Kafka - Gesammelte Werke - Franz  kafka - E-Book

Kafka - Gesammelte Werke E-Book

Franz kafka

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Beschreibung

Mit einführendem Aufsatz zu Leben und Werk Das umfangreichste digitale Werk zu Leben und Schaffen des bedeutendsten deutschsprachigen Autors der Moderne. Nirgends klaffen Selbsteinschätzung und künstlerische Bedeutung soweit auseinander wie bei Franz Kafka. Zeitlebens zweifelnd, sein Werk für unvollständig, unreif haltend, ist Kafka posthum zum vielleicht wichtigsten Vertreter der deutschen Sprache geworden. Ein Werk, das unter höchster Leidenschaft den Irrungen und Wirrungen des beginnenden 20. Jahrhunderts abgetrotzt wurde. Dieses E-Book beinhaltet die Romane "Der Prozess", "Das Schloß" und "Amerika oder Der Verschollene", zahlreiche Novellen und Kurzgeschichten - "Das Urteil", "Die Verwandlung" und "In der Strafkolonie" dürfen natürlich nicht fehlen: ebenso wenig "Der Gruftwächter", Kafkas einziges Drama, sein niemals abgeschickter "Brief an den Vater" und mehrere unvollendete Schriftstücke, die erahnen lassen, dass dieser Autor viel zu jung gestorben ist. 4. Auflage (Neu, mit Index) Umfang: 1664 Buchseiten bzw. 1722 Normseiten Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 2293

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Franz Kafka

Gesammelte Werke

Franz Kafka

Gesammelte Werke

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2023 5. Auflage, ISBN 978-3-943466-60-7

null-papier.de/84

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Un­mög­lich­keit, selbst zu sein -- Franz Kaf­kas Le­ben

Ro­ma­ne

Ame­ri­ka oder: Der Ver­schol­le­ne

Der Pro­zeß

Das Schloß

Er­zäh­lun­gen

Bl­um­feld, ein äl­te­rer Jung­ge­sel­le

Be­schrei­bung ei­nes Kamp­fes

Be­trach­tung

Das Ur­teil

Die Ver­wand­lung

Klei­ne­re Er­zäh­lun­gen

In der Straf­ko­lo­nie

Der Kü­bel­rei­ter

Ein Hun­ger­künst­ler

Pro­sa aus dem Nach­laß

Der Bau

Der Gruft­wäch­ter

Brie­fe an Max Brod

Frag­men­te

Frag­men­te aus Hef­ten und lo­sen Blät­tern

Ru­he­los

Bil­der von der Ver­tei­di­gung ei­nes Ho­fes

Frag­ment des »Un­ter­staats­an­walts«

In­dex

Dan­ke

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Ge­or­ge Sand – Ge­sam­mel­te Wer­ke

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Ril­ke - Ge­sam­mel­te Wer­ke

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Jack Lon­don – Ge­sam­mel­te Wer­ke

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Ga­brie­le Reu­ter – Ge­sam­mel­te Wer­ke

Ste­fan Zweig - Ge­sam­mel­te Wer­ke

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Unmöglichkeit, selbst zu sein -- Franz Kafkas Leben

Die Un­ge­bor­gen­heit des Ein­zel­nen zu ver­sinn­bild­li­chen, in­ner­halb ei­ner Welt der Vie­len so­wie ge­gen­über dem un­greif­ba­ren Über­mäch­ti­gen, ist kenn­zeich­nend für das li­te­ra­ri­sche Werk Franz Kaf­kas. Das Ge­fühl, an­ge­sichts un­durch­schau­ba­rer Vor­gän­ge ver­lo­ren und be­deu­tungs­los zu sein, ist mit dem Be­griff »kaf­kaesk« maß­stäb­lich ge­wor­den, nach­dem Kaf­kas Ro­man­frag­men­te und Er­zäh­lun­gen ei­nem grö­ße­ren Pub­li­kum zu­gäng­lich wur­den. Seit den 50er-Jah­ren wird Kaf­kas Œu­vre in­ter­na­tio­nal re­zi­piert. Heu­te gilt es als Be­stand­teil des Ka­n­ons der Welt­li­te­ra­tur und wi­der­spricht so­mit der skep­ti­schen Selb­st­ein­schät­zung des Ur­he­bers.

»Mein Schrei­ben han­del­te von Dir, ich klag­te dort ja nur, was ich an Dei­ner Brust nicht kla­gen konn­te.« (1)

Ohne psy­cho­lo­gi­sie­ren zu wol­len, ist es doch un­denk­bar, Kaf­kas Schrif­ten los­ge­löst vom Va­ter-Sohn-Ver­hält­nis zu ver­ste­hen. Das Kind er­lebt den Va­ter als all­mäch­tig, und die­ses Emp­fin­den prägt so­wohl Vita als auch Werk. Ein­zig das Schrei­ben gibt ihm ein Selbst­ge­fühl, das in­ne­rer Frei­heit zu­min­dest na­he­kommt.

Ge­bo­ren wird Franz Kaf­ka am 3. Juli 1883 in Prag.

Er ist der drit­te Sohn von Her­mann und Ju­lie Kaf­ka, de­ren ers­te Söh­ne be­reits im Klein­kin­dal­ter verstar­ben. So­mit fällt Franz die Rol­le des ein­zi­gen Soh­nes zu, nach­dem in spä­te­ren Jah­ren drei Mäd­chen ge­bo­ren wer­den. Die Fa­mi­lie ge­hört der deutsch­spra­chi­gen, jü­di­schen Min­der­heit Prags an.

Der Au­tor wird sich spä­ter mit dem jü­di­schen Teil sei­ner Iden­ti­tät aus­ein­an­der­set­zen, weil sein Va­ter ei­ner­seits der Re­li­gi­on le­dig­lich for­mell ge­nügt, an­de­rer­seits ge­gen »die Ju­den« aus­fal­lend wird und so­mit jü­di­schen Selbst­hass of­fen­bart. Ge­formt wird die Re­li­gi­ons­auf­fas­sung des Soh­nes au­ßer­dem von Ver­wand­ten der müt­ter­li­chen Löwy-Li­nie, die ihre kul­tu­rel­le und re­li­gi­öse Iden­ti­tät ganz selbst­ver­ständ­lich le­ben, wo­mit sie dem vä­ter­li­chen Bei­spiel wi­der­spre­chen. Ei­ni­ge die­ser An­ge­hö­ri­gen wird Kaf­ka zum Vor­bild für Pro­tago­nis­ten sei­ner Wer­ke neh­men, wie etwa sei­nen On­kel Sieg­fried Löwy in der Er­zäh­lung »Ein Land­arzt«.

Franz Kaf­ka be­sucht, den Wün­schen des Va­ters ge­mäß, aus­schließ­lich deutsch­spra­chi­ge Schu­len. Von 1901 bis 1906 stu­diert er, wei­ter­hin in Prag, zu­nächst Che­mie, um kurz dar­auf ins ju­ris­ti­sche Fach zu wech­seln. Ei­nen Ab­ste­cher in die Fä­cher Ger­ma­nis­tik und Kunst­ge­schich­te be­en­det er nach ei­nem Se­mes­ter, um sein Jura-Stu­di­um fort­zu­set­zen und 1906 zu pro­mo­vie­ren. Es ist wohl da­von aus­zu­ge­hen, dass ihm so­wohl Ger­ma­nis­tik als auch Kunst­ge­schich­te nä­her sind als die Rech­te. Dass er letzt­end­lich den­noch an die ju­ris­ti­sche Fa­kul­tät zu­rück­kehrt, er­klärt er im nie­mals ab­ge­schick­ten »Brief an den Va­ter« fol­gen­der­ma­ßen:

»[...] Frei­heit der Be­rufs­wahl gab es für mich nicht, ich wuss­te: al­les wird mir ge­gen­über der Haupt­sa­che ge­nau so gleich­gül­tig sein, wie alle Lehr­ge­gen­stän­de im Gym­na­si­um, es han­delt sich also dar­um einen Be­ruf zu fin­den, der mir [...] die­se Gleich­gül­tig­keit am ehe­s­ten er­laubt. Also war Jus das Selbst­ver­ständ­li­che. Klei­ne ge­gen­tei­li­ge Ver­su­che [...], wie 14­tä­gi­ges Che­mie­stu­di­um, halb­jäh­ri­ges Deutsch­stu­di­um ver­stärk­ten nur jene Grund­über­zeu­gung. Ich stu­dier­te also Jus.« (2)

Sein 1907 be­gon­ne­nes Be­rufs­le­ben als Ver­si­che­rungs­an­ge­stell­ter sieht Kaf­ka als blo­ßen Brot­er­werb. Zwar wird er mehr­fach be­för­dert und en­ga­giert sich für ver­bes­ser­te Ar­beits­be­din­gun­gen in In­dus­trie­be­trie­ben. Den­noch lei­det er un­ter der Sinn­lo­sig­keit sei­nes Tuns für sich selbst. Die Ar­beit, so er­folg­reich er sie auch meis­tert, be­deu­tet ihm vor al­lem be­drücken­de Bü­ro­stun­den. Da­rin das Mus­ter des Ver­lo­ren­seins in äu­ße­ren Zwän­gen zu er­ken­nen, er­öff­net einen wei­te­ren Zu­gang zum Ver­ständ­nis sei­ner Schrif­ten.

Ein an­de­rer Aspekt ist Kaf­kas mensch­li­ches In­ter­es­se an »ein­fa­chen Leu­ten«. Be­reits mit 16 Jah­ren be­greift er sich als So­zia­lis­ten und ent­wi­ckelt, in den nächs­ten Jahr­zehn­ten, ech­te An­teil­nah­me für die Men­schen. Ge­le­gen­heit dazu er­hält er in zwei Be­trie­ben sei­ner Fa­mi­lie so­wie durch sei­ne Tä­tig­keit für eine Ar­bei­ter­un­fall­ver­si­che­rung. Mit ei­ge­nen Au­gen sieht er in ver­schie­de­nen Fa­bri­ken ka­ta­stro­pha­le Ar­beits­be­din­gun­gen, was ihn dazu ver­an­lasst, bes­se­re Si­cher­heits­vor­schrif­ten durch­zu­set­zen. Wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs küm­mert er sich um ost­jü­di­sche Flücht­lin­ge so­wie um die Um­schu­lung und Ver­mitt­lung Kriegs­ver­sehr­ter.

Auf­schlüs­se über Kaf­kas in­ne­re Be­we­gung ge­ben sei­ne, zu je­ner Zeit ver­fass­ten, Brie­fe und Ta­ge­bü­cher. Sie zei­gen einen fein­füh­li­gen Mann, der das In­di­vi­du­um als prin­zi­pi­ell hilf­los ge­gen­über dem ei­ge­nen Schick­sal wahr­nimmt, wel­ches als Fremd­be­stim­mung er­lebt wird.

»Wenn ich in dem be­son­de­ren Un­glücks­ver­hält­nis, in wel­chem ich zu Dir ste­he, selb­stän­dig wer­den will, muss ich et­was tun, was mög­lichst gar kei­ne Be­zie­hung zu Dir hat; das Hei­ra­ten ist zwar das Gröss­te [...], aber es ist auch gleich­zei­tig in engs­ter Be­zie­hung zu Dir.« (3)

Kaf­kas Ver­su­che, sich von sei­nem Va­ter zu lö­sen, gip­feln in Hei­rats­ver­su­chen, die er im Grun­de von vorn­her­ein als zum Schei­tern ver­ur­teilt sieht. Sei­ne An­nä­he­rung an die je­wei­li­ge Frau folgt ei­nem im­mer glei­chen Mus­ter: We­ni­ge ech­te Be­geg­nun­gen und um­fang­rei­che Kor­re­spon­denz füh­ren ent­we­der zum Ver­löb­nis so­wie ei­ner bal­di­gen Ent­lobung oder, ohne vor­he­ri­ge Ver­lo­bung, di­rekt zur Tren­nung. Kaf­ka be­grün­det die­ses Ver­hal­ten ge­gen­über den Frau­en und sich selbst mit der Angst da­vor, in der Ehe die Frei­heit zum Schrei­ben ein­zu­bü­ßen.

»[...] es ist doch nicht not­wen­dig mit­ten in die Son­ne hin­ein­zu­flie­gen, aber doch bis zu ei­nem rei­nen Plätz­chen auf der Erde hin­zu­krie­chen, wo manch­mal die Son­ne hin­scheint und man sich ein we­nig wär­men kann.« (4)

Nach­dem Kaf­ka, im Jahr 1917, an Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se er­krankt, ver­sucht er ver­geb­lich, sich von der Ver­si­che­rungs­an­stalt frei­stel­len zu las­sen. Erst 1922 wird er ent­las­sen, wor­auf­hin er meh­re­re Ku­r­or­te und Sa­na­to­ri­en be­sucht. Nach­dem die Tu­ber­ku­lo­se auf den Kehl­kopf über­greift, kann der Au­tor sich nur noch un­ter Schmer­zen er­näh­ren und kaum noch spre­chen. Ein spä­tes Glück wird ihm zu­teil, als er 1923 Dora Dia­mant ken­nen­lernt. Die Part­ner­schaft ist ge­prägt da­von, dass Dora ihn bis zu sei­nem Tode pflegt. Den­noch (oder viel­leicht auch des­we­gen) ist dies Kaf­kas ver­trau­tes­te Lie­bes­be­zie­hung.

