Jung und Unsichtbar - Federico Avino - E-Book

Jung und Unsichtbar E-Book

Federico Avino

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Beschreibung

Chris ist 13 und lebt schon jetzt mit dem Gefühl, keine Zukunft zu haben. Eine zerrüttete Familie, ein Leben am Existenzminimum und die Perspektivlosigkeit in der berüchtigten Hugo-Luther-Straße haben sein Aufwachsen geprägt. Doch Chris ist schlau und erhält so die Chance, auf das örtliche Gymnasium zu gehen. Begleitet vom Mobbing durch seine Mitschüler*innen und Lehrer*innen, erkämpft er sich seinen Platz, bis plötzlich ein einziger Tag alles verändert. Mit 13 wird Chris erwachsen: Aus einer kindlichen Idee wird eine Kette aus Ereignissen, die sein Leben für immer prägen wird. Immer an seiner Seite steht dabei sein behinderter Freund Ro. Zwischen Coming of Age und Spannung treffen in Federico Avinos autobiografisch inspiriertem Debütroman Jung und unsichtbar kindliche Naivität und knallharte Realität aufeinander.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Prolog

Ich saß aus einem ganz besonderen Grund im Auto. Morgens. Mit Ronnie und Hagen, der sich die Haare an den Seiten völlig abrasiert hatte und die ganze Zeit von dem Film ”Die Klasse von 1984“ quatschte. Er selbst war ja in der Siebten von der Schule geflogen, weil einer der Lehrer sich über Elvis lustig gemacht hatte. Da konnte Hagen echt keinen Spaß verstehen. „Wenn in dut, nuck hem ut“ hat er früher immer gesagt, aber nie gewusst, was das heißen sollte. Das war, noch bevor alle in der Hugo-Luther immer an jeden Satz „zum Sterben“ drangesetzt haben. Zum Sterben schön. Zum Sterben langweilig. Zum Sterben scheiße, wisst ihr? Zum Sterben halt. Davor hatte Hagen an jeden Satz immer „wenn in dut, nuck hem ut“ gehängt. Nur er. Sonst keiner. Weil keiner wusste, was das überhaupt bedeuten sollte. Er auch nicht. Im Käfig haben wir Jüngeren statt „Das ist gut“ immer „Ich krieg ´nen Steifen“ gesagt. Auch die Mädchen, was ja nicht so einen Sinn machte. Hagen sagte dagegen immer. „Hey, ich geh zum Kiosk, wenn in dut, nuck hem ut“ oder „Hat jemand von euch Pennern Zigaretten, wenn in dut nuck, hem ut.“ Und manchmal hat er dann auch irgendwem eine Ohrfeige oder ´nen Nackenklatscher gegeben. Warum? Na, weil er aggressiv war. Aggressiv bedeutete, dass er jedem, den er sah, eine reinhauen wollte oder sich überlegte, ob er das schaffen könnte. Das war aggressiv.

Eines Tages im Käfig, beim Ball aus der Luft, hat er wieder gesagt, „So den Volley, wenn in dut…“ und ich dann „Knock them out. When in doubt, knock them out“. Genau so hab ich es ihm gesagt und er hat den Ball versemmelt, weil er mich angeglotzt und gemeint hat: „Genauso wie du sagt der das in dem Film auch.“ Hagen dachte sicher, ich würde nur so tun, als ob ich gut in der Schule wäre. Dann musste ich ihm aber auch noch alle anderen AC/DC Titel übersetzen.

„Und was heißt, Dürti diits don dürt tschieep?“ Das war sein Lieblingslied und ich musste deshalb auch ein wenig vorsichtig sein. „Dirty deeds done dirt cheap? Das heißt ‚Filme billig drehen‘.“ Er sah zuerst mich an und dann die anderen und die haben nur gegrinst und gedacht, er würde mir endlich eine pfeffern, aber er hat mir eine Zigarette gegeben und später durfte ich sogar aus seiner Cola trinken. Am Ende meinte er nur so zu den Schiller-Zwillingen. „Der Typ kann Englisch“. Schön, dass du es auch langsam merkst, hab ich gedacht, aber gesagt hab ich „Zum Sterben“. Weiß auch nicht mehr, warum. Fiel mir halt so ein. Hagen hatte gelacht und danach hat mich keiner mehr blöde angesehen, aber alle haben, von da an, an jeden Satz „zum Sterben“ drangehängt und genau aus dem Grund saß auch mit denen im Auto.

