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HEIßE LEIDENSCHAFT - KALTES HERZ? von COLLINS, DANI Nacht für Nacht wird Octavia Ferrante von ihrem Mann Alessandro leidenschaftlich verführt. Nur auf die Liebe des feurigen italienischen Tycoons hofft sie vergeblich. Tief verzweifelt fragt sie sich: Hat er mich etwa nur aus Berechnung geheiratet, damit ich ihm einen Erben schenke? FÜR UNS SOLL’S ROTE ROSEN REGNEN von WILLIAMS, CATHY Mit dem Arm voller Rosen steht der attraktive Milliardär Sergio Burzi überraschend vor Susies Tür. Die junge Künstlerin ist hin und weg! Obwohl er ihr nicht mehr als eine Affäre verspricht, kann sie seinem Sex-Appeal einfach nicht widerstehen. Mit ungeahnten Folgen … DIE GELIEBTE DES DIAMANTEN-MILLIONÄRS von SHAW, CHANTELLE Diamanten-Millionär Cruz Delgado hat nie vergessen, dass seine große Liebe Sabrina ihn einst zurückwies - damals, als er ihr nichts schenken konnte als sein Herz. Doch jetzt ist die Zeit der Rache gekommen: Er gewährt ihr die nötige Finanzhilfe nur, wenn sie seine Geliebte wird! BRENNENDE SEHNSUCHT NACH DEINEN KÜSSEN von DOUGLAS, MICHELLE Ich will die Scheidung." Die Worte von Caros Noch-Ehemann Jack lassen keinen Zweifel daran, dass er nur aus einem Grund zu ihr nach London zurückgekehrt ist. Aber warum knistert es dann plötzlich stärker denn je zwischen ihnen, sobald er sie nur ansieht?
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Seitenzahl: 696
Dani Collins, Cathy Williams, Chantelle Shaw, Michelle Douglas
JULIA EXTRA BAND 420
IMPRESSUM
JULIA EXTRA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRABand 420 - 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
© 2016 by Dani CollinsDani Collins Originaltitel: „The Marriage He Must Keep“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Valeska Schorling
© 2015 by Cathy WilliamsCathy Williams Originaltitel: Originaltitel erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Emma Luxx
© 2016 by Chantelle ShawChantelle Shaw Originaltitel: Originaltitel erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Dorothea Ghasemi
© 2016 by Michelle DouglasMichelle Douglas Originaltitel: Originaltitel erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Elke Schuller
Abbildungen: Harlequin Books S.A., zoomteam / 123RF, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733707965
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY
Sosehr Alessandro Ferrante die Nächte der Lust mit seiner jungen Ehefrau Octavia liebt, sosehr hasst er die Sehnsucht, die er danach verspürt. Denn um keinen Preis darf er sein Herz an sie verlieren!
In ihrem sexy roten Minikleid weckt Susie sofort Sergio Burzis Begierde. Aber ist sie so unschuldig, wie sie tut? Nach einer Liebesnacht muss der Milliardär fürchten, dass sie nur sein Geld will …
Sabrina fühlt sich sofort wieder zu ihrer Jugendliebe Cruz Delgado hingezogen, als er nach zehn Jahren plötzlich bei ihr auftaucht. Umso schockierter ist sie, als er ihr eiskalt ein unmoralisches Angebot macht …
Jack Pearce steht vor einem persönlichen Rätsel: Kaum willigt seine Noch-Ehefrau Caro in die Scheidung ein, verlangt es ihn plötzlich brennend danach, sie zu heißen Küssen zu verführen …
Wieder zog ein stechender Schmerz durch Octavia Ferrantes Unterleib. Ihr Bauch krampfte sich so heftig zusammen, dass es ihr den Atem verschlug.
„Bitte ruf Alessandro an“, flehte sie keuchend und ballte die Hände zu Fäusten, um sich gegen die nächste Wehe zu wappnen. Sie bekam allmählich Angst, dass etwas nicht in Ordnung war und sie nie wieder Alessandros Stimme hören würde.
Der Cousin ihres Mannes, Primo Ferrante, seufzte nur desinteressiert. Er ließ den Vorhang los, wandte den Blick vom Fenster und drehte sich zu ihr um. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass er erst kommt, wenn das Baby auf der Welt ist. Vorher lohnt es die Mühe nicht.“
Octavia weigerte sich, das zu glauben. Primo schien es täglich mehr Vergnügen zu bereiten, sie zu quälen. Sie traute ihm schon längst nicht mehr über den Weg. Vermutlich spielte er nur wieder eins seiner perfiden Spielchen mit ihr.
Nach all den zermürbenden Monaten in ihrem Londoner Exil nahm sie ihm jedoch zumindest einen Teil seiner Behauptungen ab. Er hatte zum Beispiel völlig recht damit, ihre Intelligenz infrage zu stellen. Sie hatte zugelassen, dass ihr Leben ihr völlig entglitt. Schon seltsam, so eine Schwangerschaft. Man wurde graduell immer verletzlicher, merkte das jedoch erst, wenn man kämpfen musste und feststellte, dass einem die Kraft dazu fehlte. Sie war so damit beschäftigt gewesen, nach Alessandros Zurückweisung ihre Wunden zu lecken, dass sie keine Reserven mehr übrig hatte.
Und sie hatte niemanden, der ihr half.
Zu rebellieren hatte sich für Octavia noch nie bezahlt gemacht, sodass sie nur selten gegen jemanden aufbegehrte, aber so hilflos und ohnmächtig wie jetzt hatte sie sich noch nie gefühlt. Eigentlich hatte sie sich für selbstbewusster gehalten. In den ersten Wochen ihrer Ehe hatte sie fast so etwas wie Stolz empfun…
Eine weitere Wehe schien Octavia innerlich zu zerreißen. Sie biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schrei.
Alessandro! flehte sie stumm, während ihr der Schweiß ausbrach. War er wirklich nur daran interessiert, dass sie ihm einen Sohn schenkte? Vielleicht hatte Primo ja recht, dass Alessandro sich ansonsten überhaupt nicht für sie interessierte.
Dann ruf meine Mutter an! hätte sie bei der nächsten Wehe fast zu Primo gesagt, doch ihre Mutter befand sich wie Alessandro in Italien. Außerdem würde sie wahrscheinlich noch weniger Mitgefühl zeigen als Primo. Acht Mal hatte sie das hier durchgemacht, sieben Mal davon völlig umsonst. Genau genommen sogar acht Mal umsonst, da Octavia nicht wirklich zählte.
Schließlich war sie nur eine Frau. Eine Frau, deren einzige Existenzberechtigung darin bestand, Kinder zu gebären …
Octavia hatte ihr ganzes Leben lang Angst davor gehabt, eines Tages so leiden zu müssen wie ihre Mutter – Babys zu verlieren, bevor sie sie zur Welt bringen konnte. Und offensichtlich aus gutem Grund: Das hier war nicht das schöne natürliche Ereignis, das in den Büchern immer beschrieben wurde. Das hier war Folter. Das Baby kam einen Monat zu früh, und der Schmerz war unerträglich. Irgendetwas stimmte nicht, das wusste Octavia genau.
„Wo bleibt der Krankenwagen?“, stieß sie hervor, als der Schmerz genug nachließ, um etwas Luft zu schöpfen. „In der Klinik hat man mich gebeten, sofort anzurufen, sobald die Wehen kommen. Hast du dort Bescheid gesagt?“
„Du bist ja völlig hysterisch. Eine Geburt dauert Stunden, das weißt du genau“, erwiderte Primo.
Er hatte ihr versprochen, die Klinik zu informieren, aber anscheinend hatte er sein Versprechen nicht gehalten.
„Gib mir das Telefon“, verlangte sie und streckte eine Hand aus. Was machte Primo überhaupt hier? Wo war Alessandro?
Ihre Wehen folgten jetzt Schlag auf Schlag. Sie schlang die Arme um ihren geschwollenen Bauch, als wolle sie ihn davor schützen zu zerplatzen. „Bitte Primo, ich flehe dich an. Bring mich ins Krankenhaus.“
„Du machst dem Namen unserer Familie Schande.“ Voller Verachtung sah er in ihr verschwitztes, tränenüberströmtes Gesicht. „Wo ist dein Stolz auf dein Pflichtgefühl? Zeig gefälligst etwas Würde.“
Die groben Worte dieses grausamen Mannes, den sie von ganzem Herzen hasste, hatten immer wieder die Macht, sie zu verletzen. Weil letztendlich Alessandro sie dieser unerträglichen Situation ausgeliefert hatte. Jedes Mal, wenn Primo sie mit seinen Worten quälte, fühlte sie sich von Alessandro zurückgewiesen – wie eine lästige Fliege, die man genervt wegschlägt. In den ersten Wochen ihrer Ehe hatte Octavia geglaubt, ihm etwas zu bedeuten, aber im Grunde war sie nur Alessandros Spielzeug gewesen. Er hatte sie inzwischen komplett vergessen. Die bittere Wahrheit war, dass sie ihm gleichgültig war.
Trotzdem würde sie ihr Kind nicht in ihrem Bett zur Welt bringen und sein und ihr Leben aufs Spiel setzen. Sie rutschte zur Bettkante, stand vorsichtig auf und hielt sich am Nachttisch fest, damit sie nicht umkippte. Sie würde sogar aus dem Zimmer kriechen, wenn es sein musste! Primo mochte ihr den Tod wünschen, aber sie würde keinen widerstandslosen Abgang machen.
„Ist das Blut?“, fragte Primo scharf beim Anblick des roten Flecks auf ihrem Laken. Er wurde ganz grau im Gesicht.
