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Nebel wallte über die Hänge, als Johanna vom Begräbnis des Großvaters heimkehrte. Sie stand nun allein im Leben und war noch keine Achtzehn. Das Dorf Winkl blieb im grünen Tal zurück. Nur die wild schäumenden Wasser des Eisbachs begleiteten das junge Mädchen bis hinauf zur heimatlichen Hütte. Schratthütte wurde sie genannt. Johannas Großvater war den Talbewohnern immer wie ein Waldschratt, ein sagenhafter Berggeist, erschienen. Als Johanna die kleine Stube betrat, überkam sie noch einmal die ganze Trauer. Erst jetzt begriff sie, was sie verloren hatte. Um vor ihren Gefühlen zu bestehen, machte sie sich an die Arbeit. Johanna befreite die angepflockten Geißen und zog mit der kleinen Herde zum Waldrand hinauf. Hier setzte sich das junge Madl ins Gras und schaute auf die Berggipfel, die zwischen ziehenden Wolken immer wieder auftauchten. Plötzlich schreckte Johanna zusammen und lauschte. Unter der Widderwand krachten zwei Schüsse. Das Echo grollte wie Gewitterdonner. Johanna hatte viel von dem unbekannten Wildschützen gehört, der das Gebiet um die Widderwand unsicher machte. Als der Abend aus dem Tal heraufdämmerte, wollte die junge Hirtin mit ihrer Herde heimkehren. Da hörte sie ein Stöhnen, das aus dem dunklen Bergwald kam. Dicht vor ihr zerteilte jemand die Zweige und wankte ihr entgegen. Fast hätte Johanna aufgeschrien. Sie hatte den Burschen nie zuvor gesehen. Er hatte ein sonnenbraunes schmerzverzerrtes Gesicht und lebhafte dunkle Augen. Seine Hemdbrust war von Blut gerötet, und unter seinem Janker schaute der Lauf eines Kugelstutzens hervor. Johanna wunderte sich, dass der Bursch trotzdem nicht gefährlich oder furchterregend wirkte. Sie vermisste das rußverschmierte Gesicht, an das sie bei E-Book 1: E-Book 2: E-Book 3:
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Textbeginn
Die Fremde vom Geiereck
Er kam jenseits der Berge
Die Wildschützkönigin
Nebel wallte über die Hänge, als Johanna vom Begräbnis des Großvaters heimkehrte. Sie stand nun allein im Leben und war noch keine Achtzehn.
Das Dorf Winkl blieb im grünen Tal zurück. Nur die wild schäumenden Wasser des Eisbachs begleiteten das junge Mädchen bis hinauf zur heimatlichen Hütte.
Schratthütte wurde sie genannt. Johannas Großvater war den Talbewohnern immer wie ein Waldschratt, ein sagenhafter Berggeist, erschienen.
Als Johanna die kleine Stube betrat, überkam sie noch einmal die ganze Trauer. Erst jetzt begriff sie, was sie verloren hatte. Um vor ihren Gefühlen zu bestehen, machte sie sich an die Arbeit.
Johanna befreite die angepflockten Geißen und zog mit der kleinen Herde zum Waldrand hinauf. Hier setzte sich das junge Madl ins Gras und schaute auf die Berggipfel, die zwischen ziehenden Wolken immer wieder auftauchten.
Plötzlich schreckte Johanna zusammen und lauschte. Unter der Widderwand krachten zwei Schüsse. Das Echo grollte wie Gewitterdonner.
Johanna hatte viel von dem unbekannten Wildschützen gehört, der das Gebiet um die Widderwand unsicher machte.
Als der Abend aus dem Tal heraufdämmerte, wollte die junge Hirtin mit ihrer Herde heimkehren. Da hörte sie ein Stöhnen, das aus dem dunklen Bergwald kam. Dicht vor ihr zerteilte jemand die Zweige und wankte ihr entgegen.
Fast hätte Johanna aufgeschrien. Sie hatte den Burschen nie zuvor gesehen. Er hatte ein sonnenbraunes schmerzverzerrtes Gesicht und lebhafte dunkle Augen. Seine Hemdbrust war von Blut gerötet, und unter seinem Janker schaute der Lauf eines Kugelstutzens hervor.
Johanna wunderte sich, dass der Bursch trotzdem nicht gefährlich oder furchterregend wirkte. Sie vermisste das rußverschmierte Gesicht, an das sie bei Wilderern immer denken musste.
Der Mann schien das Mädchen zu kennen.
»Ist jemand in deiner Hütte?«, stieß er mühsam hervor, während er eine Hand auf die blutende Wunde drückte.
Johanna schüttelte benommen den Kopf. Sie bot dem Fremden ihren Bergstab. Dankbar griff er danach und stützte sich darauf. Seine Lippen formten die nächsten Worte nur mit größter Anstrengung.
»Hanni, du bist kein Freund von den Grünröcken. Sie haben deinen Vater erschossen. Versteck mich in deiner Hütte, bis meine Verwundung nimmer auffällt.«
»Wer bist du?«, fragte sie erschrocken.
Er wankte. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Sein Gesicht wurde ganz wächsern.
Da sprang Johanna helfend hinzu. Sie konnte den Schwankenden gerade noch stützen.
»Keine Sorge«, stieß sie entschlossen hervor. »Ich helfe dir. Es ist mir gleich, wer du bist.«
*
Der Bürgermeister zeigte offene Zufriedenheit. »Ich bin froh, dass du dir die Vormundschaft aufladest.«
Der Bauer vom Seehof schlug die Augen nieder vor dem forschenden Blick des Gemeindeoberhauptes. »Es ist das Gewissen«, brummelte er unwirsch. »Es war Notwehr. Aber der Sixtus Wallinger ist an meiner Kugel gestorben. Vielleicht kann ich an seiner Tochter etwas gutmachen.«
»Was willst denn nun anfangen mit der Hanni?«
»Sie kann auf meinen Hof kommen. Auch droben in der Ahornalm wäre Arbeit für sie.« Während er sprach, strebte der Seehofer immer weiter der Tür zu. Er murmelte noch schnell einen Abschiedsgruß und verschwand.
Der Tag war hell und klar. Die Berge um das Höllkar lagen im warmen Licht der Vormittagssonne.
Es gab in Winkl keinen größeren Hof als den des Seehofers. Er wusste das und bildete sich etwas darauf ein. Er führte das Leben eines Herrenbauern, der außer der Jagd alles seinem Großknecht Blasius überließ.
Die Bäuerin lief ihrem heimkehrenden Mann aufgeregt entgegen. Mit ihrer schmalen Gestalt wirkte sie ihm gegenüber fast zerbrechlich.
»Der Jäger war hier.« Sie deutete auf einen Rehbock, der im Schatten der Hauswand lag. »Wieder einer.«
Der Seehofer bekam einen roten Kopf. »Ich steig zu ihm hinauf. Muss sowieso bei der Hanni vorbei. Bin ihr Vormund geworden.«
»Wenn das nur gut geht«, seufzte die Bäuerin. »Sie wird nie begreifen können, dass du ihren Vater erschossen hast.«
»Sie kann net allein in der Schratthütte hausen. Eine Jungmagd kannst du immer brauchen.« Und dann, als er für die Bergfahrt gerüstet war: »Sonst hat der Jäger nix hinterlassen?«
»Doch. Angeschossen hat er den Lumpen. Die Blutspur zeigt talwärts. Er hat sie bei der Schoberwies verloren.«
Der Mann musterte die Frau, die ihm noch etwas zu verbergen schien. Sie wich seinem Blick aus. Ihr Gesicht wirkte verhärmt. Der Bauer packte sie bei den Schultern. Seine Stimme klang herrisch, fast grob.
»Ich will alles wissen«, forderte er.
Sie schluckte und schaute auf. »Gut! Vielleicht hätt ich’s wirklich nicht länger herumschleppen können. «
»Warum redest du net?«
»Der Jager-Hannes meint, dass unsere Tochter auf der Hochalm was mit dem Schwarzschützen haben könnte.«
Stärker hätte den Seehofer kein Schlag treffen können.
»Die Renate steht mit beiden Beinen fest im Leben. Ihr trau ich das nicht zu.«
»Der Hannes möcht aber schwören, dass der Wildschütz schon mindestens zweimal bei ihr übernachtet hat. Einmal hätt er ihn beinahe gefangen, wenn ihm unser Madl nicht einen Melkkübel zwischen die Füße geworfen hätt.«
Der Seehofer verlor seine frische Gesichtsfarbe.
»Respekt vor unserm neuen Jäger! Er kennt wirklich keine Rücksicht. Aber er muss sich täuschen. Ich will Licht hineinbringen in die Geschichte.«
»Wenn nur unser Bub bald von der Schule in Salzburg zurück wäre«, seufzte die Frau. »Der Michael könnte dir helfen. Er hat jüngere Füße als du.«
Der Seehofer brummte etwas. Dann marschierte er mit seiner Jagdbüchse los. Er überquerte den Eisbach und kam droben an der Krötenmühle vorbei. Die bestand heute nur mehr aus einem alten Gemäuer und halb verfallenem Schuppenwerk.