Kaf­kas engs­ter Freund ist Max Brod, der ihn be­reits zu Leb­zei­ten dazu über­re­det, ei­ni­ge Schrif­ten zu pu­bli­zie­ren. Zahl­rei­che sei­ner Ar­bei­ten ver­brennt Kaf­ka, für an­de­re be­stimmt er, sie dürf­ten nicht post­hum ver­öf­fent­licht wer­den. Nach­dem der Au­tor, am 3. Juni 1924, an Herz­ver­sa­gen stirbt, über­nimmt Brod die Nach­lass­ver­wal­tung. Sei­nem Wir­ken ist es zu ver­dan­ken, dass Kaf­kas Schaf­fen heu­te über­haupt zu­gäng­lich ist.

Bei­ge­setzt ist Franz Kaf­ka auf dem Neu­en Jü­di­schen Fried­hof in Prag-Straš­ni­ce. Ne­ben dem Grab­stein be­fin­det sich eine Ge­denk­ta­fel für Max Brod.

Ge­schrie­be­ne Ohn­macht -- Franz Kaf­kas Werk

»Aber zu dem Zweck [der Eben­bür­tig­keit mit dem Va­ter -- Anm. d. A.] müss­te eben al­les Ge­sche­he­ne un­ge­sche­hen ge­macht, d. h. wir selbst aus­ge­stri­chen wer­den.« (5)

So we­nig sich Kaf­kas Schaf­fen er­schließt, wird die Be­zie­hung des Ver­fas­sers zu sei­nem Va­ter igno­riert, so ver­ständ­lich ist sie doch in an­de­rer Hin­sicht: In der ge­sam­ten fik­ti­ven Pro­sa ist der Ein­zel­ne et­was Über­mäch­ti­gem aus­ge­lie­fert, das er nicht än­dern kann, selbst wenn er es be­grei­fen soll­te: Ihm ge­schieht ein de­ter­mi­nier­tes Schick­sal. Zwar mag er ver­su­chen, dem ent­ge­gen zu wir­ken, doch sind die­se Be­stre­bun­gen un­wei­ger­lich zum Schei­tern ver­ur­teilt. Die, ei­gent­lich sehr per­sön­lich er­leb­te, All­macht des Va­ters wird zur Be­stim­mung. Als Aus­ge­lie­fert­sein ent­spricht Be­stim­mung an sich ei­nem all­ge­mei­nen Le­bens­ge­fühl, wo­für erst­mals Kaf­ka den zeit­ge­mä­ßen Aus­druck fin­det. An­ders ge­sagt: Weil Kaf­ka der­je­ni­ge ist, der er nun ein­mal ist, trifft er den Nerv der Zeit.

Ro­man­frag­men­te: »Das Schloß«, »Der Pro­zeß«, »Der Ver­schol­le­ne« (»Ame­ri­ka«)

Die Pro­tago­nis­ten der Ro­ma­ne sind in un­durch­sich­ti­gen räum­li­chen und zwi­schen­mensch­li­chen Be­zie­hun­gen ge­fan­gen, de­nen sie nicht ent­kom­men. Mal be­fin­det ein Sehn­suchts­ziel un­er­reich­bar in der Fer­ne, ein an­de­res Mal be­wegt sich der Held durch la­by­rin­thi­sche Räu­me und un­ver­bun­de­ne Orte oder be­zie­hungs­los zwi­schen Per­so­nen. Das, worum es ei­gent­lich geht, bleibt da­bei un­zu­gäng­lich, wie etwa die An­kla­ge­schrift in »Der Pro­zess«.

Die Er­zäh­lun­gen sind zu zahl­reich, um hier ein­zeln auf­ge­führt zu wer­den. In al­len je­doch, bei­spiels­wei­se in »Die Ver­wand­lung«, »In der Straf­ko­lo­nie« oder in »Zur Fra­ge der Ge­set­ze«, greift Kaf­ka die Mo­ti­ve des ver­geb­li­chen Stre­bens, ver­bor­ge­ner Ge­set­ze oder ei­nes vor­be­stimm­ten Schick­sals auf. Stets ge­schieht mit der Haupt­per­son et­was, das sie nicht be­ein­flus­sen kann, auch dann nicht, wenn sie die Mecha­nis­men durch­schau­en soll­te.

Per­sön­li­che Ein­bli­cke in Kaf­kas Le­ben und in sei­ne Selb­st­ein­schät­zung ge­wäh­ren Brie­fe und Ta­ge­bü­cher. So­wohl aus der Kor­re­spon­denz als auch aus den Auf­zeich­nun­gen er­schließt sich, ab­seits voy­eu­ris­ti­scher Neu­gier, ein wei­te­rer Zu­gang zum Ver­ständ­nis des Au­tors und sei­nes Werks. Zahl­rei­che Brie­fe und fast alle Ta­ge­bü­cher der Jah­re 1909 bis 1923 sind er­hal­ten ge­blie­ben.

Von ei­ner an­de­ren Sei­te ist Kaf­ka in sei­nen amt­li­chen Schrif­ten ken­nen­zu­ler­nen, die er wäh­rend sei­ner Be­rufs­jah­re ver­fass­te. Dar­über hin­aus hat Kaf­ka Ge­dich­te ge­schrie­ben und Zeich­nun­gen an­ge­fer­tigt.

Franz Kaf­kas Œu­vre be­schäf­tigt bis in die Ge­gen­wart Li­te­ra­ten und an­de­re Re­zi­pi­en­ten. Ab­ge­se­hen von per­sön­li­cher Be­wun­de­rung, wel­che dem Men­schen Kaf­ka gilt, be­zie­hen sich zeit­ge­nös­si­sche Schrift­stel­ler ger­ne auf den Au­tor, wie etwa Ga­bri­el Gar­cía Már­quez in sei­ner Li­te­ra­turauf­fas­sung. We­sent­lich ist da­bei die Er­kennt­nis, dass Wirk­lich­keit ge­deu­tet wer­den kann, in­dem sich der Ver­fas­ser schrei­bend mit ihr kon­fron­tiert.

An­mer­kun­gen

Sämt­li­che Zi­ta­te stam­men aus:

Franz Kaf­ka: Brief an den Va­ter. (1919) Fak­si­mi­le, 1994, Hrsg.: Joa­chim Un­seld, Fi­scher Ta­schen­buch­ver­lag.

Scan bei: http://de.wi­ki­sour­ce.org/wiki/Brief_an_den_Va­ter

(1) 19a, ebendort (2) 20c, ebd. (3) 24a, ebd. (4) 21c, ebd. (5) 24b, ebd.

Pri­mär­li­te­ra­tur

Franz Kaf­ka: Der Pro­zess. (1914/15) Er­schie­nen 1925, Hrsg.: Max Brod, Ver­lag Die Schmie­de.

Scan bei: http://de.wi­ki­sour­ce.org/wiki/Der_Pro­cess

Franz Kaf­ka: Die Ver­wand­lung. (1912) Er­schie­nen 1915 in »Die Wei­ßen Blät­ter. Eine Mo­nats­schrift.« 2. Jg., Heft 10, Hrsg.: René Schi­cke­le, Ver­lag der Wei­ßen Bü­cher. Scan bei: http://de.wi­ki­sour­ce.org/wiki/Die_Ver­wand­lung_(Franz_Kaf­ka) Franz Kaf­ka: Ein Land­arzt. (1916/17) Er­schie­nen 1917 in »Die neue Dich­tung. Ein Al­ma­nach.«, Kurt Wolff Ver­lag.

Scan bei: http://de.wi­ki­sour­ce.org/wiki/Ein_Land­arzt

Se­kun­där­quel­le

http://de.wi­ki­pe­dia.org/wiki/Franz_Kaf­ka

*

Romane

Amerika oder: Der Verschollene

A­me­ri­ka oder Der Ver­schol­le­ne ist ne­ben Das Schloß und Der Pro­zeß ei­ner der drei un­voll­en­de­ten Ro­ma­ne von Franz Kaf­ka, ent­stan­den zwi­schen 1911 und 1914.

1927 wur­de es von sei­nem Freund und Her­aus­ge­ber Max Brod po­stum ver­öf­fent­licht. In den frü­hen Aus­ga­ben wur­de der Ro­man un­ter dem von Brod be­stimm­ten Ti­tel A­me­ri­ka ver­öf­fent­licht.

Spä­te­re Auf­la­gen wur­den ge­mäß Ein­trä­gen in Kaf­kas Ta­ge­bü­chern und Brie­fen un­ter dem Ti­tel Der Ver­schol­le­ne ver­legt.

Für die Über­schrif­ten und Ein­tei­lun­gen der ers­ten sechs Ka­pi­tel gibt es ein au­then­ti­sches Ver­zeich­nis des Au­tors, die üb­ri­ge An­ord­nung der Text­frag­men­te nahm Brod selbst vor.

Der Heizer

Als der sech­zehn­jäh­ri­ge Karl Roß­mann, der von sei­nen ar­men El­tern nach Ame­ri­ka ge­schickt wor­den war, weil ihn ein Dienst­mäd­chen ver­führt und ein Kind von ihm be­kom­men hat­te, in dem schon lang­sam ge­wor­de­nen Schiff in den Ha­fen von New York ein­fuhr, er­blick­te er die schon längst be­ob­ach­te­te Sta­tue der Frei­heits­göt­tin wie in ei­nem plötz­lich stär­ker ge­wor­de­nen Son­nen­licht. Ihr Arm mit dem Schwert rag­te wie neu­er­dings em­por, und um ihre Ge­stalt weh­ten die frei­en Lüf­te.

›So hoch!‹ sag­te er sich und wur­de, wie er so gar nicht an das Weg­ge­hen dach­te, von der im­mer mehr an­schwel­len­den Men­ge der Ge­päck­trä­ger, die an ihm vor­über­zo­gen, all­mäh­lich bis an das Bord­ge­län­der ge­scho­ben.

Ein jun­ger Mann, mit dem er wäh­rend der Fahrt flüch­tig be­kannt ge­wor­den war, sag­te im Vor­über­ge­hen: »Ja, ha­ben Sie denn noch kei­ne Lust, aus­zu­stei­gen?«

»Ich bin doch fer­tig«, sag­te Karl, ihn an­la­chend, und hob aus Über­mut, und weil er ein star­ker Jun­ge war, sei­nen Kof­fer auf die Ach­sel. Aber wie er über sei­nen Be­kann­ten hin­sah, der ein we­nig sei­nen Stock schwen­kend sich schon mit den an­dern ent­fern­te, merk­te er be­stürzt, daß er sei­nen ei­ge­nen Re­gen­schirm un­ten im Schiff ver­ges­sen hat­te. Er bat schnell den Be­kann­ten, der nicht sehr be­glückt schi­en, um die Freund­lich­keit, bei sei­nem Kof­fer einen Au­gen­blick zu war­ten, über­blick­te noch die Si­tua­ti­on, um sich bei der Rück­kehr zu­recht­zu­fin­den, und eil­te da­von. Un­ten fand er zu sei­nem Be­dau­ern einen Gang, der sei­nen Weg sehr ver­kürzt hät­te, zum ers­ten­mal ver­sperrt, was wahr­schein­lich mit der Aus­schif­fung sämt­li­cher Pas­sa­gie­re zu­sam­men­hing, und muß­te Trep­pen, die ein­an­der im­mer wie­der folg­ten, durch fort­wäh­rend ab­bie­gen­de Kor­ri­do­re, durch ein lee­res Zim­mer mit ei­nem ver­las­se­nen Schreib­tisch müh­se­lig su­chen, bis er sich tat­säch­lich, da er die­sen Weg nur ein- oder zwei­mal und im­mer in grö­ße­rer Ge­sell­schaft ge­gan­gen war, ganz und gar ver­irrt hat­te. In sei­ner Rat­lo­sig­keit und da er kei­nen Men­schen traf und nur im­mer­fort über sich das Schar­ren der tau­send Men­schen­fü­ße hör­te und von der Fer­ne, wie einen Hauch, das letz­te Ar­bei­ten der schon ein­ge­stell­ten Ma­schi­nen merk­te, fing er, ohne zu über­le­gen, an eine be­lie­bi­ge klei­ne Tür zu schla­gen an, bei der er in sei­nem He­ru­mir­ren stock­te.