Octavia wurde übel. War’s das jetzt? War sie genauso wie ihre Mutter dazu verdammt, ihr Baby zu verlieren? Würde sie das hier wieder und wieder durchmachen müssen, um ihren Teil des Ehevertrages einzuhalten – vorausgesetzt, sie überlebte überhaupt? Warum, oh warum nur hatte sie geglaubt, dass eine Vernunftehe ihr endlich den Respekt ihres Vaters einbringen würde? Warum nur hatte sie sich zu allem Überfluss auch noch in ihren Mann verliebt und gehofft, seine Zuneigung zu gewinnen?
Und warum hatte sie ihr Herz für dieses ungeborene Kind geöffnet, in der Hoffnung, dass wenigstens ein Mensch sie lieben würde?
Niemand würde sie je lieben! Sie war der einzige Mensch, auf den sie sich verlassen konnte. Es wurde höchste Zeit, sich damit abzufinden.
Aufschluchzend taumelte sie zu ihrem Handy, das auf dem Fenstersims lag, und griff danach. Den Kopf gegen die Wand gelehnt schickte sie ein stummes Stoßgebet zum Himmel, bevor sie die Notruftaste drückte und darum bat, sofort einen Krankenwagen vorbeizuschicken.
Als Alessandro Ferrante auf seinem Handydisplay die Nummer seiner Frau sah, beschleunigte sich sein Herzschlag, doch er unterdrückte diese instinktive Reaktion. Mühsam brachte er seine Gefühle wieder unter Kontrolle. Es konnte nicht angehen, dass Octavia solch eine Wirkung auf ihn hatte! Und das, obwohl sie sich gerade auf der anderen Seite des Kontinents befand!
Dennoch war seine Überraschung nicht ganz unbegründet. Normalerweise rief sie ihn nämlich gar nicht mehr an …
„Cara“, sagte er, während er sich fragte, warum sie ihn anrief. Es war spät in London, später sogar noch als hier in Neapel, aber offensichtlich war sie noch wach. Vielleicht trat das Baby ja wieder. Sie hatte ihm mal erzählt, dass sie dann nicht gut schlief. Was ihm die Entfernung zwischen ihnen nur umso bewusster gemacht hatte …
Er verdrängte ein Gefühl, das sich wie Reue anfühlte. Diese Trennung war notwendig. Er durfte seiner Sehnsucht nach Octavia nicht nachgeben und sie damit womöglich in Gefahr bringen. Das wäre nicht nur ein Zeichen der Schwäche, sondern auch völlig verantwortungslos.
„Ich bin’s“, hörte er Primos Stimme.
Also doch nicht Octavia. Ein Gefühl der Enttäuschung überwältigte Alessandro, und diesmal war er machtlos dagegen.
Er war es gewohnt, seine Emotionen im Zaum zu halten und sich in seinen Entscheidungen nicht von ihnen leiten zu lassen, doch seine Ehe wurde immer mehr zu einer Farce. Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Octavia und er hatten erstaunlich gut harmoniert, vor allem im Bett. Doch inzwischen schien sich ihre Ehe regelrecht aufgelöst zu haben!
Nicht zum ersten Mal hinterfragte er seine Entscheidung, sie nach London gebracht zu haben, doch ihm war keine andere Wahl geblieben. Octavias Leben war bedroht worden. Außerdem war sie schwanger – und ihre Mutter hatte zahlreiche Fehlgeburten gehabt. In London, wo Alessandros Mutter ein Haus besaß, gab es eine erstklassige Fachklinik, in der Octavia gut betreut wurde. Dort war sie in Sicherheit, weitab von den Morddrohungen hier in Neapel. Seine Weigerung, sie nach Hause kommen zu lassen, war das Beste für sie und ihr ungeborenes Kind.
Er fragte sich nur, warum seine Frau in letzter Zeit nicht mehr ans Telefon ging, wenn er sie anrief. Nur sein Cousin hielt ihn auf dem Laufenden. Es war eine ziemlich unbefriedigende Situation. Und wie lange wollte Primo eigentlich noch im Haus von Alessandros Mutter wohnen? Die Renovierungsarbeiten in seiner eigenen Wohnung mussten doch längst abgeschlossen sein!
„Si?“, fragte Alessandro ungeduldig.
„Sie hat Wehen.“
Alessandro setzte sich erschrocken auf. Sein voller Schreibtisch war plötzlich vergessen. Die Wehen kamen zu früh, fast einen Monat vor dem Stichtag. Alessandro hatte erst nächste Woche nach London fliegen wollen. Er griff nach seinem Tablet und schrieb eine Nachricht an seinen Piloten.
„Es ging alles sehr schnell, sonst hätte ich dich früher angerufen“, fuhr Primo fort. „Der Krankenwagen hatte Verspätung und … also, es gab ein paar Probleme.“
Alessandro wartete darauf, dass sein Cousin weitersprach. Vergeblich versuchte er, sich gegen die Angst zu wehren, die in ihm aufstieg, obwohl er wusste, dass Primo die Dinge gern überdramatisierte.
Die alte Standuhr, seit Generationen im Besitz von Alessandros Familie, tickte unnatürlich laut. Das Geräusch erinnerte ihn an das Ticken einer Zeitbombe. Er hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Erinnerungen an eine andere Zeit, an eine andere Tragödie stiegen in ihm auf. Das laute Quietschen von Bremsen, entsetzte Schreie und dann … „Ja?“, hakte er nach. Seine Stimme klang rau und belegt in seinen Ohren.
„Man musste sie in ein Krankenhaus in der Nähe bringen, nicht in die Klinik, die ihr gebucht habt. Ihre Ankunft fiel mit einem Busunfall zusammen, aber sie schieben sie gerade in den OP.“
„Welches Krankenhaus?“
Alessandros Herz krampfte sich in einer dunklen Vorahnung zusammen.
Er musste Octavia sehen! Er musste nach London, sofort!
Eins zu null für mich, dachte Octavia, als sie nach der Narkose in dem staatlichen Krankenhaus aufwachte. Sie hatte dafür gesorgt, dass Primo keinen Zutritt zu ihrem Sohn bekam.
Als er in seinem Auto hinter dem Krankenwagen hergefahren war, hatte sie die Hand der weiblichen Sanitäterin gepackt. „Primo ist nicht mein Ehemann und nicht der Vater des Babys“, hatte sie ihr eingeschärft. „Gewähren Sie ihm keinen Zutritt und sagen Sie im Krankenhaus Bescheid, dass er den Kreißsaal auf keinen Fall betreten darf. Ich werde Sie persönlich dafür haftbar machen, wenn etwas passiert!“
Ihr Verhalten kam ihr zwar immer noch ziemlich irrational vor, aber sie traute Primo einfach nicht über den Weg. Nicht, seitdem er sich in dem Londoner Haus von Alessandros Mutter eingenistet hatte, als ob es ihm gehörte, und ihr das Leben zur Hölle machte.
Ihrem Sohn ging es trotz der frühen Geburt Gott sei Dank gut. Er lag noch zur Beobachtung im Brutkasten, doch die Krankenschwester würde Octavia gleich zu ihm bringen, damit sie ihn stillen konnte.
Das Personal war sehr sympathisch, behandelte sie freundlicher, als sie seit Monaten behandelt worden war. Und Alessandro war schon auf dem Weg. Er musste jeden Moment hier sein, wie Primo ihr widerstrebend erzählt hatte.
Kommt er nur, weil es ein Junge ist? Octavia verdrängte ihr Misstrauen. Ob ihr Vater sich freuen würde? Seltsam, plötzlich war es ihr völlig egal, was die Männer in ihrem Leben von ihr erwarteten. Es gab nur noch ein männliches Wesen, das Ansprüche an sie erheben durfte – ihr Sohn.
Tief im Innern war sie nervös wegen des bevorstehenden Wiedersehens mit Alessandro. Sie hatte ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen, und das nur für ein paar Tage. Sie hatten noch nicht mal ein Bett geteilt, ganz zu schweigen davon, miteinander geschlafen. Ihr Zustand hatte dem schon vor Monaten ein Ende gesetzt.
Vermutlich hatte Primo in noch einer Hinsicht recht: Alessandro hielt sie für fett und unattraktiv und suchte sich sein Vergnügen woanders. Wozu sich also Gedanken über ihr Aussehen machen?
Sie musste an die Zeit denken, als sie sich wegen ihrer Hochzeitsnacht halb verrückt gemacht und sich den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob Alessandro sie hübsch finden und gern mit ihr schlafen würde. Heute wusste sie, wie dumm das von ihr gewesen war, denn wie sich herausgestellt hatte, war Sex ihr geringstes Problem gewesen. Nachdem sie ihre anfängliche Scheu erstmal überwunden hatte, hatte sie es genossen, mit Alessandro zu schlafen und ihre Sexualität zu entdecken. Es war erstaunlich, wie gut Mann und Frau körperlich miteinander harmonierten.
Doch Sex – oder vielmehr der fehlende Sex – war für sie inzwischen nur noch ein weiteres Symptom von Alessandros Desinteresse. Wie erbärmlich von ihr, sich nach seiner Aufmerksamkeit zu verzehren, sowohl im Bett als auch sonst! Gott sei Dank hatte sie schon früh gelernt, ihre Einsamkeit und Unerfülltheit hinter einer hochmütigen und gleichgültigen Fassade zu verbergen. Schade nur, dass es ihr nicht gelang, diese Gleichgültigkeit auch wirklich zu empfinden.