Die Krötenwally, wie das alte Kräuterweibl genannt wurde, hockte auf einem Stein am Bachufer und verlas die Wurzeln, die sie in der letzten Mondnacht ausgegraben hatte.
Der Seehofer blieb stehen. Seiner Ansicht nach hätte ihm die Alte manches sagen können, was den unbekannten Wildschützen betraf.
Die Krötenwally kniff die Augen zusammen, als sie den Bauern erkannte. »So?«, krächzte sie anzüglich. »Ist heuer schon die Jagdzeit angebrochen?«
»Den Schwarzschütz will ich fangen. Du solltest mir dabei helfen.«
»Wieso ich?«, lachte sie schadenfroh. »Ich hab noch nie von nix gewusst, was deine narrische Jagerei angeht.«
Im Weitergehen grimmte er zurück: »Ich sorg noch dafür, dass deiner Hexerei ein Ende gesetzt wird! Wolltest mich mit deiner Krötensuppe heilen; ich tät lieber freiwillig ins Grab hupfen, als nur einen Löffel davon zu schlucken.«
Der Alten machte Spott nichts aus. Das mit der Krötensuppe hatten missgünstige Leute aufgebracht und ihr so den Namen Krötenwally verschafft.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Seehofer, wie wär’s, wenn ich doch was wüsste?«
Er blieb argwöhnisch stehen. »Wenn das ein Scherz ist …«
»Gib auf deine Tochter acht«, rief sie ihm nach. »Ich mag das Madl und möcht net, dass es auf den Zündler hereinfällt.«
Der Bauer spürte, wie ihm heiß und kalt wurde. Er schnappte ein paarmal nach Luft, bevor er seine Stimme wiederfand. »Meinst du den Feuerleger, dem drunten im Tal schon zwei große Höfe zum Opfer gefallen sind?«
Die Angst des protzigen Herrenbauern gefiel der Alten so gut, dass sie zu kichern begann. Sie nickte eifrig. »Der Zündler ist nach Winkl gekommen und hält sich an das reichste Bauernmadl. Heiratet sie ihn, wird er Seehofer. Heiratet sie ihn net, sitzt der rote Hahn auf deinem Dach. Bis heut hat ihn noch keine Hoferbin geheiratet. Darum hat’s gebrannt.«
»Wo ist der Haderlump? Den sucht die Gendarmerie!«
»Droben bei der Schoberwies und am Sommereck bin ich ihm begegnet. Er hat genau das Gesicht, wie sie es am Gemeindebrett angeschlagen haben. Der Gendarm glaubt mir net. Darum sollen sich andere um den Zündler kümmern. Mir tut er nix.«
Der Seehofer starrte auf die alte Frau nieder. »Wie bringst du ihn mit meiner Tochter zusammen?«
»Sie gibt ihm Milch und Essen. Sie ist ganz freundlich, wenn er bei ihr einkehrt.«
»Kennt ihn die Renate, dann sitzt er noch heut hinter Schloss und Riegel«, kündigte der Seehofer an.
»Sei wachsam!«, krähte die Alte. »Er hat immer einen Stutzen bei sich!«
»Dann ist er auch der gesuchte Wildschütz.« Plötzlich hatte es der Seehofer eilig. »Den kauf ich mir jetzt!«
Er machte ein paar Schritte, zögerte, holte etwas aus seiner Tasche, kam zurück und warf der Frau einen Geldschein in den Kräuterkorb. »Fange ich den Lumpen auf deinen Hinweis hin, bekommst du mehr«, versprach er.
Die Krötenwally kicherte. Sie wusste den Grund.
*
Es war ein herrliches Fleckchen Erde, auf dem die Schratthütte stand. Schoberwies wurde der Grashang genannt, der wie eine schmale Halbinsel in den Bergwald hineinreichte.
Die Hütte stand mitten darauf. Ein ausgetretener Pfad schlängelte sich vom Bachufer zur Tür. Über den Wald grüßten die grauen Mauern der Widderwand nieder.
Johanna pflockte die Ziegen in Hüttennähe an. Sie durfte sich nicht allzu weit entfernen.
Sie hatte Angst, seit sie den verwundeten Burschen in der Kammer des verstorbenen Großvaters untergebracht hatte. Er begann zu fiebern. Sie wusste sich keinen Rat mehr.
Bevor er in seine Fieberphantasien versank, hatte sie ihm versprechen müssen, ihn an keinen Menschen zu verraten. Aber sie konnte ihn doch nicht sterben lassen!
Da sah sie den Seehofer vom Eisbachufer heraufsteigen. Ihr Gesicht wurde kalt und abweisend. Es gab keinen Menschen, den sie stärker hasste als diesen Mann. Überhaupt mied sie alle Bewohner des protzigen Seehofs.
»Madl, lauf mir net weg!«, rief der Bauer von Weitem.
Johanna rannte in die Hütte, schlug die Tür zu und schob den starken Eichenholzriegel vor. Dann lehnte sie sich mit pochendem Herzen gegen das Holz. »Herrgott, gib, dass er nicht eindringt und den Kranken findet!«, betete sie.
Es klopfte an die Tür. Dann erschien der Kopf des Seehofers am Fenster. Er lächelte unsicher. Er musterte das blitzsaubere Madl wie ein Bild. »Ich hab dich für ein dürres Schulmadl gehalten! Du bist ja schon ein richtiges Weiberleut!«
Johanna lauschte nur nach der hinteren Kammertür. Hoffentlich blieb der Fiebernde ruhig!
»Hanni, du brauchst dich net zu fürchten«, sprach der Seehofer verlegen weiter, »geschossen haben wir beide gleichzeitig, ich und dein Vater. Wäre seine Kugel schneller gewesen, läg ich jetzt unterm Rasen. Außerdem war ich der Jäger, er der Wildschütz.«
»Lass meinen Vater ruhen! Er hat aus bitterer Not gewildert. Gott hat ihm verziehen. Er braucht dein Urteil nimmer. Und nun lass mich aus! Der Grund gehört mir.«
Er hatte bei Johanna an ein kleines, verweintes Madl gedacht. Hier stand er nun dem verjüngten Ebenbild der früheren Wallingerin gegenüber.
»Hanni, ich bin dein Vormund.«
Johanna erbleichte. Sie hatte vergessen, dass sie noch nicht volljährig war. »Man kann mir keinen Vormund aufzwingen, den ich nicht haben will!«
»Sie waren froh, dass ich mich bereit erklärt hab. Ich will dir keine Vorschriften machen. Es ist nur, dass alles seine Ordnung hat.«
Mit seiner befehlsgewohnten Herrschsucht konnte der Seehofer hier nichts anfangen. »Hanni, du solltest gescheit sein und mir ins Tal folgen. Überhaupt jetzt, wo der gefährliche Lump daheroben sein Unrecht treibt. Er schießt net bloß aufs Wild. Er ist ein Feuerleger und hat schon zwei Höfe angezündet.«
Johanna wirbelte diese schlimme Nachricht im Kopf herum. Sie hörte nichts anderes mehr. Sie wusste nicht, wie lange der Bauer auf sie einsprach. Plötzlich sah sie ihn gehen.
Er schlug den Weg zum Sommereck ein, wo neben der Jägerhütte die Ahornalm lag.
Der Seehofer hatte keinen Blick für die Berge. Mit zornblinden Augen stiefelte er an gischtenden Wasserfällen vorbei und griff murrend nach den Latschenästen, die ihm ins Gesicht schlugen.
Droben angekommen, verbarg er sich hinter einem Felsen und belauerte die Almhütte. Sie lag hoch über dem Tal, das im Dunst verschwamm. Doch der Bauer sah nur den schlanken, gut aussehenden Mann, der am Tisch unter dem Hüttenvordach saß und die Sennerin bei der Arbeit störte.
»Wart, Lump, miserabliger!«
Der Seehofer straffte seinen massigen Körper. Es wurmte ihn, wie freundlich seine Tochter immer wieder zu dem Nichtstuer hinschaute.
Der Bursch am Tisch trank seelenruhig seine Buttermilch. Er schien den Seehofer für einen Jäger zu halten. So sah er auch aus mit seiner Flinte.
Renate erschrak heftig, als sie plötzlich die raue Stimme ihres Vaters dröhnen hörte.
Sie war ein schlankes, kräftiges Madl mit vollem braunem Haar und dunklen Rehaugen. Beine und Arme waren tief gebräunt von der Bergsonne. Ebenso das frische Gesicht, das nun ehrliche Besorgnis ausdrückte.
»Steh auf, wenn ich mit dir rede!«, schrie der Seehofer den Burschen an. »Und keine langen Ausflüchte! Wo ist dein Stutzen versteckt?«
»Mein – was?«, stammelte der junge Mann.
Renate schritt ein. Sie hatte sogleich begriffen. »Der Stephan hat nie einen Stutzen besessen. Wo’s gekracht hat unter der Widderwand, war er bei mir.«
Der Bauer schluckte nur den halben Grimm hinunter. »Er schaut net aus wie ein Urlauber.«
»Ein Knecht ist er, hat Streit gehabt mit seinem Bauer. Er sucht hier in Winkl Arbeit. Könntest du ihn net …?«
»Bist du der Seehofer?«, unterbrach der Bursch die Sennerin.
