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LIEBE STEHT NICHT IM VERTRAG von CAROL MARINELLI Lily trägt Hunters Ring an ihrem Finger. Der vermögende Börsenmakler ist ihr Mann – für ein Jahr! Genau so lange soll die Vernunftehe zwischen ihnen dauern. Nur: Liebe steht nicht im Vertrag. Ein kleines Versäumnis mit leidenschaftlichen Folgen … BLITZHOCHZEIT MIT DEM GRIECHISCHEN TYCOON von LYNNE GRAHAM Wie eine Löwin kämpft Tabby darum, die Waise Amber zu adoptieren. Doch ohne Geld hat sie keine Chance. Einzig Ash Dimitrakos kann ihr noch helfen. Aber der reiche Verwandte der Kleinen wimmelt sie ab – und macht ihr Stunden später einen rätselhaften Heiratsantrag … SÜCHTIG NACH DIR UND DEINEN KÜSSEN von KIM LAWRENCE Beherzt entreißt Draco Morelli dem Dieb den Koffer, der sich prompt öffnet. Es regnet BHs und sexy Höschen! Und als die schöne Besitzerin des Gepäckstücks vor Draco steht, wird sein Verlangen nicht schwächer. Wie gut, dass sich ihre Wege trennen! Aber man sieht sich immer zweimal …
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Seitenzahl: 569
Carol Marinelli, Lynne Graham, Kim Lawrence
JULIA EXKLUSIV BAND 378
IMPRESSUM
JULIA EXKLUSIV erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Neuauflage 2024 in der Reihe JULIA EXKLUSIV, Band 378
© 2007 by The Sal Marinelli Family Trust Originaltitel: „Contracted: A Wife for the Bedroom“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Dr. Susanne Hartmann Deutsche Erstausgabe 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 282
© 2014 by Lynne Graham Originaltitel: „The Dimitrakos Proposition“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Rita Koppers Deutsche Erstausgabe 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 2147
© 2014 by Kim Lawrence Originaltitel: „One Night with Morelli“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Meriam Pstross Deutsche Erstausgabe 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 2225
Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 07/2024 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751525817
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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„Bitte lächeln!“
Während sie in den Rückspiegel sah und sich die Lippen schminkte, konnte Lily fast hören, wie ihr Ballettlehrer aus Kindertagen sie affektiert aufforderte, bei einer qualvollen Bewegung glücklich und gelöst dreinzublicken.
Und die Gruppensitzung würde qualvoll werden. Glücklich und zuversichtlich fühlte sie sich heute nun wirklich nicht. Obwohl sie sich das blonde Haar zu einem schicken Wuscheldutt hochgesteckt, sorgfältig ihr Make-up aufgetragen und ihr elegantestes, marineblaues Kostüm angezogen hatte, wirkte sie nicht so selbstsicher wie sonst. Kein Karrierelook der Welt würde sie an diesem Abend retten! Nach wochenlangem Ringen mit Bankdirektoren, Immobilien- und Hypothekenmaklern hatte sie nichts weiter vorzuweisen als hämmernde Kopfschmerzen und die erschreckende Erkenntnis, dass sie ihre Mutter diesmal nicht schützen konnte.
Und nun musste Lily ins Gemeindezentrum gehen und Zuversicht verbreiten, die Leute davon überzeugen, dass sie jedes Ziel erreichen würden, wenn sie es nur wirklich wollten.
Sie kam sich wie eine Schwindlerin vor.
Nachdem sie die flachen silberfarbenen Sandalen abgestreift hatte, fischte Lily auf dem Boden vor dem Beifahrersitz nach Sandaletten mit spitzen, hohen Absätzen. Während sie die Füße hineingleiten ließ und die dünnen Riemen zumachte, wünschte sie, dieser Abend wäre schon vorbei. Nicht, dass die Schuhe nicht göttlich waren. Haute Couture für die Füße. Aus unglaublich weichem Wildleder, handgenäht, betonten sie ihre dunkel lackierten Zehennägel und verlängerten wie durch ein Wunder ihre Beine, verliehen ihr den Sex-Appeal, den sie an diesem Abend so dringend brauchte.
„Los, Schuhe“, flüsterte Lily. „Tut eure Arbeit.“
Dicke Regentropfen schlugen auf die Windschutzscheibe. Sich in ihrem Auto zu verstecken war leider keine Alternative. Laut Wettervorhersage sollte ein Unwetter der langen Hitzewelle in Melbourne ein Ende machen. Schnell lief Lily über den Parkplatz und schaffte es gerade noch ins Gemeindezentrum, bevor der Regen stärker wurde. Die Teilnehmer ihrer Gruppe warteten dort auf sie, manche standen für sich und sahen so nervös aus, als würden sie jeden Moment die Flucht ergreifen wollen, andere unterhielten sich miteinander und tranken den Kaffee, der von fragwürdiger Qualität war. Alle drehten sich um, als Lily hereinkam. Ihr Lächeln war nicht so falsch, wie sie befürchtet hatte: Sie freute sich aufrichtig, die bekannten Gesichter zu sehen. Diese Menschen verließen sich darauf, dass sie ihnen half, ihr Leben zu ändern.
„Guten Abend allerseits.“ Lily blickte zur Wanduhr und stellte fest, dass sie zu früh war. „Plaudern Sie ruhig noch eine Weile miteinander. Bevor wir anfangen, sollten wir jedermann die Chance geben, zu uns zu kommen.“
Lily holte die Unterlagen aus der Aktentasche, zählte durch und hakte die Namen auf der Liste ab, dann legte sie Selbsthilfebroschüren zum Mitnehmen aus. Eine neue, sehr nervöse Teilnehmerin betrat den Raum, blieb schüchtern stehen und sah sich händeringend um. Lily empfand tiefes Mitgefühl mit der Fremden und bewunderte die Frau für den großen Schritt, den sie an diesem Abend machte. Sofort ging Lily zu ihr, um sie zu begrüßen. „Ich bin Lily“, sagte sie herzlich und streckte die Hand aus. „Willkommen bei New Beginnings.“
„Amanda. Ich wusste nicht, ob ich mich anmelden muss.“
„Nicht hier. Sie füllen nur ein Formular aus, und dann können Sie sich einen Kaffee nehmen und schon mal einige Leute kennenlernen. Wir sind wirklich eine sehr nette Gruppe!“
Amanda beim Ausfüllen des Fragebogens zu helfen dauerte länger als üblich. Sie hatte erst stark abgenommen, anschließend war ihre Ehe gescheitert und daraufhin hatte sie das bisschen Selbstvertrauen verloren, das sie besessen hatte. Allerdings spürte Lily hinter der schüchternen Fassade eine sehr starke Frau und konnte es nicht erwarten, diese andere Amanda zum Vorschein zu bringen.
„In Ordnung, damit ist der Papierkram erledigt.“ Gerade als sie ihr zeigen wollte, wo die Kaffeemaschine stand, wurde Lily von der aufgehenden Tür abgelenkt. Nun, nicht sosehr von der Tür, sondern eher von dem Mann, der hereinkam!
Ihr erster Gedanke war, dass er sich verirrt haben musste. Nicht, dass er so aussah, als hätte er sich verlaufen – ganz und gar nicht. Aber Männer wie dieser hier gehörten nicht in eine Selbsthilfegruppe im örtlichen Gemeindezentrum. Nein, Männer wie dieser gehörten in eine Promizeitschrift, in einen Hollywoodfilm oder ins Reich der erotischen Träume. Lily war sicher, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Gleichzeitig bezweifelte sie es, weil sie sich dann garantiert an den genauen Zeitpunkt erinnern würde. Denn er sah fantastisch aus!
Groß und schlank, verwegen gut aussehend, mit hervorragend geschnittenem dunkelbraunem Haar und eisblauen Augen. Schlank, aber nicht knochig. Sobald er sein Jackett auszog, konnte man deutlich erkennen, dass sein Körper muskulös und durchtrainiert war. Seine dominante Ausstrahlung ließ alle im Raum innehalten und sich zu ihm umdrehen. Er stand da und hielt sein Jackett, als erwarte er, dass es ihm jemand abnahm.
Und es nahm ihm jemand das Jackett ab!
Jinty, die Hausfrau, die ihr Frühstück bis vor Kurzem mit einem Glas Wodka-Orange hinuntergespült hatte, hängte sein teures Jackett an einen Haken. Währenddessen zogen alle anderen Frauen im Raum reflexartig den Bauch ein und starrten den Adonis bewundernd an, der einfach nicht zum Lebensstil in der Vorstadt passte.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Lily wollte ihn begrüßen wie jeden anderen Neuankömmling – auf ihn zugehen und ihn beruhigen. Nicht, dass sich dieser Mann unbehaglich zu fühlen schien. Er strahlte buchstäblich Selbstbewusstsein aus. Lily war es, die Schwierigkeiten hatte, sich daran zu erinnern, wie ihre Beine funktionierten. Wie eine Sechsjährige in den High Heels ihrer Mutter wankte sie auf ihn zu und streckte die Hand aus. „Ich bin Lily Harper.“
„Dann bin ich hier richtig. Ich möchte mich der Gruppe New Beginnings anschließen.“
„Oh!“ Lily blinzelte erstaunt, schalt sich sofort dafür und versuchte, ihn wie einen gewöhnlichen Sterblichen zu behandeln. „Tja, herzlich willkommen. Sie müssen nur einen Fragebogen ausfüllen.“ Sie hielt noch immer seine Hand.