Ihre Hebamme Wendy schob einen leeren Rollstuhl ins Zimmer. „Hallo, Mrs. Ferrante“, begrüßte sie Octavia. „Ich bringe Sie jetzt zu Ihrem kleinen Mann.“
Primo machte keinerlei Anstalten, Octavia beim Aufstehen zu helfen. Sie war insgeheim dankbar dafür, auch wenn ihre Kaiserschnittnarbe noch höllisch schmerzte und sie noch ganz schwach von der Narkose war.
Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihr zur Tür des Stillzimmers zu folgen. Offensichtlich ging er davon aus, einen Anspruch darauf zu haben, sie zu begleiten.
Doch Wendy, Gott segne sie, sagte: „Tut mir leid, aber hier haben nur die Eltern Zutritt.“
Primo drehte sich zu Octavia um. „Octavia?“, fragte er scharf.
„Du wirst sowieso auf Alessandro warten müssen, um ihm zu zeigen, wo wir sind“, antwortete sie mit gespielter Unschuld, obwohl das Krankenhaus nicht besonders groß und Alessandro nicht auf den Kopf gefallen war.
Wendy öffnete das Stillzimmer mit ihrer Karte. Als Octavia den hellen warmen Raum betrat, empfand sie das Tageslicht und die Wärme wie eine Umarmung. Der Morgensonne hinter den Fenstern gelang es gerade, die dichte graue Wolkendecke zu durchdringen und die Dächer Londons in eine Art Heiligenschein zu tauchen. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit keimte wieder so etwas wie Hoffnung in Octavia auf.
„Er hat schon nach ihnen gerufen“, sagte eine füllige Krankenschwester, auf deren Namensschild der Name Hannah stand. „Ich gehe Miss Kelly holen!“, fügte sie an Wendy gewandt hinzu und nickte in Richtung des anderen Babys im Zimmer.
„Der Tag heute kommt mir vor wie die Ruhe nach dem Sturm.“ Octavia setzte sich vorsichtig in einen der Schaukelstühle. „In der Notaufnahme war die Hölle los, als ich letzte Nacht hier ankam.“
Das Chaos hatte ihre Ängste nur noch verstärkt. Tränen der Erleichterung schossen ihr in die Augen, als ihr bewusst wurde, dass sie sich jetzt endlich entspannen und ihr Baby in die Arme nehmen durfte, um das sie sich solche Sorgen gemacht hatte.
„Ich habe davon gehört.“ Wendy nahm das jammernde Baby aus dem mit dem Namen Ferrante markierten Brutkasten und hüllte es locker in eine Decke. „Deshalb hat Dr. Reynolds Sie auch noch nicht untersucht. Sie musste zwei Kaiserschnitte gleichzeitig durchführen und dann auch noch den Opfern des Busunglücks helfen, die kurz vor Ihnen beiden ankamen. Eine von Ihnen wurde sogar von unserem Schönheitschirurgen zugenäht, weil Dr. Reynolds nicht für Sie beide Zeit hatte. Ja, wir hören dich, Mr. February“, sagte Wendy, als das Baby in dem anderen Brutkasten lauter wurde.
Octavia wurde von tiefem Mitgefühl erfüllt, als sie das Baby weinen hörte, doch Wendy lenkte sie mit dem anderen Baby ab. „Ziehen Sie einen Arm aus dem Ärmel Ihres Kittels.“
Octavia gehorchte und entblößte verlegen ihre Brust. Ihr Sohn war eindeutig hungrig. Als Wendy ihr das Baby in die Arme legte, empfand Octavia sofort das Bedürfnis, den bildhübschen Kleinen zu beschützen. Schwarzes seidiges Haar lugte unter seiner blauweiß gestreiften Mütze hervor. Er hatte kaum sichtbare Wimpern und Augenbrauen, ein winziges Näschen und einen mürrischen Gesichtsausdruck, der sie zum Lachen gebracht hätte, wenn nicht …
Es überlief sie eiskalt.
„So haben wir die beiden nämlich genannt, Mr. January und Mr. February“, schwatzte Wendy weiter. „Sie sind kaum eine Stunde auseinander geboren, aber trotzdem in unterschiedlichen Monaten. Haben Sie schon einen Namen für Ihren Sohn? Bieten Sie ihm doch Ihre Brust an.“
„Ich warte noch auf meinen Mann, bevor ich ihm einen Namen gebe“, murmelte Octavia, während das Baby in ihren Armen zappelnd nach ihrer Brust suchte. Seine Gier war total niedlich, aber irgendetwas fühlte sich verkehrt an.
Großer Gott, war es ihrer Mutter etwa genauso gegangen? Hatte sie vergeblich auf ein Gefühl der Mutterliebe gewartet, nachdem sie endlich Octavia zur Welt gebracht hatte – ein lebendiges Baby? Octavia hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie kam sich vor wie eine Vollversagerin, erst als Tochter, dann als Ehefrau und jetzt auch noch als Mutter! Kein Wunder, dass niemand sie liebte, wo sie doch selbst unfähig war, Liebe zu empfinden.
Tränen schossen ihr in die Augen. Eine davon tropfte auf das Gesicht des Babys. Als sie sie wegwischte, versuchte sie verzweifelt, die Gefühle in sich wachzurufen, die während ihrer Schwangerschaft so stark gewesen waren – Liebe, Verbundenheit.
Aber nichts passierte.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Der Junge wurde unruhiger. Sein Schreien zerriss Octavia das Herz, aber er war ihr so fremd. Nichts an ihm kam ihr vertraut vor. Er sah verkehrt aus. Nicht hässlich oder abstoßend oder krank, nein, nur … verkehrt.
Der Kleine bog brüllend den Rücken durch.
„Das erste Mal ist immer schwierig“, erklärte Wendy. „Sie sind nicht die Erste, die dabei weint. Lassen Sie ihn einfach …“
„Nein“, sagte Octavia mit mehr Entschlossenheit, als sie sich zugetraut hätte. „Das hier ist nicht mein Baby.“
Alessandro hatte kein Auge zugetan. Er hatte seinen Privatjet selbst geflogen, um so schnell wie möglich in London anzukommen – genau jenes leichtsinnige Verhalten, das er jedem anderen vorwerfen würde –, aber immerhin hatte er sein Ziel erreicht.
Während der Landung hatte Primo ihn informiert, dass sein Sohn zur Welt gekommen war, wegen der vorzeitigen Geburt zwar vorsorglich im Brutkasten lag, aber ansonsten gesund war.
Über Octavia hatte Primo sich ausgeschwiegen – vermutlich mit Absicht. Leider hatte er nicht immer ein Gespür dafür, wann seine Spielchen angebracht waren und wann nicht. Wann würde er endlich erwachsen werden und damit aufhören, Alessandro für eine Entscheidung zu bestrafen, die ihr Großvater getroffen hatte?
„Wie geht es ihr?“, fragte Alessandro seinen Cousin, der vor dem Krankenhaus auf ihn wartete.
„Woher soll ich das wissen?“ Primo ließ seine Zigarette fallen und trat die Glut aus. Er streifte Alessandros Bodyguards mit einem verächtlichen Blick. „Sie redet nicht mit mir. Sie hat mir auch nicht gesagt, dass sie Blutungen hat. Ich nehme an, die OP ist gut verlaufen, aber sie schien es nicht eilig zu haben, rechtzeitig ins Krankenhaus zu kommen, das übrigens ein Witz ist. Sie hat sich und den Jungen damit in ernste Gefahr gebracht. Ehrlich, Sandro, ich würde mal untersuchen lassen, ob sie noch ganz normal ist.“
Ein Gefühl der Erleichterung überwältigte Sandro. Octavia war also am Leben und wohlauf. Erst jetzt wurde ihm bewusst, welche Angst er um sie ausgestanden hatte. „Frauen sind sehr emotional, wenn sie schwanger sind“, erklärte er seinem Cousin auf dem Weg ins Krankenhaus. „Nimm das alles doch nicht so persönlich.“
Primo konnte manchmal eine echte Diva sein, aber das behielt Alessandro lieber für sich. Primo konnte sehr unangenehm werden, wenn er sich kritisiert fühlte, und die Situation war auch so schon schwierig genug.
„Es ist nicht nur das, Sandro“, beharrte Primo. „Sie sagt Dinge, die keinen Sinn ergeben.“
Alessandro verkniff sich die Bemerkung, dass Octavia zumindest nicht zu Hysterie neigte, aber er machte sich trotzdem allmählich Sorgen. Ihm waren auch ein paar Abweichungen zwischen Primos Berichten und Octavias E-Mails aufgefallen. Hoffentlich war sie nicht depressiv geworden, so wie ihre Mutter. Seit ein paar Monaten hatte sie sich komplett von ihm zurückgezogen, was ihn zunehmend beunruhigte.
Aber vielleicht lag das nur an ihrer Schwangerschaft. Mit Schwangerschaften und deren Auswirkungen auf die Psyche von Frauen kannte Alessandro sich dank seiner Schwestern bestens aus. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass Octavias Verhalten sich nach der Geburt des Kindes wieder normalisieren würde.
Primo führte ihn die Treppe hoch und einen Flur entlang zu Octavias Krankenzimmer. Zu spät fiel Alessandro ein, dass er Blumen hätte mitbringen sollen. Zu seiner Enttäuschung war Octavias Bett leer. Er hatte sich schon so auf sie gefreut.