»Du willst ein Knecht sein? Und vom Zündeln und Schwarzschießen verstehst du rein gar nix?«
»Vater!«, rief Renate vorwurfsvoll.
»Du bist stad und gehst an deine Arbeit! Die Leut stell ich ein, nicht du.« Und zu dem Fremden: »Red!«
»Deine Tochter hat mir von dem Wilddieb erzählt. Ich selbst hab nie einen Stutzen in den Händen gehalten. Und mit dem Bild vom angeschlagenen Feuerleger darfst mich ruhig vergleichen.«
»Gut«, brummte der Bauer. »Nimm dein Bündel, und marschier derweil voraus! Ich will’s mit dir versuchen. Ich hab noch was zu reden mit dem Madl.«
Der Mann griff nach seinem Rucksack und marschierte talab. Der braunhaarigen Sennerin zwinkerte er noch heimlich zu. Das Mädchen wurde glührot.
Der Seehofer schimpfte auf die Sonnenglut und setzte sich in den Schatten. Die Tochter brachte ihm eine kalte Buttermilch. »Wohl bekomm’s, Vater!« Abwartend blieb sie stehen.
Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Solche Geschichten gefallen mir net. Ich hab mir’s überlegt. Wir wollen den Hof dem Michael bewahren, falls er doch keine so große Freud am Studieren hat. Also wirst du dann einen Hoferben heiraten müssen, wenn du einmal auf eigenem Grund wirtschaften willst.«
Sicherheitshalber verharrte Renate in Schweigen.
»War er wirklich hier, als es geböllert hat?«
»Darauf kannst du einen Schwur haben.«
»Dann besucht dich also noch ein anderer!«
»Geh, Vater, was hast denn du heut? Hat dir jemand Märchengeschichten erzählt?«
»Das hab ich aus ganz zuverlässiger Quelle.«
Die Sennerin überlegte. »Vielleicht hat die Krötenwally was falsch ausgelegt. Meint sie den Jäger? Der Hannes isst hier, weil er zum Seehof gehört.«
»Den Jäger kann sie net meinen.«
»Aber der Hannes ist ihr fremd. Er hat erst vor zwei Wochen den Korbinian abgelöst.«
Der Seehofer trank sein Glas aus und stand auf.
»Ich werde dich gegen eine Magd austauschen. Dann erspare ich mir Sorgen.«
Renate presste die Lippen zusammen. Tränen standen in ihren Augen. »Vater, das darfst du mir nicht antun! Es ist so herrlich da heroben, und ich hab mich so auf den Sommer gefreut!«
»Weibergeschwätz und Hexenschmarrn!«, grollte der Seehofer und marschierte talab. Er nahm den Umweg über die Jägerhütte, fand sie aber leer. Das erinnerte ihn an sein Vorhaben, dem unbekannten Wilddieb nachzusteigen.
Auf einer kleinen Waldblöße fand der Bauer seinen neuen Jäger. Er lag im Gras und schlief bei hellem Sonnenschein! Auf seinem Gesicht spazierten Ameisen herum, ohne dass er erwachte.
Das Gewehr lag neben dem Schläfer. Jeder Vorbeigehende hätte es stehlen können.
Der Seehofer versetzte dem pflichtvergessenen Mannsbild einen Tritt, der ihn jäh ins Diesseits zurückbeförderte. »Kein Wunder, wenn in meiner Jagd die Wilderer daheim sind!«
Überraschend schnell stand Hannes auf den stämmigen Beinen. Er war breit in den Schultern und sehnig durch und durch. Den Stutzen hatte er schon während des Aufspringens im Anschlag. »Ach, du bist es!«, atmete er erleichtert auf, als er seinen neuen Dienstherrn erkannte.
»Die Freud soll dir vergehen«, grimmte der Seehofer. »Den Rapport will ich von dir.«
»So setzen wir uns zusammen«, schlug Hannes vor. »Ich hab nämlich net geschlafen, seit ich dem Lumpen eine aufgebrannt hab. Mich hat’s nur hier geschwind gerissen nach zwei schlaflosen Nächten.«
Der Jäger berichtete in allen Einzelheiten. Binnen weniger Minuten war der Seehofer des Lobes voll.
»Musst schon entschuldigen, Hannes. Aber mit meinen bisherigen Jägern hab ich manches erleben müssen. Den Sennerinnen waren sie strenger auf den Fersen als den Wilderern.«
»Mit mir hast du einen Glücksfang gemacht, Seehofer. Stehen wir zwei jetzt fest zusammen, geht uns der Haderlump in die Falle.«
»Du bist ein Mannsbild nach meinem Herzen, Hannes! Haben deine Leute daheim keinen Hof?«
»Warum?«, staunte der junge Jäger.
»Dann könntest du mein Schwiegersohn werden. Die Renate hat ihre Augen auf die Burschen geworfen. Bevor sie in der ersten dummen Lieb an den Falschen gerät, muss ich als Vater ihr gleich den Richtigen suchen.«
»Daheim hab ich einen kleinen Hof. Ich bin der einzige Sohn. Ich muss übernehmen, sobald meinen Eltern die Arbeit zu viel wird. Da wär’s net schlecht, könnt ich gleich mit so einem Prachtmadl als Jungbäuerin aufmarschieren.«
»So? Einen Hof hast daheim? Weit weg?«
»Drüben«, erwiderte Hannes und deutete mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung, wo die Widderwand in den Himmel ragte. »Jäger bin ich eigentlich kein richtiger. Nur so vorübergehend.«
Der Seehofer kehrte nun wieder den Herrn vor. »Fang mir den Lumpen, Hannes. Dann können wir zwei vielleicht weiter darüber reden. «
Plötzlich riss er die Augen auf und starrte gegen die Schratthütte hinunter. »Was will die Kräuterhexe bei meinem Mündel?«
»Hast du jetzt die Vormundschaft über das Madl da drunten?«, fragte der Jäger keineswegs begeistert.
Der Bauer hatte nur noch Augen für die Krötenwally, die langsam talwärts humpelte. Sie stützte sich mit knochiger Hand auf einen langen Bergstab.
Ihr jämmerliches Aussehen aber täuschte. In Wirklichkeit war sie rüstiger als manche Jüngere.
»Fehlt mir grad, dass die sich bei dem unerfahrenen Madl einschmeichelt«, polterte der Seehofer. »Pass mir daheroben bei der Schoberwies gut auf, Jäger! Das Madl will net auf meinen Hof. Ich müsste mir bitterste Vorwürfe machen, wenn ihr was zustoßen tät.«
Hannes rieb sich insgeheim die Hände. Nun stand ihm auch der Weg in die Schratthütte offen.
»Du solltest ihr auch die Burschen fernhalten«, fügte der Bauer in ehrlicher Sorge an. »Mag sein, sie warten das Trauerjahr ab. Aber so ein blitzsauberes Madl ist immer in Gefahr.«
»Seehofer, auf mich ist Verlass.«
»Dann wollen wir uns jetzt gemeinsam um den Wildschütz kümmern. Ohne Doktor kann er mit so einer Wunde net weit gekommen sein.«
Sie querten die Lichtung und drangen weiter droben ins Höllkar ein.
*
Johanna stieß Fenster und Türen auf und ließ frische Luft in die Hütte. Der Mann in der Kammer schlief. Er hatte noch Fieber, phantasierte aber nicht mehr.
Behielt die Krötenwally recht, müsste er gegen Abend erwachen und bei Bewusstsein bleiben.
Johanna war jetzt bedeutend leichter ums Herz. Zu zweit war so eine Verantwortung einfacher zu tragen. Die Wally war eine gescheite, hilfsbereite Person.
Das Mädchen hatte die Tiere bereits versorgt und wusch sich am Brunnentrog, da vernahm sie in der Hütte ein dumpfes Gerumpel.
Rasch zog Johanna die schlanken Beine aus dem Wasser und strich den Rock darüber. Dann rannte sie zur Hütte. Auf dem Bretterboden der Stube hinterließen ihre Füße feuchte Spuren.
Johanna fand den Mann auf der Schwelle zur Schlafkammer. Er versuchte soeben, sich mühsam hochzuarbeiten. Er trug seine Krachlederne. Um den nackten, sonnenbraunen Oberkörper lag ein durchgebluteter Verband.
Das Madl erschrak und war den Tränen nahe, als es das sah. »Warum hast mich nicht gerufen? Hast eh schon dein halbes Blut verloren, und jetzt ist die Wunde wieder offen! Du stirbst mir ja doch noch!«
Sie wandte all ihre Kraft an, um ihm aufzuhelfen. »Vierzehn Tage lang sollst du die rechte Schulter überhaupt net bewegen.«
Das trieb die Angst in seine Augen. »Hast du mich verraten?«
»Nur die Krötenwally war hier. Die hat schon tausend Geheimnisse treu bewahrt. Aber dein Zustand hat ihr angst gemacht. Sie scheint dich zu kennen.«
Der Verletzte ließ sich zum Bett führen. Johanna ahnte nicht, dass er schon draußen gewesen und erst auf dem Rückweg vor Schwäche über die Türschwelle gefallen war.