„Kein Problem.“
Kein Problem, sagte sich Lily, als sie die Hand aus seinem Griff löste. Scheinbar gelassen ging sie zum Tisch und gab ihm das Klemmbrett mit dem Formular. Aber sie war nervös. Und wie! Sie atmete den himmlischen Duft seines Aftershaves ein und bemühte sich, nicht auf seine leuchtend blauen Augen und das unglaublich gut aussehende Gesicht zu achten. „Brauchen Sie einen Kugelschreiber?“
„Ja, bitte.“ Er blickte den etwas schmuddelig aussehenden Kuli an, den Lily ihm anbot, dann ging er ohne ein Wort zu seinem Jackett und zog einen heraus, den er wohl für geeigneter hielt.
Bevor er zu ihr zurückkehrte, hatte sich Lily mit weichen Knien dankbar auf den Stuhl sinken lassen. Das Stimmengewirr im Raum setzte wieder ein, allerdings gedämpft. Offensichtlich spitzten die anderen die Ohren, um seine Antworten zu hören, während sie mit ihm den Fragebogen durchging. „Sie brauchen weder Ihren Nachnamen noch Ihre Adresse einzutragen, wir bitten lediglich um Ihre Postleitzahl.“
„In Ordnung.“ Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß er lässig neben ihr, das Klemmbrett auf dem Oberschenkel, sodass Lily raten musste, wo auf dem Vordruck er gerade war. „Ich mag übrigens Ihre Sandaletten.“
„Danke.“ Sie hatte das Gefühl, am ganzen Körper rot zu werden. „Wir fragen nach Ihrer Gehaltsklasse. Falls sie zu einer der obersten drei Kategorien gehört …“
„Tut sie.“
„Wenn dem so ist, bitten wir Sie, sich an den Kosten der Sitzungen zu beteiligen, je nachdem, in welcher Kategorie Sie sind …“
„Der obersten.“
„Dann bitten wir Sie um fünfzig Dollar. Wenn Sie das Geld nicht dabeihaben, können Sie auch das nächste Mal zahlen. Und wenn es ein Problem ist, die Summe aufzubringen, lassen Sie sich nicht davon abhalten, trotzdem zu den Sitzungen zu kommen. Es ist wirklich ein freiwilliger Beitrag.“
„Kein Problem.“ Er zog eine sehr elegante Brieftasche heraus und löste einen Schein aus einem Bündel Banknoten.
„Ich schreibe Ihnen eine Quittung.“
„Nicht nötig.“
Lily ignorierte ihn und füllte eine Quittung aus.
„Warum bieten Sie einem Gutverdienenden an, nicht zu zahlen? Das ist nicht gerade geschäftstüchtig.“
„Dies ist kein Geschäft. New Beginnings ist ein von der Gemeinde finanziertes Programm und steht allen zur Verfügung, ob reich oder arm. Möglicherweise haben Sie gerade alles im Spielkasino verloren. Oder Ihre Firma ist in Konkurs gegangen. Es gibt viele Gründe, warum sich Leute so einer Gruppe anschließen. Mir steht es nicht zu, Ihre Verhältnisse allein nach dem angekreuzten Kästchen zu beurteilen.“
„Freut mich, das zu hören.“ Stirnrunzelnd blickte er auf den letzten Teil des Fragebogens. „Was genau wollen Sie hier wissen?“
„Wir möchten gern erfahren, was Sie zu New Beginnings geführt hat.“
„Es wurde mir empfohlen.“
„Was versprechen Sie sich davon?“ Lily lächelte geduldig. „Die meisten Leute erwarten, teilweise ihr Leben ändern zu können. Oder sie wollen bei bestimmten Zielsetzungen beraten werden. Es hilft mir, wenn ich weiß, was Sie zu erreichen hoffen …“ Als er mit einem ironischen Lächeln wieder zu schreiben begann, verstummte sie und wartete, bis er fertig war und ihr das Formular zurückgab. „Danke. Hier ist Ihre Quittung. In fünf Minuten gehen wir in den Sitzungsraum. Wenn Sie vorher noch einen Kaffee trinken wollen, bitte sehr.“ Sie zeigte auf die Kaffeemaschine.
„Nur ein eisgekühltes Mineralwasser, danke.“
Das war doch wohl nicht sein Ernst! Aber nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen erwartete er tatsächlich, dass sie aufstand und es ihm holte. Offenbar war er daran gewöhnt, von vorn bis hinten bedient zu werden.
Tja, hier nicht!
„Am Eingang ist ein Trinkwasserbrunnen.“ Sie lächelte liebenswürdig. „Nehmen Sie sich einen Styroporbecher mit.“
Hunter.
Während sie auf seine extravagante Handschrift starrte, versuchte Lily, mehr aus seinen spärlichen Angaben auf dem Formular herauszulesen. Er war zweiunddreißig, wohnte in einem exklusiven Stadtteil, und sein Einkommen lag weit über dem Spitzenfeld. Was für Lily keine Überraschung war. Alles an ihm deutete auf ein ausgeprägtes Jetsetleben hin, von dem maßgeschneiderten Anzug, der goldenen Armbanduhr bis zu dem Bündel Banknoten in seiner Brieftasche. Und die dunklen Schatten unter den Augen und das gelegentliche müde Blinzeln ließen Lily überlegen, ob er eine Nacht zu viel durchgefeiert hatte.
Hunter Myles. Zwar hatte er seinen Nachnamen nicht eingetragen, aber er fiel ihr plötzlich ein. Jetzt wusste sie, woher sie dieses gefährlich attraktive Gesicht kannte. Er war ein hervorragender Finanzfachmann. Nicht, dass Lily oft die Wirtschaftsseiten las, doch Hunter Myles schrieb von Zeit zu Zeit kurze Artikel für Zeitschriften und gab Aktientipps, die immer Gold wert waren. Seit Neuestem ließ er sich gelegentlich im Frühstücksfernsehen interviewen, und in allen Gesellschaftskolumnen tauchte er regelmäßig auf: Ein unkontrollierbarer, unberechenbarer Draufgänger in der seriösen Finanzwelt, dessen Partyleben legendär war, seit vor ungefähr einem Jahr … Lily runzelte die Stirn. Da hatte es irgendeine Tragödie gegeben, die ihn spektakulär aus der Bahn geworfen hatte. Was war das noch gleich gewesen? Und was erhoffte sich Hunter Myles von New Beginnings? Lily sah nach und zog die Augenbrauen hoch.
Inneren Frieden!
Oh, er hatte ironisch gelächelt, als er es geschrieben hatte. Ihr war klar, dass er es nicht ernst genommen hatte. Ihr waren jedoch seine abgebissenen Fingernägel aufgefallen. Und eine Rastlosigkeit, die nicht zu seiner lässig-selbstsicheren Körperhaltung passte. Hunter Myles mochte es aus Spaß hingeschrieben haben, aber vielleicht suchte er wirklich nach innerem Frieden.
„Willkommen allerseits“, sagte Lily lächelnd. „Heute Abend haben wir zwei neue Mitglieder: Amanda und Hunter. Der Zweck einer Gruppensitzung ist es, Sorgen miteinander zu teilen und sich gegenseitig zu ermutigen. Also nehmen wir uns erst einmal Zeit dafür, uns vorzustellen.“
Schweigend hörte Lily zu, während sich die Mitglieder der Gruppe im Uhrzeigersinn vorstellten. Zuerst erzählte Richie von seiner Scheidung und seiner Hoffnung auf eine neue Beziehung, dann sprach Jinty über ihren Kampf mit der Flasche, und so ging es weiter, bis Amanda an der Reihe war.
„Nun …“ Sie errötete heftig. „Vor Kurzem ist meine Ehe gescheitert. Ich dachte, ich könnte sie retten, wenn ich abnehme, aber es hat alles nur noch schlimmer gemacht.“
„Wie viel haben Sie abgenommen?“, fragte Lily.
„Über fünfzig Kilogramm. Ich weiß, dass ich noch einen langen Weg vor mir habe, aber ich habe wieder Lust, am Leben teilzunehmen.“
„Das ist eine großartige Leistung.“ Lily lächelte, als alle anderen klatschten. Das hieß, alle bis auf Hunter. Anscheinend zu Tode gelangweilt, war er dabei, auf dem Sofa einzuschlafen. Sie widerstand dem Wunsch, ihm vors Schienbein zu treten, und konzentrierte sich wieder auf Amanda. „Und wie möchten Sie wieder am Leben teilnehmen?“
„Ich versuche, den Mut aufzubringen, ins Fitnessstudio zu gehen. Und ich möchte mich nach einem Job umsehen.“
Alle in der Gruppe nickten ermutigend und gratulierten ihr zu dem, was sie schon erreicht hatte. Alle bis auf Hunter. Er lehnte sich zurück und gähnte schamlos. Offensichtlich ließ ihn Amandas Geschichte völlig kalt. Lily spürte Wut in sich aufflammen. Was wollte er eigentlich in dieser Sitzung, wenn er meinte, so erhaben darüber zu sein? Tja, sie würde es herausfinden.