»Es ist ja of­fen«, rief es von in­nen, und Karl öff­ne­te mit ehr­li­chem Au­fat­men die Tür. »Wa­rum schla­gen Sie so ver­rückt auf die Tür?«, frag­te ein rie­si­ger Mann, kaum daß er nach Karl hin­sah. Durch ir­gend­ei­ne Ober­licht­lu­ke fiel ein trü­bes, oben im Schiff längst ab­ge­brauch­tes Licht in die kläg­li­che Ka­bi­ne, in wel­cher ein Bett, ein Schrank, ein Ses­sel und der Mann knapp ne­ben­ein­an­der, wie ein­ge­la­gert, stan­den. »Ich habe mich ver­irrt«, sag­te Karl, »ich habe es wäh­rend der Fahrt gar nicht so be­merkt, aber es ist ein schreck­lich großes Schiff.« »Ja, da ha­ben Sie recht«, sag­te der Mann mit ei­ni­gem Stolz und hör­te nicht auf, an dem Schloß ei­nes klei­nen Kof­fers zu han­tie­ren, den er mit bei­den Hän­den im­mer wie­der zu­drück­te, um das Ein­schnap­pen des Rie­gels zu be­hor­chen. »Aber kom­men Sie doch her­ein!«, sag­te der Mann wei­ter, »Sie wer­den doch nicht drau­ßen stehn!« »Stö­re ich nicht?«, frag­te Karl. »Ach, wie wer­den Sie denn stö­ren!« »Sind Sie ein Deut­scher?«, such­te sich Karl noch zu ver­si­chern, da er viel von den Ge­fah­ren ge­hört hat­te, wel­che be­son­ders von Ir­län­dern den Neu­an­kömm­lin­gen in Ame­ri­ka dro­hen. »Bin ich, bin ich«, sag­te der Mann. Karl zö­ger­te noch. Da faß­te un­ver­se­hens der Mann die Tür­klin­ke und schob mit der Türe, die er rasch schloß, Karl zu sich her­ein. »Ich kann es nicht lei­den, wenn man mir vom Gang her­ein­schaut«, sag­te der Mann, der wie­der an sei­nem Kof­fer ar­bei­te­te, »da läuft je­der vor­bei und schaut her­ein, das soll der Zehn­te aus­hal­ten!« »Aber der Gang ist doch ganz leer«, sag­te Karl, der un­be­hag­lich an den Bett­pfos­ten ge­quetscht da­stand. »Ja, jetzt«, sag­te der Mann. ›Es han­delt sich doch um jetz­t‹, dach­te Karl, ›mit dem Mann ist schwer zu re­den.‹ »Le­gen Sie sich doch aufs Bett, da ha­ben Sie mehr Platz«, sag­te der Mann. Karl kroch, so gut es ging, hin­ein und lach­te da­bei laut über den ers­ten ver­geb­li­chen Ver­such, sich hin­über­zu­sch­win­gen. Kaum war er aber im Bett, rief er: »Got­tes­wil­len, ich habe ja ganz mei­nen Kof­fer ver­ges­sen!« »Wo ist er denn?« »Oben auf dem Deck, ein Be­kann­ter gibt acht auf ihn. Wie heißt er nur?« Und er zog aus ei­ner Ge­heim­ta­sche, die ihm sei­ne Mut­ter für die Rei­se im Rock­fut­ter an­ge­legt hat­te, eine Vi­sit­kar­te. »But­ter­baum, Franz But­ter­baum.« »Ha­ben Sie den Kof­fer sehr nö­tig?« »Na­tür­lich.« »Ja, warum ha­ben Sie ihn dann ei­nem frem­den Men­schen ge­ge­ben?« »Ich hat­te mei­nen Re­gen­schirm un­ten ver­ges­sen und bin ge­lau­fen, um ihn zu ho­len, woll­te aber den Kof­fer nicht mit­schlep­pen. Dann habe ich mich auch hier noch ver­irrt.« »Sie sind al­lein? Ohne Beglei­tung?« »Ja, al­lein.« ›Ich soll­te mich viel­leicht an die­sen Mann hal­ten‹, ging es Karl durch den Kopf, ›wo fin­de ich gleich einen bes­se­ren Freund.‹ »Und jetzt ha­ben Sie auch noch den Kof­fer ver­lo­ren. Vom Re­gen­schirm rede ich gar nicht.« Und der Mann setz­te sich auf den Ses­sel, als habe Karls Sa­che jetzt ei­ni­ges In­ter­es­se für ihn ge­won­nen. »Ich glau­be aber, der Kof­fer ist noch nicht ver­lo­ren.« »Glau­ben macht se­lig«, sag­te der Mann und kratz­te sich kräf­tig in sei­nem dunklen, kur­z­en, dich­ten Haar, »auf dem Schiff wech­seln mit den Ha­fen­plät­zen auch die Sit­ten. In Ham­burg hät­te Ihr But­ter­baum den Kof­fer viel­leicht be­wacht, hier ist höchst­wahr­schein­lich von bei­den kei­ne Spur mehr.« »Da muß ich aber doch gleich hin­auf­schaun«, sag­te Karl und sah sich um, wie er hin­aus­kom­men könn­te. »Blei­ben Sie nur«, sag­te der Mann und stieß ihn mit ei­ner Hand ge­gen die Brust, ge­ra­de­zu rauh, ins Bett zu­rück. »Wa­rum denn?«, frag­te Karl är­ger­lich. »Weil es kei­nen Sinn hat«, sag­te der Mann, »in ei­nem klei­nen Weil­chen gehe ich auch, dann ge­hen wir zu­sam­men. Ent­we­der ist der Kof­fer ge­stoh­len, dann ist kei­ne Hil­fe, oder der Mann hat ihn ste­hen­ge­las­sen, dann wer­den wir ihn, bis das Schiff ganz ent­leert ist, de­sto bes­ser fin­den. Eben­so auch Ihren Re­gen­schirm.« »Ken­nen Sie sich auf dem Schiff aus?«, frag­te Karl miß­trau­isch, und es schi­en ihm, als hät­te der sonst über­zeu­gen­de Ge­dan­ke, daß auf dem lee­ren Schiff sei­ne Sa­chen am bes­ten zu fin­den sein wür­den, einen ver­bor­ge­nen Ha­ken. »Ich bin doch Schiffs­hei­zer«, sag­te der Mann. »Sie sind Schiffs­hei­zer!«, rief Karl freu­dig, als über­stie­ge das alle Er­war­tun­gen, und sah, den Ell­bo­gen auf­ge­stützt, den Mann nä­her an. »Gera­de vor der Kam­mer, wo ich mit dem Slo­wa­ken ge­schla­fen habe, war eine Luke an­ge­bracht, durch die man in den Ma­schi­nen­raum se­hen konn­te.« »Ja, dort habe ich ge­ar­bei­tet«, sag­te der Hei­zer. »Ich habe mich im­mer so für Tech­nik in­ter­es­siert«, sag­te Karl, der in ei­nem be­stimm­ten Ge­dan­ken­gang blieb, »und ich wäre si­cher spä­ter In­ge­nieur ge­wor­den, wenn ich nicht nach Ame­ri­ka hät­te fah­ren müs­sen.« »Wa­rum ha­ben Sie denn fah­ren müs­sen?« »Ach was!«, sag­te Karl und warf die gan­ze Ge­schich­te mit der Hand weg. Da­bei sah er lä­chelnd den Hei­zer an, als bit­te er ihn selbst für das Nicht­ein­ge­stan­de­ne um sei­ne Nach­sicht. »Es wird schon einen Grund ha­ben«, sag­te der Hei­zer, und man wuß­te nicht recht, ob er da­mit die Er­zäh­lung die­ses Grun­des for­dern oder ab­weh­ren woll­te. »Jetzt könn­te ich auch Hei­zer wer­den«, sag­te Karl, »mei­nen El­tern ist es jetzt ganz gleich­gül­tig, was ich wer­de.« »Mei­ne Stel­le wird frei«, sag­te der Hei­zer, gab im Voll­be­wußt­sein des­sen die Hän­de in die Ho­sen­ta­schen und warf die Bei­ne, die in fal­ti­gen, le­der­ar­ti­gen, ei­sen­grau­en Ho­sen sta­ken, aufs Bett hin, um sie zu stre­cken. Karl muß­te mehr an die Wand rücken. »Sie ver­las­sen das Schiff?« »Ja­wohl, wir mar­schie­ren heu­te ab.« »Wa­rum denn? Ge­fällt es Ih­nen nicht?« »Ja, das sind die Ver­hält­nis­se, es ent­schei­det nicht im­mer, ob es ei­nem ge­fällt oder nicht. Üb­ri­gens ha­ben Sie recht, es ge­fällt mir auch nicht. Sie den­ken wahr­schein­lich nicht ernst­lich dar­an, Hei­zer zu wer­den, aber ge­ra­de dann kann man es am leich­tes­ten wer­den. Ich also rate Ih­nen ent­schie­den ab. Wenn Sie in Eu­ro­pa stu­die­ren woll­ten, warum wol­len Sie es denn hier nicht? Die ame­ri­ka­ni­schen Uni­ver­si­tä­ten sind ja un­ver­gleich­lich bes­ser als die eu­ro­päi­schen.« »Es ist ja mög­lich«, sag­te Karl, »aber ich habe ja fast kein Geld zum Stu­die­ren. Ich habe zwar von ir­gend je­man­dem ge­le­sen, der bei Tag in ei­nem Ge­schäft ge­ar­bei­tet und in der Nacht stu­diert hat, bis er Dok­tor und ich glau­be Bür­ger­meis­ter wur­de, aber dazu ge­hört doch eine große Aus­dau­er, nicht? Ich fürch­te, die fehlt mir. Au­ßer­dem war ich kein be­son­ders gu­ter Schü­ler, der Ab­schied von der Schu­le ist mir wirk­lich nicht schwer ge­wor­den. Und die Schu­len hier sind viel­leicht noch stren­ger. Eng­lisch kann ich fast gar nicht. Über­haupt ist man hier ge­gen Frem­de so ein­ge­nom­men, glau­be ich.« »Ha­ben Sie das auch schon er­fah­ren? Na, dann ist's gut. Dann sind Sie mein Mann. Se­hen Sie, wir sind doch auf ei­nem deut­schen Schiff, es ge­hört der Ham­burg-Ame­ri­ka-Li­nie, warum sind wir nicht lau­ter Deut­sche hier? Wa­rum ist der Ober­ma­schi­nist ein Ru­mä­ne? Er heißt Schu­bal. Das ist doch nicht zu glau­ben. Und die­ser Lum­pen­hund schin­det uns Deut­sche auf ei­nem deut­schen Schiff! Glau­ben Sie nicht« -- ihm ging die Luft aus, er fa­ckel­te mit der Hand, »daß ich kla­ge, um zu kla­gen. Ich weiß, daß Sie kei­nen Ein­fluß ha­ben und selbst ein ar­mes Bür­sch­chen sind. Aber es ist zu arg!« Und er schlug auf den Tisch mehr­mals mit der Faust und ließ kein Auge von ihr, wäh­rend er schlug. »Ich habe doch schon auf so vie­len Schif­fen ge­dient« -- und er nann­te zwan­zig Na­men hin­ter­ein­an­der, als sei es ein Wort, Karl wur­de ganz wirr -- »und habe mich aus­ge­zeich­net, bin be­lobt wor­den, war ein Ar­bei­ter nach dem Ge­schmack mei­ner Ka­pi­tä­ne, so­gar auf dem glei­chen Han­dels­seg­ler war ich ei­ni­ge Jah­re« -- er er­hob sich, als sei das der Höchst­punkt sei­nes Le­bens -- »und hier auf die­sem Kas­ten, wo al­les nach der Schnur ein­ge­rich­tet ist, wo kein Witz ge­for­dert wird, hier taug ich nichts, hier ste­he ich dem Schu­bal im­mer im Wege, bin ein Faul­pelz, ver­die­ne hin­aus­ge­wor­fen zu wer­den und be­kom­me mei­nen Lohn aus Gna­de. Ver­ste­hen Sie das? Ich nicht.« »Das dür­fen Sie sich nicht ge­fal­len las­sen«, sag­te Karl auf­ge­regt. Er hat­te fast das Ge­fühl da­von ver­lo­ren, daß er auf dem un­si­che­ren Bo­den ei­nes Schif­fes, an der Küs­te ei­nes un­be­kann­ten Erd­teils war, so hei­misch war ihm hier auf dem Bett des Hei­zers zu­mu­te. »Wa­ren Sie schon beim Ka­pi­tän? Ha­ben Sie schon bei ihm Ihr Recht ge­sucht?« »Ach ge­hen Sie, ge­hen Sie lie­ber weg. Ich will Sie nicht hier ha­ben. Sie hö­ren nicht zu, was ich sage, und ge­ben mir Ratschlä­ge. Wie soll ich denn zum Ka­pi­tän ge­hen!« Und müde setz­te sich der Hei­zer wie­der und leg­te das Ge­sicht in bei­de Hän­de.

