­nen­der Ve­ge­ta­ti­ons­glat­ze, mit ver­ein­sam­ten Tan­nen­sträh­nen.

Jetzt fan­gen die Gast­häu­ser an, ei­nes folgt dem an­dern, und je­des kün­digt ein »aus­ge­zeich­ne­tes Gar­ten­lo­kal« an. Was mag das sein, ein Gar­ten­lo­kal? Ich stel­le mir ein Lo­kal mit ge­mal­ten Oran­gen­bäu­men vor und Lor­bee­ren in Blu­men­töp­fen; oder ein Stück­chen Kohl­rü­ben­feld mit ei­ner Ve­ran­da; vier Zäu­ne mit wil­dem Wein­laub. Der Phan­ta­sie sind kei­ne Schran­ken ge­setzt.

Jetzt folgt ein Auf­ent­halt ohne lo­gi­schen Grund. Der Füh­rer steigt vom Tritt­brett, der Schaff­ner folgt ihm, in der Mit­te be­geg­nen sie ein­an­der. Man hört den Re­gen rin­nen. Man sieht kein War­te­häus­chen. Schorn­stei­ne, große, schlan­ke, damp­fen in un­er­lös­ter Qual. Der Re­gen zer­franst den di­cken Rauch, zer­stäubt ihn, gleich­mä­ßig, ohne Wut. Der Re­gen spannt Vor­hän­ge über die Land­schaft, ohne Or­na­men­te. Es ist kei­ne Land­schaft, es ist eine Art lang­ge­dehn­ter Stadt­schaft, In­dus­trie­schaft, von blü­hen­den Gar­ten­lo­ka­len un­ter­bro­chen.

Da kün­digt sich, durch den Re­gen­vor­hang noch sicht­bar, ein Be­er­di­gungs­in­sti­tut an und auf der an­de­ren Sei­te Per­sil, das Sinn­bild des Le­bens. Nie­mand spricht. Sooft die Tür auf­geht, schlägt sie ei­ner mit Über­zeu­gung zu. Es ist kalt. Wenn wir hal­ten, ist es noch käl­ter. Alle möch­ten ihre Füße auf die Sit­ze hin­auf­zie­hen, aber es wäre si­cher­lich ver­bo­ten. Ge­stat­tet ist die Lek­tü­re der Auf­schrif­ten: »20 Sitz­plät­ze«, »Nicht in den Wa­gen spu­cken«. Ich täte es gern.

Wir fah­ren jetzt wie­der. Da be­ginnt auch schon die nächs­te große Stadt. Wir sind am Ziel. Es sieht aus wie der An­fang. Es ist, als gäbe es kei­ne räum­li­chen Zie­le hier: nur zeit­li­che, wie den si­che­ren, un­aus­bleib­li­chen, end­gül­ti­gen Tod des letz­ten Stück­chens Erde.

Der Rauch verbindet Städte

Hier ist der Rauch ein Him­mel. Alle Städ­te ver­bin­det er. Er wölbt sich in ei­ner grau­en Kup­pel über dem Land, das ihn selbst ge­bo­ren hat und fort­wäh­rend neu ge­bärt. Wind, der ihn zer­streu­en könn­te, wird vom Rauch er­stickt und be­gra­ben. Son­ne, die ihn durch­boh­ren möch­te, wehrt er ab und hüllt sie in dich­te Schwa­den. Als wäre er nicht erd­ge­zeugt und sein We­sen nicht ver­gäng­lich, er­hebt er sich, er­obert himm­li­sche Re­gio­nen, wird kon­stant, bil­det aus Nichts eine Sub­stanz, ballt sich aus Schat­ten zum Kör­per und ver­grö­ßert un­auf­hör­lich sein spe­zi­fi­sches Ge­wicht. Aus un­ge­heu­ren Schorn­stei­nen zieht er neue Nah­rung her­an. Sie dampft zu ihm em­por. Er ist Op­fer, Gott und Pries­ter. Mil­li­ar­den klei­ner Stäub­chen at­met er wie­der aus, er, ein Atem. In­dem man ihn er­zeugt, be­tet man ihn an. Man er­zeugt ihn mit ei­nem Fleiß, der mehr ist als An­dacht. Man ist von ihm er­füllt.

Er­füllt ist von ihm die gan­ze große Stadt, die alle Städ­te des Ruhr­ge­biets zu­sam­men bil­den. Eine un­heim­li­che Stadt aus klei­nen und grö­ße­ren Grup­pen, durch Schie­nen, Dräh­te, In­ter­es­sen ver­bun­den und vom Rauch um­wölbt, ab­ge­schlos­sen von dem üb­ri­gen Land. Wäre es eine ein­zi­ge, große, grau­sa­me Stadt, sie wäre im­mer noch phan­tas­tisch, aber nicht dro­hend ge­spens­tisch. Eine große Stadt hat Zen­tren, Stra­ßen­zü­ge, ver­bun­den durch den Sinn ei­ner An­la­ge, sie hat Ge­schich­te, und ihre nach­kon­trol­lier­ba­re Ent­wick­lung ist be­ru­hi­gend. Sie hat eine Pe­ri­phe­rie, eine ganz ent­schie­de­ne Gren­ze, sie hört ir­gend­wo auf und läuft in Land über. Hier aber ist ein Dut­zend An­fän­ge, hier ist ein Dut­zend­mal Ende. Land will be­gin­nen, arm­se­li­ges, rauch­ge­schwän­ger­tes Land, aber schon läuft ein Draht her­bei und de­men­tiert es. Gro­ße Fa­brik­wür­fel aus Zie­gel­stein rücken un­ver­se­hens her­an, ste­hen da, fes­ter ge­grün­det als Ber­ge, Hü­gel, na­tur­not­wen­di­ger als Wäl­der. Jede klei­ne Stadt hat ih­ren Mit­tel­punkt, ihre Pe­ri­phe­rie, ihre Ent­wick­lung. Da sie aber alle vom Rauch zu ei­ner ein­zi­gen Stadt ver­ei­nigt wer­den sol­len, ver­liert ihre na­tür­li­che An­la­ge und ihre Ge­schich­te an Glaub­wür­dig­keit, je­den­falls an Zweck­mä­ßig­keit. Wozu? Wozu? Wozu hier Es­sen, da Duis­burg, Ham­born, Ober­hau­sen, Mül­heim, Bott­rop, El­ber­feld, Bar­men? Wozu so vie­le Na­men, so vie­le Bür­ger­meis­ter, so vie­le Ma­gis­trats­be­am­te für eine ein­zi­ge Stadt? Zum Über­fluß läuft noch in der Mit­te eine Lan­des­gren­ze. Die Be­woh­ner bil­den sich ein, rechts West­fa­len, links Rhein­län­der zu sein. Was aber sind sie? Be­woh­ner des Rauch­lands, der großen Rauch­stadt, Gläu­bi­ge des Rauchs, Ar­bei­ter des Rauchs, Kin­der des Rauchs.