„Hunter“, fuhr sie ihn an und brachte ihn dazu, kurzzeitig bei der Sache zu sein. „Vielleicht möchten Sie sich jetzt der Gruppe vorstellen und uns erzählen, was Sie heute Abend hierher geführt hat.“ Vielleicht auch nicht! Das Schweigen schien kein Ende zu nehmen, während er sie forschend anblickte. „Sie haben geschrieben, dass Sie inneren Frieden zu erreichen hoffen. Das verrät uns nicht viel, Hunter – den wünscht sich jeder in diesem Raum.“
„Die Lehrerin auch?“
Ihre Wut wurde größer, als Hunter mit dem Wort „Lehrerin“ ihre Vorgehensweise ins Lächerliche zog. „Ja, sogar die.“ Fest entschlossen, sich erst ein Urteil zu bilden, wenn sie seine Geschichte gehört hatte, lächelte Lily unverdrossen. „Die meisten Leute schließen sich einer Gruppe wie dieser an, weil ein wichtiges Ereignis in ihrem Leben sie dazu zwingt, ihre Ziele neu zu bewerten. Oder weil ihnen klar geworden ist, dass in ihrem Leben irgendetwas fehlt und sie gern mehr aus sich machen würden.“
„Was Sie nicht sagen.“
„Sind Sie glücklich in Ihrem Beruf, Hunter?“
„Ich arbeite so viel, dass ich wirklich keine Zeit habe, darüber nachzudenken.“
„Sorgen Sie denn dafür, dass Sie auch Momente haben, in denen Sie einmal nicht an die Arbeit denken?“
„Wenn ich im Bett bin, denke ich niemals an die Arbeit.“
Sein schwaches, aber sehr anzügliches Lächeln ließ Lily erröten. Der Mann benahm sich unmöglich. Allerdings glich er sein Benehmen ein wenig wieder aus, indem er das Wort schließlich an die Gruppe richtete.
„Nun, wie Sie wahrscheinlich alle wissen, bin ich Experte für Termingeschäfte, doch ich habe auch andere Interessen.“
„Was ist mit Ihren privaten Beziehungen?“
„Was soll damit sein?“
Gereizt holte Lily Atem. Hunter spielte nur zum Schein mit, und sie würde das ganz einfach nicht zulassen. Sie sah ihre eifrigen, freundlichen Teilnehmer an und wusste, dass sie sie schützen musste. Zum ersten Mal würde sie zu jemandem in einer ihrer Gruppen sagen, dass seine Zeit bei New Beginnings zu Ende ging, und zwar jetzt!
Er hatte es zu weit getrieben. Genauso mühelos, wie er Börsenkurse deutete, konnte Hunter auch das Verhalten von Frauen deuten, und er wusste einfach, dass dies eine sehr unglückliche junge Dame war. Eine Dame war sie wirklich, von ihrem blonden Haar bis zu den hübsch lackierten Zehennägeln, mit einer Figur, die an all den richtigen Stellen weich und üppig war. Lily Harper besaß von Natur aus, was so viele sich erschwindelten: Schönheit und Anmut. Er warf ihr ein gewinnendes Lächeln zu, was sie jedoch nicht beeindruckte. Mit einem angespannten Zug um den Mund, die wundervollen grünen Augen zusammengekniffen, musterte sie ihn ernst, und Hunter erkannte, dass ihn Flirten dieses Mal nicht retten würde. Er war in Versuchung, eine weitere flapsige Bemerkung zu machen. Aus Neugier, wie sie sich dann verhalten würde. Dann dachte er daran, warum er hier war, und gebot sich Einhalt.
Emma.
Seine immer gegenwärtigen Schuldgefühle verstärkten sich unangenehm bei der Erinnerung an Emmas blasses, besorgtes Gesicht, als sie ihn gebeten hatte, sich New Beginnings für sie anzuschauen. Und nur deshalb ließ sich Hunter dazu herab, Zugeständnisse zu machen … kleine.
„Meine Freundin und ich haben uns gerade getrennt.“ Er zuckte bedauernd die Schultern, spielte perfekt die Mitleidskarte aus, und seine Zuhörer gingen ihm alle bereitwillig ins Netz. „Wir waren kurz davor, uns zu verloben. Sie hatte sich sogar schon den Ring ausgesucht.“
„Das tut mir leid.“ Völlig überrascht, brauchte Lily einen Moment, um sich zu fassen. Sie war sicher gewesen, dass er absolut nichts über sich verraten würde. Nach dem, was sie in den Hochglanzmagazinen gelesen hatte, war sie auch sicher gewesen, dass Hunter an einer festen Beziehung kein Interesse hatte. „Wie lange hat die Beziehung gedauert?“
Stirnrunzelnd zählte er an den Fingern ab. „Zwei …“, begann er. „Nein, vielleicht drei …“
Großmütig half ihm Lily. „Für einige hier scheinen zwei Jahre eine kurze Zeit zu sein.“ Sie lächelte Richie an, dessen zehnjährige Ehe vor Kurzem geschieden worden war. „Dass Hunters Beziehung nur Jahre und nicht Jahrzehnte gedauert hat, heißt jedoch nicht …“
„Nicht Jahre“, unterbrach er sie. „Monate. Wir waren zwei Monate zusammen.“
Wie sollte sie diesen unmöglichen Mann bloß in die Gruppe eingliedern? Lily versuchte, ihm eine Chance zu geben. „Das Ende einer neuen Beziehung kann verheerend sein. Wenn alles gleich im berauschenden Leidenschaftstaumel der ersten Wochen wieder vorbei ist, löst das große Trauer aus, stimmt’s?“
„Ich denke, schon“, räumte Hunter ein. Schließlich hatte sich Abigail wirklich die Augen ausgeweint.
„Überwältigende Verlustgefühle?“
„Tja.“ Hunter nickte. „Abigail hat sich sehr aufgeregt.“
„Wer hat die Beziehung beendet?“, fragte Lily, verwirrt durch seine Antwort.
„Ich“, erwiderte Hunter, als wäre das ja wohl klar.
„Und Sie haben Schluss gemacht, weil …?“
„Sie hat mich gelangweilt. Ich meine, sie war toll anzusehen und fantastisch im Bett, aber schließlich hat sie mich einfach nur noch gelangweilt. Das tun sie am Ende immer.“
„Inwiefern?“, fragte Lily, die sich auf ihre Ausbildung besann, obwohl sie Hunter gern geohrfeigt hätte. „Ist es die Frau, die Sie langweilt, oder eher die Monogamie?“
„Darüber habe ich mir eigentlich nie groß Gedanken gemacht.“ Er zuckte die Schultern.
„Jetzt haben Sie die Gelegenheit dazu. Wie stellen Sie sich denn die ideale Beziehung vor?“
„Dass ich am Morgen neben einer Frau aufwache und tatsächlich hören will, was sie zu sagen hat. Einer Frau, die ihre weibliche Seite annimmt, sich aber nicht von meiner Männlichkeit einschüchtern lässt. Ich glaube, ich wünsche mir …“
„Weiter“, forderte ihn Lily heiser auf. Seine Männlichkeit, sein gutes Aussehen, seine Sinnlichkeit beschworen Gedanken herauf, die zweifellos unpassend waren. Sachlich und konzentriert zu bleiben, während Hunter über seine Bedürfnisse und Wünsche sprach, erwies sich als fast unmöglich.
„… eine gleichberechtigte Partnerin, die sich ihre Selbstständigkeit bewahrt.“
„Das ist sehr scharfsichtig.“ Lily löste den Blick von ihm, um die ganze Gruppe anzusprechen. „Gleichberechtigung in einer Beziehung ist entscheidend für ihren Erfolg. Beide Partner achten, was der andere dazu beiträgt, und akzeptieren die Eigenart des anderen. Allzu oft wollen Leute eine Beziehung, in der sie völlig aufgehen, als wäre das Zusammensein mit dem Partner die Lösung all ihrer Probleme. Die wichtigste Beziehung ist diejenige zu sich selbst. Ich halte sehr viel von Selbstliebe …“
„Damit habe ich kein Problem“, unterbrach Hunter sie. „Nur als letzten Ausweg, natürlich. Ich ziehe die echte Sache vor!“
Mit einem Ruck wandte Lily ihm das Gesicht zu, und sie war nicht die Einzige. Alle in der Gruppe starrten Hunter an, dem es anscheinend überhaupt nicht peinlich war, das heikelste aller Themen zur Sprache zu bringen.
„Wenn ich mich auf Selbstliebe beziehe, dann meine ich Selbstachtung: sich selbst mögen, zu seinen Überzeugungen stehen, sich auch allein wohlfühlen. Nur wenn man das erreicht hat, kann man in einer Beziehung ein gleichberechtigter Partner sein.“
„Ach das!“, sagte Hunter herablassend.
Bis sich die anderen in der Gruppe vorgestellt hatten, war Hunter eingenickt. Was für Ausschweifungen auch immer er hinter sich haben mochte, Lily beschloss, ihn die Folgen ausschlafen zu lassen. Während die Sitzung weiterging, blickte sie jedoch ständig zu ihm hin. Sogar schlafend beunruhigte er sie und störte ihre Konzentration.
Was wollte er hier?
„Hunter!“, rief Lily zum dritten Mal. Alle Stühle waren geräuschvoll weggestellt worden, doch nichts hatte ihn geweckt. Einen Moment lang dachte sie daran, einfach zu gehen und ihn am nächsten Morgen von den Putzfrauen wecken zu lassen. Aber ihr Herz gewann die Oberhand, und schließlich berührte Lily ihn an der Schulter. „Hunter, die Sitzung ist seit fünfzehn Minuten zu Ende.“
„So?“ Er streckte sich, stand auf und sah sich um, dann ging er ziemlich unsicher wirkend zu seinem Jackett und zog es an. „Kann ich einen Kaffee haben?“
„Die Maschine ist schon weggeräumt worden.“ Lily runzelte die Stirn über ihn. Er hatte eindeutig Schwierigkeiten, den Blick auf sie zu richten. Ihr angeborenes Durchsetzungsvermögen und ihre Ausbildung ermöglichten es ihr zum Glück, mit dieser möglicherweise schwierigen Situation selbstbewusst umzugehen. „Sind Sie fahrtüchtig? Wenn Sie getrunken haben, ist es vielleicht klüger, ein Taxi zu rufen.“
„Ich trinke nicht“, erwiderte Hunter.