When the night has come

And the land is dark

And the moon is the only light we ´ll see.

Ben E. King

Let us die young or let us live forever

We don’t have the power, but we never say never:

Alphaville

1

Als ich an dem Morgen die Augen aufschlug, dachte ich zuerst, dass ich zum Sterben gerne so ein Typ wie Sylvester Stallone wäre und dass ich einen Walkman haben musste. Wenn ihr es wissen wollt: Sylvester Stallone war in meinen Augen ein richtig harter Hund und hatte in Rambo gegen die ganze Polizei gekämpft. Das hatte er aber nur getan, weil sie auf ihm rumgehackt hatten und ihn fertigmachen wollten. Dabei wollte er doch nur aus der Stadt raus. So wie ich unbedingt aus der Hugo-Luther rauswollte.

Nicht, dass ich Rambo gesehen hätte, nee, ich war doch viel zu jung. Noch nicht mal 14 und fürs Kino hatte ich erst recht kein Geld, dafür aber ein blaues Auge von meiner neuen Schule, aber ich wusste eben auch, dass ich da nicht bleiben konnte. Es ging nicht. Wir waren einfach zu verschieden. Die Straße und ich. Seit ich denken konnte, wollte ich da raus. Seit dem Schwedenheim, nein, eher seitdem ich lesen konnte. Natürlich dachte ich nicht den ganzen Tag daran, wie ich das genau anstellen konnte. Das wäre auch zu blöde gewesen. Ich dachte auch an andere Sachen. An Schimpfwörter, Gewalt und auch an Quatsch und Nebensächlichkeiten und an dem Tag wollte ich eben wie Rambo sein. Nur war ich ja eher klein und leider ziemlich schmächtig, aber ich war auch ein ganz guter Sportler. Ich will ja nicht angeben, aber das war ich wirklich und einen Walkman brauchte ich auch.

Der Walkman musste aber kein Sony sein. Hauptsache, ich bräuchte nicht mehr das Gequatsche und Gelaber in meiner neuen Kackschule mitbekommen, dachte ich bei mir, während ich langsam wach wurde, meine Decke betrachtete und dann aufstand, um zum Fenster zu gehen. Nicht, dass es da draußen wer weiß was für schöne Dinge zu sehen gab, ganz im Gegenteil, aber ich kam immer gut in die Gänge, wenn ich eine Zeit lang auf die Autobahn gegenüber schaute und mir überlegte, wohin die ganzen Laster wohl fuhren.

Von dort aus ging’s nämlich einerseits Richtung Westen und das klang gut. Nach Frankreich an die Küste. Le Havre, Rouen oder auch nach Holland, Amsterdam, Rotterdam und dann immer weiter über die Atlantikroute nach Amerika. Runter bis nach Brasilien, Argentinien oder Patagonien, weit weg von uns. Oder nach Osten. Das war auch nicht schlecht. Vielleicht sogar noch besser. Berlin und weiter, Richtung Prag, Budapest, Athen oder auch nach Moskau, dachte ich und mir fielen automatisch Bilder ein. Von tollen Ländern und lebendigen Städten, wo die Menschen einfach glücklich waren und gut lebten. Bei dem Gedanken bekam ich aber gleich schlechte Laune. Als ich nämlich da stand, fiel mein Blick als Nächstes auf die wunderschönen Wasserflecken an meiner Wand.

Die kamen daher, dass der Trinker über uns irgendwann weg war. Während er das Wasser laufen ließ und weil das keiner gemerkt hatte, lief das eben eine Woche oder zwei, vielleicht aber auch richtig lange. Das Wasser sprang dabei über seine volle Spüle, pladderte auf den Boden, wurde höher, suchte sich Löcher und irgendwann sickerte es endlich in den Boden rein. Dann zu uns runter und weiter. So dachte ich mir das jedenfalls. Wenn ihr das jetzt nicht checkt, fragt bitte euren Klempner, der erklärt euch das besser. Deshalb war unsere Wohnung auch feucht und schimmelte an der Wand. Nicht nur bei mir, sondern überall, aber der Vermieter unternahm nichts, weil sich das bei uns nicht lohnen würde, meinte er mal. Aber egal, der Mieter über uns war eh einer vom Alki und Irren Kiosk gewesen und hatte ständig aus dem Fenster „Ruhe“ gerufen. Ruhe? Bei einer vierspurigen Autobahn gegenüber? Na danke, da konnte jeder gleich mal sehen, was für einen Humor die bei uns hatten. Manchmal dachte ich, der hatte das bei seinem Humor bestimmt extra gemacht. Also mit Wasser zu sterben. Wer machte denn sowas außer einem Komiker vom Kiosk? Na, der über uns war jedenfalls gestorben, aber damit hatte ich noch lange nichts zu hören und schon gar keinen Walkman.

