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ALLE LIEBEN DR. WORTHINGTON von CAROL MARINELLI Wenn Dr. Worthington durchs Krankenhaus eilt, leuchten die Augen aller Schwestern. Marnie ist vom ersten Arbeitstag an gewarnt! So ein Traummann kann bestimmt nicht treu sein … Aber als der Single Dad in eine Notlage gerät, ist sie zur Stelle. Und darf nicht seinem Charme verfallen … SINGLE DAD UNTER VERDACHT von MARIE FERRARELLA Seit er Witwer ist, versucht Micah, seinen beiden kleinen Söhnen die Mutter zu ersetzen. Und jetzt gerät er auch noch in seinem Job unter Verdacht! Was den Single Dad zu der hübschen Rechtsanwältin Tracy Ryan führt. Erst braucht er ihr Know-how, dann braucht er ihre Küsse … EIN EHEMANN ZUM VERLIEBEN von JUDY CHRISTENBERRY Er kümmert sich um ihre Ranch, sie heiratet ihn zum Schein, damit er das Sorgerecht für seine kleine Tochter behält. So hat Suzanne es mit ihrem attraktiven Nachbarn Ryan vereinbart. Dann müssen sie unerwartet vor seiner Ex ein echtes Paar spielen – Küssen inklusive!
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Seitenzahl: 595
Carol Marinelli, Marie Ferrarella, Judy Christenberry
JULIA HERZENSBRECHER BAND 29
IMPRESSUM
JULIA HERZENSBRECHER erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Erste Neuauflage in der Reihe JULIA HERZENSBRECHER, Band 29 03/2023
© 2014 by Carol Marinelli Originaltitel: „The Accidental Romeo“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Claudia Weinmann Deutsche Erstausgabe 2016 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA ÄRZTE ZUM VERLIEBEN, Band 94
© 2012 by Marie Rydzynski-Ferrarella Originaltitel: „Once Upon A Matchmaker“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Patrick Hansen Deutsche Erstausgabe 2013 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1884
© 2003 by Judy Russel Christenberry Originaltitel: „Saved by a Texas-Sized Wedding“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Brigitte Marliani-Hörnlein Deutsche Erstausgabe 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1687
Abbildungen: goodluz / Shutterstock., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 03/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751519694
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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Es wäre wirklich zu schön gewesen, um wahr zu sein!
Mit jedem Meter, den Marnie Johnson langsam die Beach Road hinunterfuhr, verstärkte sich das ungute Gefühl, das sie verspürte. Die hübschen, neuen Apartmenthäuser, die sie vor einigen Wochen besichtigt hatte, lagen längst hinter ihr. In dieser Gegend gab es nur noch heruntergekommene Häuser mit verwahrlosten Gärten. Häuser, in die man erst viel Zeit, Geld und Enthusiasmus investieren musste, bevor sie zu einem gemütlichen Zuhause wurden.
Marnie hatte nichts davon.
Nach ihrem Vorstellungsgespräch im Bayside Hospital am Rande von Melbourne war sie sehr zuversichtlich gewesen, die Stelle als neue Stationsleiterin zu bekommen. So zuversichtlich, dass sie noch am gleichen Nachmittag umhergefahren und nach einer netten Wohngegend Ausschau gehalten hatte. In die Beach Road hatte sie sich sofort verliebt. Gut, die Wohnungen waren nicht gerade billig, doch so hoch wie in der Innenstadt waren die Mieten trotzdem noch nicht. Die Apartments mit ihren sonnigen Terrassen und der atemberaubend schönen Aussicht auf den Ozean hatten es Marnie sofort angetan. Sie sah sich schon nach einem arbeitsreichen Tag in einen Liegestuhl sinken und bei einem kühlen Drink den Sonnenuntergang genießen.
Nachdem sie die Zusage für den Job erhalten hatte, war alles unglaublich schnell gegangen. Neben ihrem Umzug und der Übergabe ihrer Aufgaben an ihren Nachfolger hatte sie eine Abschiedsparty für die Kollegen organisieren und eine Menge Papierkram erledigen müssen. Und so war es passiert, dass sie – ganz entgegen ihrer üblichen Vorsicht – den Mietvertrag für ein Haus unterschrieben hatte, das sie nicht besichtigt hatte.
Dave, der Makler, der sie durch eine Musterwohnung geführt hatte, war sehr überzeugend gewesen, als er ihr versichert hatte, ihr neues Heim sehe mehr oder weniger genauso aus wie die anderen Häuser in der Straße.
Mehr oder weniger genauso!
Das Haus war eine Bruchbude mit abblätterndem Putz und blinden Fenstern. Das Gras im Vorgarten war so hoch, dass ein Weg nicht mehr zu erkennen war.
Man sollte wirklich niemals einem Immobilienmakler glauben!
Natürlich hatte Marnie das eigentlich gewusst, doch Dave hatte ihr glaubhaft versichert, das Haus sei so frisch auf dem Markt, dass es noch keine Fotos gäbe. Und da sie wirklich unter Zeitdruck gestanden hatte, hatte die sonst so vernünftige Marnie fünfe gerade sein lassen und einfach unterschrieben.
Jetzt musste sie den Schlamassel ausbaden.
Als sie die Tür aufschloss und eintrat, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
Grimmig zog sie ihr Telefon aus der Tasche und rief das Maklerbüro an.
„Dave ist bei einer Auktion“, erklärte die Empfangssekretärin, bei der Marnie vor einer Stunde die Schlüssel abgeholt hatte. „Ich glaube nicht, dass er heute noch einmal ins Büro kommt. Aber wenn Sie möchten, kann ich ihm eine Nachricht hinterlassen und ihm sagen, dass er sich bei Ihnen melden soll.“
Marnie schluckte ihren Ärger hinunter. Die junge Frau konnte schließlich nichts dafür. „Ja, es wäre nett, wenn er mich zurückrufen würde. So schnell wie möglich. Danke.“
Es war mehr als unwahrscheinlich, dass Dave sich noch an diesem Abend melden würde. Morgen war Sonntag, und am Montag fing ihr neuer Job an. Sie würde schlicht und einfach keine Zeit für weitere Besichtigungen haben. Resigniert betrachtete sie die in einem scheußlichen Beige gestrichenen Räume. Wenn man die Wände abscheuerte, die Fenster putzte und alles gründlich sauber machte, würde das Haus schon viel besser aussehen.
Marnie war klar, dass dieser Gedanke reiner Zweckoptimismus war. Es gab noch nicht einmal eine Badewanne, sondern nur eine völlig verkalkte Dusche, die sie auf keinen Fall benutzen würde, solange sie nicht geputzt und desinfiziert war.
„Wieso um alles in der Welt denken Australier, dass eine Dusche reichen würde?“, fragte sie sich laut. Zu Hause in Irland hatte sie niemanden ohne Badewanne gekannt. Es gab nichts Entspannenderes als ein heißes Schaumbad.
Seufzend beschloss Marnie, sich nicht länger leidzutun. Sie hatte schon deutlich Schlimmeres überstanden.
Der Umzugswagen würde am kommenden Morgen zusammen mit ihren Brüdern Brandon und Ronan gegen acht Uhr früh ankommen.
Sie sollte also besser zügig mit dem Putzen anfangen.
Marnie band ihr langes, schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und holte Eimer, Putzzeug und Staubsauger aus dem Auto. Sie hatte zwar nicht damit gerechnet, dass die Grundreinigung ihres neuen Hauses solche Ausmaße annehmen würde, doch wenn es etwas gab, worin Marnie überragend gut war, dann war es die Fähigkeit, Aufgaben zu strukturieren und abzuarbeiten.
Sie würde das Haus im Nu blitzblank geputzt haben.
Männer, dachte Marnie verächtlich, während sie mit gewohnter Energie ans Werk ging. Sie sahen nur ihre großen, blauen Augen, ihre zierliche Figur und ihr Lächeln, hörten ihren weichen, irischen Akzent – und dachten, sie hätten leichtes Spiel bei ihr.
Doch das war ein Trugschluss!
Dave hatte keine Ahnung, auf was für eine Gegnerin er sich eingelassen hatte.
Kurz darauf klingelte ihr Telefon. Es war Matthew, ein Freund, mit dem sie hin und wieder ausging.
„Wie ist deine neue Wohnung?“
„Toll!“, log Marnie. Sie würde Matthew ganz sicher nicht erzählen, dass man sie hereingelegt hatte. Matthew hatte sie für verrückt erklärt, als sie ihm gesagt hatte, sie würde aus dem Stadtzentrum wegziehen und künftig in einem verschlafenen, kleinen Vorort leben und arbeiten.
„Das hältst du nicht lange aus“, hatte er sie gewarnt. „Du wirst dich zu Tode langweilen.“
In diesem Augenblick hätte Marnie gegen ein bisschen Langeweile nichts einzuwenden gehabt. Sie plauderte kurz mit Matthew und beendete dann das Gespräch.
Es war ihr keine Sekunde lang in den Sinn gekommen, ihn um Hilfe zu bitten. Matthew hatte ohnehin angefangen, etwas zu klammern – was Marnie ganz und gar nicht gefiel. Sie achtete streng darauf, ihre unterschiedlichen Lebensbereiche voneinander zu trennen. Familie, Job, Freunde – sie wollte keine Überschneidungen. Selbst ihr Liebesleben war von allem anderen abgekoppelt. Mit ihren einunddreißig Jahren war Marnie schon lange davon überzeugt, dass dieses Konzept das Beste für sie war. Sie war eine unabhängige Frau und hatte weder ein Interesse daran, dass Matthew herkam und sich über ihre Leichtgläubigkeit lustig machte, noch dass er morgen ihre Brüder traf. Das würde Matthew und ihrer Beziehung zu ihm eine Bedeutung verleihen, die sie nicht verdiente.