„Überhaupt nicht?“
„Das habe ich probiert, und es hat mir nicht gefallen.“
„Wenn Sie etwas genommen haben, sollten Sie wirklich darüber nachdenken …“
„Ich nehme keine Drogen!“ Hunter bemerkte ihr besorgtes Stirnrunzeln und lächelte. „Es sei denn, eine Überdosis Koffein zählt auch. Mir geht’s gut, ich leide nur an Jetlag.“
„Jetlag?“
„Ich bin heute Morgen aus New York eingeflogen. Oder war es gestern?“ Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. „Dort ist noch gestern.“
„Haben Sie seitdem geschlafen?“
„Gerade eben, da auf dem Sofa.“ Er zeigte in den Raum, den sie verlassen hatten. „Keine Sorge, ich komme schon klar. Glauben Sie wirklich, dass man etwas geschehen lassen kann, wenn man es sich in den Kopf setzt?“
„Bis zu einem gewissen Grad, ja“, erwiderte Lily. Obwohl er eingenickt war, hatte er mehr von der Sitzung in sich aufgenommen, als sie gedacht hatte.
„Auch, dass sich jeder bessern kann?“
„Natürlich. Außer wenn man schon perfekt ist.“ Ihr Sarkasmus entlockte ihm nur ein müdes Lächeln.
„Oh, ich bin alles andere als perfekt. Und ganz bestimmt küsse ich morgens nach dem Aufwachen nicht den Spiegel und sage mir, wie schön und wert, geliebt zu werden, ich bin.“
Jetzt neckte er sie, und wieder erkannte Lily, dass er die meiste Zeit zugehört hatte. „Ich küsse nicht den Spiegel, aber ja, ich bin dafür, das Selbstbewusstsein zu stärken.“
„Bis die wahre Liebe kommt, und dann kann er es für Sie tun?“ Hunter zog spöttisch die Augenbrauen hoch.
„Nein. Ich glaube nicht an die Liebe. Ich glaube an sinnliche Begierde. An Romantik. An gegenseitigen Respekt. Nicht an die große Liebe, die ein ganzes Leben lang hält.“
„Amanda wird sehr enttäuscht sein.“
„Das wird Amanda nicht von mir hören.“ Lily nahm an, dass das Gespräch beendet war und ging zur Tür, doch Hunter war noch nicht fertig.
„Was ist mit jemandem, dem die Ärzte sagen, er würde nie wieder laufen können? Wollen Sie wirklich behaupten, dass er es sich nur in den Kopf setzen muss …?“
„Ich biete keine Wunder an, Hunter“, antwortete Lily freundlich, denn der spöttische Ton war aus seiner Stimme verschwunden, und sie spürte zum ersten Mal echte Verwirrung hinter seinen Worten. „Wenn sich jemand in dieser Situation allein darauf konzentriert, zu beweisen, dass sich die Ärzte irren, versäumt er viele andere Gelegenheiten. Vielleicht ist es besser, wenn er seine Energie für andere Ziele verwendet.“
„Aufgeben, meinen Sie?“
„Ich nenne es lieber akzeptieren.“
„Mit solchen Ratschlägen verdienen Sie wohl Ihren Lebensunterhalt“, erwiderte Hunter spitz.
Lily brachte das nicht aus der Fassung, weil sie wusste, dass seine Wut nicht gegen sie gerichtet war. „Über wen sprechen wir hier eigentlich?“
„Niemanden. Das war nur eine hypothetische Frage.“ Er öffnete die Tür, dann zog er sein Jackett aus und hielt es Lily hin. „Wollen Sie es sich ausleihen?“
„Ihr Jackett?“
„Es gießt in Strömen.“
„Nein danke.“ Lily lächelte bei der Vorstellung, ein Kleidungsstück im Wert mehrerer tausend Dollar als Behelfsschirm zu benutzen. Plötzlich bedauerte sie es, dass sie den Mann nie wiedersehen würde, wenn er erst einmal draußen war. Was ihre Gruppe zu bieten hatte, war nicht das, was er brauchte. Noch immer wollte sie gern wissen, warum er überhaupt gekommen war. Hunter Myles faszinierte sie. Er war so total selbstsicher, so atemberaubend überheblich und dann wieder – Lily sah das Jackett an – entwaffnend nett.
„Nehmen Sie es“, sagte er mit einem seltsamen Lächeln.
In dem Moment, in dem sie die Hand danach ausstreckte, änderte sich alles. An seinem Blick erkannte Lily, dass Hunter ihr mehr anbot als eine Jacke, dass seine scheinbar harmlose Geste gefährliche Nebenbedeutungen hatte. Ich reagiere über, dachte sie und mühte sich ab, die lächerlichen Gedanken zu verdrängen, die ihr durch den Kopf gingen.
„Lily?“
Sinnlichkeit hüllte sie ein wie ein dichter Nebel, der ihre Kleidung zu durchdringen schien, ihre Haut, ihren Verstand. Ihr wurde schwindlig davon. „Nein!“, sagte sie scharf. Hunters unausgesprochene Frage verdiente keine höfliche Antwort.
„Ihre Entscheidung.“ Er zuckte die Schultern.
Und ganz bestimmt die richtige, dachte Lily.
Verwirrt beobachtete sie, wie er in die Dunkelheit hinaustrat. Was, zum Teufel, war da eben passiert? Noch immer atmete sie flach und unregelmäßig. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Um Himmels willen, Hunter hatte ihr nur sein Jackett angeboten! Aber sie fühlte sich, als hätten sie sich geküsst. Sie schaltete das Licht aus, schloss hinter sich ab und rannte durch den strömenden Regen über den Parkplatz. Völlig durchnässt stieg sie in ihr Auto und träumte von einem entspannenden Schaumbad …
Aber es war noch nicht vorbei!
Der Tag, der mit einem Anruf ihres Hypothekars so schlecht begonnen hatte, wurde zur absoluten Katastrophe, als ihr Motor ein knirschendes Geräusch von sich gab. Lily hatte nicht viel Ahnung von Autos, dieses gefährlich klingende Getöse verriet jedoch selbst ihr, dass sie einen Abschleppwagen brauchte.
Plötzlich ging die Beifahrertür auf, und einen Moment lang geriet Lily in Panik – sie hatte gedacht, allein auf dem Parkplatz zu sein. „Die meisten Leute klopfen ans Fenster“, tadelte sie.
„Ich bin nicht wie die meisten“, erwiderte Hunter, der neben ihr eingestiegen war. „Haben Sie Probleme?“
Er beunruhigte sie. Nicht weil sie um ihre Sicherheit fürchtete. Lily war eine gute Menschenkennerin, und nichts an seiner Persönlichkeit veranlasste sie, zu glauben, dass er ihr etwas tun würde. Ihre Nervosität war allein den gefährlichen Gefühlen zuzuschreiben, die er in ihr weckte.
„Verstehen Sie viel von Autos?“
„Ich mag silberfarbene. Und ich könnte den Macho spielen und mir den Motor ansehen. Leider würde ich nicht wissen, was ich machen muss. Ich habe keine Ahnung von Autos.“
„Tja, danke für Ihre Hilfe.“
„Noch habe ich Ihnen nicht geholfen. Warum fahren Sie nicht mit mir und kümmern sich morgen früh um das Problem?“
„Ich komme schon klar.“ Lily griff nach ihrem Handy. „Ich rufe den Abschleppdienst.“
„Das kann dauern. Bei dem Unwetter heute Abend häufen sich wahrscheinlich die Pannen und Unfälle.“
„Ich bin ein geduldiger Mensch.“ Obwohl Lily sein Angebot kurz angebunden abgelehnt hatte, stieg Hunter nicht aus. Tatsächlich bewegte er sich nicht einmal, als sie sich über ihn beugen musste, um ihr Autohandbuch aus dem Handschuhfach zu nehmen. Während sie anrief, trommelte er mit den Fingern auf seinen Beinen. Nach einer unmöglich langen Zeit gab sie auf und tippte die Nummer des Taxirufs ein.
„Kein Glück?“, fragte Hunter unnötigerweise. Schließlich hatte er ihre ziemlich verärgerten Kommentare gehört.
„Ich bin auf die Warteliste gesetzt worden.“ Es war stockdunkel auf dem Parkplatz, der Regen peitschte gegen die Windschutzscheibe. Lily dachte daran, dass sie in den nächsten zwei oder drei Stunden nicht von hier wegkommen würde. Wenn Hunter sein Angebot wiederholte, würde sie sich von ihm nach Hause fahren lassen. Zufrieden mit ihrer Entscheidung sah sie ihn erwartungsvoll an.
„Tja, alles Gute. Ich hoffe, Sie sitzen hier nicht zu lange fest.“ Er öffnete die Beifahrertür und ging zu seinem Wagen.
Mist! Aber natürlich, ein Mann wie Hunter musste seine Hilfe nicht zweimal anbieten. Lily warf ihren Schlüssel und das Handy in die Handtasche, stieg aus und rannte auf die elegante silberfarbene Limousine zu. Im selben Moment schaltete er die Scheinwerfer ein, und, in der Dunkelheit angestrahlt, blinzelte Lily eine Sekunde lang wie erstarrt ins Licht. Sie konnte sich das triumphierende Lächeln vorstellen, das jetzt zweifellos seinen schönen Mund umspielte. Hunter Myles war ein Mann, der gern die Kontrolle hatte.
Anders als er klopfte sie ans Fenster, das sofort herunterglitt. Musik klang aus der Stereoanlage, seine Hände lagen locker auf dem Steuer, das feuchte Haar fiel ihm in die Stirn. Niemals hatte das Innere eines Autos einladender und zugleich gefährlicher ausgesehen. „Ihr Angebot, mich mitzunehmen … Wenn es Ihnen nichts ausmacht …“ Er sagte nichts, blickte sie nur an, zwang sie, ihn direkt darum zu bitten. „Ich würde gern mitfahren.“
„Klar.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er zur Beifahrertür.