Willig ließ er sich in die Kissen drücken. Herinnen war es schon fast dunkel, weil draußen die Nacht aus den Tälern heraufzog.
»Die Wally«, sagte der Wildschütz leise, dann schwieg er wieder.
»Hättest lieber sterben wollen?«, fragte Johanna in erwachendem Trotz. Sie trat ans Fenster und schob die Vorhänge zurück. Es hatte sich draußen noch nicht abgekühlt, doch verschaffte der leise Durchzug Erleichterung.
»Was hat die Wally gemeint?«, fragte der Bursch nun ganz ruhig.
»Zuerst hat sie sich von dem Schreck erholen müssen, den ihr dein Anblick verschafft hat. Aber dann hat sie dich ganz behutsam verarztet. Sie will bei der Nacht wiederkommen. Sie hat net genug von ihrer Medizin dabeigehabt.«
»Die Kugel …«
»Die war gar nimmer drin. Nur ein Durchschuss im Muskelfleisch. Und ganz entzündet.«
Johanna spürte, dass der Bursch noch etwas anderes fragen wollte, wovor er aber zurückschreckte. Sie hätte gern ein wenig mehr von ihm gewusst.
Plötzlich erinnerte sie sich der Kräutersuppe, die sie nach Anweisung der Wally gekocht hatte. Sie lief in die Stube und kehrte mit einem Teller zurück. »Das musst du unbedingt essen, hat die Wally angeschafft.«
Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand und hielt ihm den Teller so, dass er bequem löffeln konnte.
»Ich hab noch mehr davon«, verriet Johanna.
»Das ist genug«, wehrte er matt. »Vergelt’s Gott, Hanni. Lauf noch nicht weg.«
Sie blieb verlegen bei ihm sitzen. Er ergriff ihre Hand. Johanna spürte, wie etwas Unbekanntes, Erregendes auf sie überströmte. Sie hatte Angst und schaute doch wie gebannt auf die Stelle, wo seine Augen wie zwei Lichter aus dem Dunkel schimmerten.
Durch das offene Fenster drang das Zirpen der Grillen. Vögel sangen droben am Waldsaum, und vom Grund herauf hörte man den Eisbach. Johanna fürchtete, all diese Geräusche müssten von ihrem wild hämmernden Herzen übertönt werden.
»Du bist mein guter Schutzengel«, flüsterte der Verwundete.
»Ein Engel war ich nie«, spöttelte Johanna, um ihre Verlegenheit abzuschütteln.
»Wer sucht alles nach mir?«, lenkte er ab.
»Der neue Jäger und der Seehofer.«
»Der auch?«
»Heut ist er wieder heroben herumgestiefelt. Er ist hier der Jagdpächter, der reichste Geldprotz im Dorf.«
»Weiß ich alles, Hanni. Ich kenne ihn gut.«
Ihre Hand zitterte leicht. »Du kennst hier alle Leute. Mich auch. Wer bist du?«
»Der Michael.«
Obgleich Johanna jetzt nicht klüger war, drang sie nicht weiter in ihn. Vielleicht erklärte er ihr morgen schon alles von sich aus.
»Hast du dich noch net gefragt, warum ich unter die Wildschützen gegangen bin?«, drang nach langem Schweigen seine Stimme aus der Dunkelheit.
»Aus Übermut wohl net. Trotzdem solltest du nimmer mit dem Stutzen ins Gebirg ziehen. Es ruht kein Segen darauf. Mein Vater ist erschossen worden.«
»Red nicht davon«, wurde er heftiger. »Ich kenn die Geschichte besser als du.« Er drückte ihre Hand. »Hanni, hol eine Kerze«, bat er. »Ich hätt jetzt so gern einmal in deine Augen geschaut!«
»Du bist net gescheit«, flüsterte sie. »Da müsst ich die Fenster zumachen. Überhaupt solltest schlafen, sagt die Wally. Und wenn der Jäger draußen herumspioniert …«
Das half. »Du hast recht, Hanni. Was hat dir die Krötenwally alles von mir erzählt?«
»Kein Wort. Kennt sie dich wirklich, so verrät sie es nicht einmal mir.«
Michael war erleichtert. »Nachher wirst ja doch Licht machen. Wenn du es tust, dann bring mir meinen Janker, den ich damals angehabt hab.«
»Den hab ich verstecken müssen. Von dir darf hier nix herumliegen.«
»Du bist ein gescheites Madl«, freute er sich.
Johanna konnte nicht mehr still sitzen. Sie schloss die hölzernen Fensterläden, schaute sich draußen vor der Hütte um, kam zurück, versperrte die Tür und zündete die Petroleumlampe an.
Mit dem Janker des Burschen, der voller dunkler Blutspuren war, kehrte sie in die Kammer zurück.
Michael suchte mit der gesunden Hand in den Taschen, bis er etwas Weiches ertastet hatte. »Schade! Jetzt ist es ganz zerdrückt.«
»Ein Edelweiß!«, entfuhr es ihr. Unwillkürlich streckte sie die Hand danach aus und betrachtete den samtenen Blütenstern mit leuchtenden Augen. »Das mach ich dir wieder schön. Ich steck’s über Nacht auf ein Stückl Holz.«
»Es ist für dich, Hanni. Du darfst es haben.«
»Willst spotten?«, flötete sie.
»Damit du mich verstehst, muss ich dir mein großes Geheimnis verraten«, sagte er leise. »Vor einer Woche hab ich dich zum ersten Mal aus der Nähe gesehen. Auf deiner Geißenweide. Wie ein ganz seltenes Blümerl bist du mir erschienen. Da ist mir ein Edelweiß eingefallen. Die wachsen genauso unberührt und wild wie du. Ich hab dir das Blümerl hier auf dein Kammerfensterbrett legen wollen.«
»Aber dann hätt ich nie erfahren, von wem es ist.«
»Ich hätte mich nach dem Trauerjahr schon bei dir gemeldet.«
Ihre Blicke versanken ineinander. Johanna wurde rot.
Ein Brett knarrte in der angrenzenden Stube. Mit einem Schrei fuhr das Madl hoch. Unbewusst streckte es abwehrend die Hände gegen die Schattengestalt, die vor der Kammertür auftauchte.
Die Krötenwally kicherte. »Ja mei, kennst du mich net?«
»Du?«, raunte Johanna erlöst. »Wie kommst denn du durch eine versperrte Hüttentür?«
»Durch Zauberei«, amüsierte sich die Alte. Dann ging sie in die Kammer.
Heimlich untersuchte Johanna indessen die Hüttentür und fand außen die Schnur, mit der man den Riegel zurückziehen konnte. Diese Schnur hatte abends immer der Großvater nach innen gezogen. Sie hatte es vergessen.
*
Die Seehoferin gab den neuen Knecht an Blasius weiter, den der Bauer auf dem Hof frei wirtschaften ließ. Ihr war Stephan sympathisch. Bei einem kurzen Gespräch mit ihm hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er nicht aus reiner Abenteuerlust die Stelle gewechselt hatte.
Als der Neue seine Kammer hatte, setzte sich der Großknecht Blasius zu seiner Tochter auf die Hausbank. Kathrin war schwarzhaarig und wie die Hoftochter Renate im heiratsfähigen Alter.
»Dass du mir dem Neuen keine Augen hindrehst!«, brummelte Blasius. »Du hast dich hier allein um den Michael zu kümmern, damit du einmal Seehof-Bäuerin bist!«
»Ist ja gut«, stichelte Kathrin. »Das brauchst du mir net jeden Tag neu einimpfen.«
»Als Bäuerin auf so einem Hof hättest ausgesorgt«, meinte er unbeirrt.
»Einmal hat er mir ein Busserl gegeben. Das war im vorigen Jahr beim Erntedankfest. Aber auf meine Briefe antwortet er net. Die nimmt er gar net an.«
»Wie meinst du das?«, horchte der Großknecht auf.
»Empfänger unbekannt, steht darauf, wenn sie zurückkommen.«
»Empfänger unbekannt? Wenn das die Post darauf schreibt, dann ist der Michael dort wirklich unbekannt in Salzburg. Weiß das der Bauer?«
Kathrin zuckte die Achseln. »Vielleicht geht’s ihm mit seinen Briefen genauso?«
»Da sollten wir einmal offen darüber reden. Nicht dass der Bursch gar net studiert und sich sonst irgenwo herumtreibt in der Weltgeschicht!«
»An so was hab ich noch gar net gedacht«, murmelte das Madl beunruhigt.
*
Michael erwachte. Schlaftrunken richtete er sich auf und schaute auf die Vorhänge am Fenster, die im Wind flatterten.
Draußen schien die Nachmittagssonne. Warme Luft brachte den Duft getrockneter Berggräser mit. Es donnerte über den Bergen. Da wusste Michael, was ihn geweckt hatte.
Die Schulter schmerzte nicht mehr so arg wie an den vergangenen Tagen. Hoffentlich würde er ihr das später einmal danken können.
