Jossel Rakovers Wendung zu Gott - Zvi Kolitz - E-Book

Jossel Rakovers Wendung zu Gott E-Book

Zvi Kolitz

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Beschreibung

Das fiktive Testament eines Warschauer Juden, aufgeschrieben in der Stunde seines Todes, versteckt in einer leeren Flasche, gefunden in den Trümmern des Warschauer Ghettos. Dieser Text, der seit seinem Erscheinen immer wieder die Herzen der Menschen berührte, wurde von Paul Badde aus dem Jiddischen übertragen und liegt in einer zweisprachigen Ausgabe vor. Tomi Ungerer hat sich von Zvi Kolitz Geschichte zu intensiven, eindrucksvollen Bildern inspirieren lassen.

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Zvi Kolitz | Tomi Ungerer

Jossel Rakovers Wendung zu Gott

Jiddisch – Deutsch

Diogenes

»Ich glojb in der Sunn, afile wenn sie scheint nit; ich glojb in der Liebe, afile wenn ich fihl ihr nit, ich glojb in Gott, afile wenn er schweigt.«

An Ojfschrift ojf a Want in a Keller in Köln am Rhein, wu ejnige Jiden hoben sich ojsbahaltn in Varlojf vun der ganzer Milchome.

»Ich glaub an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt.«

Aufschrift auf der Wand eines Kellers in Köln am Rhein, wo sich einige Juden während des Krieges versteckt gehalten haben.

Jossel Rakovers Wendung zu Gott von Zvi Kolitz

In ejner vun die Churwes vun Warschewer Getto, zwischen Hojfens vun varsmaljete Stejner un menschliche Bejner, is gefunen geworen, varsteckt un varstoppt in a klejn Fläschel, der folgender Testament, geschrieben vun a Jiden mit’n Nomen Jossl Rakower in die letzte Scho’en vun Warschewer Getto.

 

Warsche, dem 28-sten April 1943 Ich, Jossl der Suhn vun Dowid Rakower vun Tarnopol, a Chossid vun Gerer Rebben un Opstammiger vun die Zadikim, Gedojlim un Kedojschim vun die Mischpoches Rakower un Meisls, schreib die dosige Schures wenn die Hejser vun Warschewer Getto senen in Flammen un dos Hojs wu ich gefin sich is ejns vun die letzte, welche brennen noch nit. Schojn a por Scho wie a basunders starker Artillerje Feier is gerichtet kegen uns, un die

In einer der Ruinen des Warschauer Ghettos ist zwischen Haufen verkohlter Steine und menschlichem Gebein das folgende Testament gefunden worden, in einer kleinen Flasche versteckt und verborgen, geschrieben in den letzten Stunden des Warschauer Ghettos von einem Juden namens Jossel Rakover:

 

Warschau, den 28. April 1943 Ich, Jossel, der Sohn David Rakovers aus Tarnopol, ein Anhänger des Rabbi von Ger und Nachkomme der Gerechten, Gelehrten und Heiligen aus den Familien Rakover und Meisls, schreibe diese Zeilen, während die Häuser des Warschauer Ghettos in Flammen stehn und das Haus, in dem ich mich befinde, eins der letzten ist, das noch nicht brennt. Schon seit ein paar Stunden liegen wir in wütendem Artilleriefeuer, und um mich herum zerber-

Ich glojb in der Sunn, afile wenn sie scheint nit. Ich glaub an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint.

Wänt arum mir weren schnell zegrishet un zebreckelt vun dem konzentrierten Feier. Es wet lang nit dojern un ojch dos Hojs wu ich gefin sich wet varwandelt weren, wie kimat alle andere Heiser vun Getto, in a Kejwer far ihre Baschitzer un Bawojner. Lojt die spiessig-spitzige, basunders rojte, Sunnen Strahlen wos dringen arein durch dem klejnem halb varmojerten Fensterl vun mein Zimmer, durch welchen mir hoben in Meschech vun Teg un Nächt baschossen dem Ssojne, varsteh ich as es darf schojn sein azind Owent, Ejrew Schchije. Die Sunn wejss gornit, wahrscheinlich, wie wenig ich wel badojeren wos ich wel ihr mehr nit sehn.