Mit klopfendem Herzen lief Lily ums Auto und stieg ein. Sie spürte das weiche Leder an ihren Beinen, die Wärme, hörte die zu laute Musik, atmete seinen erotischen Duft ein. Verwirrende Sinneseindrücke bestürmten sie, als Lily vorübergehend die Welt dieses faszinierenden Mannes betrat.
Hunter hatte die Musik leise gestellt, bevor sie ihre Adresse genannt hatte, und jetzt meinte Lily, das ziemlich peinliche Schweigen ausfüllen zu müssen, das seitdem im Auto herrschte. „Tut mir leid, wenn es ein Umweg für Sie ist.“
„Ist es nicht.“
„Wirklich sehr nett von Ihnen, mich …“ Nervös verstummte sie, und Hunter versuchte nicht, Small Talk zu machen. Da er im Fragebogen den Stadtteil eingetragen hatte, in dem er wohnte, wusste sie, dass es tatsächlich kein großer Umweg für ihn war. Ohne sie hätte er aber wahrscheinlich die schnellere Strecke über die Autobahn genommen. Stattdessen wählte er die längere – und viel schönere – Strandstraße, die direkt zu Lilys Apartment an der Bucht führte.
Die Aussicht war fantastisch. Wolkenmassen verdeckten den Mond, nur Blitze erhellten ab und zu die Bucht. Die vertäuten Boote schaukelten im Gewittersturm, hohe Wellen schlugen an die Piers. Allerdings war die elektrische Spannung in der Luft nichts im Vergleich zur Energie im Auto. Eine Million unausgesprochene Fragen schienen zwischen ihnen zu schwirren, und Lily konnte in der aufgeladenen Atmosphäre kaum noch atmen. Niemals hatte ihr Apartmentkomplex einladender ausgesehen. Der gewohnte Anblick wirkte beruhigend, denn damit rückte das Ende dieser seltsamen Begegnung näher. Lily zeigte Hunter, wo er halten sollte. „Hier wohne ich.“
„Wo ist Ihr Parkplatz?“ Anstatt am Straßenrand anzuhalten, bog er auf die Auffahrt ab und suchte nach ihrem Stellplatz.
Dass er das Auto in die Lücke lenkte und den Motor ausschaltete, empfand Lily als einen unglaublichen Eingriff in ihre Privatsphäre. Hunter setzte schlicht voraus, dass sie ihn hereinbitten würde.
„Ich könnte wirklich einen Kaffee gebrauchen.“
Angespannt nickte Lily, und Hunter ließ ein charmantes Lächeln aufblitzen. Während sie über den Parkplatz und in das Apartmentgebäude gingen, war sie dermaßen nervös, dass ihr selbst etwas so Einfaches wie Laufen ungeheuer schwierig vorkam. In ihrer Wohnung standen noch der Teller und die Tasse vom Abendessen auf dem Couchtisch. Ein Top und ein BH, die sie aus dem Schrank genommen und dann doch nicht hatte anziehen wollen, hingen über der Sofalehne. Ein Stapel Zeitschriften lag neben einem Berg von Bankunterlagen.
„Entschuldigen Sie die Unordnung.“ Lily hoffte, dass Hunter ihr in die Küche folgen würde. Dann konnte sie vielleicht schnell hinausflitzen und aufräumen. Leider setzte er sich aufs Sofa und streckte die langen Beine aus. Zumindest tat er so, als ob er nicht bemerke, dass ihr BH aus rosafarbener Spitze nur wenige Zentimeter neben seiner rechten Wange hing, als sich Hunter vorbeugte und eine Zeitschrift nahm.
Nachdem er kurz darin geblättert hatte, blickte er auf. „Nette Wohnung.“
„Wenn sie aufgeräumt ist, ja.“
„Ich mag sie so. Normalerweise bekomme ich die entschärfte Version des Lebens einer Frau präsentiert.“
„Wie bitte?“
„Makellos sauber, frische Blumen in der Vase, ein paar anspruchsvolle Bücher auf dem Couchtisch …“
Genau so hätte sie ihr Apartment hergerichtet, wenn sie gewusst hätte, dass er kommen würde.
„Ich ziehe die Frau vor, die Sie wirklich sind.“ Hunter blickte ihr unanständig lange in die Augen.
Lily spürte, dass sie rot wurde. Zum Glück begann er, wieder in der Zeitschrift zu blättern.
„Drei Stück Zucker, bitte.“ Er sah nicht einmal auf, als er sie zur Serviererin degradierte. „Und viel Sahne.“
„Sie haben schon Glück, wenn ich Milch habe“, murmelte Lily. Sie ging in die Küche, schaltete den elektrischen Wasserkocher ein, nahm nur einen Becher aus dem Schrank und schenkte sich selbst ein Glas Wein ein. Nach diesem Tag hatte sie das verdient.
Austrinken und dann raus hier, entschied Lily, während sie mit zitternden Händen Kaffeepulver in den Becher löffelte. Obwohl sich Hunter ja eigentlich perfekt benahm. Er saß friedlich auf ihrem Sofa, hatte nett auf die Unordnung reagiert und sogar Bitte gesagt, als er sein widerlich süßes Getränk verlangt hatte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ein wildes Tier in ihrem Wohnzimmer zu haben, einen geschmeidigen Panther – unglaublich schön, aber gefährlich.
Nachdem sie einige Male tief durchgeatmet hatte, um sich zu beruhigen, kehrte Lily ins Wohnzimmer zurück. Allerdings war jeder Versuch, gelassen zu bleiben, sinnlos. Weil Hunter ihre Bankpapiere las und auch noch seine unerwünschte Meinung dazu äußerte.
„Sie können es sich nicht leisten.“
„Was soll das?“ Lily stellte die Getränke ab und riss ihm die Unterlagen aus der Hand. „So etwas tut man nicht!“
„Wieso denn nicht?“ Hunter zuckte die Schultern. „Das ist die schnellste Methode, jemanden kennenzulernen. Warum, in aller Welt, wollen Sie eine dermaßen hohe Hypothek aufnehmen?“
„Das geht Sie nichts an.“
„Im Gegenteil. Geld ist meine Sache.“
„Ach ja, stimmt!“, brauste Lily auf. „Glauben Sie etwa, Sie haben das Recht, Ihre Nase in jedermanns Privatangelegenheiten zu stecken, weil Sie an der Börse arbeiten und im Fernsehen aufgetreten sind?“
„Ich arbeite nicht an der Börse, ich spekuliere an der Börse“, verbesserte Hunter ruhig. „Meistens mit Gewinn. Die Leute zahlen viel Geld für meine Meinung, und Sie bekommen sie umsonst. Ich an Ihrer Stelle würde zuhören.“
„Das brauche ich nicht“, sagte Lily wütend. „Ich weiß schon, dass ich es mir nicht leisten kann. Ich weiß, dass die Banken mir das Geld nicht leihen werden und das Haus verkauft werden muss.“
„Verkauft?“ Hunter nahm wieder die Unterlagen vom Tisch. „Ich dachte, Sie wollen kaufen … Oh, ich verstehe.“ Er blätterte zwei Seiten um. „Das Haus gehört Ihren Eltern.“
Alles holte sie plötzlich ein: die Anspannung der vergangenen Wochen, die Frustration, die Sorgen. Zu erschöpft, um sich noch weiter über Hunter zu ärgern, setzte sich Lily neben ihn aufs Sofa und trank einen Schluck Wein. „Meiner Mutter. Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben.“
„Dann ist das Haus allein auf den Namen Ihrer Mutter eingetragen? Warum wollen Sie es kaufen?“
„Weil meine Mutter es sonst verliert. Sie ist mit der Rückzahlung ihres Darlehens in Verzug geraten. In der Hoffnung, es halten zu können, wollte sie es zu einem Hotel umbauen. Zurzeit ist sie oben in Queensland und bespricht mit ihrer Schwester eine mögliche Beteiligung, aber hier sind die Probleme inzwischen lawinenartig angewachsen. Ich habe gerade erfahren, dass in zwei Wochen in Red Hill eine Hypothekarauktion stattfindet, wenn sie nicht zahlt.“
„Da sie es sich nicht leisten kann, ist sie doch wohl besser dran, wenn sie sich verkleinert.“
„Sie lebt seit dreißig Jahren in dem Haus. Alle ihre Erinnerungen sind dort. Warum soll sie es aufgeben?“
„Weil sie es sich nicht leisten kann“, erklärte Hunter ungerührt. „Warum hat sie nach so langer Zeit im eigenen Haus überhaupt derart hohe Schulden?“
„Meine Eltern haben eine neue Hypothek aufgenommen, um die Behandlung meines Vaters zu bezahlen und sein letztes Jahr mit Reisen zu verbringen.“
„Das war ziemlich egoistisch.“ Hunter verdrehte die Augen. „Ist Ihrem Vater nicht klar gewesen, in was für einem Schlamassel er Ihre Mutter zurücklassen würde?“
Wie konnte Hunter so etwas sagen?
Kühl erwiderte er ihren entsetzten Blick. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie nicht schon dasselbe gedacht haben.“
„Vielleicht … Aber Sie kennen die Umstände nicht, und Sie haben kein Recht …“
„Gut.“ Hunter legte die Papiere auf den Tisch, trank gelassen seinen Kaffee aus und stand auf.
Obwohl sie nicht gewollt hatte, dass er blieb, wollte sie jetzt nicht, dass er ging. Seltsamerweise war Lily enttäuscht, dass sich dieser gefährliche Mann sanftmütig zurückzog.
„Danke fürs Mitnehmen.“ Sie stand ebenfalls auf und brachte Hunter zur Tür.