Marnie öffnete sämtliche Fenster, um so viel Sonnenlicht wie möglich hereinzulassen, und fing dann an, die Küche zu putzen. Als Nächstes kamen die anderen Räume an die Reihe. Von Zeit zu Zeit gönnte Marnie sich eine kurze Pause, um etwas zu trinken, doch insgesamt arbeitete sie zielstrebig und effizient wie ein Roboter. Nachdem die Wände abgeschrubbt waren, putzte sie die Fenster. Sie nahm sämtliche Vorhänge ab und klopfte sie im Garten aus, damit auch das letzte Staubkörnchen davonflog. Bevor sie sie wieder aufhängte, saugte und wischte sie alle Böden. Während der ganzen Zeit dachte Marnie an ihren neuen Job und die damit verbundenen Herausforderungen, die sich ihr ab Montag stellen würden.
Sie freute sich darauf, die Stationsleitung zu übernehmen. Schon seit mehreren Jahren war sie stellvertretende Leiterin in einer großen Klinik in der Stadt gewesen, und als ihr klar geworden war, dass ihre Chefin nicht vorhatte, ihren Platz zu räumen, hatte sie angefangen, sich nach Alternativen umzusehen. Schon kurze Zeit später hatte sie das Stellenangebot vom Bayside Hospital gelesen und den Sprung ins kalte Wasser gewagt.
Sie konnte sich noch gut an ihr Vorstellungsgespräch erinnern. Die Station brauche eine starke Hand, hatte Lillian, die Pflegedienstleiterin, ihr erklärt. Christine, ihre Vorgängerin, hatte offenbar mehr Zeit in ihrem Büro als auf Station verbracht. Die Dienstplanung war chaotisch und undurchsichtig, und die Unzufriedenheit groß. Cate Nicholls, eine Kollegin, hatte die kommissarische Leitung übernommen, wollte sich jedoch nicht auf den Job bewerben, da sie in Kürze heiraten würde.
In der Notaufnahme herrschte ein eklatanter Ärztemangel, der aber bald behoben sein würde, da zwei neue Kollegen gerade eingestellt wurden. Ein weiteres Problem, so hatte Lillian angedeutet, bestand darin, dass einer der Oberärzte, Harry Worthington, das Pflegepersonal immer wieder als Babysitter für seine Zwillinge einsetzte.
„Damit wäre augenblicklich Schluss, wenn ich hier das Sagen hätte!“, hatte Marnie entrüstet angemerkt.
Als sie Lilians zufriedenes Gesicht gesehen hatte, war Marnie sicher gewesen, dass sie die Stelle bekommen würde.
Harry Worthington!
Bei dem abschließenden Rundgang durch die Klinik hatte Marnie noch einiges über verschiedene Personalangelegenheiten erfahren. Harry zum Beispiel war seit etwa einem Jahr verwitwet und seitdem alleinerziehender Vater von einem vierjährigen Zwillingspärchen.
Marnie hatte sich nicht anmerken lassen, dass Harry kein Unbekannter für sie war. Mit einem leisen Lächeln hatte sie sich daran erinnert, was für ein Herzensbrecher Harry früher gewesen war. Kaum zu glauben, dass er jetzt Witwer und alleinerziehender Vater von zwei Kindern sein sollte!
Ihre Gedanken wanderten dabei zurück in ihre Zeit als Schwesternschülerin im Melbourne Central Hospital, wo sie Harry begegnet war. Sie hatten sich kaum gekannt, denn abgesehen von Anweisungen wie „Wie hoch ist sein Blutdruck?“ oder „Würden Sie mir bitte die Akte holen?“, hatte Harry kaum mit ihr gesprochen. Trotzdem war Marnie natürlich nicht entgangen, welche Wirkung er auf fast alle weiblichen Kollegen hatte. Der Klatsch über seine Eroberungen war damals Gesprächsthema Nummer eins in jeder Mittagspause gewesen.
Als überaus charmanter Assistenzarzt, der auch noch ausgesprochen attraktiv war, hatte es ihm nie an Verehrerinnen gefehlt. Schon das Gerücht, dass Harry auf einer Party sein würde, hatte gereicht, um die Zahl der weiblichen Gäste sprunghaft ansteigen zu lassen.
Marnie allerdings hatte nur Augen für Craig, ihren ersten festen Freund, gehabt. Endlich befreit von der Enge ihres Elternhauses, hatte sie ihre neue Unabhängigkeit viel zu sehr genossen, als dass ein Schwerenöter wie Harry für sie infrage gekommen wäre. Doch nun, älter und weiser, erinnerte sie sich wieder an ihn.
Er war groß und sehr sportlich gewesen, mit braunem, immer perfekt gestyltem Haar. Sein Drei-Tage-Bart hatte ihm ein verwegenes Aussehen verliehen und bei nicht wenigen Kolleginnen einen verräterischen Ausschlag im Gesicht zur Folge gehabt. Harry hatte hart gearbeitet und noch härter gefeiert. Er hatte alles getan, um seinem zweifelhaften Ruf als Casanova gerecht zu werden. Trotzdem hatten ihn alle geliebt – vom Pförtner bis zum Oberarzt, von der Schwesterschülerin zur Stationsleitung, und natürlich auch sämtliche Patienten und Angehörige. Harry hatte sie alle mit seinem Charme eingewickelt.
Nur sie nicht.
Plötzlich fiel Marnie ein, dass es doch eine Begegnung außerhalb der Arbeit zwischen ihr und Harry gegeben hatte.
„Na komm schon, Marnie. Hör auf, Trübsal zu blasen …“ Sie erinnerte sich genau an die Stimmen ihrer Mitbewohnerinnen, die sie zum Ausgehen hatten überreden wollen. Obwohl sie keine Lust gehabt hatte, war sie schließlich doch mitgekommen. Schon allein, um endlich in Ruhe gelassen zu werden. Sie hatte den ganzen Abend abseits gestanden und sich an ihrem Glas Limonade festgehalten. Nein, ihr war wirklich alles andere als zum Feiern zumute gewesen. Irgendwann nach Mitternacht hatte sie beschlossen, unauffällig heimzugehen.
„Du gehst schon?“
Harry hatte sich ihr in den Weg gestellt und sie zu einem Drink eingeladen.
Ohne etwas zu erwidern, hatte Marnie ihn angesehen, in seine glitzernden grünen Augen geblickt und war dann wortlos gegangen. Eine für Harry völlig neue Erfahrung.
Marnie überlegte, wie es Harry, dem Herzensbrecher, wohl heute ging. Er musste inzwischen Ende dreißig sein – bestimmt hatte seine wilde Jugend Spuren hinterlassen.
Während sie die Duschkabine abspritzte, stellte Marnie sich Harry mit Falten und einem Bierbauch vor und musste lachen.
Ach ja, er war ja auch noch alleinerziehender Vater.
Damals hatte er nicht die Spur einer Chance gehabt, bei ihr zu landen, und heute waren seine Aussichten definitiv noch schlechter. Sie konnte sich nichts weniger Attraktives vorstellen als einen alleinerziehenden Vater.
Denn Marnie hatte sich bewusst für ihre Freiheit und Unabhängigkeit entschieden und ließ sich nur mit Männern ein, die genauso waren.
Manche nannten sie selbstsüchtig, doch das interessierte Marnie nicht.
Vielleicht lag es an der Dämmerung, die langsam hereinbrach, doch das Haus sah plötzlich viel besser aus als bei ihrer Ankunft. Auch wenn Marnie es Dave gegenüber natürlich nicht zugeben würde, gefiel ihr das Schlafzimmer mit seinen großen Fenstern in Richtung Ozean und dem hübschen Kamin sehr. Bestimmt würde es sehr gemütlich sein, sich an einem kalten Winterabend beim Schein des Feuers mit einem Buch ins Bett zu kuscheln. Oder in die Arme eines Mannes.
Andererseits würde sie im Winter nicht mehr hier sein, rief sie sich in Erinnerung. Sie würde wohl oder übel erst einmal bleiben, doch sobald sich eine Alternative bot, würde sie sofort umziehen. Und Dave würde ganz sicher nie wieder mit ihr ins Geschäft kommen.
Marnie ging ein letztes Mal nach draußen zu ihrem Auto und holte ihre Yoga-Matte, ein Kissen, ihren Kulturbeutel und ihre Bettdecke heraus. Für die erste Nacht musste das reichen.
Nachdem sie ihre Toilettenartikel in das nun blitzblank geputzte Bad geräumt und schnell geduscht hatte, ging sie in ihr neues Schlafzimmer, wo sie ihre Sachen für den nächsten Tag herauslegte und dann ihr Lager einrichtete. Danach stellte sie ihre Fotos auf den Kaminsims.
Als Erstes ihr Lieblingsfamilienfoto. Marnie mit ihren Eltern und ihren fünf jüngeren Brüdern. Es war an dem Tag aufgenommen worden, an dem Ronan seinen Abschluss gemacht hatte.
Ronan, der Jüngste, war schon immer Marnies Lieblingsbruder gewesen. Bei seiner Geburt war sie fast elf gewesen und hatte entsprechend einen großen Anteil daran gehabt, ihn großzuziehen. Es war ein komischer Gedanke, dass er schon einundzwanzig sein sollte. Er war ein gut aussehender Computerfreak, der außerdem noch begnadet Klavier spielte.