›Ei­nen bes­se­ren Rat kann ich ihm nicht ge­ben‹, sag­te sich Karl. Und er fand über­haupt, daß er lie­ber sei­nen Kof­fer hät­te ho­len sol­len, statt hier Ratschlä­ge zu ge­ben, die doch nur für dumm ge­hal­ten wur­den. Als ihm der Va­ter den Kof­fer für im­mer über­ge­ben hat­te, hat­te er im Scherz ge­fragt: »Wie lan­ge wirst du ihn ha­ben?«, und jetzt war die­ser treue Kof­fer viel­leicht schon im Ernst ver­lo­ren. Der ein­zi­ge Trost war noch, daß der Va­ter von sei­ner jet­zi­gen Lage kaum er­fah­ren konn­te, selbst wenn er nach­for­schen soll­te. Nur daß er bis New York mit­ge­kom­men war, konn­te die Schiffs­ge­sell­schaft ge­ra­de noch sa­gen. Leid tat es aber Karl, daß er die Sa­chen im Kof­fer noch kaum ver­wen­det hat­te, trotz­dem er es bei­spiels­wei­se längst nö­tig ge­habt hät­te, das Hemd zu wech­seln. Da hat­te er also am un­rich­ti­gen Ort ge­spart; jetzt, wo er es ge­ra­de am Be­ginn sei­ner Lauf­bahn nö­tig ha­ben wür­de, rein ge­klei­det auf­zu­tre­ten, wür­de er im schmut­zi­gen Hemd er­schei­nen müs­sen. Sonst wäre der Ver­lust des Kof­fers nicht gar so arg ge­we­sen, denn der An­zug, den er an­hat­te, war so­gar bes­ser als je­ner im Kof­fer, der ei­gent­lich nur ein No­t­an­zug war, den die Mut­ter noch knapp vor der Abrei­se hat­te fli­cken müs­sen. Jetzt er­in­ner­te er sich auch, daß im Kof­fer noch ein Stück Ve­ro­ne­ser Sala­mi war, die ihm die Mut­ter als Ex­tra­g­a­be ein­ge­packt hat­te, von der er je­doch nur den kleins­ten Teil hat­te auf­es­sen kön­nen, da er wäh­rend der Fahrt ganz ohne Ap­pe­tit ge­we­sen war und die Sup­pe, die im Zwi­schen­deck zur Ver­tei­lung kam, ihm reich­lich ge­nügt hat­te. Jetzt hät­te er aber die Wurst gern bei der Hand ge­habt, um sie dem Hei­zer zu ver­eh­ren. Denn sol­che Leu­te sind leicht ge­won­nen, wenn man ih­nen ir­gend­ei­ne Klei­nig­keit zu­steckt, das wuß­te Karl von sei­nem Va­ter her, wel­cher durch Zi­gar­ren­ver­tei­lung alle die nied­ri­ge­ren An­ge­stell­ten ge­wann, mit de­nen er ge­schäft­lich zu tun hat­te. Jetzt be­saß Karl an Ver­schenk­ba­rem nur noch sein Geld, und das woll­te er, wenn er schon viel­leicht den Kof­fer ver­lo­ren ha­ben soll­te, vor­läu­fig nicht an­rüh­ren. Wie­der kehr­ten sei­ne Ge­dan­ken zum Kof­fer zu­rück, und er konn­te jetzt wirk­lich nicht ein­se­hen, warum er den Kof­fer wäh­rend der Fahrt so auf­merk­sam be­wacht hat­te, daß ihm die Wa­che fast den Schlaf ge­kos­tet hat­te, wenn er jetzt die­sen glei­chen Kof­fer so leicht sich hat­te weg­neh­men las­sen. Er er­in­ner­te sich an die fünf Näch­te, wäh­rend de­rer er einen klei­nen Slo­wa­ken, der zwei Schlaf­stel­len links von ihm ge­le­gen war, un­aus­ge­setzt im Ver­dacht ge­habt hat­te, daß er es auf sei­nen Kof­fer ab­ge­se­hen habe. Die­ser Slo­wa­ke hat­te nur dar­auf ge­lau­ert, daß Karl end­lich, von Schwä­che be­fal­len, für einen Au­gen­blick ein­nick­te, da­mit er den Kof­fer mit ei­ner lan­gen Stan­ge, mit der er im­mer wäh­rend des Ta­ges spiel­te oder übte, zu sich hin­über­zie­hen kön­ne. Bei Tage sah die­ser Slo­wa­ke un­schul­dig ge­nug aus, aber kaum war die Nacht ge­kom­men, er­hob er sich von Zeit zu Zeit von sei­nem La­ger und sah trau­rig zu Karls Kof­fer hin­über. Karl konn­te dies ganz deut­lich er­ken­nen, denn im­mer hat­te hie und da je­mand mit der Un­ru­he des Aus­wan­de­rers ein Licht­chen an­ge­zün­det, trotz­dem dies nach der Schiffs­ord­nung ver­bo­ten war, und ver­such­te, un­ver­ständ­li­che Pro­spek­te der Aus­wan­de­rungs­agen­tu­ren zu ent­zif­fern. War ein sol­ches Licht in der Nähe, dann konn­te Karl ein we­nig ein­däm­mern, war es aber in der Fer­ne oder war dun­kel, dann muß­te er die Au­gen of­fen­hal­ten. Die­se An­stren­gung hat­te ihn recht er­schöpft, und nun war sie viel­leicht ganz nutz­los ge­we­sen. Die­ser But­ter­baum, wenn er ihn ein­mal ir­gend­wo tref­fen soll­te!

In die­sem Au­gen­blick er­tön­ten drau­ßen in wei­ter Fer­ne in die bis­he­ri­ge voll­kom­me­ne Ruhe hin­ein klei­ne kur­ze Schlä­ge, wie von Kin­der­fü­ßen, sie ka­men nä­her mit ver­stärk­tem Klang, und nun war es ein ru­hi­ger Marsch von Män­nern. Sie gin­gen of­fen­bar, wie es in dem schma­len Gang na­tür­lich war, in ei­ner Rei­he, man hör­te Klir­ren wie von Waf­fen. Karl, der schon nahe dar­an ge­we­sen war, sich im Bett zu ei­nem von al­len Sor­gen um Kof­fer und Slo­wa­ken be­frei­ten Schla­fe aus­zu­stre­cken, schreck­te auf und stieß den Hei­zer an, um ihn end­lich auf­merk­sam zu ma­chen, denn der Zug schi­en mit sei­ner Spit­ze die Tür ge­ra­de er­reicht zu ha­ben. »Das ist die Schiffs­ka­pel­le«, sag­te der Hei­zer, »die ha­ben oben ge­spielt und ge­hen jetzt ein­pa­cken. Jetzt ist al­les fer­tig und wir kön­nen ge­hen. Kom­men Sie!« Er faß­te Karl bei der Hand, nahm noch im letz­ten Au­gen­blick ein ein­ge­rahm­tes Mut­ter­got­tes­bild von der Wand über dem Bett, stopf­te es in sei­ne Brust­ta­sche, er­griff sei­nen Kof­fer und ver­ließ mit Karl ei­lig die Ka­bi­ne.

»Jetzt gehe ich ins Büro und wer­de den Her­ren mei­ne Mei­nung sa­gen. Es ist kein Pas­sa­gier mehr da, man muß kei­ne Rück­sicht neh­men.« Die­ses wie­der­hol­te der Hei­zer ver­schie­den­ar­tig und woll­te im Ge­hen mit Seit­wärts­s­to­ßen des Fu­ßes eine den Weg kreu­zen­de Rat­te nie­der­tre­ten, stieß sie aber bloß schnel­ler in das Loch hin­ein, das sie noch recht­zei­tig er­reicht hat­te. Er war über­haupt lang­sam in sei­nen Be­we­gun­gen, denn wenn er auch lan­ge Bei­ne hat­te, so wa­ren sie doch zu schwer.

Sie ka­men durch eine Ab­tei­lung der Kü­che, wo ei­ni­ge Mäd­chen in schmut­zi­gen Schür­zen -- sie be­gos­sen sie ab­sicht­lich -- Ge­schirr in großen Bot­ti­chen rei­nig­ten. Der Hei­zer rief eine ge­wis­se Line zu sich, leg­te den Arm um ihre Hüf­te und führ­te sie, die sich im­mer­zu ko­kett ge­gen sei­nen Arm drück­te, ein Stück­chen mit. »Es gibt jetzt Aus­zah­lung, willst du mit­kom­men?«, frag­te er. »Wa­rum soll ich mich be­mühn, bring mir das Geld lie­ber her«, ant­wor­te­te sie, schlüpf­te un­ter sei­nem Arm durch und lief da­von. »Wo hast du denn den schö­nen Kna­ben auf­ge­ga­belt?«, rief sie noch, woll­te aber kei­ne Ant­wort mehr. Man hör­te das La­chen al­ler Mäd­chen, die ihre Ar­beit un­ter­bro­chen hat­ten.

Sie aber gin­gen wei­ter und ka­men an eine Tür, die oben einen klei­nen Vor­gie­bel hat­te, der von klei­nen, ver­gol­de­ten Ka­rya­ti­den ge­tra­gen war. Für eine Schiff­sein­rich­tung sah das recht ver­schwen­de­risch aus. Karl war, wie er merk­te, nie­mals in die­se Ge­gend ge­kom­men, die wahr­schein­lich wäh­rend der Fahrt den Pas­sa­gie­ren der ers­ten und zwei­ten Klas­se vor­be­hal­ten ge­we­sen war, wäh­rend man jetzt vor der großen Schiffs­rei­ni­gung die Tren­nungs­tü­ren aus­ge­ho­ben hat­te. Sie wa­ren auch tat­säch­lich schon ei­ni­gen Män­nern be­geg­net, die Be­sen an der Schul­ter tru­gen und den Hei­zer ge­grüßt hat­ten. Karl staun­te über den großen Be­trieb, in sei­nem Zwi­schen­deck hat­te er da­von frei­lich we­nig er­fah­ren. Längs der Gän­ge zo­gen sich auch Dräh­te elek­tri­scher Lei­tun­gen, und eine klei­ne Glo­cke hör­te man im­mer­fort.

Der Hei­zer klopf­te re­spekt­voll an der Türe an und for­der­te, als man »He­rein!«, rief, Karl mit ei­ner Hand­be­we­gung auf, ohne Furcht ein­zu­tre­ten. Die­ser trat auch ein, aber blieb an der Tür ste­hen. Vor den drei Fens­tern des Zim­mers sah er die Wel­len des Mee­res, und bei Be­trach­tung ih­rer fröh­li­chen Be­we­gung schlug ihm das Herz, als hät­te er nicht fünf lan­ge Tage das Meer un­un­ter­bro­chen ge­se­hen. Gro­ße Schif­fe kreuz­ten ge­gen­sei­tig ihre Wege und ga­ben dem Wel­len­schlag nur so weit nach, als es ihre Schwe­re er­laub­te. Wenn man die Au­gen klein mach­te, schie­nen die­se Schif­fe vor lau­ter Schwe­re zu schwan­ken. Auf ih­ren Mas­ten tru­gen sie schma­le, aber lan­ge Flag­gen, die zwar durch die Fahrt ge­strafft wur­den, trotz­dem aber noch hin und her zap­pel­ten. Wahr­schein­lich von Kriegs­schif­fen her er­klan­gen Sa­lut­schüs­se, die Ka­no­nen­roh­re ei­nes sol­chen nicht all­zu­weit vor­über­fah­ren­den Schif­fes, strah­lend mit dem Re­flex ih­res Stahl­man­tels, wa­ren wie ge­hät­schelt von der si­che­ren, glat­ten und doch nicht waa­ge­rech­ten Fahrt. Die klei­nen Schiff­chen und Boo­te konn­te man, we­nigs­tens von der Tür aus, nur in der Fer­ne be­ob­ach­ten, wie sie in Men­gen in die Öff­nun­gen zwi­schen den großen Schif­fen ein­lie­fen. Hin­ter al­le­dem aber stand New York und sah Karl mit hun­dert­tau­send Fens­tern sei­ner Wol­ken­krat­zer an. Ja, in die­sem Zim­mer wuß­te man, wo man war.

An ei­nem run­den Tisch sa­ßen drei Her­ren, der eine ein Schiff­s­of­fi­zier in blau­er Schiff­s­uni­form, die zwei an­de­ren, Be­am­te der Ha­fen­be­hör­de, in schwar­zen ame­ri­ka­ni­schen Uni­for­men. Auf dem Tisch la­gen, hoch­auf­ge­schich­tet, ver­schie­de­ne Do­ku­men­te, wel­che der Of­fi­zier zu­erst mit der Fe­der in der Hand über­flog, um sie dann den bei­den an­de­ren zu rei­chen, die bald la­sen, bald ex­zer­pier­ten, bald in ihre Ak­ten­ta­schen ein­leg­ten, wenn nicht ge­ra­de der eine, der fast un­un­ter­bro­chen ein klei­nes Geräusch mit den Zäh­nen voll­führ­te, sei­nem Kol­le­gen et­was in ein Pro­to­koll dik­tier­te.