Es ist, als wä­ren die Be­woh­ner der Städ­te weit zu­rück hin­ter der Ver­nunft und dem Stre­ben der Städ­te selbst. Die Din­ge ha­ben einen bes­se­ren Zu­kunfts­in­stinkt als die Men­schen. Die Men­schen füh­len his­to­risch, das heißt rück­wärts. Mau­ern, Stra­ßen, Dräh­te, Schorn­stei­ne füh­len vor­wärts. Die Men­schen hem­men die Ent­wick­lung. Sie hän­gen sen­ti­men­ta­le Ge­wich­te an die be­flü­gel­ten Füße der Zeit. Je­der will sei­nen ei­ge­nen Kirch­turm. In­des­sen wach­sen die Schorn­stei­ne den Kirchtür­men über die Spit­ze. Ver­schie­den­ar­ti­ge Glo­cken­klän­ge ver­schlingt der Rauch. Er hüllt sie in sei­ne düs­te­re Wat­te­sub­stanz, daß sie nicht ver­nehm­bar, ge­schwei­ge denn zu un­ter­schei­den sind. Jede Stadt hat ihr Thea­ter, ihre An­den­ken, ihr Mu­se­um, ihre Ge­schich­te. Aber nichts von die­sen Din­gen hat er­hal­ten­de Re­so­nanz. Denn die Din­ge, die his­to­ri­schen (so­ge­nann­ten »kul­tu­rel­len«), le­ben vom Echo, das sie nährt. Hier aber ist kein Raum für Echo und Re­so­nanz. Glo­cken­klän­ge le­ben vom Wi­der­hall, und alle kämp­fen ge­gen­ein­an­der, bis der Rauch kommt und sie er­stickt.

Da ha­ben ei­ni­ge klei­ne Städ­te ihre al­ten, wink­li­gen, wenn man will: ro­man­ti­schen Tei­le. Man nennt so was lau­schig. Rings um sie schmet­tert die Zeit. Dröh­nen­de Dräh­te um­span­nen sie. Alle zit­tern­den Luft­wel­len sind er­füllt von ra­dio-ge­spro­che­nen Wor­ten der Ge­gen­wart. Was wol­len die­se schlum­mern­den Por­ta­le, die­se ver­träum­ten Schön­hei­ten? Sie wa­ren da­heim, als der blaue Him­mel noch über ih­nen sich wölb­te. Nun aber wölbt sich grau­er Rauch über ih­nen. Nun sind sie ver­schüt­tet von Mil­lio­nen Koh­len­stäub­chen. Nie­mals, nie­mals wird ihre Wie­der­au­fer­ste­hung er­fol­gen. Nie­mals mehr wird ein rei­ner, nack­ter Son­nen­strei­fen sie ver­gol­den. Nie­mals wird ein sau­be­rer Re­gen sie wa­schen. Nie­mals wird eine ech­te Wol­ke sie be­schat­ten. Ver­lo­ren sind sie in all ih­rer Fes­tig­keit. Sie wa­ren für Jahr­hun­der­te ge­baut aus ewi­gem Stein, und nur weil ihre ma­te­ri­el­le Sub­stanz so dau­er­haft ist, sind sie noch da. Nicht, weil ihre Le­bens­kraft noch vor­han­den ist. Sie sind wie alte Mün­zen aus so­li­dem Sil­ber, die kei­nen Wäh­rungs­wert mehr ha­ben. Die lä­cher­lichs­te Bank­no­te aus dünns­tem Pa­pier ist ge­gen­wär­ti­ger.

Aus lä­cher­lich dün­nem Ma­te­ri­al sind die neu­en Stadt­tei­le. Da sind Wän­de, die man mit Dau­men und Mit­tel­fin­ger um­span­nen könn­te. Da sind Ba­ra­cken aus Holz und hoh­lem Zie­gel. Da sind Schin­del­dä­cher, wie von Kin­dern auf­ge­stülpt. Es steht, es fällt, es wird wie­der­auf­ge­baut. So­eben noch wa­ren sie weiß, strah­lend von neu­er, kurz­le­bi­ger Tün­che. Jetzt sind sie schwarz wie fau­le Zäh­ne. Jede Stra­ße wie ein of­fe­ner Mund.

Men­schen woh­nen hier. Men­schen, die alle ein Ziel ha­ben. Auch die Ar­beits­lo­sen ha­ben ein Ziel. Sie schrei­ten aus. Wozu schlen­dern? Was ist hier zu sehn? Kin­der spie­len in der Stra­ßen­mit­te. Alle Fens­ter sind gleich. Alle Häu­ser­tü­ren sind gleich. Hier sind nur Num­mern ver­schie­den. Alle Men­schen ha­ben den ver­bis­se­nen Wil­len, ein Ziel zu er­rei­chen. Vi­el­leicht ist es die Ar­beits­lo­sen­un­ter­stüt­zung. Vi­el­leicht ist es der Kon­sum­ver­ein. Vi­el­leicht ist es das Ver­samm­lungs­lo­kal. Vi­el­leicht ist es ein Ein­bruch. Vi­el­leicht ist es die Re­vo­lu­ti­on. Vi­el­leicht ist es das Kino.

Ach, es ist so gleich­gül­tig! Ein Ziel wie das an­de­re. Eine Stadt wie die an­de­re. Eine Stra­ße wie die an­de­re. Steig in die Stra­ßen­bahn. Du bist in ei­ner hal­b­en Stun­de in der nächs­ten Stadt. Hat sich was ge­än­dert? Rauch über der Welt! Man fährt nach Ober­hau­sen, von da nach Mül­heim, von da nach Reck­ling­hau­sen, nach Bo­chum, nach Glad­beck, nach Buer, nach Ham­born, nach Bott­rop. Rauch über der Welt! Kein Him­mel, kei­ne Wol­ke! Re­gen, der aus Rauch kommt. Schwar­zer Re­gen. Hun­dert Schorn­stei­ne, auf­ge­streck­te Zei­ge­fin­ger, Säu­len des Rauch­him­mels, Al­tä­re des Got­tes Rauch. Schie­nen auf der Erde, kor­re­spon­die­ren­de Dräh­te in der Luft. Eine ein­zi­ge, grau­sa­me Stadt aus Stadt­häuf­chen, aus Städt­chen­grup­pen. Da­zwi­schen läuft eine ein­ge­bil­de­te Lan­des­gren­ze. Aber dar­über wölbt sich ein ein­heit­li­cher Him­mel aus Rauch, Rauch, Rauch.