Das nächste Foto zeigte eine vierzehnjährige Marnie mit ihrer besten Freundin, Siobhan, aufgenommen an dem Tag, an dem die Johnsons nach Australien ausgewandert waren, um dort ein neues Leben zu beginnen. Obwohl die beiden Mädchen tapfer in die Kamera lächelten, konnte Marnie die Tränen in ihren Augen sehen. Der Abschied war ihr und Siobhan unglaublich schwergefallen.
Trotzdem hatte Marnie sich nicht unterkriegen lassen und sich in Australien neue Freunde gesucht. Doch kurz nachdem sie sich in Perth eingelebt hatte, war die Familie noch einmal umgezogen, diesmal nach Melbourne, sodass Marnie wieder allein gewesen war.
„Du wirst neue Freunde finden“, hatte ihre Mutter sie beruhigt.
Und sie hatte recht behalten. Trotzdem hatte Marnie nie wieder eine so enge Freundin wie Siobhan gehabt.
Marnie schloss nicht schnell Freundschaften, doch wenn sie jemanden in ihr Leben gelassen hatte, dann war es für immer. Und so waren sie und Siobhan auch jetzt, fast zwanzig Jahre später, noch immer beste Freundinnen. Sie schrieben einander fast täglich E-Mails, unterhielten sich per Video-Anruf und alle paar Jahre besuchten sie einander. Lächelnd stellte Marnie das Foto auf und holte den letzten Bilderrahmen aus der Kiste.
Vielleicht lag es daran, dass es ein langer und anstrengender Tag gewesen war, doch beim Anblick des Fotos traten Marnie Tränen in die Augen. Marnie weinte nur selten und war entsprechend überrumpelt von ihrer eigenen Schwäche. Sie war einfach erschöpft und deshalb nah am Wasser gebaut. Wehmütig betrachtete sie das Bild. Ihren kostbarsten Besitz. Eine achtzehnjährige Marnie hielt ein Baby im Arm.
Declan.
Endlich hatte sie ihn auf den Arm nehmen dürfen.
Die Erinnerung an diesen Augenblick war bittersüß. Ganze zwei Wochen lang hatte man ihr nicht erlaubt, ihren Sohn hochzunehmen. Tagelang hatte sie neben dem Brustkasten gesessen, ihn angesehen und sich nichts sehnlicher gewünscht, als ihn endlich in ihre Arme schließen zu dürfen.
Bis zu dem Tag, an dem das Foto gemacht worden war, hatte sein winziger Körper an Schläuchen und Apparaten gehangen. Erst als klar war, dass man nichts mehr für ihn tun konnte, hatten die Ärzte ihn davon befreit.
Man hatte Marnie und Craig ein ruhiges Zimmer überlassen, damit sie sich ungestört von ihrem Sohn verabschieden konnten.
„Ihr seid noch jung und könnt noch viele Kinder haben“, hatte Marnies Mutter sie später zu trösten versucht.
Doch ihre Mutter hatte sich geirrt.
Es würde keine anderen Babys geben.
Declan war ihr Sohn und würde für immer den größten Platz in ihrem Herzen ausfüllen.
Zärtlich strich Marnie über das Foto. Sie sah in seine großen, dunkelblauen Augen, die so müde von seinem langen Kampf waren, und genau wie jeden Abend sagte sie ihm gute Nacht.
Als sie das Foto aufgestellt hatte, stellte Marnie ihren Wecker auf sechs Uhr und machte es sich auf der Yoga-Matte einigermaßen bequem.
Es machte ihr nichts aus, auf dem Boden zu schlafen.
Denn Marnie hatte schon deutlich Schlimmeres überstanden.
„Ich glaube, Sie kennen Marnie bereits“, sagte Lillian, die Pflegedienstleiterin, als sie Marnie Dr. Vermont vorstellte.
„Ja, allerdings“, nickte der ältere Arzt und reichte Marnie lächelnd die Hand. „Wir haben uns bei Marnies Vorstellungsgespräch kennengelernt. Es hat mich sehr gefreut zu hören, dass Sie die Stelle angenommen haben. Hoffentlich gelingt es Ihnen, ein bisschen Ordnung in die Abteilung zu bringen.“
„Ich werde mir die größte Mühe geben“, versprach Marnie. Sie hatte Dr. Vermont auf Anhieb gemocht. Er war ein Mediziner der alten Schule und hatte offenbar sehr klare Vorstellungen, aus denen er auch kein Geheimnis machte. Da Marnie offene, direkte Ansagen sehr schätzte, war sie zuversichtlich, dass sie gut mit ihm auskommen würde.
„Harry!“, rief Lillian erfreut. Marnie drehte sich um und musterte Harry Worthington ungeniert. Sie hatte sich geirrt. Harrys wilde Jugend hatte weder Falten noch einen Bierbauch hinterlassen. Er sah im Grunde noch besser aus als mit Mitte zwanzig. Erwachsener. Sein gut geschnittener, dunkelgrauer Anzug unterstrich seine schlanke, muskulöse Figur. Allerdings wirkte er etwas gehetzt und mitgenommen und hatte es offensichtlich nicht mehr geschafft, sich zu rasieren.
Doch am allermeisten erstaunte es Marnie, dass der einst stets sexy und cool wirkende Harry an jeder Hand ein Kleinkind hielt.
„Darf ich dir Marnie Johnson vorstellen? Sie ist unsere neue Stationsleitung. Leider hast du es ja nicht geschafft, an ihrem Vorstellungsgespräch teilzunehmen.“ Lillians Worte klangen tadelnd.
„Stimmt. Ich hatte damals Nachtdienst“, verteidigte Harry sich. „Aber Dr. Vermont hat mir bereits von Ihnen vorgeschwärmt.“ Er ließ seine Tochter kurz los, um Marnie die Hand zu schütteln. Das kleine Mädchen nutzte die Gelegenheit und hüpfte den Gang entlang.
„Charlotte!“, rief Harry warnend und rollte mit gespielter Verzweiflung die Augen, bevor er sie zurückholte. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du bei mir bleiben sollst!“
„Aber ich habe Hunger.“
„Das glaube ich gern, denn du hast dich ja geweigert, deine Cornflakes zu essen.“
Marnie bemerkte Lillians missbilligenden Blick und vermutete, dass diese Szene sich nicht zum ersten Mal im Krankenhaus abspielte. Harry war anscheinend gerade erst angekommen und musste seine Kinder vor Dienstbeginn noch im Kindergarten abgeben.
„Eigentlich müsstet ihr zwei euch schon kennen“, setzte Lillian die Unterhaltung fort. „Sie haben doch im Melbourne Central Ihre Ausbildung gemacht, Marnie, nicht wahr?“
Harry runzelte die Stirn. Fragend sah er Marnie an, musterte ihr rabenschwarzes Haar und ihre leuchtend blauen Augen und konnte sich nicht vorstellen, dass er mit dieser Frau drei Jahre lang in der gleichen Abteilung gearbeitet haben sollte, ohne sie jemals bemerkt zu haben.
„Nein“, korrigierte Marnie. „Ich war nur während meines ersten Ausbildungsjahres im Melbourne Central. Danach bin ich ans Royal gegangen.“ Sie wandte sich an Harry. „Trotzdem erinnere ich mich an Sie …“ Als sie Harrys leicht besorgten Gesichtsausdruck bemerkte, musste Marnie lächeln. Bestimmt war es Harry unangenehm, jemanden zu treffen, der sich womöglich an seine wilden Zeiten erinnerte.
Vielleicht sollte sie ihn ein wenig necken. Dr. Vermont plauderte gerade mit Harrys Sohn und Lillian las eine Nachricht auf ihrem Pager – Marnie konnte der Versuchung nicht widerstehen, Harry aus dem Konzept zu bringen.
„Aber Sie erinnern sich bestimmt trotzdem noch an mich, oder?“
„Ähm … also …“ Harry ließ Charlottes Hand wieder los, um sich nachdenklich am Kopf zu kratzen. „Wenn ich mich recht erinnere …“
„Natürlich erinnern Sie sich!“, erklärte Marnie im Brustton der Überzeugung und freute sich insgeheim diebisch über seine Verlegenheit.
„Charlotte!“, rief Harry tadelnd, doch Marnie konnte die Erleichterung in seiner Stimme deutlich hören. Endlich hatte er einen Grund, das quälende Gespräch zu unterbrechen.
„Ich führe Marnie gerade herum und stelle sie allen Kollegen vor“, beendete Lillian Marnies heimlichen Spaß. „Möchten Sie sich vielleicht vorher umziehen?“
Marnie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht nötig.“
Doch Lillian war anderer Meinung. „Wir legen Wert darauf, dass unser Führungspersonal formell gekleidet ist. Vor allem bei offiziellen Anlässen wie einer Vorstellungsrunde. Ein schicker Blazer verleiht gleich noch eine Extraportion Autorität.“
„Ich kann mir auch ohne einen Blazer Respekt verschaffen“, widersprach Marnie, und diesmal war es Harry, der sich ein Lächeln nur schwer verkneifen konnte. Es gab nicht viele Menschen, die es wagten, so mit Lillian zu sprechen.
Marnie war offenbar sehr durchsetzungsfähig.
„Ich glaube“, bemerkte Dr. Vermont nachdenklich, nachdem Marnie und Lillian gegangen waren, „dass Marnie Johnson genau die Richtige für die Abteilung ist. Haben Sie Lillians Gesicht gesehen?“
Harry nickte grinsend.
„Und? Erinnern Sie sich an sie aus Ihrer Zeit am Melbourne Central?“
„Ehrlich gesagt, nein.“
Um Dr. Vermonts Augen bildeten sich kleine Lachfältchen. „Aber sie erinnert sich an Sie!“
„Ich schätze, ich bringe die zwei hier jetzt erst einmal in den Kindergarten“, wechselte Harry das Thema. Er folgte Marnie und Lillian den Korridor entlang und versuchte vergeblich, nicht auf Marnies zierliche und dennoch wohlproportionierte Figur zu starren. Gerade waren die beiden Frauen stehen geblieben, und Marnie schüttelte Dr. Juan Morales, einem der neuen Oberärzte, die Hand.