Am Fens­ter saß an ei­nem Schreib­tisch, den Rücken der Türe zu­ge­wen­det, ein klei­ne­rer Herr, der mit großen Fo­li­an­ten han­tier­te, die auf ei­nem star­ken Bü­cher­brett in Kopf­hö­he vor ihm an­ein­an­der­ge­reiht wa­ren. Ne­ben ihm stand eine of­fe­ne, we­nigs­tens auf den ers­ten Blick lee­re Kas­sa.

Das zwei­te Fens­ter war leer und gab den bes­ten Aus­blick. In der Nähe des drit­ten aber stan­den zwei Her­ren in halb­lau­tem Ge­spräch. Der eine lehn­te ne­ben dem Fens­ter, trug auch die Schiff­s­uni­form und spiel­te mit dem Griff des De­gens. Der­je­ni­ge, mit dem er sprach, war dem Fens­ter zu­ge­wen­det und ent­hüll­te hie und da durch eine Be­we­gung einen Teil der Or­dens­rei­he auf der Brust des an­dern. Er war in Zi­vil und hat­te ein dün­nes Bam­bus­stöck­chen, das, da er bei­de Hän­de an den Hüf­ten fest­hielt, auch wie ein De­gen ab­stand.

Karl hat­te nicht viel Zeit, al­les an­zu­se­hen, denn bald trat ein Die­ner auf sie zu und frag­te den Hei­zer mit ei­nem Blick, als ge­hö­re er nicht hier­her, was er denn wol­le. Der Hei­zer ant­wor­te­te, so lei­se als er ge­fragt wur­de, er wol­le mit dem Herrn Ober­kas­sier re­den. Der Die­ner lehn­te für sei­nen Teil mit ei­ner Hand­be­we­gung die­se Bit­te ab, ging aber den­noch auf den Fuß­spit­zen, dem run­den Tisch in großem Bo­gen aus­wei­chend, zu dem Herrn mit den Fo­li­an­ten. Die­ser Herr -- das sah man deut­lich -- er­starr­te ge­ra­de­zu un­ter den Wor­ten des Die­ners, kehr­te sich aber end­lich nach dem Man­ne um, der ihn zu spre­chen wünsch­te, und fuch­tel­te dann, streng ab­weh­rend, ge­gen den Hei­zer und der Si­cher­heit hal­ber auch ge­gen den Die­ner hin. Der Die­ner kehr­te dar­auf zum Hei­zer zu­rück und sag­te in ei­nem Tone, als ver­traue er ihm et­was an: »Sche­ren Sie sich so­fort aus dem Zim­mer!«

Der Hei­zer sah nach die­ser Ant­wort zu Karl hin­un­ter, als sei die­ser sein Herz, dem er stumm sei­nen Jam­mer kla­ge. Ohne wei­te­re Be­sin­nung mach­te sich Karl los, lief quer durchs Zim­mer, daß er so­gar leicht an den Ses­sel des Of­fi­ziers streif­te, der Die­ner lief ge­beugt mit zum Um­fan­gen be­rei­ten Ar­men, als jage er ein Un­ge­zie­fer, aber Karl war der ers­te beim Tisch des Ober­kas­siers, wo er sich fest­hielt, für den Fall, daß der Die­ner ver­su­chen soll­te, ihn fort­zu­zie­hen.

Na­tür­lich wur­de gleich das Zim­mer le­ben­dig. Der Schiff­s­of­fi­zier am Tisch war auf­ge­sprun­gen, die Her­ren von der Ha­fen­be­hör­de sa­hen ru­hig, aber auf­merk­sam zu, die bei­den Her­ren am Fens­ter wa­ren ne­ben­ein­an­der­ge­tre­ten, der Die­ner, wel­cher glaub­te, er sei dort, wo schon die ho­hen Her­ren In­ter­es­se zeig­ten, nicht mehr am Plat­ze, trat zu­rück. Der Hei­zer an der Türe war­te­te an­ge­spannt auf den Au­gen­blick, bis sei­ne Hil­fe nö­tig wür­de. Der Ober­kas­sier end­lich mach­te in sei­nem Lehn­ses­sel eine große Rechts­wen­dung.

Karl kram­te aus sei­ner Ge­heim­ta­sche, die er den Bli­cken die­ser Leu­te zu zei­gen kei­ne Be­den­ken hat­te, sei­nen Rei­se­paß her­vor, den er statt wei­te­rer Vor­stel­lung ge­öff­net auf den Tisch leg­te. Der Ober­kas­sier schi­en die­sen Paß für ne­ben­säch­lich zu hal­ten, denn er schnipp­te ihn mit zwei Fin­gern bei­sei­te, wor­auf Karl, als sei die­se For­ma­li­tät zur Zufrie­den­heit er­le­digt, den Paß wie­der ein­steck­te.

»Ich er­lau­be mir zu sa­gen«, be­gann er dann, »daß mei­ner Mei­nung nach dem Herrn Hei­zer Un­recht ge­sche­hen ist. Es ist hier ein ge­wis­ser Schu­bal, der ihm auf­sitzt. Er selbst hat schon auf vie­len Schif­fen, die er Ih­nen alle nen­nen kann, zur voll­stän­di­gen Zufrie­den­heit ge­dient, ist flei­ßig, meint es mit sei­ner Ar­beit gut, und es ist wirk­lich nicht ein­zu­se­hen, warum er ge­ra­de auf die­sem Schiff, wo doch der Dienst nicht so über­mä­ßig schwer ist, wie zum Bei­spiel auf Han­dels­seg­lern, schlecht ent­spre­chen soll­te. Es kann da­her nur Ver­leum­dung sein, die ihn in sei­nem Vor­wärts­kom­men hin­dert und ihn um die Aner­ken­nung bringt, die ihm sonst ganz be­stimmt nicht feh­len wür­de. Ich habe nur das All­ge­mei­ne über die­se Sa­che ge­sagt, sei­ne be­son­de­ren Be­schwer­den wird er Ih­nen selbst vor­brin­gen.« Karl hat­te sich mit die­ser Rede an alle Her­ren ge­wen­det, weil ja tat­säch­lich auch alle zu­hör­ten und es viel wahr­schein­li­cher schi­en, daß sich un­ter al­len zu­sam­men ein Ge­rech­ter vor­fand, als daß die­ser Ge­rech­te ge­ra­de der Ober­kas­sier sein soll­te. Aus Schlau­heit hat­te au­ßer­dem Karl ver­schwie­gen, daß er den Hei­zer erst so kur­ze Zeit kann­te. Im üb­ri­gen hät­te er noch viel bes­ser ge­spro­chen, wenn er nicht durch das rote Ge­sicht des Herrn mit dem Bam­bus­stöck­chen be­irrt wor­den wäre, das er von sei­nem jet­zi­gen Stand­ort zum ers­ten­mal sah.

»Es ist al­les Wort für Wort rich­tig«, sag­te der Hei­zer, ehe ihn noch je­mand ge­fragt, ja ehe man noch über­haupt auf ihn hin­ge­se­hen hat­te. Die­se Übe­reilt­heit des Hei­zers wäre ein großer Feh­ler ge­we­sen, wenn nicht der Herr mit den Or­den, der, wie es jetzt Karl auf­leuch­te­te, je­den­falls der Ka­pi­tän war, of­fen­bar mit sich be­reits über­ein­ge­kom­men wäre, den Hei­zer an­zu­hö­ren. Er streck­te näm­lich die Hand aus und rief dem Hei­zer zu: »Kom­men Sie her!«, mit ei­ner Stim­me, fest, um mit ei­nem Ham­mer dar­auf zu schla­gen. Jetzt hing al­les vom Be­neh­men des Hei­zers ab, denn was die Ge­rech­tig­keit sei­ner Sa­che an­lang­te, an der zwei­fel­te Karl nicht.

Glück­li­cher­wei­se zeig­te sich bei die­ser Ge­le­gen­heit, daß der Hei­zer schon viel in der Welt her­um­ge­kom­men war. Mus­ter­haft ru­hig nahm er aus sei­nem Köf­fer­chen mit dem ers­ten Griff ein Bün­del­chen Pa­pie­re so­wie ein No­tiz­buch, ging da­mit, als ver­stün­de sich das von selbst, un­ter voll­stän­di­ger Ver­nach­läs­si­gung des Ober­kas­siers, zum Ka­pi­tän und brei­te­te auf dem Fens­ter­brett sei­ne Be­weis­mit­tel aus. Dem Ober­kas­sier blieb nichts üb­rig, als sich selbst hin­zu­be­mühn. »Der Mann ist ein be­kann­ter Que­ru­lant«, sag­te er zur Er­klä­rung, »er ist mehr in der Kas­sa als im Ma­schi­nen­raum. Er hat Schu­bal, die­sen ru­hi­gen Men­schen, ganz zur Verzweif­lung ge­bracht. Hö­ren Sie ein­mal!«, wand­te er sich an den Hei­zer, »Sie trei­ben Ihre Zu­dring­lich­keit doch schon wirk­lich zu weit. Wie oft hat man Sie schon aus den Aus­zah­lungs­räu­men hin­aus­ge­wor­fen, wie Sie es mit Ihren ganz voll­stän­dig und aus­nahms­los un­be­rech­tig­ten For­de­run­gen ver­die­nen! Wie oft sind Sie von dort in die Haupt­kas­sa ge­lau­fen ge­kom­men! Wie oft hat man Ih­nen im gu­ten ge­sagt, daß Schu­bal Ihr un­mit­tel­ba­rer Vor­ge­setz­ter ist, mit dem al­lein Sie sich als ein Un­ter­ge­be­ner ab­zu­fin­den ha­ben! Und jetzt kom­men Sie gar noch her, wenn der Herr Ka­pi­tän da ist, schä­men sich nicht, so­gar ihn zu be­läs­ti­gen, son­dern ent­blö­den sich nicht ein­mal, als ein­ge­lern­ten Stimm­füh­rer Ih­rer ab­ge­schmack­ten Be­schul­di­gun­gen die­sen Klei­nen mit­zu­brin­gen, den ich über­haupt zum ers­ten­mal auf dem Schif­fe sehe!«

Karl hielt sich mit Ge­walt zu­rück, vor­zu­sprin­gen. Aber schon war auch der Ka­pi­tän da, wel­cher sag­te: »Hö­ren wir den Mann doch ein­mal an. Der Schu­bal wird mir so­wie­so mit der Zeit viel zu selb­stän­dig, wo­mit ich aber nichts zu Ihren Guns­ten ge­sagt ha­ben will.« Das letz­te­re galt dem Hei­zer, es war nur na­tür­lich, daß er sich nicht so­fort für ihn ein­set­zen konn­te, aber al­les schi­en auf dem rich­ti­gen Wege. Der Hei­zer be­gann sei­ne Er­klä­run­gen und über­wand sich gleich am An­fang, in­dem er Schu­bal mit »Herr« ti­tu­lier­te. Wie freu­te sich Karl am ver­las­se­nen Schreib­tisch des Ober­kas­siers, wo er eine Brief­waa­ge im­mer wie­der nie­der­drück­te vor lau­ter Ver­gnü­gen. -- Herr Schu­bal ist un­ge­recht! Herr Schu­bal be­vor­zugt die Aus­län­der! Herr Schu­bal ver­wies den Hei­zer aus dem Ma­schi­nen­raum und ließ ihn Klo­set­te rei­ni­gen, was doch ge­wiß nicht des Hei­zers Sa­che war! -- Ein­mal wur­de so­gar die Tüch­tig­keit des Herrn Schu­bal an­ge­zwei­felt, die eher schein­bar als wirk­lich vor­han­den sein soll­te. Bei die­ser Stel­le starr­te Karl mit al­ler Kraft den Ka­pi­tän an, zu­tun­lich, als sei er sein Kol­le­ge, nur da­mit er sich durch die et­was un­ge­schick­te Aus­drucks­wei­se des Hei­zers nicht zu des­sen Un­guns­ten be­ein­flus­sen las­se. Im­mer­hin er­fuhr man aus den vie­len Re­den nichts Ei­gent­li­ches, und wenn auch der Ka­pi­tän noch im­mer vor sich hin­sah, in den Au­gen die Ent­schlos­sen­heit, den Hei­zer dies­mal bis zu Ende an­zu­hö­ren, so wur­den doch die an­de­ren Her­ren un­ge­dul­dig, und die Stim­me des Hei­zers re­gier­te bald nicht mehr un­um­schränkt in dem Rau­me, was man­ches be­fürch­ten ließ. Als ers­ter setz­te der Herr in Zi­vil sein Bam­bus­stöck­chen in Tä­tig­keit und klopf­te, wenn auch nur lei­se, auf das Par­kett. Die an­de­ren Her­ren sa­hen na­tür­lich hie und da hin, die Her­ren von der Ha­fen­be­hör­de, die of­fen­bar pres­siert wa­ren, grif­fen wie­der zu den Ak­ten und be­gan­nen, wenn auch noch et­was geis­tes­ab­we­send, sie durch­zu­se­hen, der Schiff­s­of­fi­zier rück­te sei­nen Tisch wie­der nä­her, und der Ober­kas­sier, der ge­won­ne­nes Spiel zu ha­ben glaub­te, seufz­te aus Iro­nie tief auf. Von der all­ge­mein ein­tre­ten­den Zer­streu­ung schi­en nur der Die­ner be­wahrt, der von den Lei­den des un­ter die Gro­ßen ge­stell­ten ar­men Man­nes einen Teil mit­fühl­te und Karl ernst zu­nick­te, als wol­le er da­mit et­was er­klä­ren.