Ich hätte ja fast alles gehört, am liebsten aber „Let there be Rock“ von AC/DC. Hauptsache kein Chris Norman. Ihr fragt euch jetzt bestimmt, warum ich so ein Japp nach Ruhe und so einen Hass auf Chris Norman und meine Schule hatte? Okay, vielleicht erklär´s euch später, wenn ich Lust hab, aber als Erstes: Könnt ihr euch vorstellen, in einem Zimmer zu leben, in dem man nur zwei, drei Schritte bis zur Wand hatte und an der Seite auch nur zwei? Bei dem die Wände dünn wie Pappe waren? Bei dem man jeden Schritt hörte? Deshalb machte ich meine Hausarbeiten am liebsten in der Bücherei und auch weil Rene immer bei uns rumlief. Rene? Ja, Rene. Der Bruder von meinem Vater. Der wohnte doch quasi bei uns, er war nämlich mit meiner Mutter zusammen. Hauptberuflich will ich das mal nennen, weil er sonst nie arbeitete.

Meine Mutter arbeitete manchmal als Aushilfe in der Papierfabrik um die Ecke. Meistens saß sie aber nur unten im Hof und machte irgendwas vor sich hin. Keine Ahnung was, fragt nicht, die saß dann halt da. Ja, den ganzen Tag. Ich hab sie mal gefragt, warum sie da sitzen würde und sie meinte nur, dass das wegen mir sei. Weil ich doch so einen Riesenschädel hätte. Wer sollte das denn verstehen? Ich hatte doch einen ganz normalen Kopf. Vielleicht dachte sie mal lieber drüber nach, warum sie ausgerechnet mit Rene zusammen war? Aber was gab es da nachzudenken? Rene war genauso blank wie wir und trampelte immer durch unsere Wohnung. Dazu rauchte er Kette, und wenn er kein Geld mehr hatte, um zu paffen, ging er zu sich in den Keller, schloss sich ein und baute an seinen Modellkutschen rum. Sagenhaft erfolgreich. Wenn er von denen wirklich eine auf dem Flohmarkt verkauft hatte, ging’s ab in die Spielothek ums Eck oder zum Kiosk gegenüber. Da wo der tote Komiker herkam. Sonst machte er nichts. Da rumhängen, paffen und oben Sprüche labern, und das konnte er echt zum Sterben gut. Darin war Rene der inoffizielle Weltmeister. Auch wenn die anderen beim Alki und Irren Kiosk darin auch nicht übel waren. Wenn er aber damit anfing, dauerte es ewig, bis er wieder aufhörte, und ständig kam da nur Müll raus. Richtiger Rene-Schwachsinn, den keiner lange ertragen konnte. Am besten kannte er sich übrigens in seinem Fachgebiet Politik aus, obwohl er noch nicht mal richtig lesen konnte und lange dachte, Helmut Schmidt sei bei der FDP. Dem musste ich das erst mal erklären, aber hat er es geglaubt? Nein. Natürlich nicht. Warum auch? Ging doch auch ohne. Ich weiß bis heut nicht, was meine Mutter an dem fand, aber so war das wohl mit der Liebe.

Was Gutes hatte es aber doch, dass Rene immer bei uns rumhing. Als ich ihn mir ansah, lernte ich noch dreimal mehr, um bei uns rauszukommen. Richtig abschreckend war der für mich. Nur bei uns kam man nicht schnell raus, das war das Problem. Sie kamen in der Regel alle wieder. Meist betrunken. Vom Arbeitsamt. Von der Klippschule. Aus dem Gefängnis. Der Entgiftung. Nur der tote Komiker blieb verschwunden. Gut, ich wollte ja gern weg, aber das war mir dann für den Anfang doch zu heftig.