Der Polizeireporter Heinrich G

Hein­rich G., ein Po­li­zei­re­por­ter, übte sei­nen Be­ruf schon seit mehr als zwan­zig Jah­ren aus. Er war ein Mann von ei­nem freund­li­chen, run­den, hei­te­ren An­ge­sicht und ei­nem be­hä­bi­gen Kör­per. Er schi­en we­der die Schnel­lig­keit zu be­sit­zen, die sein Be­ruf er­for­dert, noch einen kri­ti­schen Sinn für die Er­träg­lich­keit der Schre­cken, über die er be­rich­te­te. Man hät­te ihn etwa für den Di­rek­tor ei­nes Pup­pen­thea­ters hal­ten kön­nen, auch für einen Schnellpho­to­gra­phen für ver­lieb­te Spa­zier­gän­ger im Grü­nen, der flot­ten Nach­läs­sig­keit we­gen, mit der sei­ne Hose in Qu­er­fal­ten auf die so­li­den Stie­fel fiel, der sorg­lo­sen Will­kür we­gen, mit der ein brei­ter, win­di­ger Schmet­ter­ling aus brau­ner Sei­de über dem kar­gen Aus­schnitt der Wes­te flat­ter­te, kei­ne Kra­wat­te mehr, son­dern ein mun­te­res Spiel­zeug der Lüf­te. Die lä­cheln­de Ruhe die­ses Man­nes lag über sei­nem In­ter­es­se für die blu­ti­gen Schau­der der Kri­mi­na­lis­tik wie ein hei­te­rer Som­mer­tag vor dem Ein­gang zu ei­ner pan­op­ti­ka­len Schre­ckens­kam­mer. Den harm­lo­sen Freu­den des All­tags schi­en sein We­sen zu­ge­wandt. Er schlen­der­te durch die Stra­ßen, den Spa­zier­stock in bei­den Hän­den und bei­de Hän­de auf dem Rücken; der­ma­ßen, daß es aus­sah, als er­hiel­te er von rück­wärts her die rund­li­che Wöl­bung sei­nes Bau­ches. Oft blieb er vor den Schau­fens­tern stehn. Sein Blick such­te nicht die aus­ge­stell­ten Ge­gen­stän­de, son­dern den Luf­traum hin­ter der Schei­be, viel­leicht aber auch sein ei­ge­nes Spie­gel­bild. Das Auge war ver­lo­ren wie das ei­nes Träu­mers, der zweck­los in den Him­mel sieht. So ließ er sich von sei­nen vor­über­ge­hen­den Freun­den über­ra­schen, de­ren er vie­le zähl­te. Es wa­ren große, vier­schrö­ti­ge Män­ner mit viel zu klei­nen, grü­nen Lo­den­hüt­chen auf glat­tra­sier­ten Schä­deln: Kri­mi­nal­be­am­te. Sie blie­ben ste­hen. Ihr Be­ruf hat­te sie dar­an ge­wöhnt, die Men­schen, mit de­nen sie in Ver­bin­dung tre­ten woll­ten, zu­erst zu be­ob­ach­ten und dann zu über­ra­schen. Auch um einen Freund an­zu­spre­chen, leg­ten sie ihre schwe­re Hand auf sei­ne ah­nungs­lo­se Schul­ter, als woll­te ihr Mund schon »Im Na­men des Ge­set­zes ...« sa­gen. Aber sie lie­ßen nur ein mäch­ti­ges »Hal­lo!« er­schal­len. Hein­rich G. wand­te sich nicht um. Er wur­de im Lauf des Ta­ges so oft über­rascht, sei­ne rech­te Schul­ter er­hielt so vie­le freund­schaft­li­che Schlä­ge, sein Ohr ver­nahm so häu­fig das freund­li­che »Hal­lo«, daß er eher ver­wun­dert ge­we­sen wäre, ein­mal eine Vier­tel­stun­de vor ei­nem Schau­fens­ter zu stehn, ohne an­ge­spro­chen zu wer­den. Ohne sei­nen Blick von der Schei­be zu he­ben, sag­te er, zu ihr ge­wandt: »Grüß Gott!« Der an­de­re war­te­te. Erst eine ge­rau­me Wei­le spä­ter wur­de er von Hein­rich G. be­se­hen und agnos­ziert: »Ah, das ist der An­ton! Ich dach­te, das wär’ der Franz! Du hast aber ge­nau die­sel­be Hand. Eine Lau­ne der Na­tur!« Hier­auf setz­ten sich bei­de in Be­we­gung. Nach dem ers­ten Schritt zog Hein­rich G. eine nack­te Zi­gar­re aus der lin­ken obe­ren Wes­ten­ta­sche. Er hielt die Zi­gar­re ein we­nig vor den Au­gen, dreh­te sie und sag­te: »De­li­ka­te Ha­van­na!« Dann schenk­te er sie sei­nem Freund.

Fast alle Kol­le­gen tru­gen Ak­ten­ta­schen und gin­gen mit ei­li­gen Schrit­ten über die Stra­ße. Er al­lein schlen­der­te lang­sam da­hin -- und trug er ge­le­gent­lich eine Ta­sche, so wa­ren kei­ne Pa­pie­re und Zei­tun­gen dar­in, son­dern Le­bens­mit­tel, schö­ne blu­ti­ge Fleisch­klum­pen und herz­er­fri­schen­de Möhr­chen und flat­tern­der Blät­ter­sa­lat. Denn er be­such­te ger­ne die mor­gend­li­chen Märk­te, von al­len Händ­lern ge­grüßt und freund­lich mit ei­nem Fin­ger sa­lu­tie­rend. Man brach­te ihm al­les ent­ge­gen. Er brauch­te nicht zu wäh­len. Blieb er wort­los, einen Fin­ger am Hu­trand, die Zi­gar­re zwi­schen den Lip­pen, vor ei­nem Händ­ler ste­hen, so wand­te sich die­ser um, ging zu sei­nen Kör­ben, hol­te eine Ware her­vor, pack­te sie ein und leg­te sie selbst in Hein­rich G.’s Ak­ten­ta­sche. Hein­rich G. zahl­te. Al­les spiel­te sich laut­los ab. An­de­re Kun­den muß­ten war­ten.