„Kein Problem. Danke für den Kaffee.“
„Sind Sie nicht zu müde, um zu fahren?“
„Machen Sie sich Sorgen um mich?“
„Sie sind ein Teilnehmer meiner Gruppe …“
„Nein. Ich war nicht meinetwegen dort, sondern habe die Gruppe für jemand anderen angeschaut. Also brauchen Sie sich nicht um mich zu sorgen.“ Hunter sah ihr tief in die Augen. „Es sei denn, natürlich, Sie möchten es.“
„Aber Sie haben gesagt …“
„Ich wollte mich wirklich nur davon überzeugen, dass die Sache einwandfrei ist.“ Er zögerte einen Moment lang. „Für eine Bekannte.“
„Und? Waren Sie zufrieden?“
„Sehr. Und der Kaffee war willkommen. Jetzt gehe ich wohl besser. Ich sehe Ihnen an, dass ich Sie verärgert habe.“
„Ein bisschen“, gab Lily zu. „Aber das ist mein Problem, nicht Ihres.“
„Wie kann mein ungehöriges Benehmen Ihr Problem sein?“, fragte Hunter sanft.
Noch immer hielt er Blickkontakt, und die Wirkung war verheerend. „I… ist es nicht. Meine Reaktion darauf ist m… meine Sache.“
„Tja, ich bin froh, dass ich eine Reaktion in Ihnen wecken kann“, erwiderte er ironisch. „Und es tut mir leid, wenn ich unverschämt war. Ich habe diesen Überlegenheitskomplex, verstehen Sie? Ich weiß einfach, dass ich immer recht habe.“
Unwillkürlich lächelte Lily, und diesen unvorsichtigen Moment nutzte Hunter, um sie zum ersten Mal zu berühren. Er schob ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und es war, als würden ganze Ströme von sinnlichen Empfindungen ihren Körper durchfluten.
„Der heutige Abend ist unerwartet angenehm gewesen.“
„Freut mich, dass ich Sie nicht gelangweilt habe.“
„Ganz und gar nicht.“ Hunter runzelte verwirrt die Stirn. „Darf ich Sie fragen, wie eine so junge und schöne Frau wie Sie so zynisch geworden ist?“
„Zynisch?“
„Ja. Dieses Gerede, dass Sie nicht an die Liebe glauben. Bevor Sie sie schlechtmachen, sollten Sie es vielleicht erst einmal damit versuchen.“
„Das habe ich einmal probiert, und es hat mir nicht gefallen“, wiederholte Lily verächtlich seine Worte, doch ihren Schmerz konnte sie nicht verbergen.
„Was ist passiert?“
„Ich will nicht darüber sprechen.“
„Für jemanden, der beruflich Menschen dazu bringt, frei über ihre Probleme zu berichten, sind Sie unglaublich verschlossen“, provozierte Hunter sie.
„Na gut. Ich war zwei Jahre lang verlobt, und wir wollten die Hochzeit vorverlegen, in der Hoffnung, dass mein Vater noch würde dabei sein können.“
„Aber?“
„Meinem Vater ging es plötzlich schlechter, und zwei Tage vor seinem Tod habe ich meinen wundervollen Verlobten Mark mit meiner angeblich besten Freundin im Bett erwischt. Da bitte. Genügen Ihnen die Informationen?“
Auf ihren Sarkasmus reagierte Hunter nicht, und er zeigte kein Mitgefühl. „Also haben Sie sich von ihm getrennt?“
„Nein. Die Krankenhausbesuche, meine Mutter … Ich musste mit so vielem fertig werden …“
„Sie haben ihn nicht einmal damit konfrontiert?“
„Nein.“ Tränen traten Lily in die Augen. „Noch mehr Aufregung konnte meine Mutter nicht gebrauchen. Sie hatte Mark gern, und er war der perfekte Verlobte, als mein Vater starb. Mark hat Verwandte angerufen, die Beerdigung organisiert und sogar während des Gottesdienstes meine Hand gehalten. Alle haben zu mir gesagt, was für ein Glück ich hätte, ihn zu haben.“
„Wo ist er jetzt?“
„Mit Janey zusammen, meiner ehemaligen besten Freundin. Er erzählt gern, ich sei nach dem Tod meines Vaters deprimiert gewesen und habe ihn hinausgeekelt. Beide behaupten noch immer, zwischen ihnen sei erst Monate nach unserer Trennung etwas passiert.“
„Ohne Mark und Janey sind Sie besser dran.“ Hunter zuckte ungerührt die Schultern. „Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.“
„Wie bitte?“
„Ihr Ex war zwar ein Mistkerl. Das reicht wohl kaum, um alle Männer danach zu beurteilen, was Sie mit ihm erlebt haben.“
„Zu dem Zeitpunkt war es genug.“
„Hören Sie auf, Lily. Sie sind eine vernünftige junge Frau und wissen, dass Beziehungen aus viel banaleren Gründen scheitern. Wahrscheinlich waren Sie damals ein richtiger Miesepeter. Nicht, dass er recht daran getan hat, so zu handeln. Nur können Sie doch sicher sehen, wo die Beziehung anfing, schiefzulaufen.“
„Sind Sie immer so feinfühlig?“, fragte Lily.
„Nicht immer. Da wir uns gerade erst kennengelernt haben, wollte ich nicht zu streng sein“, erwiderte Hunter ebenso sarkastisch. Dann hörte er auf, sie zu necken, und fragte ernst: „Was ist Ihnen noch passiert, Lily?“
„Nichts!“, antwortete sie schnell. Sein forschender Blick war entnervend, und schließlich war sie kurz davor, es ihm zu erzählen. Aber da trat er zurück und wandte sich der Tür zu.
„Nochmals danke für den Kaffee.“
Zweifellos würde sie Hunter nie wiedersehen. Niedergeschlagen kämpfte Lily gegen die Regung, ihn zurückzurufen. Dass er mit seinen Dämonen kämpfte, ahnte sie nicht.
Er wollte nicht nach Hause fahren und Emma anrufen, um von seinem Abend zu erzählen. Er hatte keine Lust, eine Nacht allein in seiner Wohnung herumzustreifen. Aber vor allem wollte er Lily nicht verlassen. Und nicht nur, weil sie fantastisch aussah. Schöne Frauen gab es in seinem Leben wie Sand am Meer. Es war diese, die ihn bezauberte.
Obwohl sie durchnässt, unglücklich und erschöpft gewesen war, hatte sie ihm trotzdem ihre Zeit geschenkt. Und anders als so viele erwartete sie nichts von ihm.
Nichts!
Hunter drehte sich um. „Ich kann wirklich noch fahren. Ich möchte nur lieber nicht.“
Sein leidenschaftlicher Blick ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was Hunter meinte. Gib ihm eine passende Antwort auf seinen unpassenden Vorschlag! befahl sich Lily.
Sie wollte Ja sagen!
Eine Hand an die Wand hinter ihr gestützt, neigte er langsam den Kopf, bis sein verführerischer Mund nur noch einen Hauch weit entfernt war. Sinnliche Begierde rang mit der Vernunft, während sich Lily vorstellte, wie sich seine Lippen auf ihren anfühlen würden. Ganz bestimmt würde sie es bereuen. Jede Frau, die ihm begegnete, dachte wohl daran, mit ihm zu schlafen. Dass sie es zumindest in dieser Nacht tatsächlich tun konnte, hätte Lily niemals für möglich gehalten.
Hunter Myles war in ihrem Schlafzimmer ebenso fehl am Platz wie im Gemeindezentrum: ein Traummann, der nicht in den Rahmen ihres Lebens gehörte. Dennoch war er hier, bewunderte sie mit seinem Blick, führte sie in Versuchung. Und Lily wollte es. Sie sehnte sich danach, von ihm geküsst zu werden, um sich dann für immer an diesen Moment zu erinnern …
Anstatt sie zu küssen, liebkoste Hunter mit der Zunge ihre Lippen, und es war das Erotischste, was Lily jemals erlebt hatte. Zudem tat er es nicht nur flüchtig, sondern so lange, bis sie sich vor Begehren wand.
Dann küsste er sie.
Noch nie war sie so geküsst worden. Langsam, gekonnt weckte er eine verzehrende Leidenschaft in Lily, bis sie den Druck ihrer Lippen auf seine verstärkte. Und Hunter reagierte, indem er die Hand zu ihrem Rücken gleiten ließ und Lily an sich presste. Sofort war sie verloren. Versunken in die Wahrnehmung seines schlanken, muskulösen Körpers, seinen berauschenden Duft, wollte sie nur noch, dass dieser Kuss ewig dauerte. Gleichzeitig wusste sie, dass sie viel zu erregt war, um diesen ekstatischen Moment lange auszukosten.
Als Hunter den Mund von ihrem löste, konnte sie kaum glauben, was sie jetzt vorhatte. „Wir dürfen nicht“, flüsterte sie atemlos.
„Warum nicht?“
„Ich stehe nicht auf One-Night-Stands.“
„Wer hat etwas von einer Nacht gesagt? Ich mag dich, Lily.“
„So einfach ist das nicht. Ich weiß nichts über dich.“
„Dafür ist später noch genug Zeit.“
Nein. Lily war sich darüber im Klaren, dass sie Hunter niemals würde halten können. Für ihn würde die Anziehungskraft erlöschen, sobald seine Bedürfnisse befriedigt waren.
Aber?
Sagte sie nicht immer, man solle seinem Instinkt folgen, auf die innere Stimme hören? Und es war wirklich einfacher, ihrem Gefühl nachzugeben, als Hunter aus Prinzip zurückzuweisen. Mit ihm zusammen zu sein war die berauschendste Erfahrung ihres bisherigen Lebens, und sie wollte sie so lange wie möglich auskosten.