„Sie muss noch bei dem Baby sein“, sagte Primo und zeigte den Flur hinunter. „Kann sein, dass man dich nicht reinlässt. Mir wollte man den Kleinen jedenfalls nicht zeigen. Sandro, Octavia hat eine solche Abneigung gegen mich … Dabei sind wir doch eine Familie. Ich kann ja verstehen, dass sie als Einzelkind zu Eifersucht neigt, weil du und ich uns so nahestehen, aber ich pass doch nur auf sie auf. Du hast mich schließlich darum gebeten. Würdest du ihr das bitte noch mal sagen?“
Alessandro hatte seinen Cousin keineswegs darum gebeten. Er hatte nur einmal angemerkt, dass es sehr freundlich von Primo gewesen war, Octavia zu ihrer Vorsorgeuntersuchung zu fahren. Eigentlich hatte er gehofft, dass die beiden in London ihre Differenzen beseitigen würden, aber offensichtlich war das nicht passiert.
„Ich werde mich von jetzt an selbst um sie kümmern“, erklärte er. „Ich habe beschlossen, sie und das Baby mit nach Neapel zu nehmen, sobald sie entlassen werden.“ Die Morddrohungen, die ihn dazu bewogen hatten, Octavia nach London zu schicken, hatten sich nicht wiederholt. „Du kannst dich also wieder auf deine Arbeit hier in London konzentrieren.“
„Darüber müssen wir noch reden“, protestierte Primo.
„Aber nicht jetzt.“ Octavia war anscheinend nicht die Einzige, die eifersüchtig war. Primo konnte es nicht ertragen, wenn er nicht an erster Stelle stand. Normalerweise gab Alessandro immer nach, um den Frieden zu wahren, aber heute gab es Wichtigeres. „Ich möchte jetzt meinen Sohn sehen, Primo. Fahr zurück zum Haus meiner Mutter und ruh dich aus.“
Alessandro winkte eine Krankenschwester zu sich und bat sie, ihn ins Stillzimmer zu lassen. Dort empfing ihn zu seiner Überraschung ein Höllenlärm. Babys schrien, eine Krankenschwester jammerte, und über das Chaos erhob sich Octavias klare melodiöse Stimme: „Ich sehe selbst, dass er Hunger hat und werde ihn auch gern füttern, aber nur mit einem Fläschchen.“
„Octavia?“ Als Alessandro auf seine Frau zuging, trat die Krankenschwester zur Seite, um ihm Platz zu machen. Sie wirkte ein wenig überfordert.
Sein mulmiges Gefühl verwandelte sich in aufrichtige Besorgnis. Seine Frau sah … zerbrechlich aus, so als sei sie kurz davor, zusammenzuklappen. Sie wirkte völlig verstört. Ihre vollen Lippen, die er so gern küsste, waren gequält aufeinandergepresst. Ihr Gesicht war etwas runder als vor ihrer Schwangerschaft, was sie weiblicher wirken ließ. Verletzlicher.
Er fand sie so schön und sexy, dass sein Körper sofort auf ihren Anblick reagierte. Wie war das nur möglich? Wie konnte er nach nur fünf Sekunden in ihrer Gegenwart eine Erektion bekommen? Es nervte ihn, dass sie eine so starke und unkontrollierbare Wirkung auf ihn hatte.
Als ihre Blicke sich trafen, blitzte für einen Moment etwas in den Tiefen ihrer dunkelblauen Augen auf, das ihm vertraut war. So hatte sie ihn immer angesehen, wenn sie neben ihm aufgewacht war – mit der Andeutung eines Lächelns in den Augen, das erst dann ihre Lippen erreicht hatte.
Doch so schnell ihr Lächeln aufgeblitzt war, war es auch wieder verschwunden.
Verlegen zog sie sich den Krankenhauskittel über die Brust und wippte im Schaukelstuhl, offensichtlich, um das verzweifelte Baby in ihren Armen zu beruhigen.
„Alessandro“, begrüßte sie ihn mit gesenktem Blick.
Nicht caro. Noch nicht mal Sandro. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, wann sie ihn das letzte Mal erfreut begrüßt hatte. Oder seinen Blick länger als nur für einen flüchtigen Moment erwidert.
Trotzdem bereute er nicht, sie nach London geschickt zu haben. Es war die vernünftigste Lösung gewesen. Als rationaler Mensch hatte er auch bewusst darauf verzichtet, aus Liebe zu heiraten. Er wollte Kraft aus einer Ehe schöpfen, nicht sich verletzlich machen. Dennoch kränkte ihn Octavias abweisendes Verhalten. Immerhin hatte er ihretwegen einen sehr anstrengenden Flug hinter sich.
Die Krankenschwester warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Offensichtlich war sie mit ihrem Latein am Ende, was Octavia anging, was ihn noch wütender machte. Er verabscheute emotionale, außer Kontrolle geratene Situationen, und seit Primos Anruf herrschte in seinem Leben das reine Chaos. Warum nahm hier niemand die Dinge in die Hand?
„Gibt es ein Problem?“, fragte er scharf.
„Ihre Frau will ihr Baby mit einem Fläschchen füttern, aber das würde den Kleinen nur verwirren“, erklärte die Krankenschwester. „Danach akzeptiert er die Brust vielleicht nicht mehr.“
„Du willst ihn nicht stillen?“, fragte Alessandro entgeistert. Er wusste selbst nicht, warum, aber er empfand Octavias Entscheidung wie einen Schlag ins Gesicht.
„Sie ihn dir an“, sagte sie mit zitternder Stimme und zeigte ihm das Baby.
Das Gesicht des Kleinen war hochrot angelaufen; er brüllte wie am Spieß. Seine Stimme zerrte an Alessandros Nerven. Er hatte keine Ahnung, worauf Octavia hinauswollte.
„Und jetzt guck dir ihn an.“ Sie zeigte auf den mit dem Namensschild „Kelly“ versehenen Brutkasten auf der anderen Seite des Zimmers.
Alessandro sah verwirrt zwischen seiner Frau, dem Baby in ihren Armen, dem Brutkasten und der Hebamme hin und her. Normalerweise war er nicht auf den Kopf gefallen, aber er hatte absolut keine Ahnung, was hier los war. Er hasste es, wenn er nicht alles im Griff hatte.
„Die Brutkästen sind korrekt beschriftet, Mr. Ferrante“, versicherte ihm Wendy. „Wir halten uns strikt ans Protokoll. Die Oberschwester wird Ihnen alles erklären, sobald sie hier ist. Das hier ist Ihr Baby.“ Sie zeigte auf das kleine Wesen in Octavias Armen.
„Sieh dir das andere Baby an!“, wiederholte Octavia so eindringlich, dass Alessandro nun doch das Zimmer durchquerte, um einen Blick in den anderen Brutkasten zu werfen.
Der Junge darin lag auf der Seite, nackt bis auf eine Windel. Weinend ruderte er mit Ärmchen und Beinchen. Er wirkte einsam und verloren. Sandros Herz krampfte sich voller Mitgefühl zusammen. Er verspürte den Impuls, das Baby in die Arme zu nehmen, um es zu beruhigen. Der Junge sehnte sich offensichtlich nach menschlicher Nähe! Aber dafür waren seine Eltern zuständig, die Kelly hießen.
Trotzdem fiel es ihm schwer, den Blick von dem Baby loszureißen, vor allem von dem schwarzen Haar, das unter der grünweißgestreiften Mütze hervorlugte. Es war so seidig und zart wie die Härchen an Octavias Schläfen und in ihrem Nacken.
Alessandro fühlte sich plötzlich überfordert. Er hatte Octavia immer für vernünftig und rational gehalten, aber jetzt schien sie irgendwie den Verstand zu verlieren. Auf der anderen Seite hatte sie eine Menge durchgemacht. Vermutlich war sie noch etwas benommen von den Medikamenten, die man ihr gegeben hatte.
Er drehte sich wieder zu ihr um. Ausnahmsweise erwiderte sie seinen Blick. Sie sah ihn beschwörend an. „Sie will ihn mir nicht geben“, sagte sie mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung.
Ihr offensichtliches Leid berührte etwas tief in Alessandro.
„Das ist nicht Ihr Baby, Mrs. Ferrante“, beharrte die Krankenschwester.
„Das hier ist nicht mein Sohn“, widersprach Octavia, während sie vergeblich versuchte, das Baby auf ihrer Schulter zu beruhigen.
Alessandro fiel es schwer, seine Ungeduld zu zügeln, obwohl er normalerweise ein sehr beherrschter Mensch war. Jemanden scharf anzufahren oder impulsiv zu handeln war völlig untypisch für ihn, Italiener hin oder her. Leidenschaft gehörte seiner Meinung nach ausschließlich ins Schlafzimmer.
„Bringen Sie mir ein Fläschchen, ich füttere ihn“, sagte er schroff zur Krankenschwester. „Meine Frau hat offensichtlich Vorbehalte. Aber es ist ihr Körper, also …“
„Das ist nicht der Grund … ich will ja stillen, aber nur mein Baby!“, protestierte Octavia. Sie sah Alessandro tief gekränkt an. Offensichtlich fühlte sie sich von ihm im Stich gelassen.
Trotz seiner Irritation kamen Alessandro erste Zweifel. Hatte Octavia vielleicht doch recht?
Nein, das konnte nicht sein, sie musste sich irren. Vertauschte Babys kamen heutzutage nicht mehr vor. Das Baby in Octavias Amen war ihr Baby.
Oder?
Wie zu erwarten, ging Wendy sofort hinaus, um ein Fläschchen vorzubereiten. Wenn Alessandro etwas sagte, sprangen alle. Für Octavia ließ niemand alles stehen und liegen.
Sie senkte den Blick, unfähig, Alessandro anzusehen, der sich gerade seine Lederjacke auszog. Er sah wie immer viel zu gut aus, schlank und muskulös. Seine Bartstoppeln waren das einzige Anzeichen für eine schlaflose Nacht, ansonsten wirkte er so fit und gepflegt wie eh und je.