Sei­ne Kol­le­gen hat­ten be­stimm­te Bü­ro­stun­den. Hein­rich G. ar­bei­te­te un­ter­wegs. Manch­mal be­trat er ein Kaf­fee­haus, sa­lu­tier­te, ging in die Te­le­phon­zel­le, kram­te aus der ge­räu­mi­gen Rock­ta­sche ein paar zer­knüll­te Zet­tel her­vor und te­le­pho­nier­te sei­ner Zei­tung eine neue Schre­ckens­nach­richt. Sie be­stand nur aus Roh­ma­te­ri­al, aus Na­men, Da­ten, Fak­ten. Es wa­ren Stich­wor­te, kei­ne Sät­ze. Un­ge­fähr so lau­te­te eine Mel­dung: »Heu­te, 26. April, Hen­ri­et­te Kra­lik er­mor­det auf­ge­fun­den, Po­li­zei, Spur, Ta­ge­löh­ner Richard Jo­sef Ha­ber, 32 Jah­re, ein­mal Ein­bruch vor­be­straft, ab­ge­schafft, Auf­ent­halt un­ge­setz­lich.« Er dik­tier­te ein Dut­zend Mor­de, Raub­über­fäl­le, Ein­brü­che in Ban­ken und Pri­vat­häu­ser, zün­de­te die Zi­gar­re wie­der an und ver­ließ das Kaf­fee­haus, einen Fin­ger am Hu­trand. Wo­her er­fuhr er alle Grau­sam­kei­ten? Er ent­zog sie der Luft, in der sie ge­le­gen wa­ren, den Schau­fens­tern viel­leicht, er ent­nahm sie dem »Hal­lo«, mit dem ihn sei­ne Freun­de be­grüß­ten. Am Vor­mit­tag ging er zur Po­li­zei. Der Pos­ten vor dem Ein­gang sa­lu­tier­te und be­kam von Hein­rich G. eine Zi­gar­re. In dem lan­gen, halb­dunklen Kor­ri­dor, in dem die wei­ßen Rei­hen der Tür­knöp­fe aus Por­zel­lan leuch­te­ten, öff­ne­te Hein­rich G. eine Tür nach der an­dern, steck­te den Kopf durch den Spalt, wäh­rend gleich­zei­tig sein Stock, von der Lin­ken am Rücken ge­hal­ten, ein paar leb­haf­te­re We­del­be­we­gun­gen mach­te, als hät­te er eine un­mit­tel­ba­re phy­sio­lo­gi­sche Be­zie­hung zu der Zun­ge und den Lip­pen, die »Gu­ten Mor­gen!« in die Bü­ros hin­ein­rie­fen. »Gu­ten Mor­gen!« kam es zu­rück. Die Tür schloß sich wie­der, eine an­de­re ging auf. Manch­mal -- es war nicht zu er­ken­nen, aus wel­chen Grün­den -- trat Hein­rich G. in ei­nes der Zim­mer und blieb ein paar Mi­nu­ten. Pfei­fend, mit ge­spitz­ten Lip­pen, die einen ko­mi­schen klei­nen, ro­ten Fleck im Ge­sicht bil­de­ten, trat er wie­der in den Kor­ri­dor. Das Lied­chen, das er pfiff, ließ er­ken­nen, daß er et­was Be­son­de­res er­fah­ren hat­te. Er ging zur nächs­ten Tür, »Gu­ten Mor­gen!« sa­gen. Dann stieg er in den zwei­ten Stock, un­auf­hör­lich ge­grüßt, un­auf­hör­lich sa­lu­tie­rend auf der Trep­pe, die von Auf- und Ab­stei­gen­den be­völ­kert war. Im zwei­ten Stock, wo die Kor­ri­do­re et­was hel­ler wa­ren, wie­der­hol­te er sei­nen Mor­gen­gruß an den Tü­ren. Durch einen an­de­ren, rück­wär­ti­ge Aus­gang ver­ließ er das Ge­bäu­de. Auch hier sa­lu­tier­te ein Pos­ten. Und auch die­ser be­kam von Hein­rich G. eine Zi­gar­re.

Zu ei­ner spä­ten Abend­stun­de, wenn die an­dern sich an­schick­ten, nach Hau­se zu ge­hen, be­such­te er die Re­dak­ti­on. Er trat in sein Zim­mer, das weit und kahl war, ent­zün­de­te die Lam­pe, setz­te sich an den Schreib­tisch und zer­knüll­te den di­cken Hau­fen von Pa­pie­ren, die seit dem Mor­gen auf ihn ge­war­tet hat­ten. Es wa­ren Nach­rich­ten von der Po­li­zei­kor­re­spon­denz, die er alle schon kann­te. Er kam von den Quel­len, nichts Neu­es konn­te er noch er­fah­ren. Die Pa­pie­re be­lei­dig­ten ihn fast. Längst hat­te er alle Nach­rich­ten »dem Blatt ge­ge­ben«, die sie ent­hal­ten moch­ten. Und wahr­schein­lich ent­hiel­ten sie nicht ein­mal al­les, was er wuß­te. Der Tisch war leer. Das Tin­ten­faß tro­cken, die Fe­dern ros­tig und zer­bro­chen. Hein­rich G. schrieb nicht. Er brauch­te nichts zu schrei­ben. Er saß vor sei­nem lee­ren Tisch, zog sei­ne Schub­la­de auf, ent­nahm ihr eine Hand­voll »de­li­ka­ter Ha­van­nas«, schlug die Lade wie­der zu und ver­ließ das Zim­mer. Wie er am Vor­mit­tag durch alle Tü­ren der Po­li­zei »Gu­ten Mor­gen« ge­ru­fen hat­te, so rief er jetzt durch alle Tü­ren der Re­dak­ti­on: »Gu­ten Abend!« Die Re­dak­ti­ons­bo­ten im Vor­zim­mer be­ka­men Ha­van­nas. Dann te­le­pho­nier­te Hein­rich G. in ein Re­stau­rant. Fünf Mi­nu­ten spä­ter brach­te ihm ein Kell­ner das Abendes­sen auf ei­ner rie­si­gen Plat­te. Es dampf­te. Ein dich­ter, wei­ßer Schaum rann über die Rän­der des glä­ser­nen Bier­krugs. Der Kell­ner be­kam eine Ha­van­na. Und nichts wei­ter ge­sch­ah. Und nichts mehr habe ich zu er­zäh­len. So, wie oben be­schrie­ben, war Hein­rich G., der Po­li­zei­re­por­ter.

