Jugend - Joseph Conrad - E-Book

Jugend E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

Der alternde Seemann Marlow schwelgt in seinen Jugenderinnerungen. Als junger Seemann tritt er als zweiter Offizier eine Reise nach Asien an. Vor Java gerät das Schiff in Brand und die gesamte Mannschaft muss sich in Beiboote retten und an Land rudern. Das Vorhaben, Bangkok zu erreichen, wird verworfen. "Jugend" zählt zu den kürzeren Erzählungen Joseph Conrads und basiert, wie dessen meiste Werke, zum Teil auf dessen autobiographischen Erlebnissen.

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Jugend

Joseph Conrad

Joseph Conrad

Jugend

© 1902 by Joseph Conrad

Erstmals erschienen 1902 in dem Erzählband

Youth, a Narrative, and Two Other Stories

Aus dem Englischen von Ernst Wolfgang Freissler 1926

© Lunata Berlin 2019

Inhalt

Jugend

Über den Autor

Jugend

Diese Geschichte hätte sich nirgends sonst als in England abspielen können, wo die Männer und die See einander gegenseitig durchdringen, sozusagen – indem die See in das Leben der meisten Männer hineinspielt und jeder Mann ein wenig oder alles von der See weiß, vom Vergnügen, vom Reisen oder vom Broterwerb her.

Wir saßen rund um einen Mahagonitisch, der die Flasche, die Spitzgläser und unsere Gesichter widerspiegelte, die wir auf die Ellbogen gestützt hielten. Wir waren zu fünft: der Direktor einer Handelsgesellschaft, ein Buchhalter, ein Rechtsanwalt, Marlow und ich. Der Direktor war an der Küste aufgewachsen, der Buchhalter hatte vier Jahre zur See gedient, der Rechtsanwalt – ein Tory vom reinsten Wasser, ein Anhänger der Hochkirche, der feinste alte Knabe, der sich denken läßt, dazu ein Ehrenmann durch und durch – der Rechtsanwalt also war Erster Offizier bei der P.&O.-Linie gewesen, in den guten alten Tagen, als noch die Postdampfer auf mindestens zwei Masten mit Rahen getakelt waren und das Chinesische Meer vor einem kräftigen Monsun unter vollen Lee-Segeln herunterzulaufen pflegten. Wir alle hatten unsere Laufbahn in der Handelsmarine begonnen. Die See hielt uns zusammen wie ein starkes Band, und hinzu kam noch ein seemännisches Gemeinschaftsgefühl, wie es keine noch so hohe Begeisterung für Wettsegeln, Kreuzen oder ähnlichen Sport erzeugen kann; denn diese umfaßt immer nur ein Beiwerk des Lebens, jenes aber das Leben selbst.

Marlow (ich denke wenigstens, daß er sich so schrieb) erzählte uns die Geschichte einer Reise:

»Ja, ich habe ein wenig von den östlichen Meeren gesehen; am besten aber erinnere ich mich doch an meine erste Reise dahin. Ihr alle wißt ja, daß es Reisen gibt, die wie erläuternde Beispiele zu diesem Leben wirken, ja, wie das Sinnbild des Lebens überhaupt. Da kämpft man, arbeitet, schwitzt, bringt sich beinahe, manchmal auch ganz um, immer in dem Bestreben, irgendwas durchzuführen – das man dann doch nicht fertigbringt. Nicht aus eigenem Verschulden. Man kann nur einfach nichts vollenden, nichts Großes und nichts Kleines – kein Ding auf dieser Welt; nicht einmal eine alte Jungfer heiraten, oder eine Ladung von lumpigen sechshundert Tonnen Kohle in ihren Bestimmungshafen bringen.

Die Sache war in jeder Hinsicht bemerkenswert. Es war meine erste Reise nach dem Osten, und meine erste Reise als Zweiter Offizier; es war auch das erste Kommando meines Kapitäns. Ihr werdet zugeben, daß es an der Zeit war, wenn ich euch sage, daß er immerhin sechzig Jahre alt war; ein kleiner Mann mit breitem, nicht sonderlich geradem Rücken, mit gebeugten Schultern und gewaltigen Säbelbeinen; er sah förmlich krummgezogen aus, wie man es häufig bei Leuten findet, die Feldarbeit tun. Sein Nußknackergesicht – Kinn und Nase suchten einander über dem eingesunkenen Mund zu begegnen – war von eisengrauem, flaumigem Haar umrahmt, das wie ein baumwollenes Sturmband aussah, von Kohlenstaub überfleckt. Und ein Paar blaue Augen standen in seinem alten Gesicht, die ganz erstaunlich jungenhaft blickten, mit dem unschuldigen Ausdruck, den manchmal ganz gewöhnliche Leute bis an das Ende ihrer Tage bewahren, einfach zufolge der seltenen Gabe ihrer Herzenseinfalt und Geradheit. Was ihn bewogen haben mag, mich anzunehmen, war mir ein Rätsel. Ich kam von einem prächtigen australischen Schnellsegler, wo ich Dritter Offizier gewesen war, und er schien gegen Schnellsegler – als aristokratisch und übervornehm – ein Vorurteil zu haben. Er sagte mir: ›Verstehen Sie mich recht – auf diesem Schiff hier werden Sie arbeiten müssen!‹ Ich antwortete ihm, daß ich noch auf jedem Schiff, auf dem ich je gewesen, hätte arbeiten müssen. – ›Ah, aber dies hier ist grundverschieden, und ihr feinen Herren von den großen Schiffen ... Aber, na, ich hoffe, Sie werden sich machen! Treten Sie morgen an!‹