Er strahlte Kraft, Selbstbeherrschung und Gelassenheit aus. Sein Gesicht mit den graugrünen Augen, den hohen Wangenknochen, der geraden Nase und den vollen Lippen war makellos, so als habe sein Schöpfer Lineal und Zirkel benutzt, um perfekte Proportionen zu schaffen.
Diese sündigen Lippen …. Octavia musste an all die herrlichen Dinge denken, die Alessandros Mund mit ihr angestellt hatte. Verruchte Dinge …
In diesem Augenblick allerdings hatte er die Lippen missbilligend verzogen.
Octavia tätschelte das Baby und versuchte, sich zusammenzureißen. Verlor sie vielleicht doch den Verstand? Primo war immer schnell mit dieser Vermutung dabei gewesen. Hast du Drogen genommen? Bist du verrückt geworden? Du bist ja nicht mehr normal. Wie kommst du nur auf solchen Schwachsinn?
In den letzten Monaten hatte er sie so zermürbt, dass sie inzwischen selbst manchmal an ihrer Zurechnungsfähigkeit zweifelte. Sie hatte sich so schrecklich verlassen und verloren in London gefühlt, weitab von allem, was ihr vertraut war. Und schwanger von einem Mann, dem das Kind völlig egal zu sein schien. Warum hatte sie sich nicht viel früher zur Wehr gesetzt? Sie hätte zumindest auf regelmäßige Besuche von Alessandro bestehen sollen. Vor allem aber hätte sie ihn darum bitten sollen, seine Entscheidungen mit ihr abzusprechen, anstatt sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Obwohl sie von Luxus umgeben war und Geld für sie keine Rolle spielte, war sie todunglücklich in London gewesen, so wie ihre Mutter ihr ganzes Leben lang. Aber das war vermutlich das Los einer Ehefrau, die einzig und allein dafür da war, den Ehrgeiz ihres Mannes zu befriedigen. Tolerant und geduldig hatte sie darauf gewartet, dass ihr Mann sich irgendwann wieder blicken lassen würde, um sich um sie zu kümmern. Sie hatte von einer großen Familie geträumt, von Wärme und Liebe, und jetzt verwehrte man ihr plötzlich, ihr eigenes Baby zu halten?
Sie hatte es endgültig satt, verständnisvoll, geduldig, gehorsam und pflichtbewusst zu sein!
Während sie vergeblich versuchte, das fremde Baby zu beruhigen, überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf. Das Baby da drüben im Brutkasten war Alessandro wie aus dem Gesicht geschnitten, sah er das denn nicht? Das erkannte doch jeder, der Augen im Kopf hatte! Warum stärkte er ihr nicht den Rücken?
Oder war sie vielleicht doch verrückt?
Das aus dem Brutkasten gedämpft zu hörende Weinen des Babys zerriss ihr das Herz, genauso wie das Weinen des Babys in ihren Armen. Sie fühlte sich wie eine Versagerin, weil sie unfähig war, es zu trösten, aber sie konnte dieses Baby einfach nicht stillen. Der Junge da drüben war ihr Sohn. Das war das Baby, das ihr Körper nähren wollte. Sie wusste es einfach.
In das Babygebrüll und das Geräusch des Schaukelns hinein drang plötzlich die Stimme einer Frau: „… hatte eigentlich mit einer normalen Entbindung gerechnet, aber die Nabelschnur … Oh, hallo, ich habe gehört, dass wir letzte Nacht um die Aufmerksamkeit der Chirurgin konkurriert haben. Ich bin Sorcha Kelly.“ Die Blondine im Rollstuhl war sehr schön, ihr ovales Gesicht blass und klar. Als sie Alessandro einen neugierigen Blick zuwarf, verkrampfte Octavia sich unwillkürlich vor Eifersucht.
Er nickte der Fremden höflich zu. „Alessandro Ferrante“, stellte er sich vor. „Das sind meine Frau Octavia und unser Sohn Lorenzo. Das ist doch der Name, auf den wir uns geeinigt haben, oder?“, fragte er an Octavia gewandt, in der Hoffnung, dass sie zumindest das akzeptierte.
Sie nickte achselzuckend. Klar wollte sie ihren Sohn Lorenzo nennen, aber der Name passte nicht zu diesem Baby hier. Sie öffnete den Mund, um das zu sagen, doch in diesem Augenblick reichte die Krankenschwester der fremden Frau das andere Baby.
„Ich habe schon darauf gewartet, dich kennenzulernen, Mr. Kelly“, sagte Sorcha zärtlich.
Octavia schluckte. „Das ist nicht Ihr …“
„Octavia“, fiel Alessandro ihr warnend ins Wort.
Verunsichert hob sie den Blick zu ihm. Wider Erwarten wirkte er nicht so, als würde er sie verachten, sondern … verletzt. Doch sie konnte sich jetzt nicht um seine Gefühle kümmern. Ihr Sohn war viel wichtiger.
Sie richtete die Aufmerksamkeit wieder auf Sorcha. Die andere Frau sah das schreiende Baby in ihren Armen inzwischen stirnrunzelnd an, während ihre Hebamme sie drängte, das Baby anzulegen.
„Ich glaube nicht …“ Sorcha sah zu dem Baby in Octavias Armen herüber.
In diesem Augenblick kehrte Wendy zurück. „Hier, das Fläschchen, Sir.“
Octavia nahm das Ganze nur aus dem Augenwinkel wahr, da Sorcha sie in diesem Augenblick völlig verwirrt und beunruhigt ansah. Octavia drehte das Baby in ihren Armen so, dass Sorcha sein Gesicht erkennen konnte. Sorchas Schock war unübersehbar – die Panik einer Mutter, deren Baby in Gefahr ist.
„Wie konnten Sie nur …“, begann sie, unterbrach sich jedoch, schob hastig die Decke vom Knöchel des Babys in ihrem Arm und blickte auf das Namensschild. Entsetzt hob sie wieder den Blick zu Octavia.
„Sie wollten mir nicht glauben“, sagte Octavia verzweifelt.
„Was glauben?“, fragte Sorchas Hebamme verwirrt, während Wendy wieder vom Protokoll zu stammeln anfing.
„Meine Frau ist etwas durcheinander“, erklärte Alessandro und bückte sich, um Octavia das Baby aus den Armen zu nehmen.
„Nicht!“, platzte Sorcha heraus. „Rühren Sie ihn nicht an!“ Mühsam stand sie auf, raffte den Kittel über ihrer Brust zusammen und ging auf Octavia zu.
„Niemand wollte mir glauben“, wiederholte Octavia, deren Mutterinstinkt beim Anblick ihres eigenen Babys aufflammte. Tränen schossen ihr in die Augen. „Ich wollte ihn stillen, aber er braucht seine Mutter, und sie wollten mir meinen Sohn nicht geben …“ Sie schluchzte laut auf, als sie und Sorcha unbeholfen die Babys austauschten.
„Ich glaube Ihnen“, sagte Sorcha. Zittrig lächelnd küsste sie ihr Baby auf eine Wange und drückte es liebevoll an sich. „Wir erkennen doch wohl unsere eigenen Babys.“
Octavia nickte. Sie war dieser Frau hier so dankbar, dass sie in diesem Auenblick alles für sie getan hätte. Dieses Baby hier war Lorenzo, das spürte sie einfach. Er roch genau richtig und passte perfekt in ihre Arme. Und er hatte den entschlossenen Gesichtsausdruck seines Vaters geerbt – wie jemand, der davon überzeugt war, alles zu bekommen, was er sich in den Kopf setzte.
Hungrig schloss er die Lippen um ihre Brustwarze und verstummte im selben Augenblick wie sein Zimmergenosse. Eine wohltuende Stille breitete sich im Raum aus.
Octavia seufzte erleichtert auf und lächelte Sorcha unter Tränen zu.
Alessandro war wie vom Donner gerührt.
„Was machst du da?“, fragte er seine Frau fassungslos. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
„Verstehst du denn immer noch nicht, dass man unsere Babys vertauscht hat? Sieh ihn dir doch nur an.“
Octavias frenetisches Schaukeln war ruhiger geworden. Sie wirkte plötzlich viel friedlicher, ähnelte wieder der beherrschten Frau, die er kannte. Gott sei Dank war es endlich ruhig genug im Zimmer, um nachzudenken.
„Das ist ausgeschlossen“, protestierte eine der Krankenschwestern. „Wir halten uns streng ans Protokoll. Die Babys können unmöglich vertauscht worden sein. Sie müssen sich irren.“
„Nein, Sie irren sich“, widersprach Sorcha. „Machen Sie doch einen DNA-Test, dann werden Sie schon sehen, dass wir recht haben.“
Alessandro kam wieder ins Grübeln, als Octavia der anderen Frau zustimmend zunickte. Konnte es wirklich sein, dass sie recht hatte? „Das hier ist eine einzige Farce“, unterbrach er die Diskussion der beiden Krankenschwestern, die sich gegenseitig darin bestärkten, dass eine Vertauschung ausgeschlossen war. „Machen Sie die Tests. Jetzt sofort!“
„Natürlich, ich rufe gleich den Arzt an“, versicherte Wendy ihm hastig.
„Habe ich gerade nicht das Gleiche vorgeschlagen?“, murmelte Sorcha belustigt.
„Frauenstimmen sind so hoch, dass nur Hunde sie hören können“, witzelte Octavia.