„Und wann fängt Dr. Cooper an?“, hörte er Marnie fragen.
„Soweit ich weiß, in vier Wochen“, antwortete Juan.
Den Rest der Unterhaltung konnte Harry nicht mehr hören. Gut, dass er nicht dabei war, wenn Lillian und Marnie herausfanden, dass er am Tag zuvor Juans Urlaub genehmigt hatte. Der neue Kollege würde ab der nächsten Woche für drei Wochen auf Hochzeitsreise sein. Der personelle Engpass in der Notaufnahme war also noch längst nicht überwunden.
Harry trug Charlotte und Adam in die Anwesenheitsliste ein und versuchte, sich auf seine aktuellen Aufgaben zu konzentrieren. Über den Dienstplan für die nächsten Wochen konnte er sich auch später noch Sorgen machen.
Seit Jills Tod hatte er gelernt, dass dies die einzig sinnvolle Herangehensweise war.
„Holst du uns heute Abend ab, Daddy?“, fragte Adam.
„Ich versuche es“, versprach Harry. „Aber falls mir etwas dazwischenkommt, rufe ich Evelyn an, damit sie euch holt.“
Harry konnte Adams trauriges Nicken kaum aushalten. Er wusste, dass sein Sohn mit den Tränen kämpfte. Seufzend kniete er sich vor ihn und sah Adam eindringlich an. „Wir hatten doch ein schönes Wochenende, oder nicht?“
Sie hatten wirklich ein tolles Wochenende gehabt. Das beste seit Monaten.
Dank Juan hatten sowohl Harry als auch Dr. Vermont endlich einmal einige ungestörte freie Tage gehabt. Dr. Vermont war mit seiner Frau verreist, um ihren bevorstehenden Hochzeitstag zu feiern, und er selbst war mit seinen Zwillingen am Samstag an den Strand gefahren und hatte am Sonntag ein wenig im Garten gebuddelt und später einen Film mit ihnen angesehen.
„Ich wollte nur …“, fing Adam an, beendete seinen Satz aber nicht. Harry wartete geduldig. Er machte sich große Sorgen um Adams Sprachentwicklung. „Schon gut“, murmelte Adam.
Nichts war gut.
Harry schaute in Adams dunkle, ernsthafte Augen, die denen seiner Mutter so ähnelten. Und genau wie Jill beschwerte Adam sich niemals über Harrys unmögliche Arbeitszeiten – was Harrys Schuldgefühle noch verstärkte.
„He, wie wäre es, wenn wir heute Abend Bananenbrot backen? Dann habt ihr morgen ein tolles Frühstück, das ihr notfalls im Auto essen könnt, falls wir wieder einmal zu spät dran sind.“
„Versprichst du es?“, vergewisserte Adam sich.
„Ich hasse Bananenbrot!“, mischte Charlotte sich ein.
„Ich weiß. Aber du magst den Zuckerguss“, beschwichtigte Harry sie.
„Ja! Darf ich den Zuckerguss machen?“ Charlotte ließ sich wesentlich leichter aufheitern als Adam.
„Also abgemacht. Wenn ich heute pünktlich nach Hause gehen kann, backen wir.“ Diese Einschränkung musste sein, denn in Harrys Job konnte man keine verbindlichen Verabredungen treffen.
„Bitte versuch es!“, sagte Charlotte.
Schon viel zu lange hatte Harry das Gefühl, weder seinem Job noch seinen Kinder wirklich gerecht zu werden.
Er drückte sie noch einmal kurz an sich, bevor die beiden zu ihren kleinen Freunden liefen, um einen weiteren, viel zu langen Tag im Kindergarten zu verbringen.
Irgendetwas musste sich ändern.
Harry ging zurück in die Notaufnahme und versuchte, nicht an die unangenehme Entscheidung zu denken, die er schon bald würde treffen müssen.
Er war nämlich nicht nur Facharzt für Notfallmedizin, sondern auch ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Handchirurgie. Obwohl ihm die Vorstellung nicht gefiel, überlegte er seit einiger Zeit, sich aus dem aufreibenden Klinikleben zurückzuziehen und sich als Handchirurg niederzulassen. Die Notaufnahme ließ sich nämlich nur sehr schlecht mit seinem Leben als alleinerziehender Vater vereinbaren.
Harry hatte sich vorgenommen, seinen Jahresurlaub zu nehmen, sobald Juan aus den Flitterwochen zurück war, damit er seine Entscheidung in Ruhe überdenken konnte.
Zunächst musste er aber die nächsten drei bis vier Wochen überstehen.
Nachdem Marnie ihr neues Büro inspiziert hatte, wischte sie sämtliche Oberflächen mit Desinfektionsmittel ab. Der Raum wirkte schrecklich kühl, und so suchte sie im Internet nach einem Floristen und bestellte telefonisch einen Blumenstrauß. Dann bat sie Cate Nicholls, die nach Christines Kündigung kommissarisch die Station geleitet hatte, um ein Update. Der Papierkram dauerte eine Weile, denn es hatten sich zahllose Beschwerdebriefe angesammelt.
„Bei den meisten geht es um zu lange Wartezeiten“, erklärte Cate.
„Und um Sauberkeit“, bemerkte Marnie, nachdem sie den Stapel kurz durchgeschaut hatte. „Gibt es eine Verfahrensanweisung für die Vorbereitung der Behandlungsräume?“
„Nein. Jedenfalls nichts Schriftliches.“
Das würde sich schon bald ändern!
Danach wandte Marnie sich den Budget- und Inventurlisten zu. Cate hatte diese Aufgaben gehasst, doch Marnie liebte es, alles unter Kontrolle zu haben.
„Ich hoffe, Sie finden sich zurecht“, sagte Cate. „Falls nicht …“
„Falls nicht, frage ich Sie einfach.“
„Ich bin aber in den nächsten Wochen nicht da“, erinnerte Cate sie.
„Ich weiß. Sie heiraten. Fliegen Sie danach in die Flitterwochen?“
„Wir werden in Argentinien heiraten. Juan und ich …“
„Sie heiraten Dr. Morales?“
„Ja.“
„Den neuen Oberarzt?“
Cate nickte.
„Wie lange werden Sie fort sein?“
„Drei Wochen.“
Cate lächelte noch immer, da sie erwartete, dass Marnie ihr nun gratulieren würde.
Doch da kannte sie ihre neue Chefin schlecht. Bei der Arbeit interessierte Marnie sich für nichts anderes als die Arbeit. „Wollen Sie damit sagen, dass Dr. Morales drei Wochen lang ausfällt? Er hat seine Stelle hier doch gerade erst angetreten!“
Noch vor neun Uhr morgens hatten Lillian und Cate einen Vorgeschmack auf die Zusammenarbeit mit Marnie bekommen. Bis zur Mittagspause war auch dem Rest des Teams klar, dass sich einiges verändern würde.
„Ich habe das Gefühl, es gibt sie gleich in vierfacher Ausführung“, stöhnte Kelly, eine der Schwestern, als sie sich neben Harry auf einen Stuhl fallen ließ.
„Wie bitte?“ Verwirrt sah Harry von seiner Akte auf. „Wen gibt es viermal?“
„Marnie!“ Kelly seufzte. „Egal, wo ich hingehe, sie ist schon da.“
Harry grinste. Im Gegensatz zu Christine versteckte Marnie sich nicht in ihrem Büro. Sie fegte wie ein Wirbelwind über die Station und schien allgegenwärtig zu sein.
Wie um Kelly zu bestätigen, tauchte Marnie in diesem Moment im Pausenraum auf.
„Wissen Sie, wo die Unterlagen für die Dienstplanung aufbewahrt werden?“, fragte sie Kelly.
„Gleich hier.“ Kelly öffnete eine Schublade und nahm einen großen Kalender heraus. „Hier tragen wir unsere Dienstplanwünsche ein.“
Ohne zu antworten, nahm Marnie den Kalender und ging hinaus.
„Siehst du! Sie ist überall …“ Noch bevor sie weitersprechen konnte, war Marnie wieder da.
„Von jetzt an müssen alle Wünsche in diesen neuen Plan eingetragen werden. Zusammen mit einer Begründung, weshalb man an bestimmten Tagen nicht arbeiten kann oder möchte.“ Sie klebte ein laminiertes Schild mit genau dieser Anweisung an die Pinnwand.
Zufrieden drehte Marnie sich um und bemerkte, dass Harry sie aufmerksam ansah. Dabei betraf der Pflege-Dienstplan ihn doch gar nicht.
Schnell wandte Harry den Blick ab und redete sich ein, dass er nicht auf das entzückende Hinterteil der neuen Stationsleiterin gestarrt hatte.
Er würde sich doch sicher an sie erinnern, falls damals etwas zwischen ihnen vorgefallen war, oder?
„Kann ich Sie kurz sprechen?“, erkundigte Marnie sich.
„Natürlich.“
„Unter vier Augen?“
Harry hatte es kommen sehen. Cate hatte ihn bereits vorgewarnt, dass Marnie alles andere als entzückt über Juans Urlaubsplanung gewesen war. Ein wenig trotzig folgte Harry Marnie in ihr Büro und setzte sich ungefragt in einen ihrer Besuchersessel. Er würde sich auf keinen Fall von ihr einschüchtern lassen!