Ich trat also am nächsten Tage an. Das ist nun zweiundzwanzig Jahre her; und ich war eben zwanzig. Wie die Zeit vergeht! Es war einer der schönsten Tage meines Lebens. Denkt euch doch – frischgebackener Zweiter – richtig verantwortlicher Offizier! Ich hätte mein neues Patent nicht um ein Vermögen hergegeben. Der Erste musterte mich genau. Er war auch ein alter Knabe, doch von anderer Prägung. Er hatte eine römische Nase, einen schneeweißen langen Bart und hieß Mahon, bestand aber darauf, daß man den Namen ›Mann‹ aussprechen sollte. Er hatte gute Beziehungen, doch fehlte es ihm wohl an Glück, und so war er nie weitergekommen.

Was nun den Kapitän angeht, so hatte der jahrelang auf Küstenfahrern, dann im Mittelmeer und schließlich auf der westindischen Route gedient. Um das Kap war er nie herumgekommen, konnte zur Not in einer kratzigen Klaue schreiben und legte keinen Wert darauf, überhaupt zu schreiben. Beide waren sehr tüchtige Seeleute, wie nicht anders zu erwarten, und ich kam mir zwischen den beiden Alten vor wie ein kleiner Junge zwischen zwei Großvätern.

Auch das Schiff war alt. Es hieß Judea – komischer Name, nicht; und gehörte einem Manne namens Wilmer, Wilcox... irgendwas der Art; aber er hat Bankrott gemacht und ist gestorben, vor zwanzig oder mehr Jahren, und so tut sein Name nichts zur Sache. Die Bark war endlos lange im Shadwell Dock aufgelegt gewesen, und ihr könnt euch ihren Zustand vorstellen. Sie war über und über voll Rost, Staub und Schmutz; die Takelung verrußt, das Deck förmlich überkrustet. Für mich war es ungefähr so, als wäre ich aus einem Palast in ein verfallenes Bauernhaus gekommen. Sie hatte etwa vierhundert Tonnen, ein altmodisches Ankerspill, Holzklinken an den Türen, kein kleinstes Stück Messing auf sich, und ein mächtiges, plattes Heck. Darauf stand in großen Lettern ihr Name; darunter war eine Menge Schnitzwerk angebracht, von dem die Vergoldung abgegangen war und das eine Art Wappen mit dem Wahlspruch umgab: ›Halt aus oder stirb!‹ Ich erinnere mich noch, wie stark es meine Einbildungskraft gefangennahm. Ein Schimmer von Romantik lag darüber, etwas, das mich das alte Ding lieben ließ, – das mein junges Herz ergriff!

Wir verließen London in Ballast – Sandballast – , um in einem nördlichen Hafen eine Ladung Kohlen für Bangkok einzunehmen. Bangkok! Ich fieberte förmlich! Ich war sechs Jahre zur See gewesen, hatte aber nur Melbourne und Sydney gesehen, sehr nette Orte, entzückende Orte in ihrer Art – aber Bangkok!

Wir arbeiteten uns unter Segeln aus der Themse hinaus, mit einem Nordseelotsen an Bord. Er hieß Jermyn und drückte sich den ganzen lieben Tag in der Kombüse herum, wo er sein Taschentuch vor dem Ofen trocknete. Anscheinend schlief er nie. Er war ein trübseliger Mann, dem eine ewige Träne an der Nasenspitze glitzerte und der entweder Unglück gehabt hatte oder noch hatte oder welches erwartete – , der kurzum nicht glücklich war, wenn nicht irgendwas schief ging. Er mißtraute meiner Jugend, meinem gesunden Menschenverstand und meinen seemännischen Fähigkeiten und ließ es sich angelegen sein, mir das auf hundert kleine Arten zu zeigen. Ich möchte fast glauben, daß er recht hatte. Mir scheint, ich wußte damals recht wenig und weiß heute nicht viel mehr; doch fühle ich bis zum heutigen Tage eitlen Haß gegen diesen Jermyn.