Er setzte sich vorsichtig auf und wartete, bis das dumpfe Pochen in seinem Kopf verschwunden war. Dann zog er seine Hose an und stand mühsam auf.
Er griff nach dem Stock, den Johanna ihm neben das Bett gestellt hatte. Jetzt sah er auch die blauen Enzianblüten, die in einem wassergefüllten Teller zur Form eines Herzen geordnet waren.
»Hannerl«, flüsterte er zärtlich. Wie offen und natürlich sie ihm in allem bewies, dass sie ihm zugetan war! Und doch wich sie ihm aus wie ein scheues Wild.
Er wusste, dass Johanna schimpfen würde, wenn er sich zu weit von der Hütte entfernte. Trotzdem stieg er bis zu den drei Tannen hinauf, die als einzelne Baumgruppe inmitten der Schoberwiese standen.
Ein dunkler Schleier lag über der Widderwand. Von dorther donnerte es ab und zu.
Die Geißen lagen träge im Schatten. Das Glöcklein der Leitgeiß schickte ein schwaches Wimmern über die sonnenheiße Bergwiese. Alle Töne waren gedämpft, auch das Rauschen der Wasserfälle an den Bergwänden.
Dann entdeckte Michael die junge Hirtin. Auch sie war müde von den Nächten, in denen die Kräuterfrau zur Schratthütte heraufkam und nach ihrem Patienten schaute. Johanna lag am Waldrand im Gras und schlief.
Michael betrachtete sie wie ein schönes Bild. Ihre Brust hob und senkte sich im ruhigen Rhythmus der Atemzüge.
Lautlos setzte sich Michael neben dem schlafenden Mädchen ins Gras und suchte für seinen rechten Arm eine Lage, die seine verwundete Schulter am wenigsten belastete.
Dann heftete sich sein Blick auf das leicht gerötete Gesicht der Schläferin. Es war wie ein Bann, der ihn gefangen hielt. Michael konnte der Versuchung nicht lange widerstehen, er musste die frischen Mädchenlippen küssen.
Johanna seufzte schlaftrunken und hob langsam die langen Wimpern. Sie schaute geblendet in das tiefe Blau des Sommerhimmels empor, blinzelte nach dem Stand der Sonne und schloss wieder die Augen. Ein feines Lächeln hatte sich um ihre Mundwinkel gelegt.
Ein paar Minuten lang hielt es Michael aus. Dann konnte er es nicht länger erwarten, in ihre Augen zu sehen und den silberhellen Klang ihrer Stimme zu hören.
Er nahm einen Grashalm und kitzelte Johanna an der Nase. Seufzend wandte sie den Kopf und öffnete die Augen. Als ihr Blick das lächelnde Burschengesicht traf, schrak sie zusammen und richtete sich ruckartig auf.
»Michael!«
»Ja, ich bin’s«, strahlte er.
Sie stützte sich auf einen Ellbogen. Sie wurde verlegen.
»Vergelt’s Gott für dein schönes Blütenherz, Hanni!«
Das riss Johanna vollends in die Wirklichkeit zurück.
»Ja, bist denn du gar nimmer gescheit? Am helllichten Tag auf der Schoberwies herumspazieren!« Ihre Stimme bebte vor Angst. »Hast du den Jäger vergessen?«
»Ich hab nach dir gesucht«, murmelte er schuldbewusst.
»Hab ich’s an was fehlen lassen?«
»Bestimmt net«, versicherte er. »Aber wenn du mich so herausfütterst, werd ich langsam wieder unternehmungslustig.«
»Du bist wirklich nimmer ganz gescheit!«
Es donnerte hinter der Widderwand. Johanna wollte aufspringen, fiel aber ins Gras zurück, weil er noch rechtzeitig ihren Arm erhascht hatte.
»Bleib, Hanni«, bat er. »Es donnert schon seit einer halben Stunde. Vielleicht kommt das Wetter gar net über die Bergkette herüber. Wir haben ja noch hellen Sonnenschein.«
»Und wenn der Jäger …?« Johanna schaute sich ängstlich um.
»Er hätte sich schon gezeigt, wenn er hier in der Nähe wäre«, besänftigte Michael.
Halb erwartungsvoll, halb furchtsam schaute Johanna dem Burschen in die Augen.
Michael wollte seinen Arm um die Mädchenschultern legen, spürte aber am stechenden Schmerz, dass er seine Verwundung vergessen hatte. Tapfer ignorierte er das höllische Brennen und zwang ein Lächeln auf seine Lippen.
»Hast du vorhin nix geträumt?«, erkundigte er sich.
Johanna schoss das Blut unter die sonnenbraune Haut. Ihr Blick irrte von seinem Gesicht ab. »Woher weißt du, dass ich was geträumt habe?«
»Es muss was arg Schönes gewesen sein«, stichelte er. »Du hast im Schlaf gestrahlt.«
Unwillkürlich betastete sie ihren Mund. Ein dunkles Ahnen stieg in ihr auf, dass der geträumte Kuss Wirklichkeit gewesen sein könnte. »Hast du mir ein Busserl gegeben?«, entfuhr es ihr.
»Leider nur ein ganz kurzes«, bedauerte er.
»Du bist – du bist …«
»Ja, such dir einen ganz schönen Namen für mich aus«, schmunzelte er, als sie abbrach.
Johanna machte ihren Arm frei, stand auf und eilte zur Schratthütte hinunter, ohne sich noch einmal nach ihm oder ihren Geißen umzuschauen.
Michael wurde verlegen. Kam die Reue? Auf jeden Fall hätte er wissen müssen, wie ein Madl reagieren könnte, das noch keinerlei Erfahrungen im Umgang mit Burschen besaß.
*
Der Jäger saß um dieselbe Stunde unterm Vordach der Ahornalmhütte und beobachtete die Sennerin, die ein paar Urlauber mit frischer Buttermilch bewirtete.
Renate war in keiner guten Stimmung. Der Sonntag neigte sich seinem Ende zu, und noch immer war der nicht erschienen, den ihr Herz sehnlichst erwartete.
Dem Jager-Hannes gefiel das Madl. Nicht ganz so gut wie die Blonde aus der Schratthütte, aber immerhin. Vor allem brachte Renate als Seehoftochter ein beachtliches Brautgut in die Ehe.
Endlich verzog sich die schnatternde Urlauberschar. Nun konnte Hannes frei reden. »Weißt schon, dass dich dein Vater verheiraten will?«
Renate nickte. »Hat er dich gefragt, ob du daheim einen Hof hast?«
Er stutzte. »Kannst hellsehen?«
»Ich kenne meinen Vater. Aber ich heirate einmal den, der mir gefällt.«
»Dürfte er ein Jäger sein?«
»Warum net? Bauer, Jäger, Knecht – Hauptsache, er hat ein Herz und ist nach meinem Geschmack.«
Hannes schwieg.
»Was hat der Vater sonst von mir erzählt?«
»Ich soll mich um dich kümmern.«
»Dienstmäßig oder privat?«
»Beides.«
»Dann hast du also einen Hof daheim«, schloss Renate daraus.
»Einen schönen«, übertrieb er. »Drüben im andern Tal.«
»Und dann arbeitest du als Jagdgehilfe?«
»Doch nur vorübergehend. Zum Glück bin ich auf die Idee gekommen, sonst hätten wir beide uns net kennengelernt.«
»Du bist ja einer! Mach mir doch gleich eine Liebeserklärung!«
»Madl, das hab ich vorgehabt«, erklärte er ernsthaft. »Überleg dir’s! Wir hätten deinen Vater auf unserer Seite.«
»Aber nicht mein Herz«, wurde sie abweisend. »Das gehört einem andern.«
Der Jäger wechselte die Gesichtsfarbe. Man sah ihm an, dass er jetzt am liebsten gewaltsam zugegriffen hätte.
»Madl, das sind Ausreden«, hoffte er.
»Hannes, ich hab wirklich einen andern gern. Du musst dich also noch weiter umschauen, wenn du eine Bäuerin für deinen Hof suchst.«
»Ist das dein letztes Wort?«, lauerte er.
»Für dich schon«, bekräftigte sie.
»Was soll ich dann deinem Vater sagen?«
»Hinter ihm brauchst du dich net zu verschanzen. Und was dein Essen in meiner Hütte betrifft – wenn ich dich weiter verköstigen soll, dann darfst du mich nie wieder mit solchen Sachen bedrängen.«
Hannes starrte die junge Sennerin an, als könnte er noch gar nicht fassen, dass er endgültig abgewiesen war. Doch plötzlich stand er auf, griff nach seinen Jägerutensilien und marschierte stumm davon.
Renate hatte das untrügliche Empfinden, dass dieser Szene noch etwas Böses nachfolgen könnte.
»Madl«, ertönte dicht hinter ihr eine wesentlich sympathischere Männerstimme. Sie fuhr herum und schaute in Stephans lachendes Gesicht. Sie errötete.
»Hast du mich belauert?«, erregte sie sich.