Fräulein Larissa, der Modereporter

Fräu­lein La­ris­sa ver­füg­te zwar über ein Pseud­onym, aber an­schei­nend nicht über einen Fa­mi­li­enna­men. Als hät­ten die Sel­ten­heit und der frem­de und schö­ne Klang ih­res Vor­na­mens La­ris­sa von der bür­ger­li­chen Pf­licht be­freit, noch einen an­de­ren zu füh­ren, oder als hät­te sich die­ser an­de­re, weil er viel­leicht zu sim­pel, ge­schämt, sich an die Sei­te ei­nes Worts wie »La­ris­sa« zu stel­len.

Sie war seit un­denk­li­chen Zei­ten eine treue Mit­ar­bei­te­rin des Blat­tes, die man aus Galan­te­rie nicht eine »alte Mit­ar­bei­te­rin« nen­nen konn­te. Man sag­te lie­ber: eine »lang­jäh­ri­ge«. In der Tat hat­te die Galan­te­rie aus­nahms­wei­se nicht un­recht. La­ris­sa war nicht mehr jung, aber sie blieb ju­gend­lich. Ja, ihre Ju­gend­lich­keit war kei­nes­wegs künst­lich, son­dern eher eine Art zwei­ter na­tür­li­cher Ju­gend, die mit der ers­ten die cha­rak­te­ris­ti­sche an­mu­ti­ge Tor­heit ge­mein hat­te. Ihr ver­dank­te La­ris­sa ge­le­gent­lich Be­we­gun­gen, Miß­ver­ständ­nis­se, Auss­prü­che, rüh­ren­de Ma­ni­fes­ta­tio­nen ei­ner rüh­ren­den Ah­nungs­lo­sig­keit, die den er­wach­se­nen, ält­li­chen Men­schen mit ei­nem Schlag und nur für die Dau­er ei­ni­ger Se­kun­den in einen char­man­ten Back­fisch ver­wan­del­ten. Dann war La­ris­sa wie ein jun­ges Mäd­chen aus ei­ner ganz fer­nen, ver­schol­le­nen Zeit. Es war, als wäre sie vor lan­gen Jah­ren in der Blü­te ih­rer Ju­gend ge­stor­ben und eben durch ein Wun­der aus ei­nem ewi­gen Schlaf er­wacht, um ihre Ju­gend fort­zu­set­zen. Sie war gleich­sam nicht ge­al­tert; son­dern im Ver­lauf der Jah­re zu ei­ner Ru­he­stät­te, ei­ner Be­hau­sung ih­rer ei­ge­nen ver­bor­ge­nen ein­ge­schla­fe­nen und nur ge­le­gent­lich er­wa­chen­den Ju­gend ge­wor­den.

Sie war Be­richt­er­stat­te­rin über Mo­de­an­ge­le­gen­hei­ten. Da aber die Mode al­lein nicht ge­nug Er­träg­nis­se ein­brach­te, küm­mer­te sich La­ris­sa auch um alle jene öf­fent­li­chen Din­ge, die nach ei­ner weit­ver­brei­te­ten Mei­nung der weib­li­chen Na­tur »nä­her­lie­gen« als der männ­li­chen. Zum Bei­spiel um Mut­ter­schutz, Wai­sen­kin­der, Wohl­tä­tig­keits­fes­te, Lot­te­ri­en und Schei­dungs­pro­zes­se, Blu­men­aus­stel­lun­gen und Ob­dach­lo­sen­asy­le. So sehr sich alle die­se An­ge­le­gen­hei­ten auch von­ein­an­der un­ter­schie­den, so blieb doch Fräu­lein La­ris­sas Hal­tung ge­gen­über den De­mons­tra­tio­nen des Lu­xus wie je­nen des Elends im­mer gleich, die Me­lo­die ih­rer Be­rich­te -- denn sie hat­te statt ei­nes Stils eine Me­lo­die -- im­mer die­sel­be. Nur das Ad­jek­ti­vi­sche wech­sel­te. Hieß es ein­mal: »In den pracht­vol­len Räu­men des ...Ka­si­nos fand am 21. die­ses Mo­nats« usw., so stand das an­de­re Mal: »In den düs­te­ren Räu­men des ... Ob­dach­lo­sen­asyls herrsch­te am 23. die­ses Mo­nats hel­le Freu­de ...« usw. Fräu­lein La­ris­sas schrift­li­che Be­rich­te wa­ren von ei­ner hel­len, op­ti­mis­ti­schen Sach­lich­keit, wäh­rend ihre münd­li­chen Be­rich­te sie selbst und den Hö­rer bis zu Trä­nen rüh­ren konn­ten. Sie be­saß einen Blick, das Rüh­ren­de aus­fin­dig zu ma­chen, und eine Stim­me, es zu er­zäh­len. Den Wor­ten aber, in de­nen sie es nie­der­schrieb, fehl­ten die Wär­me und die An­mut, kurz: »die Be­seelt­heit« ih­rer Stim­me. Zwi­schen den Zei­len schweb­te ver­lo­ren der Rest ei­ner per­sön­li­chen Me­lo­die, auch nur für sehr fei­ne Ohren ver­nehm­bar. Da der Lo­kal­re­dak­teur aber für »Sub­stan­ti­el­les im Blatt« war und von zwan­zig Zei­len, die Fräu­lein La­ris­sa ge­schrie­ben hat­te, vier­zehn zu strei­chen pfleg­te, ent­schweb­te meist auch der Rest der Me­lo­die für ewi­ge Zei­ten. Aus die­sen und ähn­li­chen Grün­den blieb Fräu­lein La­ris­sa ein Ob­jekt, ein Werk­zeug, ein Or­gan des Lu­xus, auch wenn sie sich mit dem Elend be­faß­te. Und selbst ihre Be­rich­te über ak­tu­el­le An­ge­le­gen­hei­ten der öf­fent­li­chen Ar­mut blie­ben lie­gen, weil man glaub­te, es wä­ren Be­rich­te über Blu­men­fes­te.

Von der be­son­de­ren Ele­ganz, die Fräu­lein La­ris­sa äu­ßer­lich kenn­zeich­ne­te, muß noch ei­ni­ges ge­sagt wer­den: sie ging, weil sie die bes­ten be­ruf­li­chen Ver­bin­dun­gen mit den großen Schnei­dern hat­te, nicht etwa nach der »letz­ten Mode« ge­klei­det, son­dern be­reits nach der nächs­ten. Sie trug schon im Früh­ling die Som­mer­pel­ze und im Herbst die Win­ter­hü­te. Und so war sie selbst der zu­ver­läs­sigs­te, der best­ge­lun­ge­ne »Vor­be­richt über die nächs­te Mo­de­se­a­son«. Es gibt kei­ne grö­ße­re jour­na­lis­ti­sche Voll­kom­men­heit. Sie ver­wan­del­te sich selbst in ihre Ar­ti­kel -- und die Zei­len, die sie schrieb und die man ihr strich, wa­ren viel­leicht nur des­halb so un­be­hol­fen, weil ihre äu­ße­re Er­schei­nung ihre jour­na­lis­ti­schen Fä­hig­kei­ten vor­weg­ge­nom­men hat­te.