Ich horchte an meiner Tür. Am Morgen war es aber zum Glück ruhig in unserer Wohnung. Ich bin vorsichtig auf unseren Miniflur raus und war super gut darin, leise da rumzulaufen. Warum? Na ihr seid gut, dann musste ich nicht immer für meine Mutter und Rene zum Kiosk laufen, darum. Die beiden rauchten und tankten nämlich ganz gut was weg, brüllten dann auch wer weiß nicht wie rum, hatten aber nie Lust, selbst runterzugehen, wenn sie mal „saßen“. Um nicht ständig geschickt zu werden, wusste ich schon früh richtig gut, wo es überall auf dem Flur quietschte und da ich zufälligerweise ein gutes Gedächtnis hatte, war der Flur wie ’ne Landkarte für mich. Nur dass immer was Neues irgendwo rumlag. Also war ich ganz gut darin geworden, den Flur ständig aufzuräumen.

Egal, ich musste also unbedingt einen Walkman haben, aber das Kaufhaus hatte die eben unter Verschluss und da konntest du machen, was du wolltest – du hast die nicht aufbekommen. Das meinten auf jeden Fall einige der Jungs, die echt gut klauen konnten. Es gab einige bei uns, die gut klauen konnten, und es gab auch welche, die gut zuschlagen konnten, und dann auch welche, die echt gut klauen und echt gut zuschlagen konnten. Ich war ja wie erwähnt ganz gut im Sport, aber natürlich lang nicht echt gut. Echt gut im Zuschlagen war ich leider auch nicht. Ich schätze, ich war nur echt gut in der Schule und genau deshalb brauchte ich auch unbedingt den Walkman. Er lag da unten in der Karstadt Vitrine wie ich auf meinem alten Schlafsofa. Oben funkelten die Dinger mit den Marken drauf. Die riefen „Chris, komm kauf mich, gib alles aus, mach dich arm“, aber ich hatte eh nichts und je weiter du nach unten rutschtest, umso billiger und blasser wurden die. Mir hat das aber nichts ausgemacht. Ich wollte den unten haben, der passte zu mir. Er war grau matt silbern und hatte einen roten Zickzack Streifen an der Seite und wenn man ihn öffnete, lief er weiter. Mann, wenn ich nur daran dachte, konnte ich schon fast Musik hören. Ich wünschte mir einen Walkman mehr als neue Schuhe und auch mehr als ein richtiges Fahrrad. Dann hätte ich nicht immer hören müssen, wie sie mir auf meiner neuen Schule in hundert Versionen „Assi“ hinterherriefen.

Ich wusste natürlich, dass ich einer war. Mann, ich war ja nicht voll behämmert und wie alle bei uns ein wenig stolz darauf, aber dass sie das ständig hinter mir herriefen, hat schon genervt.

Leise ging ich weiter zur Küche. Dort oben in einem der oberen Schränke parkte meine Mutter für gewöhnlich ihr „Maria- und Küchengeld“ in einer Box. Die eine Hälfte ging für Alkohol drauf, der Rest für Kippen. Ich zitterte ein wenig, weil ich mich auf den Stuhl stellen musste, um an den Schrank zu kommen, und wenn meine Mutter in dem Moment reingekommen wäre, hätte sie mit Sicherheit den Braten gerochen. Alleine durfte ich überhaupt nicht an die Kiste. Was hätte ich ihr da sagen sollen? Ich wollte mir nur schnell noch ´ne Instantsuppe zum Frühstück machen? Oder dass ich den alten Puderzucker aus´m letzten Jahr suchen würde, um Zuckerguss für den Geburtstagskuchen zu machen? Oder die Wahrheit?