„Ich habe vorhin einen Blick auf den Dienstplan der Ärzte geworfen, und mir ist aufgefallen, dass wir zu wenige Fachärzte haben.“
„Das stimmt“, gab Harry zu, „aber die Lage hat sich schon gebessert. Mit Juan haben wir einen ausgezeichneten neuen Kollegen gewonnen, und schon bald wird ein weiterer Facharzt – Dr. Cooper – bei uns anfangen.“
„Das hört sich zwar gut an, aber ich habe vorhin erfahren, dass jemand Juan drei Wochen Urlaub genehmigt hat, obwohl Dr. Cooper noch nicht hier ist.“
„Er fliegt nach Hause. Nach Argentinien. Das ist für einen Wochenendtrip ein bisschen zu weit weg.“
„Aber das bedeutet, dass Sie und Dr. Vermont allein für die Abteilung verantwortlich sind!“
„Das ist mir durchaus klar.“ Und es bereitete Harry seit Tagen Magenschmerzen. Doch das würde er Marnie gegenüber natürlich nicht zugeben. „Juan wird heiraten“, erklärte er und hoffte, dass Marnie es dabei belassen würde.
Doch da kannte er Marnie schlecht.
„Hätte die Hochzeit nicht warten können, bis Dr. Cooper angefangen hat?“
„Anscheinend nicht. Es war eine sehr stürmische Romanze.“ Harry lächelte gequält.
„Ich bitte Sie!“ Marnie verdrehte entnervt die Augen. „Wenn es wirklich die ganz große Liebe ist, kann die Hochzeit auch noch drei Wochen warten. Nicht, dass ich an so etwas glauben würde …“
„Hören Sie“, versuchte Harry sie zu beschwichtigen, „Juan ist ein unglaublich kompetenter Arzt, und wir können uns glücklich schätzen, dass jemand mit seinen Qualifikationen überhaupt an so einem kleinen Haus wie dem Bayside Hospital arbeiten will. Sobald die Einwanderungsformalitäten erledigt sind, wird er ein großer Gewinn für uns sein. Aber Juan hat die Stelle nur unter der Bedingung angenommen, dass er gleich am Anfang seinen Jahresurlaub antreten darf.“
„Normalerweise muss man sich seinen Jahresurlaub verdienen“, erklärte Marnie kühl.
Harry versuchte, seine Taktik zu ändern. „Juan hatte vor anderthalb Jahren eine schwere Wirbelsäulenverletzung. Als er nach Australien kam, konnte er kaum gehen. Abgesehen davon, dass er in seiner Heimat heiraten möchte, will er auch seiner Familie und seinen Freunden zeigen, dass es ihm wirklich wieder gut geht.“
Doch auch dadurch ließ Marnie sich nicht besänftigen. „Sie meinen also, weil Juan sich das Rückgrat gebrochen hat, benötigen Sie Ihres auch nicht mehr und lassen ihm alles durchgehen?“
In diesem Augenblick wusste Harry, dass er ganz sicher nie mit ihr geschlafen hatte.
Denn eine Frau wie sie hätte er niemals vergessen!
„Verstehe. Sie sind also nicht direkt eine Romantikerin.“
„Ganz und gar nicht. Aber wenn Sie mir garantieren können, dass in der Notaufnahme immer ein Facharzt verfügbar ist, lasse ich Sie in Ruhe.“
„Versprochen.“
„Gut.“
Harry stand auf und wandte sich zur Tür. Doch dann drehte er sich noch einmal zu ihr um. Die Ungewissheit machte ihn verrückt. „In welchem Jahr waren Sie am Melbourne Central?“
„Sie können sich wirklich nicht erinnern? Ich war damals blond – falls das Ihrer Erinnerung auf die Sprünge hilft.“
„Blond?“ Ungläubig betrachtete Harry ihr pechschwarzes Haar. „Da haben Sie sicher eine Menge Wasserstoffperoxid gebraucht.“
„Stimmt. Aber Sie erinnern sich trotzdem nicht, oder?“
Sie genoss seine Verlegenheit und beobachtete amüsiert, wie er angestrengt nachdachte. Plötzlich trafen sich ihre Blicke und Harrys Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ein Lächeln, das entfernt an den stets flirtenden und oft etwas spöttischen Harry von damals erinnerte.
„Wie konnte ich Sie nur vergessen?“
Das kleine Spielchen war irgendwie außer Kontrolle geraten, denn plötzlich war es Marnie, die verlegen errötete. Schnell beschloss sie, es zu beenden. „Ist schon gut, Harry. Ich habe Sie nur geneckt. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin vermutlich die einzige Schwesternschülerin am Melbourne Central gewesen, mit der Sie nicht geschlafen haben.“
„Das freut mich“, sagte Harry, noch immer lächelnd. Doch sein Lächeln verblasste, als ihm auffiel, dass seine Antwort womöglich unpassend gewesen war.
Andererseits – was sollte man auf so eine Aussage erwidern? Nachdenklich ging er hinaus.
Es gelang ihm nicht, Marnie zu durchschauen. Sie war eine verwirrend widersprüchliche Person. Sehr direkt, doch gleichzeitig distanziert. Witzig und gleichzeitig streng. Obwohl Harry beim Gedanken an sie schmunzeln musste, war ihm klar, dass sein ruhiges Leben vorbei war. Auch wenn es in der Notaufnahme natürlich nie besonders ruhig zuging. Aber er wusste, dass die Zeiten, in denen er seine Zwillinge kurz im Schwesternzimmer unterbringen konnte, Vergangenheit waren. Auch wenn Marnies Büro direkt nebenan war, würde sie niemals den Babysitter für Charlotte und Adam spielen. Genauso wenig, wie sie es tolerieren würde, dass eine der Schwestern die Kinder abends aus dem Kindergarten abholte oder kurz auf sie aufpasste. In diesem Punkt machte Harry sich keine Illusionen.
Marnie war wirklich überall. Und sie war direkter als jeder andere Mensch, dem Harry je begegnet war.
Als er sich endlich zu einem schnellen Mittagessen in den Pausenraum setzen konnte, bekam er eine weitere Kostprobe von Marnies unverblümter Art.
Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, sich eventuell in ihr Büro zurückzuziehen, nahm Marnie den Anruf ihres Maklers beim Essen entgegen. Ihr Ton war gefährlich freundlich.
„Natürlich weiß ich, dass ich einen Vertrag unterschrieben habe, Dave. Doch lassen Sie mich eine Frage stellen: War es das wirklich wert? Denn Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass ich so schnell wie möglich wieder ausziehen werde.“
Harry konnte nicht anders, als auch den Rest des Gesprächs mitanzuhören. Kühl versprach Marnie, dass Dave nicht nur niemals wieder mit ihr ins Geschäft kommen würde, sondern dass sie außerdem die unlauteren Praktiken des Maklers über den Klinik-Buschfunk verbreiten würde. Klienten aus dem Bayside Hospital würde er nie wieder haben.
„Wurden Sie über den Tisch gezogen?“, erkundigte Kelly sich, nachdem Marnie aufgelegt hatte. Marnie nickte.
„Es war unglaublich dumm von mir, einen Mietvertrag für eine Wohnung zu unterschreiben, die ich nicht vorher besichtigt hatte“, erklärte sie nüchtern. Damit war das Thema für sie erledigt. Sie aß ihren Salat auf und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.
„Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich sie mag oder nicht“, murmelte Kelly.
„Also, ich habe mich entschieden. Ich mag sie nicht!“ Abby, ebenfalls eine der Krankenschwestern, seufzte. „Vorhin musste ich mir einen zehnminütigen Vortrag darüber anhören, wie ich mir die Hände zu waschen habe. Als ob ich das nicht längst wüsste. Ich glaube, sie leidet an einer Zwangsstörung!“
„Und sie hat ADHS“; stimmte Kelly zu. „Sie kann keine Sekunde still sitzen.“
„Meine Damen!“, mischte Dr. Vermont sich tadelnd ein, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.
Einige Stunden später erlaubte er sich jedoch selbst ein bisschen Neugier. „Was hältst du von Marnie?“, erkundigte er sich bei Harry, bevor er heimging.
„Ich weiß nicht so recht, was ich von ihr halten soll“, gab Harry zu. „Sie scheint es nicht gerade darauf anzulegen, sich beliebt zu machen. Anscheinend ist es ihr vollkommen egal, ob sie jemandem auf den Schlips tritt.“
„Genau diese Eigenschaft schätze ich an ihr“, sagte Dr. Vermont. „Das Problem mit Christine war immer, dass sie entweder dein bester Freund oder dein schlimmster Feind war.“ Dr. Vermont sah Harry nachdenklich an. „Es mag ein vorschnelles Urteil sein, aber bis jetzt bin ich sehr beeindruckt von ihr.“
Dr. Vermont war mehr als ein Kollege für Harry. Er war sein Freund und Mentor, und Harry bewunderte den älteren Kollegen sehr. Wenn Dr. Vermont Marnie mochte, war dies eine hohe Auszeichnung.
„Nun gut“, wechselte Harry das Thema. „Wollten Sie nicht pünktlich nach Hause gehen?“
„Ja, ich bin schon fast weg“, stimmte Dr. Vermont zu, machte aber keine Anstalten zu gehen. Sie wussten beide, dass heute der Hochzeitstag der Vermonts war – ein Anlass, der bei Harry womöglich schmerzliche Erinnerungen an seine verstorbene Frau hervorrief. Besorgt musterte Dr. Vermont seinen Freund.