»Ja, Renate, das hab ich«, gestand er offen ein. »Ich wollt als Zuschauer erleben, wie du dich der aufdringlichen Burschen erwehrst. Nun muss ich mir weniger Sorgen um dich machen, wenn ich drunten im Tal arbeite. Respekt! Der Herr Grünrock hat sich unter deinen blitzenden Augen gar net getraut, gewaltmäßig zuzugreifen.«
»Ist das ein Kompliment?«, zweifelte die junge Sennerin.
»Eine Anerkennung.«
»Wieso machst du dir im Tal Sorgen um eine, die dir doch gleichgültig sein dürfte?«, fragte sie herausfordernd.
»Die eine ist mir aber nicht gleichgültig. Aber darüber wollen wir dann nach dem Melken reden.« Er wies auf den Stand der Abendsonne und dann auf die Kühe, die mit prallen Eutern die Nähe der Almhütte suchten.
»Kannst du melken?«, wurde er gefragt.
»So darfst mit einem Urlauber reden, net mit mir.« Stephan angelte sich einen Melkkübel von der Hüttenwand und suchte nach einem Schemel.
»Aber wenn du auf einen Lohn spekulierst«, warnte sie sicherheitshalber, »dann wirst dich wundern. Leichtfertige Liebschaften mag ich net.«
»Das weiß ich«, überraschte er sie. »Im andern Fall wär mir der Weg zu dir herauf net unter die Füße gekommen.«
»Ich hab dir’s nur im Voraus sagen wollen, damit du dir die Mühe des Helfens ersparen kannst. Da hat sich schon einmal jemand ein Busserl erhofft und hat eine Watschen bekommen.«
»Keine Sorge, Schatzl. Solche Ungerechtigkeiten werd ich mir bei dir schon zu verbitten wissen. Mit dir hab ich ganz was anderes vor.«
»So?«, fragte sie neugierig.
»Schützenfest ist heut in vierzehn Tagen in Winkl drunten«, gab Stephan bedeutungsvoll bekannt. »Die Brauerei stellt ein großes Tanzzelt auf.«
Während sie schon emsig melkte, erkundigte sie sich scheinheilig: »Warum sagst du das mir?«
»Dreimal darfst raten.«
»Du vergisst, dass ich eine Sennerin bin und meine Viecher net allein im Gebirg zurücklassen kann.«
»Das hab ich alles schon bedacht. Ich will auf dem Seehof eine Magd überreden, dass sie dich am Sonntag in zwei Wochen daheroben vertritt.«
»Das macht einen Wirbel bei meinen Leuten. Wenn du mich wirklich zum Schützenfest führen willst, dann frag ich die Hanni von der Schratthütte. Sie könnt ihre Geißen mit heraufbringen und meine Kühe versorgen.«
*
Der Jager-Hannes war traurig. Ohne darauf zu achten, wohin, stiefelte er mürrisch durch den Bergwald. Es war bei den Madln immer das Gleiche: Solange er nichts von ihnen wollte, waren sie freundlich zu ihm. Sobald er aber von Liebe sprach, mochte keine mehr etwas von ihm wissen. Was konnte er dafür, dass er nicht so gut aussah wie andere Burschen?
Als Hannes unverhofft auf seinen Jagdherrn stieß, war ihm das gleichgültig.
»Mir scheint, du hast alle Lust am Beruf verloren und lässt die Schwarzschützen tanzen«, grollte der Seehofer.
Hannes zuckte nur die Schultern.
»Bist du krank?«
Das nahm der Jäger als willkommenes Stichwort und schwindelte: »Bauchweh hab ich.«
»Wahrscheinlich kocht die Renate noch allweil so schlecht wie früher. So marschier halt geschwind zur Krötenwally. Für so was hat sie immer ein Mittel. Da! Den Geldschein gibst ihr dafür.«
»Hundert Euro?«
»Ein Lockmittel, weißt. Ich hab einen Verdacht. Weil der Wildschütz sich bis jetzt bei keinem Doktor gemeldet hat, könnt’s nämlich sein, sie hat ihn verarztet. Sie soll schon zwei anderen Haderlumpen die Kugeln aus dem Fleisch geschnitten haben. Zeig ihr den Schein, und frag sie wie nebenbei, ob sie den Lumpen seit dem Schusswechsel noch net gesehen hätt. Wenn sie zögert, sagst mir das. Dann geh ich selber hin und lock mit einem Tausender weiter.«
Der Jäger sagte nichts und verschwand. Er war froh, dem Dienstherrn aus den Augen zu kommen.
Hannes musste über die Schoberwiese. Als er Johanna sah, die ihre kleine Herde in den Stall führte, war die Kräuterfrau vergessen. Die Schratthütte übte einen wesentlich größeren Zauber auf ihn aus.
Der Jäger belauerte das kleine Anwesen. Johanna trug die Geißenmilch in die Hütte. Kurz darauf begann der Kamin zu rauchen. Jetzt kochte sie sich ein gutes Essen. Hannes bekam Hunger. Auf die Gnade seiner bisherigen Wirtin, der jungen Sennerin, durfte er sich heute sowieso nicht verlassen.
Johanna strahlte, als sie die nahenden Männerschritte hörte. Endlich kehrte Michael zurück!
»Dirndl, grüß dich!« Der Jäger trat ein und lehnte seine Büchse gegen die Wand. Das verwitterte Hütl warf er über einen Nagel, wo es nach kurzem Wirbel hängen blieb.
»Ach, du bist’s«, stieß Johanna enttäuscht hervor. Sie wandte sich rasch wieder dem Herd zu. Wie, wenn Michael den Jäger nicht rechtzeitig sah und ahnungslos hereinstiefelte?
»Besinn dich net lang, wenn du was fragen willst«, drängte sie den unerwünschten Besucher.
»Bei dir duftet’s so herrlich«, schmeichelte er. »Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Wird das ein Kaiserschmarrn? Du wirst doch keinen Hungrigen vor die Tür setzen wollen?«
Johanna suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Immer wieder blinzelte sie verstohlen aus dem Fenster und hielt heimlich nach Michael Ausschau.
Hannes setzte sich unaufgefordert zum Tisch. Von hier aus beobachtete er das schlanke Madl mit begehrlichen Augen.
Draußen begann es zu dämmern. Schwarz und reglos standen die Tannen vor dem Hintergrund der majestätischen Felskulisse.
»Hast du keine Angst so allein?«, interessierte sich der Jäger.
»Wovor denn?«, fragte Johanna und rührte in der Pfanne, aus der heller Dampf aufstieg.
»Wer hat dir das schöne Haar vererbt?«
»Meine Mutter«, sagte sie kurz.
Der Jäger ahnte, dass sie von einer Toten gesprochen hatte, und schwieg. Doch seine Blicke wollten das bildsaubere Madl buchstäblich verschlingen.
»Was starrst mich so an?«, ärgerte sie sich. Sie musste das Gespräch in Gang halten, damit der heimkehrende Wildschütz durch die Stimmen gewarnt wurde.
»Du gefällst mir wie keine andere«, gab der Jäger zurück.
Wohl oder übel musste sie ihm einen Teller vorsetzen.
Hannes lobte den Schmarrn in den hellsten Tönen.
»Jetzt bist satt. Jetzt solltest gehen.«
»Heut ist Sonntag«, setzte er dagegen.
Johanna zündete die Petroleumlampe an, um Michael zu warnen.
Der Jäger tat noch eine Weile schön bei der jungen Gastgeberin, dann verabschiedete er sich. Er hatte erkannt, dass er dieses Madl, wenn überhaupt, nur mit Behutsamkeit erobern könnte.
Erleichtert trat Johanna auf die Türschwelle und beobachtete den Jäger des Seehofers, bis er im Erlenholz am Eisbach verschwand.
Wie gestern und die Tage zuvor war der Abend voller Leben. Vor allem waren es wieder die Grillen, die nicht müde wurden, ihr Konzert aufzuführen.
Droben am Waldsaum löste sich ein Schatten und näherte sich in einer Bodenmulde der Schratthütte. Der weiße Verband war unter dunklem Stoff verborgen.
Johanna lief dem Mann entgegen. Sie nahm ihn bei der Hand, belauerte mit ihren scharfen Augen die ganze Schoberwiese und zog Michael in die Stube. Hier schloss sie sofort die Fensterläden.
Dann zündete sie eine Kerze an und blies die Lampe aus.
Michael aß schweigend. Er war müde und erschöpft.
Johanna hatte sich in eine dunkle Ecke gesetzt und beobachtete den Mann, der ihr junges Leben völlig durcheinandergewirbelt hatte. Sie freute sich an seiner Nähe. Unvorstellbar, wie sie sich im Alleinsein jetzt um den Tod ihres Großvaters gegrämt hätte!
Michael konnte von ihr nur das schöne Haar sehen, in dem sich das schwache Kerzenlicht spiegelte.
»Wo hast du meinen Stutzen hingetan?«, fragte er leise in die feierliche Stille hinein.
Johanna sprang auf und trat erschrocken an den Tisch heran. »Willst du wieder auf die verbotene Pirsch?«
Er schüttelte den Kopf und haschte nach ihrer Hand. Sie musste sich neben ihn setzen.
»Hanni, ich will net fort«, versicherte er.