In­zwi­schen ging vor den Fens­tern das Ha­fen­le­ben wei­ter, ein fla­ches Last­schiff mit ei­nem Berg von Fäs­sern, die wun­der­bar ver­staut sein muß­ten, daß sie nicht ins Rol­len ka­men, zog vor­über und er­zeug­te in dem Zim­mer fast Dun­kel­heit; klei­ne Mo­tor­boo­te, die Karl jetzt, wenn er Zeit ge­habt hät­te, ge­nau hät­te an­se­hen kön­nen, rausch­ten nach den Zu­ckun­gen der Hän­de ei­nes am Steu­er auf­recht ste­hen­den Man­nes schnur­ge­ra­de da­hin! Ei­gen­tüm­li­che Schwimm­kör­per tauch­ten hie und da selb­stän­dig aus dem ru­he­lo­sen Was­ser, wur­den gleich wie­der über­schwemmt und ver­san­ken vor dem er­staun­ten Blick; Boo­te der Oze­an­damp­fer wur­den von heiß ar­bei­ten­den Ma­tro­sen vor­wärts­ge­ru­dert und wa­ren voll von Pas­sa­gie­ren, die dar­in, so wie man sie hin­ein­ge­zwängt hat­te, still und er­war­tungs­voll sa­ßen, wenn es auch man­che nicht un­ter­las­sen konn­ten, die Köp­fe nach den wech­seln­den Sze­ne­ri­en zu dre­hen. Eine Be­we­gung ohne Ende, eine Un­ru­he, über­tra­gen von dem un­ru­hi­gen Ele­ment auf die hilflo­sen Men­schen und ihre Wer­ke!

Aber al­les mahn­te zur Eile, zur Deut­lich­keit, zu ganz ge­nau­er Dar­stel­lung; aber was tat der Hei­zer? Er re­de­te sich al­ler­dings in Schweiß, die Pa­pie­re auf dem Fens­ter konn­te er längst mit sei­nen zit­tern­den Hän­den nicht mehr hal­ten; aus al­len Him­mels­rich­tun­gen ström­ten ihm Kla­gen über Schu­bal zu, von de­nen sei­ner Mei­nung nach jede ein­zel­ne ge­nügt, die­sen Schu­bal voll­stän­dig zu be­gra­ben, aber was er dem Ka­pi­tän vor­zei­gen konn­te, war nur ein trau­ri­ges Durchein­an­der­stru­deln al­ler ins­ge­samt. Längst schon pfiff der Herr mit dem Bam­bus­stöck­chen schwach zur De­cke hin­auf, die Her­ren von der Ha­fen­be­hör­de hiel­ten schon den Of­fi­zier an ih­rem Tisch und mach­ten kei­ne Mie­ne, ihn je wie­der los­zu­las­sen, der Ober­kas­sier wur­de sicht­lich nur durch die Ruhe des Ka­pi­täns vor dem Drein­fah­ren zu­rück­ge­hal­ten, der Die­ner er­war­te­te in Ha­bacht­stel­lung je­den Au­gen­blick einen auf den Hei­zer be­züg­li­chen Be­fehl sei­nes Ka­pi­täns.

Da konn­te Karl nicht mehr un­tä­tig blei­ben. Er ging also lang­sam zu der Grup­pe hin und über­leg­te im Ge­hen nur de­sto schnel­ler, wie er die Sa­che mög­lichst ge­schickt an­grei­fen könn­te. Es war wirk­lich höchs­te Zeit, noch ein klei­nes Weil­chen nur, und sie konn­ten ganz gut bei­de aus dem Büro flie­gen. Der Ka­pi­tän moch­te ja ein gu­ter Mann sein und über­dies ge­ra­de jetzt, wie es Karl schi­en, ir­gend­ei­nen be­son­de­ren Grund ha­ben, sich als ge­rech­ter Vor­ge­setz­ter zu zei­gen, aber schließ­lich war er kein In­stru­ment, das man in Grund und Bo­den spie­len konn­te -- und ge­ra­de so be­han­del­te ihn der Hei­zer, al­ler­dings aus sei­nem gren­zen­los em­pör­ten In­nern her­aus.

Karl sag­te also zum Hei­zer: »Sie müs­sen das ein­fa­cher er­zäh­len, kla­rer, der Herr Ka­pi­tän kann es nicht wür­di­gen, so wie Sie es ihm er­zäh­len. Kennt er denn alle Ma­schi­nis­ten und Lauf­bur­schen beim Na­men oder gar beim Tauf­na­men, daß er, wenn Sie nur einen sol­chen Na­men aus­spre­chen, gleich wis­sen kann, um wen es sich han­delt? Ord­nen Sie doch Ihre Be­schwer­den, sa­gen Sie die wich­tigs­te zu­erst und ab­stei­gend die an­de­ren, viel­leicht wird es dann über­haupt nicht mehr nö­tig sein, die meis­ten auch nur zu er­wäh­nen. Mir ha­ben Sie es doch im­mer so klar dar­ge­stellt!« ›Wenn man in Ame­ri­ka Kof­fer steh­len kann, kann man auch hie und da lü­gen‹, dach­te er zur Ent­schul­di­gung.

Wenn es aber nur ge­hol­fen hät­te! Ob es nicht auch schon zu spät war? Der Hei­zer un­ter­brach sich zwar so­fort, als er die be­kann­te Stim­me hör­te, aber mit sei­nen Au­gen, die ganz von Trä­nen der be­lei­dig­ten Man­nes­eh­re, der schreck­li­chen Erin­ne­run­gen, der äu­ßers­ten ge­gen­wär­ti­gen Not ver­deckt wa­ren, konn­te er Karl schon nicht ein­mal mehr gut er­ken­nen. Wie soll­te er auch jetzt -- Karl sah das schwei­gend vor dem jetzt Schwei­gen­den wohl ein --, wie soll­te er auch jetzt plötz­lich sei­ne Re­de­wei­se än­dern, da es ihm doch schi­en, als hät­te er al­les, was zu sa­gen war, ohne die ge­rings­te Aner­ken­nung schon vor­ge­bracht und als habe er an­de­rer­seits noch gar nichts ge­sagt und kön­ne doch den Her­ren jetzt nicht zu­mu­ten, noch al­les an­zu­hö­ren. Und in ei­nem sol­chen Zeit­punkt kommt noch Karl, sein ein­zi­ger An­hän­ger, da­her, will ihm gute Leh­ren ge­ben, zeigt ihm aber statt des­sen, daß al­les, al­les ver­lo­ren ist.

›Wä­re ich frü­her ge­kom­men, statt aus dem Fens­ter zu schau­en!‹, sag­te sich Karl, senk­te vor dem Hei­zer das Ge­sicht und schlug die Hän­de an die Ho­sen­naht, zum Zei­chen des En­des je­der Hoff­nung.

Aber der Hei­zer miß­ver­stand das, wit­ter­te wohl in Karl ir­gend­wel­che ge­hei­men Vor­wür­fe ge­gen sich, und in der gu­ten Ab­sicht, sie ihm aus­zu­re­den, fing er zur Krö­nung sei­ner Ta­ten mit Karl jetzt zu strei­ten an. Jetzt, wo doch die Her­ren am run­den Tisch längst em­pört über den nutz­lo­sen Lärm wa­ren, der ihre wich­ti­gen Ar­bei­ten stör­te, wo der Haupt­kas­sier all­mäh­lich die Ge­duld des Ka­pi­täns un­ver­ständ­lich fand und zum so­for­ti­gen Aus­bruch neig­te, wo der Die­ner, ganz wie­der in der Sphä­re sei­ner Her­ren, den Hei­zer mit wil­dem Bli­cke maß, und wo end­lich der Herr mit dem Bam­bus­stöck­chen, zu wel­chem so­gar der Ka­pi­tän hie und da freund­lich hin­über­sah, schon gänz­lich ab­ge­stumpft ge­gen den Hei­zer, ja von ihm an­ge­wi­dert, ein klei­nes No­tiz­buch her­vor­zog und, of­fen­bar mit ganz an­de­ren An­ge­le­gen­hei­ten be­schäf­tigt, die Au­gen zwi­schen dem No­tiz­buch und Karl hin und her wan­dern ließ.

»Ich weiß ja«, sag­te Karl, der Mühe hat­te, den jetzt ge­gen ihn ge­kehr­ten Schwall des Hei­zers ab­zu­weh­ren, trotz­dem aber quer durch al­len Streit noch ein Freun­des­lä­cheln für ihn üb­rig hat­te, »Sie ha­ben recht, recht, ich habe ja nie dar­an ge­zwei­felt.« Er hät­te ihm gern aus Furcht vor Schlä­gen die her­um­fah­ren­den Hän­de ge­hal­ten, noch lie­ber al­ler­dings ihn in einen Win­kel ge­drängt, um ihm ein paar lei­se, be­ru­hi­gen­de Wor­te zu­zu­flüs­tern, die nie­mand sonst hät­te hö­ren müs­sen. Aber der Hei­zer war au­ßer Rand und Band. Karl be­gann jetzt schon so­gar aus dem Ge­dan­ken eine Art Trost zu schöp­fen, daß der Hei­zer im Not­fall mit der Kraft sei­ner Verzweif­lung alle an­we­sen­den sie­ben Män­ner be­zwin­gen kön­ne. Al­ler­dings lag auf dem Schreib­tisch, wie ein Blick dort­hin lehr­te, ein Auf­satz mit viel zu vie­len Druck­knöp­fen der elek­tri­schen Lei­tung; und eine Hand, ein­fach auf sie nie­der­ge­drückt, konn­te das gan­ze Schiff mit al­len sei­nen von feind­li­chen Men­schen ge­füll­ten Gän­gen re­bel­lisch ma­chen.

Da trat der doch so un­in­ter­es­sier­te Herr mit dem Bam­bus­stöck­chen auf Karl zu und frag­te, nicht über­laut, aber deut­lich über al­lem Ge­schrei des Hei­zers: »Wie hei­ßen Sie denn ei­gent­lich?« In die­sem Au­gen­blick, als hät­te je­mand hin­ter der Tür auf die­se Äu­ße­rung des Herrn ge­war­tet, klopf­te es. Der Die­ner sah zum Ka­pi­tän hin­über, die­ser nick­te. Da­her ging der Die­ner zur Tür und öff­ne­te sie. Drau­ßen stand in ei­nem al­ten Kai­ser­rock ein Mann von mitt­le­ren Pro­por­tio­nen, sei­nem An­se­hen nach nicht ei­gent­lich zur Ar­beit an den Ma­schi­nen ge­eig­net, und war doch -- Schu­bal. Wenn es Karl nicht an al­ler Au­gen er­kannt hät­te, die eine ge­wis­se Be­frie­di­gung aus­drück­ten, von der nicht ein­mal der Ka­pi­tän frei war, er hät­te es zu sei­nem Schre­cken am Hei­zer se­hen müs­sen, der die Fäus­te an den ge­straff­ten Ar­men so ball­te, als sei die­se Bal­lung das Wich­tigs­te an ihm, dem er al­les, was er an Le­ben habe, zu op­fern be­reit sei. Da steck­te jetzt alle sei­ne Kraft, auch die, wel­che ihn über­haupt auf­recht er­hielt.

Und da war also der Feind, frei und frisch im Fe­st­an­zug, un­ter dem Arm ein Ge­schäfts­buch, wahr­schein­lich die Lohn­lis­ten und Ar­beits­aus­wei­se des Hei­zers, und sah mit dem un­ge­scheu­ten Zu­ge­ständ­nis, daß er die Stim­mung je­des ein­zel­nen vor al­lem fest­stel­len wol­le, in al­ler Au­gen der Rei­he nach. Die sie­ben wa­ren auch schon alle sei­ne Freun­de, denn wenn auch der Ka­pi­tän frü­her ge­wis­se Ein­wän­de ge­gen ihn ge­habt oder viel­leicht nur vor­ge­schützt hat­te, nach dem Leid, das ihm der Hei­zer an­ge­tan hat­te, schi­en ihm wahr­schein­lich an Schu­bal auch das Ge­rings­te nicht mehr aus­zu­set­zen. Ge­gen einen Mann wie den Hei­zer konn­te man nicht streng ge­nug ver­fah­ren, und wenn dem Schu­bal et­was vor­zu­wer­fen war, so war es der Um­stand, daß er die Wi­der­spens­tig­keit des Hei­zers im Lau­fe der Zeit nicht so weit hat­te bre­chen kön­nen, daß es die­ser heu­te noch ge­wagt hat­te, vor dem Ka­pi­tän zu er­schei­nen.