Als ihr bewusst wurde, dass Alessandro ihre sarkastische Bemerkung mitbekommen hatte, wurde sie sofort wieder ernst. Schnell setzte sie jene gleichgültige Maske auf, die sie in letzter Zeit anscheinend nur für ihn reservierte, doch sobald ihr Blick wieder auf ihr Baby fiel, wurde er zärtlich und liebevoll. Alessandro verdrängte ein Gefühl der Frustration. Er konnte jetzt nicht über das seltsame Verhalten seiner Frau nachdenken. Erst mal musste die Identität der Babys geklärt werden.
Lorenzo – falls es sich tatsächlich um ihren Sohn handelte – war inzwischen eingeschlafen. Vorsichtig bedeckte Octavia ihre Brust, legte Lorenzo auf eine Schulter und rieb ihm sanft den Rücken. Sie wirkte so zufrieden und glücklich, dass Alessandro schlucken musste.
„Vielleicht sollten Sie ihm lieber das Fläschchen geben, bis die Situation geklärt ist, Mrs. Ferrante“, wandte Wendy ein.
„Für mich ist die Situation geklärt“, erwiderte Octavia resolut. „Dieses Baby ist meins, und ich gebe es nicht eher wieder her, als bis Sie das akzeptiert haben.“
Herausfordernd funkelte sie Alessandro an. Sie erinnerte ihn plötzlich an eine Dschungelkatze, die jeden in Stücke reißen würde, der sich ihr in den Weg stellte.
Noch nie zuvor hatte Sandro seine Frau in irgendeiner Weise aggressiv erlebt. Er war völlig verblüfft, doch vor allem über sich selbst. Diese kampfbereite Octavia war geradezu unwiderstehlich …
Gott sei Dank kam kurz darauf Dr. Reynolds und schaltete sofort die Krankenhausverwaltung ein. „DNA-Tests brauchen eine Weile. Natürlich werden wir einen machen, aber jetzt ist erst mal ein rascher Blutgruppentest angebracht“, sagte sie. „Das Ergebnis ist zwar nicht eindeutig, doch man kann damit zumindest die falschen Eltern ausschließen.“
„Ausgezeichnet.“ Alessandro krempelte sich entschlossen einen Ärmel hoch. „Ich glaube, ich habe Blutgruppe B. Sie können das gern nachprüfen.“
Natürlich ging es dann doch nicht so schnell. Erst musste ein Labortechniker kommen, und der Krankenhausleiter wollte persönlich die Etikettierung der Blutproben überwachen. Das Personal der letzten Nachtschicht wurde befragt und das Sicherheitspersonal instruiert, die Überwachungsvideos von letzter Nacht durchzusehen.
Wenigstens hatte Octavia in Sorcha eine Verbündete. Sie wusste zwar, dass Alessandro nur versuchte, die Situation zu klären, doch sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er ihr Verhalten missbilligte. Wenn seine Mutter ihn mit ihrer überschwänglichen emotionalen Art nervte, sah er genauso aus.
Als Alessandro ihr irgendwann eine Hand auf eine Schulter legte, wäre sie fast zusammengezuckt. Er schien ihre Reaktion zu spüren, denn er sah für einen Moment ganz verstört aus, bevor er ihr sanft die Schulter drückte. „Ich begleite den Krankenhausleiter zum Sicherheitschef“, erklärte er. „Ich will mich selbst davon überzeugen, dass sämtliche Vorschriften eingehalten wurden. Das hier ist inakzeptabel. Jeglicher Zweifel muss ausgeschlossen sein.“ Als sein Blick auf das schlafende Baby fiel, huschte für den Bruchteil einer Sekunde ein gequälter Ausdruck über sein Gesicht.
Bevor Octavia etwas erwidern konnte, legte er ihr eine Hand auf die Wange und küsste sie. Ihr stockte der Atem. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und ihr wurde von Kopf bis Fuß heiß. Sein Kuss war vorbei, bevor sie ihn erwidern konnte, doch ihr Körper stand bereits in Flammen.
Er richtete sich wieder auf, bevor sie ihren Zustand vor ihm verbergen konnte. Ein letztes Mal strich er ihr über die Wange und verließ das Zimmer.
Normalerweise wurde Octavia immer traurig, wenn Alessandro sie allein ließ, aber diesmal nicht. Sie hatte den Eindruck, dass er sich endlich für sie einsetzte – ein wundervolles Gefühl, nachdem er ihr so lange keine Beachtung geschenkt hatte.
Aber vielleicht war das ja auch nur Wunschdenken.
„Ihr Mann erinnert mich an den Vater des kleinen Kerls hier“, murmelte Sorcha und wippte sanft in ihrem Schaukelstuhl hin und her. Man hatte ihnen Tragetücher gegeben, damit sie die Babys sicher bei sich haben konnten, selbst wenn sie einmal einnicken sollten.
„Inwiefern?“, fragte Octavia. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es noch irgendwo einen Mann wie Alessandro gab.
„So wie er die Kontrolle übernimmt, so selbstsicher und entschlossen. Sie haben Glück, ihn hier zu haben. Wir beide anscheinend“, fügte sie trocken hinzu.
„Kommt Ihr Mann denn nicht?“, fragte Octavia zögernd.
„Nein, er ist in Spanien“, antwortete Sorcha tonlos. „Er hatte einen Unfall.“ Sie hob abwehrend eine Hand, als Octavia erschrocken aufkeuchte. „Es geht ihm wieder gut. Aber nein, er ist nicht hier.“
„Weil das Baby zu früh kam? Ist er schon unterwegs?“
„Wir sind nicht verheiratet. Zumindest nicht miteinander“, gestand Sorcha tapfer lächelnd. Doch ihr Lächeln war schnell wieder erstorben. Als würde sie sich schämen, ein Kind zur Welt gebracht zu haben, ohne verheiratet zu sein.
„Das tut mir leid.“ Octavia hoffte, dass sie nicht zu indiskret gewesen war. „Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer“, fügte sie aus einem Impuls heraus hinzu. „Sie und ich sitzen schließlich im selben Boot.“
„Sieht ganz so aus, oder?“ Sorcha lächelte. „Mum sagt immer, dass es bei jedem Rückschlag einen Silberstreif am Horizont gibt. Ich werde zu ihr nach Irland gehen, bis ich wieder arbeiten kann, deswegen werde ich mich leider nicht persönlich mit Ihnen treffen können. Aber wir können ja skypen.“
„Ach. Das ist wirklich schade. Aber Sie haben recht, wir können ja über das Internet in Kontakt bleiben!“ Octavia war enttäuscht, dass Sorcha nicht in London bleiben würde. Sie hatte sich so danach gesehnt, wieder zurück nach Neapel zu gehen. Doch jetzt, da sie Alessandro wiedergesehen hatte, war sie sich nicht mehr sicher. Warum war ihr Mann in den letzten Monaten nie bei ihr gewesen?
Alessandro war rasche Ergebnisse gewohnt, und wenn er selbst dafür sorgen musste. Er stationierte einen seiner Leibwächter an der Tür des Stillzimmers. Der zweite begleitete ihn und den Krankenhausleiter zum Sicherheitschef, Gareth Underwood, einem untersetzten Mann mit rotem Haar und Halbglatze. Er schüttelte Alessandro zur Begrüßung die Hand. „Ach, Sie sind Mrs. Ferrantes Ehemann. Wussten Sie eigentlich, dass Ihr Cousin sich letzte Nacht für Sie ausgegeben hat?“
Diese Neuigkeit war nicht so überraschend, wie sie vielleicht sein sollte. Es wäre nicht das erste Mal, dass Primo seine Identität angenommen hätte, obwohl Alessandro eigentlich davon ausgegangen war, dass sein Cousin diese Angewohnheit abgelegt hatte. „Ich bin davon überzeugt, dass er das nur zum Schutz meiner Frau gemacht hat. Ich will nicht ins Detail gehen, aber wir hatten in Italien ein kleines Sicherheitsproblem. Octavia sollte das Baby eigentlich in einer Privatklinik zur Welt bringen, wo man sie gut überwacht hätte.“
„Und weshalb ist sie nicht dort?“
„Der Krankenwagen kam nicht, und ihre Wehen folgten zu dicht aufeinander, um noch länger zu warten.“ Alessandro war immer noch wütend über das Missgeschick mit dem Krankenwagen, verbarg seine Emotionen jedoch. „Deshalb musste man sie hierherbringen.“
„Ich habe ein paar Erkundigungen eingeholt“, schaltete sich der Krankenhausleiter ein. „Es wurde nur unsere Ambulanz zu Ihnen gerufen, keine andere. Hat Ihre Frau den Krankenwagen selbst gerufen?“
„Nein, Primo. In der Notrufzentrale muss etwas schiefgegangen sein.“ Bei der Vorstellung, dass Octavia völlig umsonst so lange gelitten hatte, wurde Alessandro übel. „Das ist unerhört. Niemand von uns wäre hier, wenn der andere Krankenwagen rechtzeitig gekommen wäre.“
„Sir?“ Ein drahtiger Techniker winkte die Männer zu sich in einen kleinen stickigen Kontrollraum, in dem sie kaum alle Platz fanden. Er zeigte Alessandro und dem Krankenhausleiter eine Aufnahme, auf der Primo versuchte, Octavia in den abgeschlossenen OP-Bereich zu begleiten. Eine Krankenschwester schüttelte den Kopf und zeigte den Flur entlang.
„Sie bittet ihn, im Wartezimmer zu warten“, erklärte der Krankenhausleiter.
Sekunden später sah man das offensichtlich sehr unter Druck stehende Krankenhauspersonal wegen des Busunglücks Extralieferungen annehmen und dabei gelegentlich die elektronisch gesicherten Türen offenstehen lassen. Primo nutzte irgendwann die Gelegenheit, sich in den OP-Bereich zu stehlen.