»Vielleicht aber doch«, zweifelte sie. »Ich soll dir deinen Stutzen geben, damit du jederzeit heimlich verschwinden kannst.«
Der Klang ihrer Stimme hatte ihm bedeutend mehr verraten als nur Sorge. Mit weicher Stimme bat er: »Bring mir den Stutzen.«
Nach einem stummen Blick in seine Augen entfernte sich Johanna. Als sie wiederkam, legte sie ihm das Gewehr auf den Tisch.
Ängstlich schaute sie zu, wie er Schloss und Hahn prüfte und dann zur Tür ging.
»Hast du draußen jemand gesehen?«, fragte er.
»Es ist ganz dunkel«, antwortete sie. »Michael, was willst du tun?«
»Ich bin sofort wieder hier«, versprach er.
Johanna zitterte. Sie krampfte ihre Hände im Schoß zusammen, als schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel.
Die Nacht hatte den Burschen verschluckt, als Johanna sich endlich vor die Hüttentür wagte. Und nun betete sie wirklich: »Herrgott, lass ihn gescheit werden. Er ist so ein lieber Mensch. Reiß ihm die unselige Leidenschaft aus dem Herzen, bevor’s ihm so ergeht wie meinem Vater!«
Keine zwei Sekunden später zerriss ein Schuss die nächtliche Stille der Bergeinöde.
Johanna rannte zurück in die Stube, suchte sich den dunkelsten Winkel und begann zu weinen.
Minuten später stand Michael wieder in der Stube. Die Waffe fehlte.
»Hanni, was ist passiert?«, sorgte er sich.
Sie wurde still, rührte sich aber nicht vom Fleck.
»Ich hab in die Luft geschossen. Nun ist alle Gefahr vorbei. Jetzt werden sie meinen, ihr Haderlump sei wieder auf der schwarzen Pirsch.«
Als ihn Johanna begriffen hatte, wischte sie ihr Gesicht trocken und lachte. »Warum hast du mir nicht vorher gesagt, was du planst?«
»Vielleicht hättest du mich dann net weggehen lassen, Hanni.«
»Aber freilich doch! Jetzt ist ja auch mir leichter, wenn der Seehofer nach keinem Verwundeten mehr suchen muss. Einmal wäre er uns ja doch auf die Schliche gekommen.«
»Dir wäre gar nix geschehen.«
»Aber dir umso mehr. Du wärst bestimmt ins Gefängnis gekommen.«
Statt zu antworten, versperrte er sorgfältig die Tür und ging zu seiner Kammer. Hier blieb er stehen und suchte noch einmal die Schattengestalt des Mädchens.
»Leg dich schlafen, Hannerl! Träum was Schönes! Und falls jemand anklopfen sollt, sag, du hast den Schuss gehört, aber sonst nix weiter beobachten können bei der Finsternis. Gute Nacht, Schutzengel!«
Das nahm sie diesmal nicht als Spott. Er hatte das Wort so leise und zärtlich ausgesprochen, dass es sie bis in den Schlaf verfolgte. Ach, dürfte sie diesem liebenswerten Burschen nur immer so zur Seite stehen wie jetzt!
*
Im Gemeinderat saß der Purtscheller, ein leidenschaftlicher Jäger von Jugend auf. Er neidete dem Seehofer die herrliche Jagd am Sommereck droben. Doch nie hatte er sie bis heute mit seinen begrenzten Mitteln ersteigern können.
Als der Gemeinderat heute beim Adlerwirt zusammensaß, krachte unter der Widderwand ein Schuss. Das Echo dröhnte über das ganze Tal.
»So!«, triumphierte der Purtscheller und rieb sich die Hände. »Ihr habt allweil gemeint, ich würde dem Seehofer die besten Stückln aus Rachsucht wegschießen. Nun hat’s gekracht, und ich hab ein Bier in den Händen statt einen Stutzen.«
»Heut kann der Seehofer selber geschossen haben«, brummte der Bürgermeister.
»Bei so einer Finsternis? Soll ich dich auslachen? Der Wildschütz ist wieder unterwegs! Und wenn die Jagd net bald in andere Hände kommt …«
»In deine, gell?«
»Ja, warum auch net? In meinen Händen wär die Gemeindejagd besser behütet! Es ist ja net bloß, dass der Lump ab und zu ein Stückl abschießt. Aber er vergrämt ja auch das ganze Gamswild und die Hirschen! Alles wechselt in die Nachbartäler!«
»Der Purtscheller hat recht«, meldeten sich andere.
Der Bürgermeister kratzte sich am Schädel und brummte dann zurückhaltend: »Pech ist, dass der Pachtvertrag noch net ausläuft.«
»Für besondere Fälle gibt es Ausnahmen! Und wird dem Treiben da droben nicht bald ein Ende gesetzt, dann gehe ich selbst unter die Schwarzschützen! Punktum!«
Alle im Gemeinderat wussten: Begann der Purtscheller in Erregung hochdeutsch zu sprechen, dann durfte ihn niemand mehr reizen. Dann glich er einem wandelnden Pulverfass.
Besonnen meinte der Bürgermeister: »Ist unser Wild vergrämt, erzielen wir keinen Preis mehr für die Jagd. Leut, wir müssen wirklich was unternehmen.«
»Rosl, die nächste Runde geht auf meine Rechnung!«, schrie der Purtscheller der Kellnerin zu.
*
Wie ein gereizter Stier stürmte der Seehofer in seine Almhütte auf dem Sommereck. »Auseinander, sag ich!«, brüllte er auf das ins Busserln versunkene Paar ein. »Sofort auseinander! Wer meine Tochter in den Arm nehmen darf, das bestimme noch allweil ich, ihr Vater!«
Da wollte er schauen, ob Renate ihm nicht geschwind etwas Essbares auftischen könnte, und nun lag das leichtfertige Ding in den Armen des neuen Knechts!
Den packte der Seehofer jetzt bei den Schultern. »Alle Knochen bau ich dir aus, wenn du mir net auf der Stelle versprichst, dass du dich hier bei meinem Madl nimmer blicken lassen wirst!«
Er schüttelte Stephan, der sich nicht zu wehren wagte.
Renate hatte ihren Schreck überwunden. Sie warf sich zwischen die beiden Männer und drängte sie auseinander. »In meiner Hütte rauft niemand!«
Das Gesicht des Seehofers war so rot wie die untergehende Sonne. Ein paarmal schnappte er nach Luft, dann packte er die rebellische Tochter beim Handgelenk. »Du bleibst keine Stunde länger heroben! Du gehst mit mir zum Hof hinunter!«
»Vater!«, protestierte sie.
»Los, pack dein Bündel« grimmte er. »Ab morgen wirtschaftet hier die Kathrin. Die versteht eh ein bissel mehr von der Almwirtschaft als du!«
»Aber auch von Liebschaften«, fügte Renate an.
»Was eine Magd privat treibt, soll mich net stören. Aber du kommst mit!«
»Bauer«, begann Stephan und rieb seine großen braunen Hände. Er hätte dem Madl so gern geholfen. Aber er wollte vor allem die Arbeit auf dem Seehof behalten.
»Du schweigst still!«, herrschte der Dienstherr ihn an. »Mich sollt’s net wundern, wenn du der Zündler bist, der sich da in der Gegend an die reichen Hoftöchter anschleicht.«
»Vater, das war gemein«, empörte sich Renate. Sie warf dem Vater ihr Kleiderbündel vor die Füße und legte die Hände vors Gesicht.
»Ich mag nimmer mitmachen«, heulte sie los. »Bisher hast es bloß mit dem Michael so getrieben! Jetzt fängst du auch bei mir damit an! Ich bin aber nicht so duldsam wie mein Bruder.«
Der Seehofer japste wie ein Fisch auf dem Trockenen. Düster schaute er auf die Schluchzende. »Dummes Ding, dummes! Weißt du so genau, ob der dort deine ehrliche Fürsprache wert ist? Wenn er nun doch der gesuchte Lump ist? Eins steht fest: Ein rechtschaffener Knecht spekuliert net auf die Hoftochter!«
»Vater, damit du dich gleich auskennst: Wir haben uns gern und wollen so schnell wie möglich heiraten!«
»Heiraten! Wo ihr beiden euch noch gar net kennt! Sauber, sag ich, blitzsauber! Dann kannst ihn ja heut gleich prüfen. Er darf dich haben, wenn du so dumm bist und dich ihm an den Hals werfen willst. Aber er muss dich so nehmen, wie du hier stehst, ohne alles! Dann könnt ihr wandern alsKnecht und Magd und schauen, was eure Lieb wert ist.«
Renate wollte gleich losrennen, schaute dann aber doch erst einmal Rat suchend auf ihren Schatz.
Stephan stand wie ein Hackstock, reglos und stumm. Nicht weil er die Hoftochter nicht auch ohne Brautgut haben wollte, sondern weil Renate vor ihrem Vater vom Heiraten geredet hatte.
»Schatzl, magst du mich wirklich so sehr, dass du mich heiraten könntest?«, entfuhr es ihm strahlend.