Ja, so­gar ihre Ge­stalt schi­en sich den kom­men­den wech­seln­den Mo­den an­zu­pas­sen. Sie be­kam und ver­lor ver­schie­de­ne »Li­ni­en«, Hüf­ten, Büs­ten, Schul­tern. Und den­noch be­hielt das, was man ihr »ei­gent­li­ches We­sen« nen­nen könn­te, gleich­sam die in­ners­te kör­per­li­che Hül­le ih­rer See­le, et­was Un­zeit­ge­mä­ßes, Ver­schol­le­nes, und im­mer war ein Ab­stand zwi­schen »ihr selbst« und der Per­sön­lich­keit, der sie sich ab­wech­selnd an­paß­te. Vi­el­leicht mach­te die­sen Ab­stand ein voll­kom­me­ner Man­gel an Ei­tel­keit sicht­bar. Fräu­lein La­ris­sa de­mons­trier­te die Klei­der, die sie trug, wie etwa ein Phy­si­ker Ex­pe­ri­men­te. »Se­hen Sie«, konn­te sie sa­gen, »so einen recht­e­cki­gen Feh­be­lag am Är­mel wird man nächs­tens tra­gen. Die Schö­ße wer­den wie­der glo­cken­för­mig. So wie bei mir!« Und sie stand auf, mach­te eine Wen­dung, und man sah die Glo­cken­form ih­res Rocks.

Je­der Witz mach­te sie ver­le­gen. Denn sie, die nie­mals eine Dop­pel­sin­nig­keit be­griff, fürch­te­te im­mer eine »An­züg­lich­keit«. Und sie wur­de auf je­den Fall rot, auch wenn sie et­was Be­lang­lo­ses, Ein­fa­ches miß­ver­stan­den hat­te. Das wa­ren üb­ri­gens die Au­gen­bli­cke, in de­nen sie schön wur­de und in de­nen man sie hät­te lie­ben kön­nen. Die Scham ver­zau­ber­te sie. Sie war ein jun­ges Mäd­chen. Ihr ver­küm­mer­tes Ge­sicht weck­te die Ver­le­gen­heit, die glei­che Ver­le­gen­heit, die man in der An­we­sen­heit ei­nes jun­gen Mäd­chens emp­fin­det: eine Ver­le­gen­heit, ge­mischt aus Vä­ter­lich­keit, Mit­leid und Lust.

Fräu­lein La­ris­sa starb am Ty­phus wäh­rend des Krie­ges. Sie war Pfle­ge­rin ge­we­sen. Sie starb in Bu­ka­rest. Dort wur­de sie be­gra­ben. Zum ers­ten und zum letz­ten Mal stand ihr vol­ler Name in der Zei­tung. Sie hieß La­ris­sa Schorr.

Der Nachtredakteur Gustav K

Gu­stav K. war ein Nacht­re­dak­teur.

Das Blatt er­schi­en je­den Mor­gen um drei Uhr. Jede Nacht um elf Uhr drei­ßig er­schi­en der Nacht­re­dak­teur.

Er war frisch ra­siert, frisch ge­wa­schen, aus­ge­ruht, nach Sei­fe duf­tend und Menthol. Ein vor­aus­ge­eil­ter Teil des nächs­ten Mor­gens.

Er schi­en die Mü­dig­keit der an­de­ren nicht zu be­grei­fen. Er­frischt von sei­ner Mor­gen­wan­de­rung durch die nächt­li­chen Stra­ßen be­trat er ah­nungs­los die Ge­sell­schaft der Er­schlaff­ten, klopf­te den Ste­hen­den auf die Schul­tern, den Sit­zen­den auf die Knie und wun­der­te sich, daß sie zu­sam­men­fie­len, mor­sche Gerüs­te.

Er schi­en sich für den Ge­sun­des­ten zu hal­ten. Ja, es war, als ob er sich jede Nacht aufs neue sei­ne ei­ge­ne Stär­ke ab­sicht­lich de­mons­trier­te, um sein schwäch­li­ches Aus­se­hen, sei­ne ma­ge­ren Glie­der, sein blaß­gel­bes Ge­sicht zu de­men­tie­ren.

Zwei Stun­den spä­ter war auch er ver­wan­delt. In zwei­mal sech­zig Mi­nu­ten hat­te er einen zwölf­stün­di­gen Ar­beits­tag zu­rück­ge­legt.

In sei­nem dün­nen An­ge­sicht flos­sen die Schat­ten der Sor­gen mit den zu­fäl­li­gen fet­ten Spu­ren der Drucker­schwär­ze zu­sam­men, die ein acht­lo­ser Fin­ger hin­ter­las­sen hat­te. Die ge­schei­tel­ten dün­nen, schwar­zen Haa­re stan­den wie Dräht­chen und win­zi­ge Spi­räl­chen. Die Rän­der der Fin­ger­nä­gel wa­ren auf ein­mal schief ge­schnit­ten, we­nigs­tens schie­nen die lila Fle­cken un­auf­hör­lich nach­ge­spitz­ter Tin­ten­stif­te die Un­re­gel­mä­ßig­keit der Na­gel­for­men sicht­bar zu ma­chen. Als wäre die Ar­beit am Schreib­tisch ein un­fehl­ba­res Haar­wuchs­mit­tel, be­gann der Bart des Nacht­re­dak­teurs, kaum eine Stun­de, nach­dem er ra­siert wor­den war, üp­pig und grauschwarz aus den Po­ren der Wan­gen zu drin­gen. Die wei­ßen Man­schet­ten kleb­ten am Hand­ge­lenk, da­hin war ihr halb­ge­steif­ter Glanz. Der Kno­ten der Kra­wat­te wur­de lo­cker, schob sich zwi­schen die Wän­de des »Ste­hum­leg­kra­gens« und ließ ein glän­zen­des gol­de­nes Knöpf­chen se­hen, an dem nicht nur der Kra­gen und das Hemd, son­dern auch die gan­ze Klei­dung des Man­nes, ja er selbst zu hän­gen schie­nen. Er­hob sich Gu­stav K. aus sei­nem Lehn­stuhl, so sah man plötz­lich die Holz­wol­le aus ei­nem Loch im dün­nen Le­der­be­zug drin­gen -- und zwar mit ei­nem sol­chen Un­ge­stüm, daß man glau­ben konn­te, das Loch wäre frü­her nicht da­ge­we­sen, son­dern erst von der Wir­bel­säu­le des Re­dak­teurs aus­ge­bohrt wor­den. Er selbst ging mit vor­ge­neig­tem Ober­kör­per und lo­cke­ren, seit­wärts schlen­dern­den Bei­nen die Stie­ge zur Set­ze­rei hin­auf. Er er­in­ner­te an einen Lah­men, der die Krücken ab­ge­legt hat. Oben, in der Set­ze­rei, lehn­te er sich mit auf­ge­stütz­ten El­len­bo­gen an einen der lan­gen, me­tall­be­schla­ge­nen Ti­sche, einen Ko­pier­stift zwi­schen den Lip­pen, den er hin- und her­glei­ten ließ wie eine na­tür­li­che Fort­set­zung der Zun­ge. Der Blei­stift be­glei­te­te so die Be­we­gun­gen der Au­gen, die einen Bürs­ten­ab­zug la­sen. An der und je­ner Stel­le blie­ben sie haf­ten, und auch der Blei­stift stand still. Manch­mal lös­te sich die Hand von der Wan­ge, der El­len­bo­gen vom Tisch. Gu­stav K. er­griff ein Stück Pa­pier, zer­knüll­te es lang­sam, form­te es zu ei­nem Ball und schleu­der­te es ei­nem der ah­nungs­lo­sen Set­zer zu, der eine er­schro­cke­ne Be­we­gung mach­te. Das war ein Witz ge­we­sen. Es war, als hät­te sich der Nacht­re­dak­teur nur über­zeu­gen wol­len, ob er noch zie­len kön­ne. Ei­nen Au­gen­blick nur hat­te sein An­ge­sicht den Aus­druck ei­ner kna­ben­haf­ten Ver­spielt­heit ge­zeigt. Man konn­te ihn se­hen, wie er in kur­z­en Hö­schen vor drei­ßig Jah­ren am Ufer ei­nes Was­sers Stein­chen in die Wel­len schleu­dert.