Eine Tür knarrte und ich blieb mitten in der Bewegung stehen. Ich hörte, ob sich bei ihr was tat, aber da war nichts. Ich öffnete die Kiste und da lagen zwei Zwanziger, ein Fünfziger und noch drei Fünf-Mark-Stücke. Ich nahm die beiden Zwanziger und schloss die Box. Vielleicht dachte sie ja später, sie hätte das Geld schon ausgegeben. Andererseits wusste ich, dass sie für mich Kindergeld bekam. Da blieb ihr immer noch ein guter Rest, fand ich. „Was machst´n da?”, hörte ich auf einmal eine Stimme. Ich fuhr rum und sah Rene an der Tür lehnen. Er starrte mich glasig an. Er war voll und ich fragte mich, wie er nur so ein gutes Timing haben konnte? Nicht umsonst war er genau in dem Moment vor sechs, sieben Monaten bei uns aufgeschlagen, als meine Mutter gut drauf und Geld von einem Auftritt im Bierzelt hatte. Das hat er sich natürlich sofort gekrallt. Das Geld und die gute Laune meiner Mutter. Das nannte ich Timing, doch woher er das hatte, wusste ich nicht. Ich hatte nämlich offensichtlich keins. Ich stand da wie ´ne Ölgötze und überlegte in dem Moment, was ich antworten konnte, aber mir fiel nichts Kluges ein. Erst mal musste ich rausfinden, wie blau er war, und nach zwei Sekunden, als seine Wolke ankam, merkte ich, dass er hinüber war. Obwohl der Heini nicht betrunken wirkte. Aber das konnte ja Jever sagen. Das war echt ganz schön erstaunlich, fand ich. Der konnte von Anfang an echt einiges vertragen, deshalb war bald das ganze Geld und dann auch die gute Laune meiner Mutter weg gewesen. Nur Rene war geblieben.

„Was machst´n da?“, wiederholte er sich und ich antwortete automatisch. „Das geht dich doch gar nichts an, oder?“ „Hä?“ „Ich mach mir ´ne Suppe.“ Als ich sein Gesicht sah, fügte ich vorsichtshalber noch „Zum Frühstück. Wegen der Schule.“ dazu. Er nickte langsam, als wäre das nur verständlich, so eine Suppe vor der Schule, und meinte dann noch, „Kannst mir auch eine machen“. Ich schluckte. „Ja. Mit Würstchen.“ Mein Blick wanderte in den Schrank, aber da war natürlich kein Würstchen weit und breit zu sehen, dafür aber die Kassette, die ich langsam weiter reinschob. „Klar, kann ich machen. Legst dich hin und ich bring sie dir dann?“ Er nickte, blieb aber stehen und stierte in meine Richtung, und weil er dabei lange den Mund aufließ, kam gleich die zweite Welle bei mir an. Mann, ich konnte heilfroh sein, wenn ich einigermaßen nüchtern aus der Küche in die Schule kam. Nur Rene ging nicht weg. Er blieb einfach da weiter in der Tür hängen, als hätte der Sack ´nen Auftrag. ´Nen Würstchenauftrag oder was Ähnliches.

„Ich hab …was verkauft“, meinte er plötzlich stolz, ohne dass er lallte. Er hatte beim Trinken eine Konstitution wie ein Ross, meinte meine Mutter mal, und das hieß dann für gewöhnlich, dass ich wieder weniger Geld für unseren Einkauf hatte. Rene blieb also stehen und ich fragte ihn aus und was stellte sich da super Erstaunliches heraus? Er war am Kiosk versackt und hatte allen, die vorbeikamen einen ausgegeben. Was für eine Überraschung! Schön, dass er allen, die noch stehen konnten, einen Jägi in die Hand drückte, aber wenn er kein Geld mehr hatte, bei uns aufschlug und ich ihn bekochen konnte. Offen gesagt war es mir zum Sterben egal, ob er was verkauft hatte. Interessanter wäre es gewesen, wenn er sich auf dem Weg den Fuß gebrochen hätte, ehrlich! „Was ist jetzt mit der Suppe?“, meinte er drängelnder. Ich sah ihn an. „Ja, reg dich ab. Bin dabei. Muss nur noch die Gewürze finden.“ Ich sah, wie es in ihm arbeitete. Gewürze? Als ob wir wer weiß was für verdammte Gewürze gehabt hätten. Indischen Salbeipfeffer, was? „Gewürze sind immer gut, ich mag …“, er schluckte schwer, „Gewürze“. Dann sagte er nichts mehr und ich fühlte mich oben auf dem Stuhl mit einem Mal tierisch unwohl.