„Nun geh schon! Bestimmt habt ihr heute Abend Gäste.“
Nachdem Dr. Vermont fort war, setzte Harry sich einen Augenblick hin. Jill war nun schon seit eineinhalb Jahren tot. Mehrere Geburtstage und zwei Weihnachtsfeste hatte Harry seitdem hinter sich gebracht, und doch tat es immer noch weh. An manchen Tagen nur ein wenig, an anderen war der Schmerz fast unerträglich. Er trauerte um Jill und all die verpassten Augenblicke. Und es schmerzte ihn so sehr, dass seine Zwillinge ohne ihre Mutter aufwachsen mussten. Gedankenversunken drehte er an seinem Ehering. Er hatte es bislang nicht übers Herz gebracht, ihn abzunehmen.
Immer wieder quälte Harry sich mit der Frage, ob er ein guter Vater war. Natürlich war alles anders, seitdem Jill nicht mehr da war. Sie hatte vorgehabt, zu Hause zu bleiben, bis die beiden eingeschult wurden. Die Kinder sollten ein Zuhause voller Zuwendung und Geborgenheit haben. Von diesem Plan war leider nichts mehr übrig geblieben.
Auch wenn Harry sein Bestes gab – er wusste, dass es nicht reichte. Er würde Jill nie ersetzen können.
Seufzend stand er auf und ging zurück an seine Arbeit. Es war erfreulich ruhig in der Notaufnahme. Die Kollegen der Spätschicht gaben vor, mit Routineaufgaben beschäftigt zu sein, um nicht Marnies Aufmerksamkeit zu erregen. Marnie saß am Empfangstresen und ging den Ordner mit den Dienstanweisungen durch. Natürlich machte sie sich Notizen und stellte Harry immer wieder Fragen dazu.
„Warum müssen denn alle Handverletzungen am nächsten Tag wieder einbestellt werden?“, erkundigte sie sich verwundert.
„Handverletzungen sehen auf den ersten Blick oft harmloser aus, als sie es sind. Um Komplikationen auszuschließen, möchte ich deshalb einen Tag nach der Erstvorstellung in der Notaufnahme noch mal einen Blick darauf werfen“, erklärte Harry.
„Aha.“ Marnie nickte und sah auf ihre Uhr. „Wann machen Sie üblicherweise Feierabend?“
„Jetzt. Der Kindergarten schließt um sechs Uhr.“
„Dr. Morales fängt um neun Uhr an, nicht wahr?“
„Ja“, nickte Harry. „Falls nötig, können Sie mich in der Zwischenzeit anrufen.“
„Ist gut. Ich sehe Sie dann morgen.“
„Das werden Sie.“ Harry lächelte. „Es ist schön, dass Sie jetzt bei uns arbeiten, Marnie. Und ich bin wirklich froh, dass wir nie …“ Er brach ab und wünschte, er hätte den letzten Satz nicht angefangen. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
„Ich wollte Sie nur ein wenig necken“, erklärte Marnie lachend. „Ich habe einen sehr eigenen Humor. Tut mir leid.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Trotzdem finde ich es ein bisschen verletzend, wie erleichtert Sie darüber waren, dass zwischen uns nie etwas gelaufen ist. Gute Nacht, Harry.“
Sie war wirklich der seltsamste Mensch, dem er je begegnet war.
Gerade als Harry gehen wollte, klingelte das Telefon. Miriam, eine der Nachtschwestern, nahm den Anruf an. „Wir bekommen ein Polytrauma rein“, verkündete sie. „Voraussichtliche Ankunftszeit in zehn Minuten. Harry, möchten Sie, dass ich die Zwillinge für Sie abhole?“
„Das wäre großartig!“, rief Harry und war schon dabei, sich seine Jacke wieder auszuziehen, als er jäh innehielt.
„Miriam!“, rief Marnie mit der ihr eigenen Bestimmtheit, „glauben Sie nicht, dass es sinnvoller wäre, zunächst den Schockraum vorzubereiten, anstatt in den Kindergarten zu laufen?“
Verunsichert sah Miriam Harry an. Erst als er nickte, eilte sie in den Schockraum.
„Sie sollten gehen“, riet Marnie Harry. „Sie wollen doch bestimmt nicht den Abend hier verbringen.“
Natürlich wollte er das nicht. Wenn es wirklich ein Polytrauma war, musste sowieso das Trauma-Team angefordert werden. Und wenn es nicht zu schlimm war, würde Sheldon allein mit dem Patienten fertig werden. Während Harry noch überlegte, ob er gehen oder bleiben sollte, hatte Marnie bereits ihr Telefon in der Hand.
„Bitte alarmieren Sie das Trauma-Team“, wies sie die Zentrale an.
„Möglicherweise ist das unnötig“, wandte Harry ein.
„Das hoffe ich auch“; sagte Marnie. „Aber es kann ja nicht schaden, wenn sie für den Notfall bereitstehen. Gute Nacht, Harry.“
Es fühlte sich komisch an, die Notaufnahme zu verlassen, obwohl er wusste, dass gerade ein Schwerverletzter eingeliefert wurde. Irgendwie nicht richtig.
Harry seufzte und öffnete die Tür zum Kindergarten.
„Daddy! Wir dachten schon, du kommst nicht, als wir den Rettungswagen gehört haben!“, rief Charlotte und begrüßte ihn stürmisch. Ihre grünen Augen leuchteten vor Freude darüber, dass sie nun nach Hause fahren würden. Und sie hatte das versprochene Abendprogramm nicht vergessen.
„Darf ich den Zuckerguss machen?“
„Ja, mein Schatz.“
Als er zum Ausgang ging, Charlotte auf dem Arm und Adam an der Hand, bemerkte Harry, dass sein Sohn besorgt zum Eingang der Notaufnahme sah, wo gerade der Patient eingeliefert wurde.
„Er wird wieder gesund“, beruhigte Harry ihn.
Doch plötzlich wurde ihm klar, dass es nicht der Anblick des Verletzten war, der Adam Angst machte. Er hatte schon weitaus Schlimmeres gesehen. Nein, sein Sohn befürchtete, dass er ihn und Charlotte wieder in den Kindergarten oder ins Schwesternzimmer bringen würde, um sich um den Notfall zu kümmern. Entschlossen ging Harry mit den Kindern zu seinem Auto.
Nachdem Harry die Zwillinge angeschnallt hatte, machten sie sich auf den Heimweg. Während der ganzen Fahrt plapperte Charlotte munter mit ihrem Vater.
„Wie war denn dein Tag, Adam?“, versuchte Harry seinen Sohn einzubeziehen.
„Wir haben gemalt.“ Adam sah seinen Vater an, als wäre dieser plötzlich dement geworden. „Das hat Charlotte dir doch gerade erzählt.“
„Stimmt.“ Harry lächelte. Die beiden waren so unglaublich unterschiedlich. Charlotte redete meistens wie ein Wasserfall, während Adam sich lieber zurücklehnte und zuhörte.
Als sie vor ihrem Haus parkten, kam Evelyn ihnen bereits entgegen. Harry nutzte die Gelegenheit, um kurz in der Klinik anzurufen und sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Marnie nahm seinen Anruf entgegen.
„Wie geht es dem Polytrauma?“
„Es ist alles in Ordnung“, erwiderte Marnie. „Na gut, aus Sicht des Patienten vielleicht nicht, aber wir haben alles unter Kontrolle. Er ist gerade im MRT.“
„Ich könnte zurückkommen, wenn Sie mich brauchen. Mein Babysitter ist gerade angekommen.“
„Das ist wirklich nicht nötig“, erklärte Marnie bestimmt. „Wie gesagt, wir haben alles unter Kontrolle.“
„Sollten Sie nicht längst zu Hause sein?“, fragte Harry nach einem Blick auf seine Uhr.
„Genau wie Sie“, entgegnete Marnie.
Wie so oft hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen.
Zufrieden ging Harry in die Küche, wo er von einem köstlichen Duft empfangen wurde. „Hier riecht es aber gut!“
„Ich habe ein neues Rezept ausprobiert“, erklärte Evelyn. „Wir essen heute Abend russisch.“
Charlotte war begeistert, Adam nicht ganz sicher, was er davon halten sollte, und Harry konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Evelyn war so durch und durch australisch, dass Boeuf Stroganoff mit Kartoffelgratin für sie ein aufregend exotisches Gericht war. Evelyn als Nanny einzustellen war die beste Idee gewesen, die er je gehabt hatte.
Genau genommen war es Juan, dem er dafür danken musste. Der Kollege hatte ihm eindringlich geraten, eine ältere Frau für die Kinderbetreuung einzustellen. Denn irgendwie war es immer wieder passiert, dass Harry mit den Babysittern im Bett gelandet war. Manchmal war das Witwerdasein schwierig …
Harry wollte keine neue Frau. Er war mit Jill so glücklich gewesen, dass er sich eine neue Ehe nicht vorstellen konnte. Doch Sex war etwas anderes. Warum mussten Frauen bloß immer alles verkomplizieren, indem sie sich verliebten?
Mit Evelyn war alles anders. Sie interpretierte Harrys Einladung zum Abendessen nicht als Annäherungsversuch.
„Soll ich wirklich bleiben?“, fragte sie, während sie bereits einen weiteren Teller auf den Tisch stellte. „Wie war dein Tag?“
„Gut“, antwortete Harry, denn allein der Umstand, dass er pünktlich zu Hause war, sorgte dafür, dass es ein überdurchschnittlich guter Tag war. „Heute hat unsere neue Stationsleiterin angefangen. Sie scheint sehr effizient zu sein.“
„Sie ist unhöflich“, warf Charlotte ein.