Er wur­de so­fort wie­der ernst. Er ver­gaß nicht einen Au­gen­blick, daß er die »gan­ze Verant­wor­tung« für »das Blatt« trug und daß er un­auf­hör­lich Ge­fahr lief, eine falsche Nach­richt für eine rich­ti­ge zu hal­ten, eine rich­ti­ge für falsch, eine wich­ti­ge für be­lang­los, eine Klei­nig­keit für wich­tig.

Er kann­te die gan­ze Welt, ob­wohl er nur einen klei­nen Teil von ihr ge­se­hen hat­te. Wenn ein Te­le­gramm aus Peru mel­de­te, eine Brücke wäre ein­ge­stürzt, so schi­en es Gu­stav K., weil er mit Peru so ver­traut war, daß der Ein­sturz der Brücke wich­tig ge­nug sei, in Bor­gis ge­setzt zu wer­den. Kam ein Be­richt über Heuschre­cken im Kau­ka­sus, so hät­te Gu­stav K., weil er die Heuschre­cken so ge­nau kann­te und den Kau­ka­sus, am liebs­ten einen Auf­satz von ei­nem Na­tur­for­scher ge­bracht. Für ihn gab es kei­ne geo­gra­phi­sche Fer­ne. Er be­schwer­te »das Blatt« mit fünf­zig über­flüs­si­gen Nach­rich­ten. Hielt ihm der Che­fre­dak­teur am nächs­ten Abend vor, daß die Nach­richt über den Ge­ne­ral Cor­rei­ra in Me­xi­ko nie­man­den et­was an­ge­he, so er­wi­der­te Gu­stav K.: »Sie täu­schen sich! Der Ge­ne­ral Cor­rei­ra hat eine au­ßer­ge­wöhn­li­che Lauf­bahn! Im Jah­re 1874 ge­bo­ren, ist er 1894 schon Oberst der Trup­pen von Vera Cruz, und der nächs­te Auf­stand macht ihn zum Kom­man­dan­ten der Haupt­stadt. So­gar sei­ne Fein­de ach­ten ihn. Und jetzt hat er eine schwe­re Rip­pen­fell­ent­zün­dung ...!« Ging es schon nicht an, die Rip­pen­fell­ent­zün­dung in Pe­tit zu brin­gen, so er­schi­en sie we­nigs­tens in Non­pareil­le un­ter den »Ver­misch­ten Nach­rich­ten«. Eine Toll­wut un­ter den Hun­den von Kon­stan­ti­no­pel hat­te An­spruch auf zehn Zei­len auf der drit­ten Sei­te, links oben, weil die Hun­de in Kon­stan­ti­no­pel eine Ge­fahr für die gan­ze Mensch­heit wer­den konn­ten. »Un­ter Um­stän­den«. -- »Un­ter Um­stän­den«, pfleg­te Gu­stav K. zu sa­gen, »kann so eine Toll­wut die Ma­tro­sen großer Damp­fer er­rei­chen«. Es gab also nichts »Un­wich­ti­ges«. Wenn der Nacht­re­dak­teur eine Nach­richt über ein klei­nes Er­eig­nis in ei­nem weit ent­fern­ten Lan­de schon in den Pa­pier­korb ge­tan hat­te, so bück­te er sich nach fünf Mi­nu­ten, hol­te das zer­knüll­te Pa­pier her­vor, glät­te­te es und wan­del­te es künst­lich wie­der in den Zu­stand ei­ner eben ein­tref­fen­den, noch un­be­kann­ten Nach­richt. Er zwang sich, sie zu ver­ges­sen, um sie hier­auf noch ein­mal zu er­fah­ren. Noch ein­mal tauch­ten die al­ten Ar­gu­men­te ge­gen ihre Ver­öf­fent­li­chung auf; und noch ein­mal warf er sie weg.