„Was ist nun, du Superhirn?“, fragt er nach einer Weile wieder. „Womit?“ „Na, mit der Suppe, Junge. Bist du behindert?“ Ich schüttelte den Kopf und blickte zum Herd, auf dem ja kein Topf stand und noch nicht mal warmes Wasser. „Nee. Wie gesagt, ich bin hart dabei, da!“ Ich zeigte auf den leeren Herd. „Ich bring sie dir in zwei Minuten. Leg dich ruhig hin, Onkel Rene, okay?“ Er blickte mich misstrauisch an und ich spürte, dass er da zu einem Punkt kam, der ihm sagte, dass das einfach nicht sein konnte. Weder Suppe, Gewürze noch Würstchen waren irgendwo zu sehen, aber er kam eben nicht ganz genau dahin, wohin die harte Logik ihn hätte bringen müssen. Ich freute mich diebisch. Dafür war er doch zu betrunken, Konstitution hin oder her. Das hätten er und seine Kumpels vom Kiosk sicher nicht mal nüchtern verstanden. Er schluckte noch mal und dann, ohne zu schwanken, stapfte er ins Schlafzimmer und ich hörte ihn da noch zwei, drei Minuten hin und her schnaufen und irgendwas murmeln, meine Mutter anraunzen und dann war Ruhe. Ich stieg vom Stuhl und schnaufte. Wenigstens einmal hatte mir seine Dummheit geholfen.

Ich sah dann noch schnell ins Schlafzimmer. Meine Mutter schlief noch und irgendwie mochte ich das gern. Sie sah friedlich aus und glücklich, was sie am Tag nie richtig war. Sie probierte es zwar immer wieder, aber das Lächeln, das sie im Schlaf hatte, hab ich bei ihr am Tag nie gesehen. Vielleicht schlief sie deshalb immer lange? Nur warum Rene dann lange schlief, hab ich nie kapiert, weil der doch auch im Schlaf immer schlechte Laune hatte. Den hättet ihr hören sollen. Selbst im Schlaf quasselte der halb sinnloses Zeug vor sich hin, richtig unheimlich. Außerdem war der noch beim Schlafen urstfaul. Der legte sich einfach hin und schlief ein. Ich wusste nicht, wie das überhaupt gehen sollte, aber kaum lag der, schlief er. Ging’s noch?

Meine Mutter brauchte immer endlos, um schlafen zu können, mindestens eine Flasche Maria und gefühlte tausend Zigaretten.

Im Flur suchte ich schnell meine Schulsachen zusammen. Ich fand ein graues T-Shirt, von dem ich nicht wusste, wem es gehörte, und roch dran. Das war zwar nicht mein Geruch, aber okay. Darüber zog ich die Jeansweste, mit dem gelben Blitz drauf, die meiner Mutter gehörte, aber zum Sterben aussah. Ich sah prüfend in den Spiegel. Damit wirkte ich nicht wie ein kleiner Junge und wenn ich die Haare weiter nicht wusch, fielen die auch nicht so bescheuert seidig. Das konnte ich überhaupt nicht leiden. Meine Haare mussten lang und fettig sein. Lang wie bei Bon Scott und fettig – wie bei Ronnie. Dann spannte ich meine Muskeln an, aber man musste ehrlich sein. Da waren keine zu sehen.

Vielleicht fragt ihr euch jetzt, warum ich mir nicht noch gleich ein paar Cornflakes gemacht oder warum ich nicht in den Kühlschrank geguckt habe, von wegen Frühstück? Na erstens, weil ich morgens nichts mehr zum Frühstück aß, sondern mir unterwegs ein Brötchen besorgte, und zweitens hatten wir keinen Kühlschrank. Wozu auch? Dafür hatten wir einen tragbaren Superherd, mit zwei angerosteten Platten und jede Menge schartiger Stellen und ich musste sagen: Lieber einen deutschen Spitzenherd aus zweiter Hand als einen Kühlschrank. Oder habt ihr euch schon mal Spaghetti im Kühlschrank aufgewärmt oder Spiegeleier da gebraten?

Ich schlich wieder in mein Zimmer und hörte meine Mutter irgendwann draußen herumturnen und wie irre husten. Ich knickte mir die Scheine klein und versprach mir, als ich Gewissensbisse bekam, dass ich es ihr wiedergeben würde. Ehrenwort. Nur wann genau wusste ich natürlich noch nicht. Wahrscheinlich, nachdem ich die Schule beendet hatte, weg war und einen richtigen Job haben würde. Einen Richtigen, nicht wie die bei uns. Dann presste ich meine Schultüte an den Körper und ging mit einem kurzen Tschüss aus dem Haus. Sie musste ja nicht noch mein Gesicht sehen. Ich bildete mir nämlich ein, dass meine Mutter es checken würde, wenn ich Mist gebaut hatte, und dass ich Mist gebaut hatte, wusste ich natürlich. Ich war nicht blöde. Aber was konnte ich tun? Warten? Mit ’nem blauen Auge? Ich brauchte den Walkman sofort und nach dem Unterricht würde ich in die Stadt fahren, mir einen holen und eines Tages würde ich auch sicher hier rauskommen.