„Unhöflich?“ Verwundert sah Harry seine Tochter an und versuchte, sich die Begegnung der beiden in Erinnerung zu rufen. „Wieso findest du Marnie unhöflich? Ihr habt euch doch nur ganz kurz getroffen.“
„Sie hat nicht einmal Hallo zu uns gesagt.“
„Heute war ihr erster Tag. Bestimmt hatte sie andere Dinge im Kopf.“ Während er saure Sahne unter sein Essen rührte, dachte Harry über Charlottes Worte nach. Seine Tochter hatte recht. Marnie war zwar nicht direkt unhöflich gewesen, aber sie hatte den beiden keine große Beachtung geschenkt. Normalerweise waren neue Bekannte von Charlotte und Adam entzückt, vor allem, wenn sie bemerkten, dass die beiden Zwillinge waren. Seine Tochter war es einfach gewohnt, dass jeder sie süß fand.
Nach dem Essen wollte Evelyn den Abwasch machen, doch Harry winkte ab. „Ich schaffe es schon, den Tisch abzuräumen und die Spülmaschine anzustellen“, erklärte er, während er sie zur Tür brachte.
„Falls du heute Nacht in die Klinik musst, ruf einfach an.“
„Danke. Aber das wird heute wohl nicht passieren. Juan hat Dienst. Sobald er im Urlaub ist, könnte es wieder etwas eng werden.“
„Kein Problem.“
Evelyn war wirklich fantastisch. Sie lebte im Haus nebenan und war seit einigen Jahren verwitwet. Ihre Tochter war vor Kurzem aus beruflichen Gründen mit Mann und Kind nach China gezogen. Als Harry sie gefragt hatte, ob sie ihm mit den Zwillingen helfen wollte, hatte Evelyn vor Freude geweint.
Endlich hatte sie wieder eine Aufgabe. Und bekam auch noch Geld dafür. Perfekt.
Evelyn sparte jeden Dollar, um so bald wie möglich zu ihrer Familie nach China reisen zu können, und sie liebte Adam und Charlotte abgöttisch.
Obwohl es erst kurz nach sieben war, hatten sie bereits gegessen und die Küche wieder aufgeräumt. Ein wirklich außergewöhnlicher Tag.
„Können wir jetzt das Bananenbrot machen?“, fragte Adam.
„Ja.“
Es ist ein großartiges Gefühl, sich einen Abend lang nicht wie ein Rabenvater zu fühlen, dachte Harry, während sie gemeinsam Bananen zermatschten. Als Harry die Kinder badete und bettfertig machte, erfüllte der köstlich süße Duft von frischem Bananenbrot das Haus.
„Wir haben den Zuckerguss vergessen!“, rief Charlotte plötzlich. „Du hast versprochen, dass ich ihn machen darf.“
„Ich weiß. Aber das Brot muss erst abkühlen. Wir gehen gleich noch einmal in die Küche.“
Eine halbe Stunde später half Harry seiner Tochter, aus Orangensaft, Frischkäse und Zucker Zuckerguss herzustellen.
Gegen neun Uhr lagen die Zwillinge im Bett, die Küche war sauber und in den Brotdosen lag Bananenbrot. Zum ersten Mal seit langer Zeit kam es Harry so vor, als gäbe es wieder ein Minimum an Ordnung in seinem Leben.
Er legte sich auf die Couch und gähnte.
Sie hatten einen weiteren Tag geschafft.
Er dachte an Marnie, und wie sie Miriam davon abgehalten hatte, sich um seine Kinder zu kümmern. Rückblickend war er ihr unglaublich dankbar dafür. Harry wollte nicht, dass fremde Leute seine Kinder abholten, und er hasste es, ständig die Kollegen darum bitten zu müssen.
Heute hatte Marnie ihm einen wirklichen Gefallen getan.
Sie hatte ihm einen ruhigen Abend zu Hause mit seinen Kindern verschafft.
„Verzeihung!“
Harry spürte ein leises Kribbeln im Bauch, als er Marnies verführerische Stimme hörte. Eilig ging sie zu Sheldon, dem Assistenzarzt, der sich gerade die Hände wusch.
Armer Sheldon. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete.
Ganz im Gegensatz zu Harry, dem Marnie am Tag zuvor exakt die gleiche Lektion erteilt hatte.
„Sehen Sie diese langen Hebel an der Armatur des Wasserhahns?“
„Ja, natürlich.“
„Es wird Sie vielleicht erstaunen, aber sie sind nicht dazu da, Ärzten mit besonders großen Händen das Leben zu erleichtern.“
Amüsiert beobachtete Harry, wie Sheldon rot anlief, während Marnie ihn mit einem zuckersüßen Lächeln ansah.
„Und sie sind auch nicht so lang, damit viel beschäftigte Ärzte möglichst schnell das Wasser abstellen können. Nein, die Designer dieser Armaturen haben sich etwas ganz anderes dabei gedacht. Raten Sie mal, was der Grund dafür war.“
„Schon gut, Marnie. Die Botschaft ist angekommen!“, erwiderte Sheldon mit zusammengebissenen Zähnen.
„Wirklich? Ich habe leider nicht den Eindruck, dass Sie es verstanden haben, Sheldon. Die Hebel sind so lang, damit Sie mit Ihren Ellenbogen das Wasser an- und abstellen können. Warten Sie, ich zeige es Ihnen …“
„Marnie! Hören Sie auf. Ich weiß, wie es geht!“
„Ach wirklich? Dann tut es mir leid, Sheldon. Als ich vorhin sah, wie Sie sich die Hände waschen, hätte ich geschworen, dass Sie es nicht wissen.“
Harry schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinen Akten zu, während Marnie die Diskussion mit Sheldon unbeirrt weiterführte. Sie war besessen von Hygienevorschriften, und das richtige Händewaschen stand ganz oben auf ihrer Liste. Genau wie sie peinlich genau auf saubere Vorhänge und Lichtschalter achtete.
„Händewaschen nützt nichts, wenn man gleich darauf einen staubigen Vorhang zurückzieht oder einen verkeimten Lichtschalter betätigt“, hatte sie schon mehrmals eindringlich erklärt.
Außerdem war Sonnenlicht ihr sehr wichtig.
In den zwei Wochen, die Marnie nun im Bayside Hospital arbeitete, hatte sie die Station auf einen vollkommen neuen Kurs gebracht. Alles blitzte und blinkte, die Vorratsschränke waren gut gefüllt, und sie achtete peinlich genau auf regelmäßige Pausenzeiten. Man tat allerdings gut daran, kein dreckiges Geschirr in der Teeküche zu vergessen.
Ganz gleich, was man von Marnie halten mochte, eines musste man ihr lassen: Unter ihrem Kommando lief die Station wie geschmiert. Als leitender Oberarzt der Notaufnahme sollte Harry dafür dankbar sein und sich freuen.
Was er auch tat.
Allerdings …
Marnie wich niemals auch nur einen Millimeter von ihren stets sehr konkreten Vorstellungen ab.
„Marnie!“ Harry bemerkte das Erstaunen in Sheldons Stimme und sah auf. „Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie als Hand-Model arbeiten könnten?“
„Ja, das höre ich fast jeden Tag.“
„Ich meine es ernst!“ Sheldon hatte ihre Hände in seine genommen und betrachtete sie eingehend. „Ihre Hände sind unglaublich!“
„Natürlich“, stimmte Marnie ironisch zu. „Ich sollte hier kündigen, meine Hände versichern und eine Karriere als Model für Handcreme machen.“
„Harry!“, rief Sheldon. „Haben Sie schon mal auf Marnies Hände geachtet?“
„Ähm … nein“, log Harry, dem Marnies wunderschöne Hände schon bei seiner Handwasch-Lektion aufgefallen waren. Die blasse Haut ihrer Hände war makellos, ihre Finger waren lang und zierlich und mündeten in sehr gepflegte, glänzende Fingernägel. Es waren wirklich perfekte Hände.
„Zeigen Sie sie Harry!“, bat Sheldon.
Kopfschüttelnd erfüllte Marnie ihm die Bitte und ging zu Harry hinüber. Die Notaufnahme schon immer ein verrückter Ort gewesen, und so wunderte sich niemand über die seltsame Unterhaltung. Kelly kam sogar herüber, um ebenfalls Marnies Hände zu bestaunen.
„Sie sind entzückend“, erklärte Harry.
„Und Harry muss es wissen. Er hatte schon immer eine Schwäche für Hände“, neckte Kelly ihn. Doch sogar sie war überrascht, als Marnie das Spiel noch ein wenig weitertrieb.
„Machen meine Hände Sie an, Harry?“, fragte sie. Harry konnte nicht anders, als ihr provokantes Lächeln zu erwidern, während Kelly verlegen lachte. Marnie war wirklich ein Biest. Sexy und gleichzeitig abweisend, kokett, aber nur, wenn es ihr passte. Und Harry … mochte sie.
Das war einer der Gründe, weshalb er sich nicht uneingeschränkt über sie freuen konnte. Denn er befürchtete, dass es sein Leben verkomplizieren würde, wenn er Marnie mochte …
„Nur weil ich mich für Hände interessiere, heißt das nicht, dass ich einen Hand-Fetisch habe“, beantwortete er ihre Frage.
„Wirklich, Marnie, Sie sollten Hand-Model werden“, sagte Kelly bewundernd.
„Und wer würde dann hier für Ordnung sorgen?“, fragte Marnie lächelnd.
Als kurz darauf der neue Dienstplan aufgehängt wurde, lächelte niemand mehr. Abby, die Nachtschichten hasste, musste feststellen, dass sie nach über zwei Jahren wieder nachts eingeteilt war.
Harry, der gerade auf dem Weg zu seinem nächsten Patienten war, blieb stehen, um sich Abbys Protest anzuhören – der natürlich auf taube Ohren bei Marnie stieß.