Aber wahr­schein­lich tat sie ihm noch lan­ge leid. Und fand er sie am nächs­ten Tag in ei­nem an­de­ren Blatt, so emp­fand er Ge­wis­sens­bis­se über sei­ne Gleich­gül­tig­keit der Zeit und ih­ren Er­eig­nis­sen ge­gen­über, und er be­nei­de­te sei­nen Kol­le­gen, der die Nach­richt »ins Blatt« ge­bracht hat­te. Ja, es ist an­zu­neh­men, daß er in sol­chen Au­gen­bli­cken be­schloß, bei dem »Um­bruch« der fol­gen­den Num­mer vor­sich­ti­ger mit den klei­nen und ver­misch­ten Nach­rich­ten um­zu­ge­hen. Aber saß er dann wie­der vor dem auf­ge­häuf­ten »Ma­te­ri­al«, las er die Be­rich­te aus der nä­he­ren Um­ge­bung, so er­in­ner­te er sich mit ei­nem we­hen Schre­cken an die un­barm­her­zi­ge Wirk­lich­keit ei­ner in Na­tio­nen, Staa­ten, Län­der, Städ­te auf­ge­teil­ten Welt und an die Tat­sa­che, daß er selbst der Re­dak­teur ei­nes be­stimm­ten na­tio­nal be­stimm­ten Blat­tes war, das in ei­ner be­stimm­ten Stadt er­schi­en. Daß es also Gren­zen gab zwi­schen na­hen und den fer­nen Er­eig­nis­sen und daß »der Le­ser« kein Kos­mo­po­lit war, dem die gan­ze Erde ein gleich­mä­ßig in­ter­essan­tes An­ge­sicht bot, son­dern ein fest­ge­ses­se­ner Mensch, den der Nach­bar mehr in­ter­es­sier­te als der Aus­bruch des Ve­suvs. Und er sor­tier­te die Er­eig­nis­se, wie es sei­ne Pf­licht war, nach na­hen und fer­nen, nach Gar­mond, Bor­gis, Pe­tit und Non­pareil­le, und die nächs­ten Din­ge be­ka­men die größ­ten Schrif­ten.

Ge­gen drei Uhr mor­gens wusch er sich die Hän­de an der Was­ser­lei­tung in der Set­ze­rei, lang­sam, gründ­lich, mit Streu­sand und schar­fer Sei­fe. Dann warf er noch einen Blick in den hal­b­er­blin­de­ten Spie­gel, fuhr mit den Fin­gern über das Haar und wisch­te mit ei­nem Ta­schen­tuch die schwar­zen Fle­cken aus sei­nem An­ge­sicht. Er er­in­ner­te an einen Schau­spie­ler, der sich ab­schminkt. Im Som­mer war, wenn er die Stra­ße be­trat, der Him­mel schon klar. Die ers­ten Am­seln be­gan­nen zu flö­ten. Die Milch­wa­gen rat­ter­ten. Die Bäcker­jun­gen flat­ter­ten weiß von Haus zu Haus. Gu­stav K. be­gab sich in ein Kaf­fee­haus in der Nähe des großen Mark­tes. Es öff­ne­te sich sehr früh, der Händ­ler we­gen. Über dem Bü­fett brann­te trüb und gelb die Lam­pe, ein schon ge­stor­be­nes Licht von ges­tern. Der Re­dak­teur, dem ges­tern nacht be­reits der heu­ti­ge Mor­gen ge­we­sen war, er­in­ner­te heu­te mor­gen an die gest­ri­ge Nacht. Er saß zwi­schen den rüs­ti­gen länd­li­chen Frau­en und Män­nern, die nach Rü­ben und Karot­ten ro­chen, dop­pelt bleich, zehn­fach ein­sam, der in­tel­lek­tu­el­le Re­prä­sen­tant der Stadt, der ech­tes­te al­ler Städ­ter: ein Re­dak­teur. Er ent­fal­te­te das ers­te der Mor­gen­blät­ter, und so­fort ver­trieb die Drucker­schwär­ze den Ge­ruch der Rü­ben und Karot­ten. Es war der Ge­ruch der Stadt. Er er­in­ner­te an den des schmel­zen­den As­phalts und des Ter­pen­tins und des Pechs, mit dem die Stra­ßen aus­ge­bes­sert wur­den. Gu­stav K. war­te­te auf die an­de­ren Mor­gen­blät­ter, fand in ih­nen klei­ne Nach­rich­ten, die er selbst nicht »ge­ge­ben« hat­te, und ging ver­är­gert zur Hal­te­stel­le der Stra­ßen­bahn. Mit dem ers­ten Wa­gen, der frisch und mun­ter aus der Ga­ra­ge kam, fuhr er nach Hau­se.

Nur ein­mal im Mo­nat, am Drei­ßigs­ten, kam er am hel­len Mit­tag in die Re­dak­ti­on, um auf den wei­ßen Um­schlag zu war­ten, in dem der küm­mer­li­che Rest ei­nes Ge­halts lag. Auf dem Um­schlag stand der Name Gu­stav K. un­ver­sehrt ne­ben der schwer­ver­letz­ten, durch Sub­trak­tio­nen miß­han­del­ten Sum­me. Gu­stav K. war sau­ber, ra­siert, feucht ge­kämmt, wie um Mit­ter­nacht. Aber ernst und nicht zu kräf­ti­gen Spä­ßen auf­ge­legt. Ein re­bel­li­scher Geist er­füll­te ihn. War es die un­ge­wöhn­li­che Stun­de, zu der er das Bett ver­las­sen hat­te? War es das ge­rin­ge Ge­halt, des­sent­we­gen er auf­ge­stan­den war? -- Um die Mit­tags­stun­de ei­nes je­den 30. ver­kün­de­te Gu­stav K. kom­mu­nis­ti­sche Grund­sät­ze. Er ver­fluch­te die de­mo­kra­ti­sche Ge­sin­nung des Blat­tes. Er nann­te den Che­fre­dak­teur einen »La­kai­en der Finanz«. Er schwor, nächs­tens so­zia­lis­ti­sche »Kuckucksei­er« ins Blatt zu le­gen. Und nach ei­nem Mo­nat zu kün­di­gen. Ja, er trat mit dem wei­ßen Um­schlag in der Hand in das Kon­fe­renz­zim­mer, wo ei­ni­ge Re­dak­teu­re sa­ßen, und sag­te: »Ich kün­di­ge, mei­ne Her­ren!« Nie­mand sah auf. Alle hat­ten es schon zwan­zig­mal ge­hört. »Ich ar­bei­te nicht mehr in die­sem Schwei­ne­stall!« fuhr Gu­stav K. fort.

Da er­eig­ne­te es sich manch­mal, daß ei­ner sag­te: »Ha­ben Sie ge­le­sen, wie uns die So­zi­al­de­mo­kra­ten heu­te an­grei­fen?«

»Wo steht das?« sag­te der Nacht­re­dak­teur. »Die­se Ban­de! Se­hen Sie, wie schlecht sie das Blatt auf­ma­chen! Daß über­haupt je­mand die­ses Blatt liest! Das sind kei­ne Jour­na­lis­ten! Das sind ...« und Gu­stav K. such­te lan­ge nach ei­nem be­lei­di­gen­den Aus­druck, bis er end­lich die schimpf­lichs­te al­ler Be­zeich­nun­gen fand: »Par­tei­po­li­ti­ker sind sie! ...«

Und er steck­te den Um­schlag in die Ta­sche.

Der Kongreß