Alessandro zuckte nur ratlos die Achseln, als die Männer ihn fragend ansahen. Er vermutete, dass Primo sich einfach nur Sorgen um Octavia gemacht hatte.
Der Techniker wechselte zu einem anderen Bildschirm, der das Innere des abgeschlossenen OP-Bereichs abbildete. Sie beobachteten, wie die Chirurgin aus einem der beiden Operationssäle kam und sich im Gehen die Handschuhe auszog, sie in einen Eimer warf und begann, sich die Hände zu waschen. Sie zeigte mit einem Ellenbogen zur Tür. Anscheinend forderte sie Primo auf zu gehen, wurde jedoch in den anderen Operationssaal gerufen und beeilte sich, frische Handschuhe zu holen.
Eine Krankenschwester, die aus dem ersten Saal kam, blieb bei Primos Anblick überrascht stehen, doch er zeigte auf die Tür des anderen OPs und sagte etwas, das die Bedenken der Krankenschwester zu zerstreuen schien. Auch sie hatte es eilig. Rasch nahm sie eine kleine gestreifte Mütze aus einem Schrank und begann damit, zwei Tabletts mit Papier, Kugelschreibern und Papierstreifen auszustatten.
„Was ist das? Namensschilder?“, fragte Alessandro.
„Ja. Mit dem Namen der Mutter und dem Barcode ihrer Akte“, erklärte der Krankenhausleiter. „Sie werden meistens vorher ausgedruckt, und die Geburtszeit wird dann im OP nachgetragen.“
Eine andere Krankenschwester kam aus dem zweiten OP. Sie musterte beide Tabletts und wollte gerade nach einem greifen, als sie zusammen mit der anderen Krankenschwester weggerufen wurde.
In diesem Augenblick warf Primo einen Blick auf die Sicherheitskamera, stellte sich mit dem Rücken ins Sichtfeld und machte eine rasche Bewegung.
„Halten Sie den Film an“, befahl Underwood.
Alessandro spürte, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren, aber er konnte sich einfach nicht von der eingefrorenen Bildeinstellung losreißen. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Es fiel ihm schwer zu glauben, was er sah. „So etwas würde er nie tun“, sagte er irgendwann, doch die ersten Zweifel waren gesät.
Im Grunde zweifelte er noch nicht mal mehr. Die Erkenntnis, dass all seine Bemühungen, die Ferrante-Familie zusammenzuhalten, gescheitert waren, versetzte ihm einen Schock. Er hatte anscheinend seinen größten Schwachpunkt übersehen: seinen Wunsch, an die Loyalität seines Cousins zu glauben.
Der Film lief weiter. Jede Krankenschwester griff nach einem Tablett und trug es in den jeweiligen OP.
„Haben Sie nicht gesagt, die Namensschilder würden im OP mit dem der Mutter verglichen?“, fragte Alessandro.
Der Krankenhausleiter presste grimmig die Lippen zusammen. „Normalerweise werden sie laut vorgelesen und von zwei Krankenschwestern bestätigt, aber gestern stand das Personal sehr unter Druck. Es herrschte die Art Situation, in der schnell mal was übersehen wird.“
„Aber woher hätte Ihr Cousin wissen sollen, dass es sich um zwei Jungs handelt?“, wandte Underwood ein. „Wenn eins ein Mädchen gewesen wäre …“
„Er wusste, dass Octavia einen Jungen erwartete.“ Primos Versprechen, sich in London um Octavia zu kümmern, bekam rückblickend etwas Bedrohliches. Alessandro hatte sein ganzes Leben lang versucht, Verständnis für Primo und seine Probleme zu haben. Er hatte Primo sogar eine sehr gute Position in der Firma verschafft, doch Primo war anscheinend so neidzerfressen, dass er ihn trotz allem sabotierte.
„Das Kelly-Baby war bereits auf der Welt. Die erste Krankenschwester hat eine Mütze für es geholt“, durchdrang die Stimme des Krankenhausleiters das laute Rauschen in Alessandros Ohren.
Sandro blieb nichts anderes übrig, als sich der bitteren Wahrheit zu stellen: Primo hatte ihn verraten.
Und wieder einmal regte sich tief in Sandros Innerem das Gefühl, es nicht besser verdient zu haben. Noch immer fühlte er sich für den Tod seines Vaters verantwortlich. Er hatte die Machenschaften seines Cousins stets als die gerechte Strafe für seine Schuld betrachtet. Wäre er damals nicht so unbeherrscht gewesen, wäre Alessandros Vater nämlich noch am Leben.
Sandro hatte alles versucht, um das wiedergutzumachen. Die Familie war für ihn das Wichtigste. Er würde sein Leben für sie aufs Spiel setzen. Aber jetzt gab es einen Verräter in ihrer Mitte, der seine Frau und seinen Sohn dafür missbrauchte, ihm zu schaden. Das ging eindeutig zu weit.
„Ich möchte mit Ihrem Cousin sprechen“, sagte Underwood.
Alessandro nickte grimmig. „Ich auch.“
Als Alessandro zu Octavia zurückkehrte, versetzte sein völlig versteinerter Gesichtsausdruck ihr einen Schreck. Instinktiv drückte sie ihr Baby fester an sich. „Hast du etwas herausgefunden?“, fragte sie nervös.
Alessandro richtete den Blick auf sie. In seinen Augen sah sie eine so tödliche Wut, dass sie entsetzt zurückprallte. Es ist nicht meine Schuld! hätte sie ihm am liebsten versichert.
„Das Personal wird immer noch befragt“, antwortete er tonlos. „Ich begleite den Krankenhausleiter gleich zu Primo.“
Na, dann viel Glück, hätte Octavia fast gesagt. Bisher hatte sie ihre Meinung zu Primo immer für sich behalten. Alessandro und er standen einander so nahe, dass sie Angst hatte, ihren Mann noch weiter zu entfremden, wenn sie offen über ihre Abneigung gegen Primo sprach.
„Versuch, dich etwas zu entspannen“, fuhr Alessandro fort. „Du bist hier in Sicherheit. Das Krankenhaus wird Wachpersonal bereitstellen, genauso wie ich. Jedes Baby bekommt einen eigenen Leibwächter, bis die Situation geklärt ist, genauso wie du und Sorcha.“
Die andere Frau blickte beim Klang ihres Namens hoch.
Alessandros Worte alarmierten Octavia eher, als dass sie sie beruhigten. „Glaubst du, jemand hat das mit Absicht gemacht?“, fragte sie. Bei der Vorstellung wurde ihr übel. „Aber wer …?“
In diesem Augenblick betrat der Krankenhausleiter mit einem Clipboard das Zimmer. „Wir haben Ihre Blutgruppen“, sagte er. „Leider sind die Ergebnisse nicht eindeutig.“
Nicht eindeutig? Octavia presste Lorenzo instinktiv an sich. Das hier war ihr Sohn, das wusste sie genau.
„Ironischerweise hätten wir die Jungs A und B nennen sollen, denn das sind ihre Blutgruppen.“ Der Krankenhausleiter lächelte dünn.
„Ich habe Blutgruppe B, nicht wahr?“, fragte Alessandro.
„Ja, Mr. Ferrante. Und Ihre Frau hat A“, erklärte der Leiter. „Miss Kelly hat 0 und das Baby in ihrem Arm A. Zurzeit kann niemand von Ihnen als Elternteil für beide Kinder ausgeschlossen werden. Sollte Mr. Montero jedoch Blutgruppe A haben, kann er nicht der Vater dieses Babys mit der Blutgruppe B sein.“ Er nickte in Richtung Lorenzo.
„Hast du ihn angerufen?“, fragte Octavia an Sorcha gerichtet. Sie brauchte endlich Gewissheit.
„Wir haben Mr. Montero bereits kontaktiert“, kam der Krankenhausleiter Sorcha zuvor. „Er ist sofort zu einem Krankenhaus gefahren. Wir müssten sein Ergebnis bald bekommen.“
Sorcha starrte ihn entsetzt an. „Moment mal. Was? Sie haben Cesar angerufen?“
Das Ergebnis aus Spanien kam, als Alessandro noch unterwegs war. Was die Mütter instinktiv gewusst hatten, hatten sie nun schwarz auf weiß. Die Babys würden noch bis zum Ergebnis des DNA-Tests im Krankenhaus bleiben müssen, aber inzwischen bezweifelte niemand mehr, dass Lorenzo zu Octavia gehörte und Enrique zu Sorcha.
Erleichtert kehrte Octavia in ihr Zimmer zurück, wo ein riesiger Blumenstrauß auf sie wartete. „Ich komme so schnell wie möglich zurück. A.“, stand auf der Karte.
Alessandro war also immer noch bei Primo.
Octavia war so gekränkt deswegen, dass sie trotz ihrer Erschöpfung keinen Schlaf fand. Wir haben ein Baby, führte sie einen inneren Dialog mit Alessandro. Ist dir das denn völlig egal? Sie hatte die Ergebnisse der Blutuntersuchung sofort an ihn weitergeleitet und gesehen, dass er ihre Nachricht gelesen hatte, doch bisher hatte sie noch keine Antwort von ihm bekommen.
Sie könnte genauso gut Sorcha sein und ihr Baby allein großziehen!
Die Vorstellung war zwar erschreckend, aber auf der anderen Seite konnte sie nicht immer darauf warten, dass Prinz Sandro auf dem weißen Pferd angeritten kam, damit sie endlich das Gefühl hatte, etwas wert zu sein.