Man musste nur am Ball bleiben, sehr hartnäckig darum kämpfen, den Nackenklatschern entgehen, dann würde es gehen. Nicht wie die anderen Idioten auf der Hugo-Luther, mit Gewalt und Dummheit, mit viel Alkohol, Rumschreien oder Heulen – nein, man musste hartnäckig sein, zäh, aber auch fleißig und manchmal, ja manchmal musste ich weniger schöne Dinge tun … wie meine Mutter zu bestehlen, was wirklich das Mieseste war. Schlimmer ging’s nicht. Ohne das würde es aber nicht gehen. Ich hatte schon eine Art halben Plan, der zwar lang und nervig war, mit dem man es aber schaffen konnte. Man durfte nur keinen verfickten Fehler machen. Verdammte Scheiße, eigentlich durfte ich nicht mehr irre viel fluchen, und Schimpfwörter benutzen wollte ich eigentlich auch nicht mehr. Das gehörte zu dem Plan dazu. Aber was konnte ich machen? Ich liebte Schimpfwörter und kannte eine Menge. Je fieser, desto besser, dachte ich mir, als ich die Treppe hinuntersprang und auf die Straße trat.

2

Ich weiß nicht, wie es euch mit der Gegend, in der ihr lebt, so geht, aber immer, wenn ich bei uns runterkam, fand ich unsere Straße zum Sterben. Wenn man nach links guckte, war da die eine Autobahn zu sehen. Oben an der Schräge standest du gleich bei den Autos. Es dröhnte die ganze Nacht, weil da der Verkehr direkt vorbeidonnerte. In den Häusern wohnten meistens die Alkis und Irren vom Kiosk und einige Künstlerstudenten, die irgendwo in der Gegend studierten. Fragt mich jetzt nicht, warum die dort wohnten. Wegen der schönen Aussicht bestimmt nicht. In den Häusern brauchte man nur den Arm auszustrecken und man konnte die Lastwagen berühren, so nah war das. Immer hin und her und ich dachte eine Zeit lang, dass Otto bestimmt seinen Witz da herhatte. „Hallo Frau Sowieso, Sie wohnen direkt an der Autobahn, haben Sie da nicht Probleme?“ „Nein! Nein! Nein!“

Die Kinder sind die Schräge immer wieder rauf gelaufen, um genau dort zu spielen. Die sind einfach aus Spaß die Betonschräge hoch, um dann auf die Autobahn zu laufen. Die spielten, wer als Erster den Mittelstreifen erreicht und zurück, oder wer ein Auto zum Ausweichen zwingt, solche Sachen. Als Mutprobe, was weiß ich. Sicher war es kein Spiel, sondern es gab für uns einfach keinen anderen Platz. Die von der Stadt hatten deshalb ein hohes Gitter aufgestellt, aber die Kleinen haben als Antwort mit Händen ein Loch gegraben und weitergespielt. Eines Tages ist natürlich einer überfahren worden. Das war Ronnies kleiner Bruder. Lothar, ein kleines, ziemlich aufgewecktes Bürschchen mit heller Krächzstimme, und vielleicht hatte Ronnie deshalb immer einen melancholischen Blick in den Augen gehabt. Der schaute weit in die Ferne, selbst wenn er einen anguckte. Manchmal hab ich gedacht, der sieht da hinten seinen Bruder, wie der vom Laster überfahren wurde, aber sicherlich hatte der einfach nur einen Silberblick.

Nun, das war aber echt zum Sterben, weil es noch eine andere Autobahn gab. Die vor meinem Fenster. Wenn man von oben auf unsere Gegend blickte, lagen wir mitten in einer Art Super-Dreieck von Autobahnen und drumherum die ganze feine Industrie, und erst wenn man lief, kam man in die Stadt oder zumindest an den Anfang. Dann war unsere Straße noch eng. Keine vier Meter war die breit, mit alten unsanierten Häusern. “Ende gut, gar nichts gut’’ sagten sie bei uns dazu. Alles roch nach wunderbar verbranntem Zeug, wie Zwiebeln, Kohl und Alkohol. Auch weil es in der Nähe eine Brauerei gab und wenn die abends gut durchlüfteten, standen einige der Alkoholiker am Fenster und haben das mit der Haut aufgenommen, kein Witz, so sehr hat das bei uns gerochen. Ansonsten konntest du sicher noch ein paar ausgeschlachtete Autos, nette kaputte Räder und einige Bäume, wo die Hunde immer dranpinkelten, finden. Das war die Hugo-Luther. Es gab unglaublich viele Autobahnen, aber man kam einfach nicht raus. Nur ich, ich würde es schaffen.