„Lily.“
Es klang fast flehend, und als er die Lippen an ihren Hals drückte, schloss sie in völliger Hingabe die Augen.
„Ich will nicht allein schlafen …“ Hunter schob ihr die Kostümjacke von den Schultern, zog ihr das Top über den Kopf und öffnete geschickt den BH-Verschluss.
Lily spürte seine Hände an ihren Brüsten, spürte die Erregung bis in ihre geheimsten Stellen, während er mit den Fingern die Spitzen reizte und sie schließlich in quälenden, kleiner werdenden Kreisen mit der Zunge liebkoste, bis Lily um mehr bat und er eine Spitze in den Mund nahm.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer küssten sie sich immer wieder leidenschaftlich, und Hunter zog ihr die restlichen Sachen aus. Lily war dankbar, dass er das Licht einschaltete, denn sie sehnte sich danach, ihn nackt zu sehen. Bebend vor Verlangen, lag sie auf dem Bett und beobachtete fasziniert, wie er sein Hemd aufknöpfte, den Reißverschluss seiner Hose aufmachte …
Bei dem fantastischen Anblick, der sich ihr bot, stöhnte Lily auf. Hunter hatte einen herrlichen Körper, muskulös, mit breiten Schultern, schmalen Hüften und flachem Bauch. Sie musste einfach die Hand ausstrecken und ihn berühren, als Hunter zu ihr kam.
„Nicht“, warnte er und drückte Lily auf die Matratze, bevor er rasch ein Kondom überstreifte. „Beweg dich nicht.“
Das war unmöglich. Sie wollte sich mit ihm bewegen, doch er umfasste ihre Hüften und hielt Lily fest, während er langsam in sie hineinglitt.
„Jetzt!“, erlöste er sie endlich.
Und sie legte die Beine um ihn, bog sich ihm entgegen und erschauerte heftig vor Ekstase, als er sie ausfüllte und zu einem Höhepunkt brachte, der gar nicht mehr aufzuhören schien. Sogar hinterher pulsierten noch kleine Wellen der Lust durch ihren Körper.
„Oh, Lily …“ Stöhnend barg Hunter das Gesicht an ihrem Hals und atmete ihren Duft ein.
Mit Hunter zusammen zu sein, war berauschend gewesen, eine unglaublich intensive Erfahrung. Die grenzenlose Zärtlichkeit, die er danach zeigte, war Lily allerdings ein Rätsel. Sie hatte sich darauf gefasst gemacht, dass er sich anziehen und gehen würde. Stattdessen schmiegte er sich an sie und schlief ein. Während er sie beschützend in seinen starken Armen hielt, wurde Lily etwas bewusst: Sie hatte auch nicht allein schlafen wollen.
Am nächsten Morgen öffnete Lily die Augen und musste einfach lächeln. Die Schuldgefühle, die sie normalerweise nach einer so leichtsinnigen Nacht gehabt hätte, fehlten völlig. Und es war ihr auch nicht peinlich, dass Hunter sie, auf einen Ellbogen gestützt, unverwandt anblickte, während sie allmählich richtig wach wurde.
„Guten Morgen.“ Mit kreisenden Bewegungen streichelte er ihr durch das Laken den Bauch. „Was hast du heute vor?“
„Hm?“ Lily hörte nur halb zu. Sie konzentrierte sich auf die wundervollen Empfindungen, die Hunter in ihr weckte. Das war sehr viel angenehmer, als an ihr kaputtes Auto und ihre Geldsorgen zu denken.
„Wir könnten zum Haus deiner Mutter fahren.“
„Warum?“
„Musst du nicht die Blumen gießen oder so etwas?“
„Dafür ist es zu weit weg. Sie wohnt in der Gegend von Red Hill. Man fährt über eine Stunde bis dahin.“
„Lass es uns trotzdem tun. Ich hatte seit einer Ewigkeit keinen freien Tag mehr. Ich werde Abigail anrufen und ihr sagen, sie soll es arrangieren.“
„Abigail? Deine Exfreundin arbeitet für dich?“
„Sie ist meine persönliche Assistentin“, erklärte Hunter. „Warum soll ich eine gute Mitarbeiterin verlieren, nur weil unsere Beziehung vorbei ist? Über die Trennung hat sie sich zwar aufgeregt, aber jetzt kommt Abigail prima damit klar. Sie liebt ihren Job zu sehr, als dass sie wegen etwas so Belanglosem kündigen würde.“
Belanglos. Seine Wortwahl bestätigte die Vorstellung, die sich Lily von ihm gemacht hatte. Für Hunter war eine Beziehung bloß eine Lappalie, ein angenehmer Zeitvertreib. Dass es für Abigail so unkompliziert war, bezweifelte Lily jedoch. Unmöglich konnte eine Frau diesen Mann täglich sehen und ihn nicht begehren.
„Ich finde, wir sollten heiraten. Ich brauche eine Frau.“
Hunter sagte das einfach so, als würde er vorschlagen, dass sie in ein Café frühstücken gingen.
„Ich auch!“ Lily lachte. „Vorzugsweise eine, die jeden Morgen pünktlich kommt und gern bügelt und putzt.“
„Ich meine es ernst. Seit dem Morgengrauen habe ich hier gelegen und nachgedacht. Heiraten ist die Lösung.“
„Wofür?“
„Deine Geldprobleme.“
„Meine Geldprobleme gehen dich nichts an.“
„Ich könnte dir das Haus deiner Mutter kaufen, wenn wir heiraten.“
„Warum, in aller Welt, solltest du mich heiraten wollen?“
„Stabilität. Einige meiner Großinvestoren sind wegen meines Lebensstils in gereizter Stimmung. Außerdem versuche ich gerade, Sponsoren für einen Wohltätigkeitsball zu gewinnen, den ich organisiere. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass ich ein solideres Image haben sollte.“
„Und das erreichst du, indem du einer Frau einen Heiratsantrag machst, die du kaum zwölf Stunden kennst?“
„Meine PR-Leute werden sich darum kümmern.“
„Hunter. Gestern Nacht war fantastisch.“ Lily lächelte.
„Ich weiß.“
„Völlig untypisch für mich“, fuhr sie fort, ohne seine mangelnde Bescheidenheit zu beachten, „aber trotzdem großartig. Und jetzt verdirbst du mit deinem Heiratsgerede meine eine wilde Nacht voller leichtsinniger Leidenschaft.“
„Ja, das läuft verkehrt herum“, räumte Hunter ein. „Ich meine, normalerweise ist sie diejenige, die am nächsten Morgen nach der Zukunft fragt.“
Bei seiner Antwort zuckte Lily zusammen. „Sie?“
„Wer auch immer. Jedenfalls würde es meine Schwester glücklich machen.“
„Seit wann heiratet ein Mann seiner Schwester zuliebe? Das ist total verrückt.“
„Emma muss ihr eigenes Leben weiterführen. Sie benutzt mich als Vorwand, um ein hervorragendes Angebot nicht anzunehmen. In einigen Wochen hat sie ein Solo – sie ist eine überaus begabte Geigerin –, und wenn sie gut ist, kann sie bei einem großen Konzertabend in London auftreten. Nur will sie das Angebot ausschlagen und tischt wahllos Ausreden auf: ‚Wir sind alles, was von der Familie übrig ist. Wenn ich auch noch reise, dann sehen wir uns überhaupt nicht mehr.‘ Sie hat sich sogar in den Kopf gesetzt, sie müsse in Melbourne bleiben, um ein wachsames Auge auf mich zu haben.“
„Jetzt komme ich nicht mehr mit“, sagte Lily.
„Emma ist behindert“, erklärte Hunter. „Sie hat Rückenmarksverletzungen bei einem Unfall erlitten, bei dem meine Eltern im vergangenen Jahr gestorben sind.“
„Wie furchtbar!“, rief Lily schockiert. „Ich erinnere mich, davon gelesen zu haben. Es tut mir so leid, Hunter!“
„Das ist wohl kaum deine Schuld.“
„Trotzdem …“ Lily war entsetzt, wie gleichgültig er klang. „Es muss ein Albtraum für dich gewesen sein.“
„Für Emma war es schlimmer.“
„Hast du gestern Abend von deiner Schwester gesprochen?“
„Ja.“ Hunter nickte grimmig. „Sie hat große Schwierigkeiten, sich mit ihren Verletzungen abzufinden, nur ist dieses Angebot eine Riesenchance. Deshalb muss sie es annehmen.“
„Vielleicht ist sie noch nicht so weit.“
„Natürlich ist sie so weit. Sie hat einfach zu viel Zeit zur Verfügung. Inzwischen glaubt sie doch tatsächlich, was in der Presse über mich behauptet wird, hätte Ähnlichkeit mit der Wahrheit.“
„Und? Hat es?“ Lily hielt den Atem an, als sich Hunters Miene verfinsterte.
Doch er überging die Frage einfach und erläuterte die Bedingungen seines Antrags. „Wenn wir heiraten, kaufe ich das Haus für dich. Und selbstverständlich kannst du alles behalten, was ich dir schenke. Aber niemand darf wissen, dass unsere Ehe etwas anderes war als eine stürmische Romanze, die am Ende schiefgegangen ist.“
„Schiefgegangen?“
„Ich bitte dich lediglich um zwölf Monate, Lily. In der Zeit hat Emma die Chance, ihr Leben zurückzubekommen, ohne sich um mich zu sorgen. Meine Investoren und Sponsoren können sich beruhigen. Und dann gehen wir ohne Bedauern wieder getrennte Wege. Ich kaufe das Haus …“
„Es ist dir wirklich Ernst damit!“
„Natürlich.“
„Warum ich?“
„Warum nicht du?“, erwiderte Hunter. „Du bist schön, witzig, sehr sexy … Ich kann mir viel Schlimmeres vorstellen, als die nächsten zwölf Monate mit dir zu verbringen.“
„Aber du könntest jede haben. Warum nicht Abigail oder …?“
„Weil andere so dumm sein würden, sich zu verlieben und zu glauben, es sei für immer“, unterbrach er sie. „Du und ich dagegen wissen, dass es so etwas nicht gibt. Denk darüber nach.“ Er warf das Laken zurück und stieg aus dem Bett.