Epes modne hot passiert mit uns: S’hoben sich geändert alle unsere Bagriffen un Gefihlen. Der Tojt, der schneller, der momentaner, kummt uns vor wie a Derlejser, wie a Bafreier, wie a Kejten-Reissender; Chajes in Wald kummen mir vor asoj lieb un teier, as ich fihl a tiefen Wehtog wenn ich her as men vargleicht die Reschoim, wos baherrschen Ejrope zu Chajes. Es is nit Emes as Hitler hot epes Chajisches in sich. Er is, lojt mein tiefer

sten und brechen krachend die Mauern im Hagel der Granaten. Lang wird es nicht dauern, und auch dieses Haus wird, wie fast alle Häuser des Ghettos, in ein Grab seiner Beschützer und Bewohner verwandelt werden. An blitzend glutroten Sonnenstrahlen, die durch das kleine, halbvermauerte Fenster in mein Zimmer dringen, aus dem wir Tag und Nacht den Feind beschossen haben, erkenne ich, daß es bald Abend sein muß, kurz vor Sonnenuntergang. Die Sonne weiß unmöglich, wahrscheinlich, wie wenig ich bedaure, daß ich sie nie wiedersehen werde.

 

Eigenartiges ist mit uns geschehn: All unsere Begriffe und Gefühle haben sich verändert. Der Sekundentod – schnell und augenblicklich – kommt uns wie ein Erlöser vor: wie ein Befreier und Kettenzerbrecher. Tiere im Wald erscheinen mir so lieb und teuer, daß es mir in der Seele weh tut, wenn ich höre, daß man die Verbrecher, die heute Europa beherrschen, mit Tieren vergleicht. Es ist nicht wahr, daß Hitler etwas Tierisches an sich hat.

Dos Leben is an Umglick, der Tojt – a Derlejser. Das Leben ist ein Unglück, der Tod – ein Erlöser.

Iberzeigung, a tipisch Kind vun der moderner Menschheit. Die Menschheit als ganze hot ihm gebojren und derzojgen un er is der offenharzigster Ojsdricker vun ihre innerliche, tief varborgene Wunschen.

In a Wald, wu ich hob mir bahalten, hob ich getroffen beinacht a Hunt, a kranken, a varhungerten, efscher ojch a nit normalen, mit’n Eck zwischen die Fiss. Bejde hoben mir bald derfihlt die Gemeinsamkeit, ojb afile nit Ähnlichkeit vun unser Lage, weil die Lage vun die Hint is doch nit der Ejrech a bessere wie vun unsere. Er hot sich zugetuljet zu mir, eingegroben sein Kopp in mein Schojss un geleckt meine Hänt. Ich wejss nit zi ich hob wenn es is asoj gewejnt wie in jener Nacht. Ich bin gefallen ojf sein Halds un sich zejommert wie a Kind. As ich sog sogen ich hob dann mekane gewen die Chajes wet es kejn Wunder nit sein; dos wos ich hob dann gefihlt, is ober gewen mehr vun Kine, s’is gewen Schande: Ich hob mir geschämt varn Hunt wos ich bin nit kejn Hunt nor a Mensch. Asoj is es, un zu asa Geist Zustand senen mir dergangen: Dos Leben is an

Er ist – davon bin ich tief überzeugt – ein typisches Kind der modernen Menschheit. Die Menschheit als Ganzes hat ihn geboren und erzogen, und er drückt ganz offen und unverstellt ihre innersten und verborgensten Wünsche aus.

In einem Wald, wo ich mich versteckte, habe ich eines Nachts einen Hund getroffen, krank, verhungert, vielleicht war er auch toll, den Schwanz zwischen den Beinen. Beide haben wir sofort die Gemeinsamkeit unserer Lage gefühlt, denn die Lage der Hunde ist doch keinen Deut besser als unsere. Er hat sich an mich geschmiegt, seinen Kopf in meinem Schoß vergraben und mir die Hände geleckt. Ich weiß nicht, ob ich jemals so geweint habe wie in jener Nacht; ich bin ihm um den Hals gefallen und habe geheult wie ein Kind. – Wenn ich betone, daß ich damals die Tiere beneidete, wird es keinen wundern. Doch das, was ich damals gefühlt habe, war mehr als Neid; es war Schande. Ich habe mich vor dem Hund geschämt, daß ich kein Hund bin, sondern ein Mensch. So ist es, und zu einem solchen Geisteszustand ist es mit uns gekommen:

Umglick, der Tojt – a Derlejser, der Mensch – a Onschickenisch, die Chaje – an Ideal, der Tog – a Grojl, die Nacht – a Genesung.