Nun konn­te man ja viel­leicht noch an­neh­men, die Ge­gen­über­stel­lung des Hei­zers und Schu­bals wer­de die ihr vor ei­nem hö­he­ren Forum zu­kom­men­de Wir­kung auch vor den Men­schen nicht ver­feh­len, denn wenn sich auch Schu­bal gut ver­stel­len konn­te, er muß­te es doch durch­aus nicht bis zum Ende aus­hal­ten kön­nen. Ein kur­z­es Auf­blit­zen sei­ner Schlech­tig­keit soll­te ge­nü­gen, um sie den Her­ren sicht­bar zu ma­chen, da­für woll­te Karl schon sor­gen. Er kann­te doch schon bei­läu­fig den Scharf­sinn, die Schwä­chen, die Lau­nen der ein­zel­nen Her­ren, und un­ter die­sem Ge­sichts­punkt war die bis­her hier ver­brach­te Zeit nicht ver­lo­ren. Wenn nur der Hei­zer bes­ser auf dem Platz ge­we­sen wäre, aber der schi­en voll­stän­dig kampf­un­fä­hig. Wenn man ihm den Schu­bal hin­ge­hal­ten hät­te, hät­te er wohl des­sen ge­haß­ten Schä­del mit den Fäus­ten auf­klop­fen kön­nen. Aber schon die paar Schrit­te zu ihm hin­zu­ge­hen, war er wohl kaum im­stan­de. Wa­rum hat­te denn Karl das so leicht Vor­aus­zu­se­hen­de nicht vor­aus­ge­se­hen, daß Schu­bal end­lich kom­men müs­se, wenn nicht aus ei­ge­nem An­trieb, so vom Ka­pi­tän ge­ru­fen? Wa­rum hat­te er auf dem Her­weg mit dem Hei­zer nicht einen ge­nau­en Kriegs­plan be­spro­chen, statt, wie sie es in Wirk­lich­keit ge­tan hat­ten, heil­los un­vor­be­rei­tet ein­fach dort ein­zu­tre­ten, wo eine Tür war? Konn­te der Hei­zer über­haupt noch re­den, ja und nein sa­gen, wie es bei dem Kreuz­ver­hör, das al­ler­dings nur im güns­tigs­ten Fall be­vor­stand, nö­tig sein wür­de? Er stand da, die Bei­ne aus­ein­an­der­ge­stellt, die Knie un­si­cher, den Kopf et­was ge­ho­ben, und die Luft ver­kehr­te durch den of­fe­nen Mund, als gäbe es in­nen kei­ne Lun­gen mehr, die sie ver­ar­bei­te­ten. Karl al­ler­dings fühl­te sich so kräf­tig und bei Ver­stand, wie er es viel­leicht zu Hau­se nie­mals ge­we­sen war. Wenn ihn doch sei­ne El­tern se­hen könn­ten, wie er in frem­dem Land vor an­ge­se­he­nen Per­sön­lich­kei­ten das Gute ver­focht und, wenn er es auch noch nicht zum Sie­ge ge­bracht hat­te, so doch zur letz­ten Erobe­rung sich voll­kom­men be­reit­stell­te! Wür­den sie ihre Mei­nung über ihn re­vi­die­ren? Ihn zwi­schen sich nie­der­set­zen und lo­ben? Ihm ein­mal, ein­mal in die ih­nen so er­ge­be­nen Au­gen sehn? Un­si­che­re Fra­gen und un­ge­eig­nets­ter Au­gen­blick, sie zu stel­len!

»Ich kom­me, weil ich glau­be, daß mich der Hei­zer ir­gend­wel­cher Un­red­lich­kei­ten be­schul­digt. Ein Mäd­chen aus der Kü­che sag­te mir, sie hät­te ihn auf dem Wege hier­her ge­se­hen. Herr Ka­pi­tän und Sie alle mei­ne Her­ren, ich bin be­reit, jede Be­schul­di­gung an der Hand mei­ner Schrif­ten, nö­ti­gen­falls durch Aus­sa­gen un­vor­ein­ge­nom­me­ner und un­be­ein­fluß­ter Zeu­gen, die vor der Türe ste­hen, zu wi­der­le­gen.« So sprach Schu­bal. Das war al­ler­dings die kla­re Rede ei­nes Man­nes, und nach der Ver­än­de­rung in den Mie­nen der Zu­hö­rer hät­te man glau­ben kön­nen, sie hör­ten zum ers­ten­mal nach lan­ger Zeit wie­der mensch­li­che Lau­te. Sie be­merk­ten frei­lich nicht, daß selbst die­se schö­ne Rede Lö­cher hat­te. Wa­rum war das ers­te sach­li­che Wort, das ihm ein­fiel, »Un­red­lich­kei­ten«? Hät­te viel­leicht die Be­schul­di­gung hier ein­set­zen müs­sen, statt bei sei­nen na­tio­na­len Vor­ein­ge­nom­men­hei­ten? Ein Mäd­chen aus der Kü­che hat­te den Hei­zer auf dem Weg ins Büro ge­se­hen, und Schu­bal hat­te so­fort be­grif­fen? War es nicht das Schuld­be­wußt­sein, das ihm den Ver­stand schärf­te? Und Zeu­gen hat­te er gleich mit­ge­bracht und nann­te sie noch au­ßer­dem un­vor­ein­ge­nom­men und un­be­ein­flußt? Gau­ne­rei, nichts als Gau­ne­rei! Und die Her­ren dul­de­ten das und an­er­kann­ten es noch als rich­ti­ges Be­neh­men? Wa­rum hat­te er zwei­fel­los sehr viel Zeit zwi­schen der Mel­dung des Kü­chen­mäd­chens und sei­ner An­kunft hier ver­strei­chen las­sen? Doch zu kei­nem an­de­ren Zwe­cke, als da­mit der Hei­zer die Her­ren so er­mü­de, daß sie all­mäh­lich ihre kla­re Ur­teils­kraft ver­lö­ren, wel­che Schu­bal vor al­lem zu fürch­ten hat­te. Hat­te er, der si­cher schon lan­ge hin­ter der Tür ge­stan­den, nicht erst im Au­gen­blick ge­klopft, als er in­fol­ge der ne­ben­säch­li­chen Fra­ge je­nes Herrn hof­fen durf­te, der Hei­zer sei er­le­digt?

Al­les war klar und wur­de ja auch von Schu­bal wi­der Wil­len so dar­ge­bo­ten, aber den Herrn muß­te man es an­ders, noch hand­greif­li­cher zei­gen. Sie brauch­ten Auf­rüt­te­lung. Also, Karl, rasch, nüt­ze we­nigs­tens die Zeit aus, ehe die Zeu­gen auf­tre­ten und al­les über­schwem­men!

Eben aber wink­te der Ka­pi­tän dem Schu­bal ab, der dar­auf­hin so­fort -- denn sei­ne An­ge­le­gen­heit schi­en für ein Weil­chen auf­ge­scho­ben zu sein -- bei­sei­te­trat und mit dem Die­ner, der sich ihm gleich an­ge­schlos­sen hat­te, eine lei­se Un­ter­hal­tung be­gann, bei der es an Sei­ten­bli­cken nach dem Hei­zer und Karl so­wie an den über­zeug­tes­ten Hand­be­we­gun­gen nicht fehl­te. Schu­bal schi­en so sei­ne nächs­te Rede ein­zuü­ben.

»Woll­ten Sie nicht den jun­gen Men­schen et­was fra­gen, Herr Ja­kob?«, sag­te der Ka­pi­tän un­ter all­ge­mei­ner Stil­le zu dem Herrn mit dem Bam­bus­stöck­chen.

»Al­ler­dings«, sag­te die­ser, mit ei­ner klei­nen Nei­gung für die Auf­merk­sam­keit dan­kend. Und frag­te dann Karl noch­mals: »Wie hei­ßen Sie ei­gent­lich?«

Karl, wel­cher glaub­te, es sei im In­ter­es­se der großen Haupt­sa­che ge­le­gen, wenn die­ser Zwi­schen­fall des hart­nä­cki­gen Fra­gers bald er­le­digt wür­de, ant­wor­te­te kurz, ohne, wie es sei­ne Ge­wohn­heit war, durch Vor­wei­sung des Pas­ses sich vor­zu­stel­len, den er erst hät­te su­chen müs­sen: »Karl Roß­mann.«

»Aber«, sag­te der mit Ja­kob An­ge­spro­che­ne und trat zu­erst fast un­gläu­big lä­chelnd zu­rück. Auch der Ka­pi­tän, der Ober­kas­sier, der Schiff­s­of­fi­zier, ja so­gar der Die­ner zeig­ten deut­lich ein über­mä­ßi­ges Er­stau­nen we­gen Karls Na­men. Nur die Her­ren von der Ha­fen­be­hör­de und Schu­bal ver­hiel­ten sich gleich­gül­tig.

»Aber«, wie­der­hol­te Herr Ja­kob und trat mit et­was stei­fen Schrit­ten auf Karl zu, »dann bin ich ja dein On­kel Ja­kob, und du bist mein lie­ber Nef­fe. Ahn­te ich es doch die gan­ze Zeit über!«, sag­te er zum Ka­pi­tän hin, ehe er Karl um­arm­te und küß­te, der al­les stumm ge­sche­hen ließ.

»Wie hei­ßen Sie?«, frag­te Karl, nach­dem er sich los­ge­las­sen fühl­te, zwar sehr höf­lich, aber gänz­lich un­ge­rührt, und streng­te sich an, die Fol­gen ab­zu­se­hen, wel­che die­ses neue Er­eig­nis für den Hei­zer ha­ben dürf­te. Vor­läu­fig deu­te­te nichts dar­auf hin, daß Schu­bal aus die­ser Sa­che Nut­zen zie­hen könn­te.

»Be­grei­fen Sie doch, jun­ger Mann, Ihr Glück«, sag­te der Ka­pi­tän, der durch Karls Fra­ge die Wür­de der Per­son des Herrn Ja­kob ver­letzt glaub­te, der sich zum Fens­ter ge­stellt hat­te, of­fen­bar, um sein auf­ge­reg­tes Ge­sicht, das er über­dies mit ei­nem Ta­schen­tuch be­tupf­te, den an­dern nicht zei­gen zu müs­sen. »Es ist der Se­na­tor Ed­ward Ja­kob, der sich Ih­nen als Ihr On­kel zu er­ken­nen ge­ge­ben hat. Es er­war­tet Sie nun­mehr, doch wohl ganz ge­gen Ihre bis­he­ri­gen Er­war­tun­gen, eine glän­zen­de Lauf­bahn. Ver­su­chen Sie das ein­zu­se­hen, so gut es im ers­ten Au­gen­blick geht, und fas­sen Sie sich!«

»Ich habe al­ler­dings einen On­kel Ja­kob in Ame­ri­ka«, sag­te Karl zum Ka­pi­tän ge­wen­det, »aber wenn ich recht ver­stan­den habe, ist Ja­kob bloß der Zu­na­me des Herrn Se­na­tors.«

»So ist es«, sag­te der Ka­pi­tän er­war­tungs­voll.

»Nun, mein On­kel Ja­kob, wel­cher der Bru­der mei­ner Mut­ter ist, heißt aber mit dem Tauf­na­men Ja­kob, wäh­rend sein Zu­na­me na­tür­lich gleich je­nem mei­ner Mut­ter lau­ten müß­te, wel­che eine ge­bo­re­ne Ben­del­mayer ist.«

»Mei­ne Her­ren!«, rief der Se­na­tor, der von sei­nem Er­ho­lungs­pos­ten vom Fens­ter mun­ter zu­rück­kehr­te, mit Be­zug auf Karls Er­klä­rung aus. Alle mit Aus­nah­me des Ha­fen­be­am­ten bra­chen in La­chen aus, man­che wie in Rüh­rung, man­che un­durch­dring­lich.

›So lä­cher­lich war das, was ich ge­sagt habe, doch kei­nes­wegs‹, dach­te Karl.