Verwirrt beobachtete Lily, wie er, nackt und ungeheuer begehrenswert, sein Handy nahm, eine Nummer eintippte und seine Termine für den Tag absagte, bevor er der armen Abigail eine komplizierte Liste mit Anweisungen durchgab.
Seltsamerweise tat Lily es wirklich. Während sie duschte und sich die Haare wusch, beschäftigte sie nicht die erstaunliche Nacht, die sie mit Hunter erlebt hatte. Was sie faszinierte, war die erstaunliche Zukunft, die er ihr anbot.
Nicht das Haus. Obwohl das schön wäre.
Nicht die Geschenke.
Nicht das Geld.
Er.
Zwölf Monate mit diesem atemberaubenden Mann.
Wie könnte sie nicht über diesen Vorschlag nachdenken?
„Na, ist das nicht schön?“
Hunter blickte zu ihr hinüber, und Lily nickte. Als sie die Stadt hinter sich ließen, konnte sie buchstäblich spüren, wie die Anspannung der vergangenen Tage langsam verschwand.
Für einen Tag auf dem Land mit einem so tollen Mann das richtige Outfit auszuwählen war gar nicht so einfach gewesen. Shorts und Sandalen hatte sie sofort ausgeschlossen, für den Fall, dass Hunter mit ihr unterwegs vielleicht in ein Schickeriarestaurant ging. Schließlich hatte sie sich für einen Khakirock mit Reißverschluss an der Vorderseite entschieden, dazu eine weiße Baumwollbluse, die in der Taille geknotet wurde, und cremefarbene Espadrilles. Hinterher hatte Lily viel Zeit damit verbracht, sich so zu schminken, dass sie hoffentlich aussah, als würde sie kein Make-up tragen. Währenddessen hatte Hunter den gesamten Inhalt ihres Heißwasserboilers verbraucht. Und dann hatte er den Nerv gehabt, sie zu bitten, die Reisetasche zu holen, die immer in seinem Auto lag!
Jetzt kuschelte sich Lily in den Ledersitz der Limousine und warf Hunter verstohlene Blicke zu. Auch ohne den eleganten Anzug gab er eine imposante Figur ab. Unrasiert, in schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, sah er erotisch, gefährlich und völlig unzähmbar aus. Hundertprozentig der Typ, vor dem Mütter ihre Töchter warnen, dachte sie lächelnd.
„Ich hatte das wirklich nötig“, sagte Hunter. „Einen echten freien Tag ohne meinen Laptop und mein Handy hatte ich schon eine Ewigkeit nicht mehr.“
Beide hatten ihr Handy nicht mitgenommen und waren sich dabei herrlich leichtsinnig vorgekommen. „Ich fühle mich, als würde ich die Schule schwänzen.“
„Hast du das getan?“, fragte Hunter überrascht. „Du wirkst wie ein superbraves Mädchen.“
„Nur ein Mal.“ Lily lachte. „Ich bin mit ein paar Freundinnen ins Kino gegangen und hatte solche Angst davor, gesehen zu werden, dass es gar nicht schön war.“
„Ich habe geschwänzt.“ Hunter zuckte die Schultern. „Und ich bin immer erwischt worden. Ich hatte endlose Auseinandersetzungen mit meinen Eltern und den Lehrern.“
„Bist du von der Schule geflogen?“
„Nein. Ich war ein Topschüler, und sie wollten nicht ihren akademischen Ruf verderben. Sie wussten, dass ich bei der Abschlussprüfung zu den besten Absolventen des Staates gehören würde. Ich hatte sie in der Zange und habe ihnen klargemacht, dass ich auftauchen würde, wenn sie mir etwas Interessantes beibringen könnten. Was ich auch getan habe.“
„Also hast du es immer leicht gehabt?“
„Glaub mir“, sagte Hunter scharf, „ich hatte es keineswegs leicht.“
„Entschuldige. Ich habe nur …“
„Angenommen. Ja, davon gehen die Leute immer aus.“
Lily wandte sich ihm zu, sah seine angespannten Gesichtszüge und begriff, wie schmerzlich es für ihn gewesen sein musste, seine Eltern zu erwähnen. „Du vermisst sie bestimmt sehr.“
„Wen?“
„Deine Eltern.“
„Warum?“ Hunter warf ihr einen Blick zu und bemerkte, wie schockiert Lily war. „Seine Eltern kann man sich nicht aussuchen, wie es so schön heißt.“
Fieberhaft überlegte Lily, was sie sagen könnte, um den unerträglich tiefen Graben zu füllen, der zwischen ihnen entstanden war. Überraschenderweise war es jedoch Hunter, der das Schweigen schließlich brach und ein wenig mehr von sich verriet.
„Mein Vater hatte multiple Sklerose. Als die Krankheit diagnostiziert worden ist, hat er sich sofort aufgegeben. Eigentlich war es bei ihm nicht so schlimm, jedenfalls nicht im Vergleich zu anderen Betroffenen. Aber anstatt dagegen zu kämpfen, hat er sich in sein Unglück vertieft und versucht, alle mit hinunterzuziehen. Er hat meiner Mutter das Leben zur Hölle gemacht. Wenn er etwas wollte, hat er mit seinem Stock auf den Schlafzimmerboden geschlagen – ich kann es im Geiste immer noch hören. Noch immer sehe ich vor mir, wie meine Mutter die Treppe hinaufläuft, um bei ihm anzukommen, bevor er noch einmal klopft. Ich verstehe nicht, warum sie ihn nicht verlassen hat.“
„Vielleicht hat sie …“
„Ihn geliebt? Wir haben bereits festgestellt, dass es so etwas nicht gibt. Ich habe meine Mutter gefragt, warum sie nicht einfach geht. Sie hat mir erklärt, wir hätten ein schönes Haus, Emma und ich würden die besten Schulen besuchen, und trotz seiner Krankheit würde er noch immer viel Geld verdienen – mein Vater hat in Immobilien investiert. Außerdem hat sie mich darauf hingewiesen, dass er ohne ihre Hilfe nicht mehr arbeiten könnte und der ganze Luxus verschwinden würde. Und deshalb sei es ihre Pflicht, bei ihm zu bleiben.“ Hunter stieß ein freudloses Lachen aus. „Sie hat niemals verstanden, dass ich sogar in einem Zelt gewohnt hätte, nur um von alldem wegzukommen.“
Gefangen in seinen quälenden Erinnerungen, blickte er starr nach vorn auf die Straße. Lily spürte, dass er genug gesagt hatte, und nach einer Weile kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Thema zurück und änderte die Frage um, die ihn verärgert hatte. „Also bist du schon als Schüler so arrogant und selbstsicher gewesen?“
Hunter sah sie an und schenkte ihr ein sehr nettes Lächeln, das nicht nur die düstere Atmosphäre vertrieb, sondern auch Lilys Herz dahinschmelzen ließ.
„Immer schon.“
Von Bäumen überdacht, schlängelte sich die Straße durch die Wildnis. Als Hunter auf die Auffahrt abbog und zum ersten Mal das Haus zu sehen bekam, beobachtete Lily, wie seine undurchdringliche, überhebliche Miene weicher wurde. „Es ist schön, stimmt’s?“ Beim Anblick des großen verwinkelten, mit Glyzinien umrankten weißen Schindelhauses war Lily jedes Mal wieder begeistert. Dahinter und an den Seiten standen hohe Bäume, vor dem Haus fiel der Rasen sanft ab und zog den Blick auf die endlos weite Aussicht.
Hunter stieg aus dem Auto, nahm die Sonnenbrille ab und stand lange regungslos da. „Ich kann verstehen, warum du dieses Haus nicht verlieren willst.“
„Na los, sieh es dir von innen an.“
„Besichtigen, was ich kaufe?“
„Ich habe nicht Ja gesagt.“
„Noch nicht.“
Ohne darauf zu antworten, führte Lily ihn zum Haus und stolperte auf der Veranda fast über einen großen Picknickkorb. „Wie, in aller Welt, ist der hierher gekommen?“
„Durch Abigail.“ Hunter zuckte die Schultern. „Ich habe sie gebeten, ein Mittagessen für uns zu organisieren.“
„Woher wusstest du die Adresse?“
„Hypothekarauktion in Red Hill in zwei Wochen. Das sind mehr als genug Informationen für Abigail.“
„Dann ist sie also tüchtig.“
Hunter verdrehte die Augen. „Das behauptet sie immer.“ Während sie durchs Haus gingen, plauderte er weiter. „Sie möchte, dass ich ihre Berufsbezeichnung ‚Persönliche Assistentin‘ in ‚Privatsekretärin und Terminplanerin‘ ändere.“
„Und was hast du gesagt?“
„Nichts. Das Beste habe ich dir noch nicht erzählt. Anstatt mich einfach zu fragen, hat sie einen Brief geschrieben und ihn mir mit der Post geschickt. Wir sehen uns täglich zwölf, manchmal achtzehn Stunden, und jetzt schickt sie mir einen Brief! Wahrscheinlich dachte sie, ich würde einen formellen Antrag ernster nehmen.“
„Hast du?“, fragte Lily lächelnd.
„Aber sicher. Ich habe ihr geschrieben, dass sie sich nennen kann, wie sie will, sofern sie aufhört, mich mit albernen Anträgen zu verfolgen.“