Millionen Menschen ojf der weiter, grojsser Welt, Varliebte in Tog, in Sunn un in Licht wejssen gornit, hoben gor kejn Ahnung nit, wieviel Finsternisch un Umglick sie hot uns gebracht. Sie is varwandelt geworen in a Instrument in die Hänt vun die Reschoim un sej hoben sich banutzt mit ihr wie mit a Proshektor kedej zu antdeckn die Tritt vun die vun sej Antlojfende. Wenn ich hob mit mein Froj un meine Kinder – sechs is gewen sejer Zohl – sich in Wälder bahalten hot die Nacht, nor die Nacht, uns bahalten in ihr Busim: Der Tog hot uns ojsgeliefert zu die Suchers vun unsere Neschomes. Zi wel ich denn vargessen dem Tog vun jenem deitschen Feier Hogel ojf tojsenter Plitim ojf’n Weg vun Grodne kejn Warsche? Mit’n Ojfgang vun der Sunn senen ojfgegangen die Aeroplanen un in Mejschech vun a ganzen Tog hoben sej umojfherlich gemordet. In der dosiger Luft-Schchite senen umgekummen mein Froj mit an Ojfele vun

Das Leben ist ein Unglück, der Tod – ein Erlöser, der Mensch – eine Plage, das Tier – ein Ideal, der Tag – ein Greuel, die Nacht – eine Erquickung.

Millionen Menschen auf der weiten, großen Welt, verliebt in den Tag, in die Sonne und das Licht, wissen nicht und haben nicht die geringste Ahnung, wieviel Finsternis und Unglück uns die Sonne schon bereitet hat. Die Verbrecher haben sie zu einem Instrument in ihren Händen verwandelt; wie einen Suchscheinwerfer haben sie die Sonne benutzt, um die Fußspuren der Flüchtenden auszuleuchten, die sich vor ihnen retten wollten. Als ich mich mit meiner Frau und meinen Kindern – damals sechs an der Zahl – in den Wäldern verbarg, hat die Nacht, und nur die Nacht, uns in ihrem Innern geborgen. Der Tag hat uns den Verfolgern ausgeliefert, die nach unseren Seelen suchten. Wie soll ich denn je den Tag jenes deutschen Feuerhagels über Tausenden von Flüchtlingen auf der Straße von Grodno nach Warschau vergessen?! Mit der Sonne stiegen am frühen Morgen auch ihre Flugzeuge auf, einen ganzen Tag lang haben sie uns da-

Ich hob meine zwej Kinder mehr kejnmol nit gesehn. Meine beiden Kinder hab’ ich nicht wiedergesehn.

sieben Monat ojf ihre Orems, un zwej andere vun meine gebliebene finf Kinder senen in jenem Tog spurlos varschwunden. Dowid un Jehuda hoben sej gehejssen. Ejner vier, der anderer sechs Johr alt.

 

 

Mit Sunn Untergang hoben die wenige Leben Gebliebene weiter forgesetzt sejer Weg in der Richtung vun Warsche un ich mit meine drei gebliebene Kinder hoben sich awekgelost iber die Wälder un Felder arum dem Schchite Platz zu suchen die Kinder. »Dowid!« – »Jehuda!« – hoben in Mejschech vun ganzer Nacht unsere Geschreien geschnitten wie mit Messers die Tojt Stillkejt arum, un a Wald Echo, a hilfsloser, a rachmonesdiger un harzreissender, hot geäntfert ojf unsere Geschreien mit a Ton vun jommerdigen Hesped. Ich hob meine zwej Kinder mehr kejnmol nit gesehn, un in Cholem hot men mir gehejssen sich mehr nit machen far sej kejn Sorgen weil sej gefinen sich in die Hänt vun Ribojno schel Ojlom. Die andere drei

nach unaufhörlich gemordet. Bei diesem Massaker vom Himmel herab ist meine Frau mit unserem siebenmonatigen Kleinsten auf ihrem Arm umgekommen, und zwei andere meiner übrigen fünf Kinder verschwanden spurlos am gleichen Tag. David und Jehuda haben sie geheißen, der eine war vier, der andere sechs Jahre alt.

Mit Sonnenuntergang haben die wenigen Überlebenden ihren Weg Richtung Warschau fortgesetzt. Ich aber habe mit meinen drei verbliebenen Kindern die Wälder und Felder durchkämmt, um auf dem Schlachtplatz die Kinder zu suchen. »David!« – »Jehuda!« – Die ganze Nacht lang hat unser Geschrei wie mit Messern die Totenstille um uns herum zerschnitten; und nur ein Echo antwortete uns aus dem Wald, hilflos, mitleidend und herzzerreißend im Jammerton einer fernen Totenklage. Meine beiden Kinder hab’ ich nicht wiedergesehn, und in einem Traum wurde mir geheißen, mich nicht mehr um sie zu sorgen: Sie befänden sich in den Händen des Herrn des Himmels und der Erde. Meine anderen drei Kinder sind inner-

In der Nacht Finsternisch is sie awek vun der Hejm. Im Nachtfinstern ist sie weg von daheim.