»Mei­ne Her­ren«, wie­der­hol­te der Se­na­tor, »Sie neh­men ge­gen mei­nen und ge­gen Ihren Wil­len an ei­ner klei­nen Fa­mi­li­en­sze­ne teil, und ich kann des­halb nicht um­hin, Ih­nen eine Er­läu­te­rung zu ge­ben, da, wie ich glau­be, nur der Herr Ka­pi­tän« -- die­se Er­wäh­nung hat­te eine ge­gen­sei­ti­ge Ver­beu­gung zur Fol­ge -- »voll­stän­dig un­ter­rich­tet ist.«

›Jetzt muß ich aber wirk­lich auf je­des Wort acht­ge­ben‹, sag­te sich Karl und freu­te sich, als er bei ei­nem Seit­wärts­schau­en be­merk­te, daß in die Fi­gur des Hei­zers das Le­ben zu­rück­zu­keh­ren be­gann.

»Ich lebe seit al­len den lan­gen Jah­ren mei­nes ame­ri­ka­ni­schen Auf­ent­hal­tes -- das Wort Auf­ent­halt paßt hier al­ler­dings schlecht für den ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger, der ich mit gan­zer See­le bin --, seit al­len den lan­gen Jah­ren lebe ich also von mei­nen eu­ro­päi­schen Ver­wand­ten voll­stän­dig ge­trennt, aus Grün­den, die ers­tens nicht hier­her­ge­hö­ren und die zwei­tens zu er­zäh­len mich wirk­lich zu sehr her­neh­men wür­de. Ich fürch­te mich so­gar vor dem Au­gen­blick, wo ich viel­leicht ge­zwun­gen sein wer­de, sie mei­nem lie­ben Nef­fen zu er­zäh­len, wo­bei sich lei­der ein of­fe­nes Wort über sei­ne El­tern und ih­ren An­hang nicht ver­mei­den las­sen wird.«

›Er ist mein On­kel, kein Zwei­fel‹, sag­te sich Karl und lausch­te, ›wahr­schein­lich hat er sei­nen Na­men än­dern las­sen.‹

»Mein lie­ber Nef­fe ist nun von sei­nen El­tern -- sa­gen wir nur das Wort, das die Sa­che auch wirk­lich be­zeich­net -- ein­fach bei­sei­te­ge­schafft wor­den, wie man eine Kat­ze vor die Tür wirft, wenn sie är­gert. Ich will durch­aus nicht be­schö­ni­gen, was mein Nef­fe ge­macht hat, daß er so ge­straft wur­de, aber sein Ver­schul­den ist ein sol­ches, daß sein ein­fa­ches Nen­nen schon ge­nug Ent­schul­di­gung ent­hält.«

›Das läßt sich hö­ren‹, dach­te Karl, ›a­ber ich will nicht, daß er al­les er­zählt. Üb­ri­gens kann er es ja auch nicht wis­sen. Wo­her denn?‹

»Er wur­de näm­lich«, fuhr der On­kel fort und stütz­te sich mit klei­nen Nei­gun­gen auf das vor ihm ein­ge­stemm­te Bam­bus­stöck­chen, wo­durch es ihm tat­säch­lich ge­lang, der Sa­che die un­nö­ti­ge Fei­er­lich­keit zu neh­men, die sie sonst un­be­dingt ge­habt hät­te, »er wur­de näm­lich von ei­nem Dienst­mäd­chen, Jo­han­na Brum­mer, ei­ner etwa fünf­und­drei­ßig­jäh­ri­gen Per­son, ver­führt. Ich will mit dem Wor­te ›ver­führ­t‹ mei­nen Nef­fen durch­aus nicht krän­ken, aber es ist doch schwer, ein an­de­res, gleich pas­sen­des Wort zu fin­den.«

Karl, der schon ziem­lich nahe zum On­kel ge­tre­ten war, dreh­te sich um, um den Ein­druck der Er­zäh­lung von den Ge­sich­tern der An­we­sen­den ab­zu­le­sen. Kei­ner lach­te, alle hör­ten ge­dul­dig und ernst­haft zu. Schließ­lich lacht man auch nicht über den Nef­fen ei­nes Se­na­tors bei der ers­ten Ge­le­gen­heit, die sich dar­bie­tet. Eher hät­te man schon sa­gen kön­nen, daß der Hei­zer, wenn auch nur ganz we­nig, Karl an­lä­chel­te, was aber ers­tens als neu­es Le­bens­zei­chen er­freu­lich und zwei­tens ent­schuld­bar war, da ja Karl in der Ka­bi­ne aus die­ser Sa­che, die jetzt so pu­blik wur­de, ein be­son­de­res Ge­heim­nis hat­te ma­chen wol­len.

»Nun hat die­se Brum­mer«, setz­te der On­kel fort, »von mei­nem Nef­fen ein Kind be­kom­men, einen ge­sun­den Jun­gen, wel­cher in der Tau­fe den Na­men Ja­kob er­hielt, zwei­fel­los in Ge­dan­ken an mei­ne We­nig­keit, wel­che, selbst in den si­cher nur ganz ne­ben­säch­li­chen Er­wäh­nun­gen mei­nes Nef­fen, auf das Mäd­chen einen großen Ein­druck ge­macht ha­ben muß. Glück­li­cher­wei­se, sage ich. Denn da die El­tern zur Ver­mei­dung der Ali­men­ten­zah­lung oder sons­ti­gen bis an sie selbst her­an­rei­chen­den Skan­dals -- ich ken­ne, wie ich be­to­nen muß, we­der die dor­ti­gen Ge­set­ze noch die sons­ti­gen Ver­hält­nis­se der El­tern -, da sie also zur Ver­mei­dung der Ali­men­ten­zah­lung und des Skan­dals ih­ren Sohn, mei­nen lie­ben Nef­fen, nach Ame­ri­ka ha­ben trans­por­tie­ren las­sen, mit un­ver­ant­wort­lich un­ge­nü­gen­der Aus­rüs­tung, wie man sieht, so wäre der Jun­ge, ohne die ge­ra­de noch in Ame­ri­ka le­ben­di­gen Zei­chen und Wun­der, auf sich al­lein an­ge­wie­sen, wohl schon gleich in ei­nem Gäß­chen im Ha­fen von New York ver­kom­men, wenn nicht je­nes Dienst­mäd­chen in ei­nem an mich ge­rich­te­ten Brief, der nach lan­gen Irr­fahr­ten vor­ges­tern in mei­nen Be­sitz kam, mir die gan­ze Ge­schich­te samt Per­so­nen­be­schrei­bung mei­nes Nef­fen und ver­nünf­ti­ger­wei­se auch Na­mens­nen­nung des Schif­fes mit­ge­teilt hät­te. Wenn ich es dar­auf an­ge­legt hät­te, Sie, mei­ne Her­ren, zu un­ter­hal­ten, könn­te ich wohl ei­ni­ge Stel­len je­nes Brie­fes« -- er zog zwei rie­si­ge, eng­be­schrie­be­ne Brief­bo­gen aus der Ta­sche und schwenk­te sie -- »hier vor­le­sen. Er wür­de si­cher Wir­kung ma­chen, da er mit ei­ner et­was ein­fa­chen, wenn auch im­mer gut­ge­mein­ten Schlau­heit und mit viel Lie­be zu dem Va­ter des Kin­des ge­schrie­ben ist. Aber ich will we­der Sie mehr un­ter­hal­ten, als es zur Auf­klä­rung nö­tig ist, noch viel­leicht gar zum Empfang mög­li­cher­wei­se noch be­ste­hen­de Ge­füh­le mei­nes Nef­fen ver­let­zen, der den Brief, wenn er mag, in der Stil­le sei­nes ihn schon er­war­ten­den Zim­mers zur Be­leh­rung le­sen kann.«

Karl hat­te aber kei­ne Ge­füh­le für je­nes Mäd­chen. Im Ge­drän­ge ei­ner im­mer mehr zu­rück­tre­ten­den Ver­gan­gen­heit saß sie in ih­rer Kü­che ne­ben dem Kü­chen­schrank, auf des­sen Plat­te sie ih­ren Ell­bo­gen stütz­te. Sie sah ihn an, wenn er hin und wie­der in die Kü­che kam, um ein Glas zum Was­ser­trin­ken für sei­nen Va­ter zu ho­len oder einen Auf­trag sei­ner Mut­ter aus­zu­rich­ten. Manch­mal schrieb sie in der ver­track­ten Stel­lung seit­lich vom Kü­chen­schrank einen Brief und hol­te sich die Ein­ge­bun­gen von Karls Ge­sicht. Manch­mal hielt sie die Au­gen mit der Hand ver­deckt, dann drang kei­ne An­re­de zu ihr. Manch­mal knie­te sie in ih­rem en­gen Zim­mer­chen ne­ben der Kü­che und be­te­te zu ei­nem höl­zer­nen Kreuz; Karl be­ob­ach­te­te sie dann nur mit Scheu im Vor­über­ge­hen durch die Spal­te der ein we­nig ge­öff­ne­ten Tür. Manch­mal jag­te sie in der Kü­che her­um und fuhr, wie eine Hexe la­chend, zu­rück, wenn Karl ihr in den Weg kam. Manch­mal schloß sie die Kü­chen­tü­re, wenn Karl ein­ge­tre­ten war, und be­hielt die Klin­ke so lan­ge in der Hand, bis er weg­zu­gehn ver­lang­te. Manch­mal hol­te sie Sa­chen, die er gar nicht ha­ben woll­te, und drück­te sie ihm schwei­gend in die Hän­de. Ein­mal aber sag­te sie »Karl« und führ­te ihn, der noch über die un­er­war­te­te An­spra­che staun­te, un­ter Gri­mas­sen seuf­zend in ihr Zim­mer­chen, das sie zu­sperr­te. Wür­gend um­arm­te sie sei­nen Hals, und wäh­rend sie ihn bat, sie zu ent­klei­den, ent­klei­de­te sie in Wirk­lich­keit ihn und leg­te ihn in ihr Bett, als wol­le sie ihn von jetzt nie­man­dem mehr las­sen und ihn strei­cheln und pfle­gen bis zum Ende der Welt.

»Karl, o du mein Karl!«, rief sie, als sähe sie ihn und be­stä­tig­te sich sei­nen Be­sitz, wäh­rend er nicht das Ge­rings­te sah und sich un­be­hag­lich in dem vie­len war­men Bett­zeug fühl­te, das sie ei­gens für ihn auf­ge­häuft zu ha­ben schi­en. Dann leg­te sie sich auch zu ihm und woll­te ir­gend­wel­che Ge­heim­nis­se von ihm er­fah­ren, aber er konn­te ihr kei­ne sa­gen, und sie är­ger­te sich im Scherz oder Ernst, schüt­tel­te ihn, horch­te sein Herz ab, bot ihre Brust zum glei­chen Ab­hor­chen hin, wozu sie Karl aber nicht brin­gen konn­te, drück­te ih­ren nack­ten Bauch an sei­nen Leib, such­te mit je­der Hand, so wi­der­lich, daß Karl Kopf und Hals aus den Kis­sen her­aus­schüt­tel­te, zwi­schen sei­nen Bei­nen, stieß dann den Bauch ei­ni­ge Male ge­gen ihn -- ihm war, als sei sie ein Teil sei­ner Selbst, und viel­leicht aus die­sem Grun­de hat­te ihn eine ent­setz­li­che Hilfs­be­dürf­tig­keit er­grif­fen. Wei­nend kam er end­lich nach vie­len Wie­der­se­hens­wün­schen ih­rer­seits in sein Bett. Das war al­les ge­we­sen, und doch ver­stand es der On­kel, dar­aus eine große Ge­schich­te zu ma­chen. Und die Kö­chin hat­te also auch an ihn ge­dacht und den On­kel von sei­ner An­kunft ver­stän­digt. Das war schön von ihr ge­han­delt, und er wür­de es ihr wohl noch ein­mal ver­gel­ten.

»Und jetzt«, rief der Se­na­tor, »will ich von dir of­fen hö­ren, ob ich dein On­kel bin oder nicht.«

»Du bist mein On­kel«, sag­te Karl und küß­te ihm die Hand und wur­de da­für auf die Stir­ne ge­küßt. »Ich bin sehr froh, daß ich dich ge­trof­fen habe, aber du irrst, wenn du glaubst, daß mei­ne El­tern nur Schlech­tes von dir re­den. Aber auch ab­ge­se­hen da­von sind in dei­ner Rede ei­ni­ge Feh­ler ent­hal­ten ge­we­sen, das heißt, ich mei­ne, es hat sich in Wirk­lich­keit nicht al­les so zu­ge­tra­gen. Du kannst aber auch wirk­lich von hier aus die Din­ge nicht so gut be­ur­tei­len, und ich glau­be au­ßer­dem, daß es kei­nen be­son­de­ren Scha­den brin­gen wird, wenn die Her­ren in Ein­zel­hei­ten ei­ner Sa­che, an der ih­nen doch wirk­lich nicht viel lie­gen kann, ein we­nig un­rich­tig in­for­miert wor­den sind.«

»Wohl ge­spro­chen«, sag­te der Se­na­tor, führ­te Karl vor den sicht­lich teil­neh­men­den Ka­pi­tän und frag­te: »Habe ich nicht einen präch­ti­gen Nef­fen?«