Sie musste dringend an ihrem Selbstwertgefühl arbeiten, das leider noch nie besonders stark ausgeprägt gewesen war. Ihre Eltern waren ihr gegenüber nie sonderlich liebevoll gewesen, sondern sehr streng und unduldsam. Octavia hatte sich daher immer bemüht, ihre Erwartungen zu erfüllen, um zumindest etwas Anerkennung zu bekommen.
Auf dem Internat war sie etwas mehr aus sich herausgegangen – nicht nur, um ihren Eltern zu beweisen, dass sie keine Macht mehr über sie hatten, sondern auch, um keine Außenseiterin zu sein. Eigentlich war sie eher der Typ Bücherwurm. Partys feiern und so zu tun, als stünde sie auf Jungs und Mode und Alkohol, war anfangs nicht ihr Ding gewesen. Aber sie hatte ein Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit genossen, wenn sie sich nachts aus ihrem Zimmer geschlichen und offen ihre Meinung geäußert hatte, ohne sich darum zu scheren, was jemand davon hielt.
Eines Nachts hatte ihr jemand auf einer Party etwas in ihren Drink getan. Sie wäre bestimmt das Opfer eines Verbrechens geworden, wenn die Party nicht rechtzeitig aufgeflogen wäre. Man hatte ihr den Magen ausgepumpt und sie für ein paar Wochen vom Unterricht suspendiert. Immerhin hatte sie dadurch nach ihrer Rückkehr einen guten Vorwand gehabt, sich von dem oberflächlichen Trubel fernzuhalten.
Von da an hatte sie sich wieder streng an die Regeln ihres Vaters gehalten und ihre wilde Seite unterdrückt. Sie hatte sich locker mit ein paar Mädchen aus Neapel angefreundet, mit denen sie jedoch nicht viel gemeinsam hatte, weder schicke Urlaube noch Begegnungen mit Stars. Und schon gar nicht irgendwelche schockierenden sexuellen Abenteuer.
Erst ihre Hochzeit mit Alessandro hatte die Bewunderung ihrer Freundinnen erregt, obwohl Octavia bis heute nicht wusste, warum er sie überhaupt geheiratet hatte. Eigentlich war Primo nämlich für sie vorgesehen gewesen.
Sie musste wieder an die Wohltätigkeitsgala denken, bei der sie die beiden Männer kennengelernt hatte. Was hatte Alessandro damals nur in ihr gesehen?
„Das ist der Mann, den dein Vater eingeladen hat“, hatte ihre Mutter gesagt und auf Primo gezeigt. „Er glaubt, du hast gute Chancen bei ihm. Er würde eine Verbindung mit der Ferrante-Familie begrüßen.“
„Meinst du den rechten Mann?“, hatte Octavia gefragt, denn Primo war in Gesellschaft eines anderen Mannes erschienen, der wie er um die dreißig war. Mit seinen wie gemeißelten Gesichtszügen und seinem arroganten Blick hatte er sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
„Nein, der linke. Der Größere ist sein Cousin, das Familienoberhaupt. Irgendetwas scheint ihm nicht zu passen. Vielleicht hat er ja Vorbehalte gegen uns.“
Alessandro Ferrante machte in der Tat keinen sehr wohlwollenden Eindruck. Octavia war ziemlich eingeschüchtert von seinem kritischen Blick. Gut, dass ihr Vater nicht ihn für sie ausgesucht hatte. Der Rangnächste, Primo, war auch eine gute Partie. Er wirkte zwar auch ziemlich arrogant, aber irgendwie nicht so respektgebietend.
„Sieh zu, dass du einen guten Eindruck auf Primo Ferrante machst“, ermahnte ihre Mutter sie.
Octavia seufzte. Wie machte man auf einen potenziellen Ehemann einen guten Eindruck?
Als ihr Vater sie kurz darauf den beiden Männern vorstellte, musterte Primo sie von Kopf bis Fuß wie eine Zuchtstute auf einer Auktion, während Alessandro sie sofort mit seinem Blick gefangen nahm.
Seine schlechte Laune war aus der Nähe noch spürbarer. Er musterte sie kritisch: von ihrem hochgesteckten Haar über ihren Lippenstift bis hin zu ihrem Ausschnitt, so als ob er nach Makeln suchte. Erschauernd hielt sie die Luft an und wartete auf sein Urteil.
„Lassen Sie uns tanzen“, forderte Primo sie auf, doch sie stand völlig im Bann von Alessandros kalten grünen Augen.
Irgendetwas blitzte darin auf, als sie Primo folgte, ohne den Blick von Alessandro zu lösen. Der Bann wurde erst gebrochen, als Alessandro seine Aufmerksamkeit wieder auf Octavias Vater richtete, um eine Frage zu beantworten.
Octavia wusste nicht mehr, worüber sie und Primo sich beim Tanzen unterhalten hatten, aber sie konnte sich noch an jedes Detail ihres späteren Gesprächs mit Alessandro erinnern.
Sie hatte sich entschuldigt, um auf die Toilette zu gehen, und war anschließend auf die Terrasse geschlüpft, um in Ruhe über alles nachzudenken. Erst in diesem Augenblick war ihr bewusst geworden, worauf sie sich mit einer arrangierten Ehe einließ, doch sie versuchte sich einzureden, dass sie gute Gründe dafür hatte, aus Vernunft zu heiraten.
Sie erschauerte in der kühlen Nachtluft und genoss den Anblick der Lichter der Yachten auf dem Golf von Neapel. Außer ihr war niemand draußen, doch es tat gut, allein zu sein. Im Grunde fühlte sie sich dann immer am wohlsten.
Seltsamerweise störte es sie nicht, als Alessandro sich kurz darauf zu ihr gesellte und ihr ein Glas Champagner reichte. „Wie lange kennen Sie Primo schon?“
Sie erschauerte erneut, diesmal jedoch wegen Alessandros Gegenwart. Sie stieß mit ihm an. „Ich bin ihm erst heute begegnet.“
Alessandro, der gerade sein Glas zum Mund führte, verharrte in der Bewegung und sah sie an. „Ihr Vater klang so, als hätten Sie beide sich schon öfter getroffen.“
Octavia verschluckte sich fast vor Schreck. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass ihr Vater sie etwas früher in seine Entscheidung mit einbezog, wen sie heiratete. Tja, ihr Fehler.
Alessandro schien ihr ihre Überraschung anzumerken. „Wussten Sie nichts davon?“
„Nein.“
Ihr Herzschlag beschleunigte sich unter seinem Blick. Er stellt mich auf die Probe, sagte sie zu sich selbst. Alessandro war ein reicher mächtiger Mann an der Spitze einer sehr reichen mächtigen Familie. Er wollte bestimmt herausfinden, ob sie – ob ihre Familie – zu seiner passte. Sie wollte schrecklich gern einen positiven Eindruck auf ihn machen, ihm beweisen, dass sie seinem Cousin eine gute Frau sein würde, aber sie brachte kein Wort über die Lippen.
„Sie sind wirklich bereit, eine arrangierte Ehe einzugehen?“, fragte Alessandro. „Würden Sie es nicht vorziehen, aus Liebe zu heiraten?“
Hielt er sie etwa für eine Goldgräberin?
„Eine arrangierte Ehe kommt mir vernünftig vor“, antwortete sie. Bis heute Nacht war sie sowieso noch keinem Mann begegnet, den sie anziehend genug fand, um eine Alternative in Erwägung zu ziehen. Große Chancen rechnete sie sich ohnehin nicht aus. Sie war nicht der Typ Frau, in den die Männer sich verliebten. Ihre Eltern hatten ihr ihr ganzes Leben lang vermittelt, dass ihr Uterus das einzig Wertvolle an ihr war, und auch nur dann, wenn sie einen gesunden Sohn zur Welt brachte – einen Erben für das Vermögen ihres Vaters.
Octavia teilte diese Ansicht zwar nicht, aber ihre Mutter hatte für ihr einziges Kind so leiden müssen, dass Octavia sich irgendwie verpflichtet fühlte, sie für ihr Opfer zu entschädigen.
„Die meisten Frauen, die ich kenne, wollen einen gut situierten Mann, versuchen jedoch, ihn in Bars und auf Partys zu finden. Aber diese Männer wollen nur jemanden fürs Bett, nicht für die Ehe.“ Octavia hatte oft genug erlebt, wie ihren weiblichen Bekannten das Herz gebrochen wurde. Sie hatte keine Lust, ihr eigenes Herz leichtsinnig aufs Spiel zu setzen. Ihr ging es vor allem darum, Kinder zu bekommen. „Da besteht ein Missverhältnis.“
Nervös streifte sie ihn mit einem Blick. Hoffentlich klang sie nicht zu altklug. Zu ihrer Überraschung stellte sie jedoch fest, dass sie Alessandros volle Aufmerksamkeit hatte. „Ich will eine Familie, warum soll ich meine Eltern nicht einen geeigneten Vater für meine Kinder aussuchen lassen? Jemanden, der gut für sie sorgt?“
„Sie haben anscheinend gründlich darüber nachgedacht.“
„Es geht um meine Zukunft. Klar habe ich darüber nachgedacht“, erwiderte sie schnippisch.
„Das war keine Kritik. Glauben Sie mir, ich bin beeindruckt. Ich will selbst eine Vernunftehe.“
Ihr Herz machte einen Satz. Das hörte sich ja fast an wie ein Kompliment. Forschend sah sie Alessandro an, der gerade ziemlich nachdenklich aussah.
„Wollen Sie in das Geschäft Ihres Vaters einsteigen, wenn Sie verheiratet sind? Lassen Sie ihn deshalb Ihren Mann aussuchen?“