„Ich hasse Nachtschichten genauso wie Sie“, erklärte Marnie mit einem freundlichen Lächeln. „Das war einer der Gründe für meine Weiterbildung zur Pflegedienstleiterin. Ich werde aber nächste Woche selbst eine Nachtschicht machen, um mir die Abläufe hier anzusehen. Wir können dann also gemeinsam darüber jammern, wie schrecklich es ist.“
Harry schaute nicht auf, als Abby mürrisch davonging und im gleichen Augenblick von Kelly abgelöst wurde.
„Ähm … Marnie“, fing Kelly an. „Ich hatte angegeben, dass ich am Wochenende keine Frühschichten machen möchte. Trotzdem haben Sie mich im nächsten Monat zweimal für den Samstagvormittag eingeteilt.“
„Ich weiß. Sie hatten keine Begründung dazu geschrieben. Es ließ sich leider nicht anders regeln. Weshalb können Sie denn grundsätzlich samstags keine Frühschichten machen?“
„Na ja“, druckste Kelly herum. „Ich gehe am Freitagabend sehr gern aus.“
„Aber natürlich“, stimmte Marnie ruhig zu. „Wir möchten alle gern am Freitagabend ausgehen und uns von dem stressigen Job hier erholen. Deshalb ist auch jeder manchmal mit der Frühschicht am Samstag dran. Alles andere wäre unfair, nicht wahr?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte Marnie sich um und ging davon.
„Ich würde sie ja gern hassen“, murmelte Kelly. „Und dafür hätte ich auch jede Menge guter Gründe. Und trotzdem …“
Harry sah sie an. „Sie ist unglaublich effizient.“
„Und völlig unnahbar“, ergänzte Kelly. „Obwohl sie jetzt schon einige Wochen hier ist, weiß niemand etwas über sie. Ihr Privatleben scheint streng geheim zu sein.“
Kelly hatte recht; Marnies Verschwiegenheit war ungewöhnlich. Die Notaufnahme war eine Abteilung, in der viel geklatscht wurde, doch Marnie hielt sich aus allem heraus. Es kam niemals vor, dass sie von ihren Feierabend- oder Wochenendplänen erzählte. Sie schien sich nur für ihre Arbeit zu interessieren, und obwohl Harry sich einredete, dass sie ihm völlig gleichgültig war, hätte er gern mehr über sie gewusst.
Sie war eine faszinierende Frau.
Egal, worum es ging – Marnie hatte fast immer eine eigene Perspektive. Ein gutes Beispiel dafür war Juan. Die gesamte Abteilung liebte Juan und beneidete Cate um ihren zukünftigen Mann. Marnie hingegen hatte ihre hübsche Nase gerümpft.
„Er ist ein sehr guter Arzt, aber als Ehemann könnte ich ihn keinen Tag lang ertragen“, hatte sie erklärt.
„Aber er ist doch ein unglaublich toller Mann“, hatte Abby ihr widersprochen.
„Für meinen Geschmack ist er ein bisschen zu hippiemäßig. Total verständnisvoll und immer auf Harmoniekurs.“ Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich mit ihm auch streiten kann.“
„Sie streiten sich also gern?“, hakte Harry nach.
„Aber sicher!“, sagte Marnie lachend. „Juan würde bei einer Auseinandersetzung vermutlich sofort eine entspannende Nackenmassage anbieten.“
Doch so unterhaltsam und interessant sie auch sein mochte – in bestimmten Bereichen war Marnie absolut unnachgiebig.
„Marnie …“ Harry sah sie bittend an, nachdem er ein Telefonat beendet hatte. „Gerade hat mich der Kindergarten angerufen. Adam geht es nicht gut. Leider habe ich noch einige Patienten, und deshalb dachte ich, er könnte vielleicht kurz im Pausenraum …“
„Harry!“, unterbrach Marnie ihn. „Der Pausenraum ist wohl kaum der richtige Ort für ein krankes Kind.“
„Ich weiß. Aber es wäre nur für höchstens eine Stunde. Und die diensthabende Schwester im Aufwachraum könnte hin und wieder nach ihm schauen.“
„Tut mir leid“, erklärte Marnie und es sah nicht so aus, als würde es ihr wirklich leidtun. „Das kommt nicht infrage. Wenn Adam krank ist, müssen Sie ihn nach Hause bringen.“
„Na gut“, erklärte Harry verärgert. „Dann muss ich wohl meine siebzigjährige Nanny anrufen und sie bitten, Adam abzuholen.“
„Gute Idee.“
Doch als er Evelyn anrief, erfuhr er, dass auch sie krank war. Der Ausschlag, an dem sie seit einigen Tagen litt, war von ihrem Hausarzt als Gürtelrose diagnostiziert worden. Sie würde in den nächsten Tagen leider nicht auf die Kinder aufpassen können.
„Mach dir keine Sorgen, Evelyn. Am allerwichtigsten ist es jetzt, dass du schnell wieder gesund wirst“, sagte Harry beruhigend, auch wenn er alles andere als ruhig war. Siedend heiß fiel ihm auf, dass er keine Ahnung hatte, ob seine Zwillinge gegen Windpocken geimpft waren. Um solche Dinge hatte Jill sich immer gekümmert.
„Sie kann nicht herkommen“, erklärte er Marnie bedrückt.
„Dann müssen Sie Adam wohl selbst nach Hause bringen.“
„Manchmal sind Sie wirklich sehr wenig flexibel“, schnauzte er.
„Oh, glauben Sie mir, das stimmt nicht. Wenn in einer Minute zwanzig Verletzte in meine Notaufnahme kämen, könnten Sie sich davon überzeugen, wie flexibel ich sein kann. Ich weiß nämlich ganz genau, wo sich jeder Kollege aus meinem Team befindet und was er oder sie gerade macht. Ich könnte sie in Sekundenschnelle zusammentrommeln, denn keiner von ihnen ist damit beschäftigt, für ein krankes Kind den Babysitter zu spielen.“
Wie so oft hatte er ihrer Argumentation nichts entgegenzusetzen. Trotzdem war Harry verärgert. Er gab immer sein Bestes für die Abteilung und versuchte gleichzeitig, seinen Kindern gerecht zu werden. Bestimmt bedeutete Adams Unwohlsein, dass er Windpocken bekam. Und falls das stimmte, würde auch Charlotte in kurzer Zeit krank sein. Doch das interessierte Marnie natürlich nicht.
„Sie verstehen es einfach nicht“, murmelte Harry und griff nach seiner Jacke. „Kein Wunder. Sie sind schließlich keine Mutter.“
Es tat weh.
Auch noch, als Marnie nach Hause fuhr. Doch sie gab sich alle Mühe, sich ihren Schmerz nicht anmerken zu lassen, als es kurz darauf an ihrer Tür klopfte und sie ihren jüngsten Bruder Ronan begrüßte.
Ronan hatte gerade seinen ersten Job angefangen und sparte eisern dafür, endlich von zu Hause ausziehen zu können. Alle paar Wochen kam er Marnie für einige Tage besuchen.
„Wie ist deine neue Stelle?“, erkundigte er sich.
„Frustrierend. Es könnte eine tolle Abteilung sein, wenn wir nicht so einen schlimmen Personalmangel hätten. Und wenn nicht andauernd Leute das Schwesternzimmer als Aushilfskrippe missbrauchen würden …“ Sie beschloss, das leidige Thema nicht weiter auszuführen. Harry Worte schmerzten sie noch immer. Da sie keine Lust hatte, etwas zu kochen, schlug sie vor, auswärts essen zu gehen.
„Ich lade dich ein. Allerdings nur unter der Bedingung, dass morgen Abend das Essen auf dem Tisch steht, wenn ich von der Arbeit komme.“
Es war schön, wieder einmal auszugehen. Sie fuhren die Küstenstraße entlang bis zum nächsten Ort, wo sie einen netten kleinen Pub fanden, dessen Terrasse einen wundervollen Ausblick über die Bucht bot.
Ronan, der immer einen gesunden Appetit hatte, machte sich über ein großes Steak her, während Marnie gegrillte Garnelen und einen Mango-Salat bestellt hatte. Langsam entspannte sie sich und genoss die sanfte Brise, die vom Ozean herüberwehte, und den malerischen Sonnenuntergang. Genau so hatte sie es sich vorgestellt. In diesem Augenblick hätte sie mit niemandem tauschen wollen.
Sie genoss den Abend mit ihrem Bruder und hörte aufmerksam zu, als Ronan ihr von seinem neuen Job erzählte und dann zu dem wahren Grund seines Besuchs überging.
„Du weißt ja, wie Mum ist“, fing er an. „Ich wollte dich nur vorwarnen. Sie war ziemlich aufgebracht, weil du am letzten Wochenende nicht zu Besuch gekommen bist. Und an dem davor ebenfalls nicht.“
„Sie kann sich doch denken, dass ich auf meiner neuen Station gerade sehr viel zu tun habe. Von meinem Umzug mal ganz zu schweigen“, protestierte Marnie. „Sie hätte ja auch herkommen und mir beim Umzug helfen können. Seit wann braucht sie eine schriftliche Einladung, um mich zu besuchen?“
„Ich glaube, es stört sie, dass du so weit weg gezogen bist.“
„Na hör mal, es ist ja nun nicht so, dass ich nach Irland zurückgegangen wäre.“ Marnie seufzte. „Mit dem Auto dauert es höchstens eine Stunde bis zu mir.“
„Mum denkt, du willst sie dafür bestrafen, dass sie und Dad mit uns nach Australien ausgewandert sind …“ Hilflos sah Ronan seine Schwester an. Ihm war klar, dass dieses Thema noch immer ein wunder Punkt bei Marnie war.
Doch Marnie hatte keine Lust, mit Ronan darüber zu diskutieren. „Ich werde sie in der nächsten oder übernächsten Woche besuchen“, versprach sie halbherzig.