»Ja mei, warum denn net?«, freute sich Renate am Glück des Burschen. »Wir wollen ja keine ewige Liebschaft ohne Trauring.«
»Nein, das wollen wir net.«
Sie hatten nur Augen für sich. Als auch ihre Hände nacheinander tasten wollten, griff der Seehofer wutschnaubend nach der brennenden Petroleumlampe.
»Auseinander! Licht aus und die Hütte abgesperrt! Wir marschieren jetzt alle drei zum Hof hinunter!«
Renate bückte sich soeben nach dem Kleiderbündel, als unter der Widderwand drüben Michaels Schuss krachte.
Nun standen sie alle starr. Am starrsten der Seehofer. Die Waffe, diesen kurzen, bellenden Knall, dem erst das nachrollende Echo den richtigen Klang verlieh, kannte er nämlich. Das war der Stutzen des gesuchten Wilderers!
»Sollt der Haderlump schon wieder auf den Beinen sein?«
Das junge Paar trat ins Freie. Renate legte dem Burschen die Arme auf die Schultern. Stephan hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihren lockenden Mund zu küssen.
»Das war Rettung aus höchster Not«, flüsterte sie. »Er hätte uns wirklich fortgejagt!«
»Und jetzt?«, fragte er kleinlaut. »Was soll nun werden?«
»Sein Schwarzschütz geht ihm über alles.«
Sie hörten, wie die hastenden Schritte des Seehofbauern langsam erstarben.
»Soll ich ihm nicht helfen?«, fragte Stephan unsicher.
»Was könntest du ihm denn bei der Finsternis helfen? Mich wundert’s eh, dass der Wildschütz bei seinem Schuss noch was gesehen hat.«
»Vielleicht soll dein Vater von dem Lumpen in eine Falle gelockt werden?«
»Sag mir lieber, ob du mir bös bist, weil ich so offen mit dem Vater geredet hab.«
»Überhaupt net«, versicherte er.
»Er versteht keine andere Sprache. Das hab ich meiner Mutter abgeschaut. Nur bin ich net ganz so geduldig wie sie und mein Bruder.«
Stephan drückte sie an sich. »Mit dem Heiraten, das war auch für mich ein Wink mit dem Zaunpfahl, gell?«
»Auf jeden Fall wirst du dich jetzt entscheiden müssen.«
»Das ist schon geschehen, Schatzl. Und du hast mich zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht.« Und dann in ganz anderem Ton: »Der Seehofer ist ein mächtiger Mann im Tal. Er wird unser Zusammenfinden zu verhindern wissen.«
»Hab Geduld mit ihm, Stephan.«
»Und der Jäger? Wirst du vor ihm deine Ruhe haben?«
»Du weißt ja, dass ich mich zur Wehr setzen kann.« Sie nahm sein Gesicht in die Hände und suchte seinen Blick. »Nimm das alles net so schwer.« Sie gab ihm ein Busserl. »Geh jetzt heim, und mach morgen deine Arbeit, als wäre nix geschehen. Nur wenn der Vater von sich aus wieder anfängt, kommst zu mir herauf. Dann beraten wir, wie es weitergehen soll.«
*
Ein grauer Morgen dämmerte über der östlichen Bergkette herauf. Müde stiefelte der Seehofer durch den Erlengrund am Eisbach. Die Suche nach dem Wilderer hatte keinen Erfolg gebracht.
Als er bei der halb verfallenen Krötenmühle vorbeikam, war die alte Kräuterfrau schon auf. Den großen Weidenkorb auf dem Rücken, wollte sie sich gerade auf den Weg zu ihren Kräutergärten im Höllkar machen.
Der Seehofer hielt sie auf. »Ich hab vergessen, meinen Jäger nach dem zu fragen, was du ihm gestern über den Schwarzschützen erzählt hast.«
»Ich hab deinen Jäger nie gesehen. Gestern net und auch früher net.«
»Dann frag ich dich jetzt: War der Wildschütz mit seiner Verwundung bei dir in der Krötenmühle?« Sein Blick bohrte sich dabei in ihre wasserhellen Augen. »Red! Nur die reine Wahrheit will ich hören!«
»Der Wildschütz? Was soll der bei mir armem Weibl gesucht haben?«
»Eine Kugel steckt ihm in der Brust. Vielleicht hast du sie ihm herausschneiden sollen?«
»Also bei mir war kein Wildschütz mit einer Kugel in der Brust. Warum fragst du keinen Doktor?«
»Der hätt’s der Gendarmerie melden müssen. Das ist bis heut net geschehen.« Er wurde unsicher unter dem Blick der alten Frau. »Das soll keine Anschuldigung gegen dich gewesen sein, Wally.« Er lockte sie wieder mit einem Geldschein. »Du weißt, wo ich zu finden bin, falls dir in der Sache noch was bekannt werden sollt.«
»Glaubst du, dass Wilddieb und Zündler eine Person sind?«, fragte die Alte.
»Nein«, erwiderte der Seehofer zu ihrer größten Verblüffung. »Das glaub ich ab gestern Abend nimmer.« Und als er ihre verwunderten Augen sah: »Gestern auf d’ Nacht hat’s nämlich gekracht, wo ich mich mit dem Feuerleger herumgestritten hab.«
»Spaß beiseite!«, argwöhnte die Krötenwally.
»Da gibt’s keinen Spaß!« Plötzlich erbleichte er. »Der Haderlump! Ich hab ihn bei meinem Madl auf der Alm vergessen! Und das dumme Madl ist ganz vernarrt in den Verbrecher!«
»Hast ihm wenigstens das Gewehr weggenommen?«, kicherte die Alte schadenfroh.
»Hat er eins?«, erstarrte der Bauer.
»Immer wenn er mir begegnet, hat er ein richtiges Jagdgewehr umhängen«, behauptete die Wally. »Damit marschiert er hier so frech im Wald herum, als hätt er nie was angestellt.«
»Dann meinst du wohl doch den Wildschützen«, brummelte der Seehofer benommen. »Vielleicht ist der Stephan doch bloß ein ganz gewöhnlicher Knecht.« Das klang eher enttäuscht als erleichtert. In diesem Fall könnte er gegen den Verehrer seiner Tochter wenig unternehmen.
Daheim erwartete ihn eine Überraschung. Der Großknecht Blasius händigte ihm einen ziemlich zerknitterten Brief aus. »Den hab ich heut in aller Früh vor der Haustür gefunden.«
»Sieht amtlich aus. Aber warum ist er dann so zerknüllt?«
»In meiner Hosentasche ist das net passiert. Den Brief hab ich so gefunden.«
»Vielleicht hat der Bote einen Zorn gehabt, dass ihn der Gemeinderat noch bei Nacht da heraufschickt. Gestern Abend sind sie nämlich wieder beim Adler zusammengehockt, die Neidhammeln, die missgünstigen. Sie wollen dem Purtscheller die Jagd zuschanzen.«
Der Seehofer öffnete den Brief erst in seiner Stube. Was darin stand, war schlimmer als befürchtet. Die Jagd sollte ihm aus mehreren vom Bürgermeister klar umrissenen Punkten weggenommen und einem anderen Pächter übergeben werden.
»Dem Purtscheller!«, knirschte der Seehofbauer. Er wollte den Brief verbrennen! Da fiel ihm etwas ein. Er machte sich auf die Suche nach seinem Großknecht.
»Blasi, du wirst bezeugen, dass du den Brief so zerknüllt gefunden hast. Wo ist er genau gelegen?«
»Zwischen Haustür und Hofbrunnen.«
»Auf dem Boden?«
»Mitten im Dreck.«
»Sauber!«, triumphierte der Seehofer. »Das beweist, dass der Gemeinderat mit Bürgermeister in besoffenem Zustand einen Beschluss gefasst und dann noch bei Nacht einen betrunkenen Boten zu uns heraufgeschickt hat!«
Blasius schaute nur verständnislos.
»Verstehst nix?«, eiferte der Bauer.
Der Knecht schüttelte den Kopf.
»Ist auch jetzt noch net wichtig«, brummelte der Seehofer nachsichtig. »Wir bringen die Sache im Notfall vor Gericht. Dort brauchst nachher nur dasselbe zu erklären, was du mir heut über das Auffinden des Briefes gesagt hast.«
»Vor Gericht?«, dehnte Blasius. Plötzlich straffte sich seine Gestalt. Er wuchs buchstäblich um eine halbe Kopfhöhe empor. »Bauer, da möcht auch ich gleich einmal was Wichtiges mit dir bereden. Du weißt ja, wie vernarrt mein Madl, die Kathrin, in deinen Buben, den Michael, ist.«
»Ich hab dir schon gesagt, dass der Michael bei einer Heirat aufs Geld schauen muss.«
»Warum eigentlich? Er erbt ja schon jetzt den größten Hof im Tal. Schau, Seehofer, ich bin nur dem Madl zuliebe auf deinem Hof geblieben. Ich hätt längst Gutsverwalter sein können oder noch was Höheres. Und wenn du das zusammenrechnest, was ich und das Madl in den vielen Jahren zusammengespart haben – ich glaub net, dass eine Hoftochter als Brautgut nur die Hälfte davon mitbrächte.«