Kinder meine senen umgekummen in Mejschech vun a Johr in Warschewer Getto.

Rochale, mein Techterl, zehn Johr alt, hot gehert as in’m stodtischen Mistkasten ojf’n zwejten Seit vun Getto Want kenn men gefinen Sticklach Brojt. Die Getto hot dann gehungert un vun Hunger Gestorbene hoben sich gewalgert wie Schmates in die Gassen. In Getto senen Menschen bareit gewen zu starben jeden Tojt ober nit kejn Hunger Tojt. Dos is wahrscheinlich derfar, wos in der Zeit wenn alle geistige Varlangen vun a Menschen kennen durch sistematischen Varfolgen opgetojt weren, – is der Willen zum Essen der ejnziger wos bleibt afile wenn men winscht sich dem Tojt. Men hot mir derzählt wegen a Jiden, a halb varhungerten, wos hot amol gesogt zu a zwejten: »Ach, wie gut mir wollt gewen, wenn ich wollt gekennt starben nochdem wie ich wollt ejnmol opgegessen wie a Mensch!«

Rochale hot mir nit derzählt vun ihr Plan sich arojszuganwenen vun Getto – a Varbrechen, farwos men hot bastroft mit Tojt –, un zusammen

halb eines Jahres im Warschauer Ghetto umgekommen.

Rachele, mein Töchterchen, zehn Jahre alt, hatte gehört, in den städtischen Abfallkübeln an der anderen Seite der Ghettomauern könne man Brotreste finden. Das Ghetto hungerte, wie Lumpen lagen die Verhungerten in den Gassen. Jeden Tod waren die Menschen zu sterben bereit, nur nicht den Hungertod. Das liegt wahrscheinlich daran, daß in einer Zeit, in der systematische Verfolgungen jedes geistige Verlangen eines Menschen nach und nach abtöten, der Wille, etwas zu essen, das letzte ist, das einem bleibt, selbst wenn man sich den Tod schon herbeiwünscht. Von einem Juden, einem halbverhungerten, hat man mir erzählt, der zu einem zweiten einmal sagte: »Ach, wie wohl wäre mir doch, wenn ich sterben könnt’, nachdem ich nur noch einmal richtig gegessen hätt’ wie ein Mensch!«

Rachele hatte mir nichts von ihrem Plan erzählt, sich aus dem Ghetto hinauszustehlen – ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft wurde. Zu-

mit a Chawerte ihre, a Mejdele in ihr Älter, hot sie sich gelost ojf’n gefährlichen Weg. In der Nacht Finsternisch is sie awek vun der Hejm un mit Sunn Ojfgang is sie mit ihr Chawerte bamerkt geworen ojsserhalb die Getto Tojeren. Nazische Getto Schojmrim zusamen mit zehndliger pojlische Mithelfer hoben bald ongehojben a Gejäg noch die jidische Kinder wos hoben gewagt zu suchen Sticklech Brojt in a Mistkasten kedej nit ojszugehn vun Hunger. Menschen wos hoben dem dosigen Gejäg beigewojnt hoben nit geglojbt wos sejere Ojgen sehen.

Afile in Getto is es gewen a Neies. Men hot gekennt mejnen as do jogt men sich noch antlofene gefährliche Varbrecher. Zehndlige Reschoim hoben sich gelost in an »Amok« Gelojf noch zwej zehn johrige varhungerte Kinder wos hoben lang nit ojsgehalten die Varmestung un ejne vun sej, mein Kind, is ojslojfendig ihre letzte Kojches gefallen an erscheppte ojf der Erd un die Nazis hoben ihr dann durchgestochen ihr Kopp.

Die andere hot sich gerattewet vun sejere Hänt,

sammen mit einer Freundin, einem Mädchen in ihrem Alter, hat sie sich auf den gefährlichen Weg gemacht. Im Nachtfinstern ist sie weg von daheim, und bei Sonnenaufgang wurde sie mit ihrer kleinen Freundin vor den Toren des Ghettos entdeckt. Sofort haben die Wachtposten der Nazis zusammen mit Dutzenden ihrer polnischen Handlanger den jüdischen Kindern nachgesetzt, die es gewagt hatten, ein Stück Brot in einer Mülltonne zu suchen, um nicht vor Hunger zu vergehen. Menschen, die diese Hetzjagd miterlebt haben, glaubten nicht, was ihre Augen sahen.