Als ich runterkam, sah ich als Erstes Ro beim Alki und Irren Kiosk stehen. Ich hatte keine Ahnung, auf was er da wartete, aber das war okay. Ro hatte Zeit und Ro war zurückgeblieben und auch mein bester Freund, selbst wenn ich mich hütete, das öffentlich zuzugeben. Nicht weil er blöd war, war er mein Freund, sondern weil er gut zuhören konnte. Ernsthaft. Er trug wie immer ein fadenscheiniges Hemd, kurze Hosen und viel zu kleine Badelatschen. Seinen hellblonden, fast weißen Pony hatte er mit der Schere selbst abgeschnitten und seine Augen starrten mich an. „Chris, Chris. Wo gehst du hin, Chris?“ „Zur Schule.“ „Wieder?“ „Ja.“ „Warum?“ Aber er konnte einen zur Weißglut bringen, der Sack. „Warum? Nerv nicht, Ro.“ „Warum?“ „Warum was?“ „Schule mein ich.“ „Schule meinst du?“ Der war gut. „Um zu lernen. Fürs Leben.“ „Aber du lebst doch.“ „Das weiß ich.“ „Hä?“ „Das weiß ich auch und jetzt nerv nicht.“ „Willst du nerven lernen?“, er lächelte wieder, aber er lächelte immer, und wenn ich immer meine, dann heißt das immer. „Nein, du sollst nicht nerven, okay?“ „Ja okay, tut mir leid Chris, bis später, ja?“ „Ja!“ „Später?“ „Jaha.“ „Später?“ „Leck mich“. „Okay. Später“ Ich sah, wie er grinste. Der Arsch hatte mich reingelegt.

Nach einigen Schritten fiel mir was ein. Ich drehte mich um. „Sag mal, hast du wieder getrunken?“ Sein kleines Mäusegesicht bekam von einer Sekunde auf die andere eine dunkle Färbung. Ich hatte richtig getippt. Er trank manchmal oder besser gesagt, für meinen Geschmack trank er ein wenig zu häufig. „Ich sag dir doch, wenn ich dich noch mal erwische, wie du morgens vorm Kiosk rumstehst, gibt’s ’n Brett.“ „Och nö, Chris.“ Bei dem Gedanken wurde er unruhig und versteckte sein Gesicht hinter den Händen. „Aber ja. Darauf kannst du dich verlassen. Verstanden?“ Er nickte. „Was?“ „Verstanden.“ „Na dann ist gut.“ Ich nahm meine Plastiktüte mit den Schulsachen wieder fester in die Hand und legte einen Schritt zu. Ich wollte nicht, dass Ro schon vormittags trank, das war ungesund. Auch wenn er mal woanders hinkam, würde das kein gutes Licht auf ihn werfen, aber er sollte mir nicht noch weiter auf die Eier gehen. Das würde er sicher den ganzen Nachmittag nach der Schule noch tun. Aber plötzlich fiel es mir wieder ein und ich fing an zu grinsen. Da würde ich ja schon einen Walkman haben.

Ich rede jetzt ein wenig schlecht über ihn, fällt mir auf, aber ich mochte ihn ja. Ich kannte Ro seit meiner Geburt. Wir hatten zusammen gespielt, gekackert, gerülpst, gelacht, bis er so geworden war. So behindert. Er erinnerte mich manchmal an ´ne dürre gefleckte Katze, die gestreichelt werden wollte, aber immer viel zu viel Angst hatte näherzukommen. Dazu hatte er einen kleinen Kopf, wie ein Nager, und roch immer ein wenig streng und manchmal hatte er einen richtigen Anfall. „Epillepie, aber happy“ sagten sie bei uns und das stimmte. Wie schon gesagt, er lächelte einfach immer.

Im ersten Jahr bin ich noch mit ihm in eine Klasse gegangen, da haben die anderen Kinder ihn immer Stinker gerufen und er war aufgeregt, weil er schon damals nicht mehr viel verstanden hatte. Er lernte nicht lesen und nicht