Kafka kannste knicken! - Uli Black - E-Book

Kafka kannste knicken! E-Book

Uli Black

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Beschreibung

H.C. Nachtnebel, ein gescheiterter Lebenskünstler, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, stolpert nach seinem Rauswurf bei ALDI über eine Werbekampagne von "The Länd" gegen den eklatanten Lehrermangel: "Keinen Bock auf Arbeit? Hurraaa - werde Lehrer*in". Obwohl er selbst keinen Schulabschluss hat, versucht er sein Glück und bewirbt sich beim Kultusministerium. Er rennt offene Türen ein und findet sich 2 Tage später als Fachabteilungsleiter an einem ehemaligen Elitegymnasium wieder. Mit seinem Sinn für Humor, seinen verrückten Ideen und unkonventionellen Methoden schafft Nachtnebel es sehr schnell, die Schüler für sich zu gewinnen. Doch als er das Telefon des Schulleiters anzapft und einen vermeintlichen Terroristen in die Schule einschmuggelt, ist der Bogen überspannt. Nun sind seine Tage gezählt, oder?

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Foto: Wolfgang Sohn (https://www.wolfgang-sohn.com/)

Im Jahre 1953 in Heidelberg geboren, ist die eigene Schulzeit des Autors geprägt durch Studentendemos gegen Numerus Clausus, Vietnamkrieg und Notstandsgesetze, an denen er aktiv teilnimmt, um sich gegen Intoleranz und staatliche Willkür aufzulehnen. Er beschließt, Lehramt zu studieren, um es als Pädagoge besser zu machen als die meisten seiner Lehrer. Sein Weg in die Schule scheint schnell zu enden, als er während seines Referendariats als Schlagzeuger der Punkband Spionageabwehr in der Öffentlichkeit gegen das bestehende Bildungssystem wettert. Er wird dennoch verbeamtet, was ihn aber nicht davon abhält, immer wieder auf Missstände im Bildungssystem hinzuweisen. Nach einem Zusatzstudium in Psychologie wird er Ausbildungslehrer und betreut und berät neben seiner Lehrertätigkeit 20 Jahre lang bis zu seiner Pensionierung zukünftige Lehrer*innen.

Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Pädagoge ist er auch als Künstler erfolgreich. 1996 bekommt er unter dem Pseudonym TAKE BLACK einen Plattenvertrag mit EMI und hat in Folge mit „There you are“ und „Jurassic Park“ zwei Airplayhits. 2009 erscheint sein von der Kritik gefeierter gesellschaftskritischer Roman Gassi ohne Hund.

Hinweis 1

Die folgende Geschichte ist größtenteils frei erfunden. Es handelt sich um reine Satire. Handlungen entsprechen so gut wie gar nicht tatsächlichen Handlungen und Namen sind alle ausgedacht. Sollten Personen glauben, sich in der Story wiederzufinden, so ist dies reiner Zufall und hat mit wirklichen Gegebenheiten und bestehenden Personen höchstwahrscheinlich nichts zu tun. Aber völlig ausschließen kann man nichts. Das Leben treibt manchmal seltsame Blüten.

Hinweis 2

An alle Deutschlehrer: Das Manuskript für diesen Roman wurde mehrfach korrekturgelesen, bevor es in den Druck ging. Solltest du dennoch einen Fehler finden, was sehr unwarscheinlich ist, gratulieren wir ganz hertzlich. Du darfst ihn gerne behalten oder ausschneiden und in dein Poesiealbum gleben.

Hinweis 3

An alle militanten Gender-Freaks: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit des Textes wurde auf jegliches „Gendern“ verzichtet. Jeder, der über gesunden Menschenverstand verfügt, weiß, dass sich in einer Klasse mit 30 „Schülern“ in aller Regel auch „Schülerinnen“ befinden. Und auch in einem „Lehrerzimmer“ sitzen bekanntlich nicht nur männliche Lehrer. Also einfach entspannen. Danke.

Inhaltsverzeichnis

Prolog 1

Prolog 2

Prolog 3

Bildungsauftrag

Die Wende

Vorstellungsgespräch

Qualifikationslehrgang

Der erste Tag

Gott und die Welt

Lehrerzimmer

Nachbar

Anarchie

Froschkönig

High Noon

Empathie

Rettung

Wind

Handyking

Hitzefrei

Franck Ribery

Beowolf

P. Immelmann

Scheiß Schüler

Belohnung

Vorbild

Ein neuer Mitschüler

Desozial

Toilettenpapier

Wo ist P. Immelmann?

Flaggschiff

Pimmelmann taucht auf

Fucking salad

Replikanten

Sackgasse

Wasserschlacht

Beckenbauer

Verdacht

Hot like hell

Alarmübung

Fachkonferenz

Ich bin schwanger

Rosinenbomber

Elternpflegschaftssitzung

Gesamtlehrerkonferenz

Krisensitzung

XXL

Abinacht

Abistreich

Butterfahrt

Maul

Schadensersatz

Stasi

Whiskey Backstage mit Ed Sheeran

Hör mal wer da spricht

Irland

Grabenmoos

Wer wird Millionär

Mobiliar

Baufällig

Schulfrei

Netto

Rummel

EPILOG

Prolog 1

Stelle dir folgendes vor:

Eine große Baufirma braucht sehr viele Autos, um die Mitarbeiter täglich zu Baustellen transportieren zu lassen.

Bevor sie in Betrieb genommen werden, stattet man die Autos in Spezialwerkstätten fünf Jahre lang mit unzähligen Extras aus: farbigen Blinklichtern, Suchscheinwerfern, Sirenen, HiFi-Anlagen, extrabreiten Reifen, Sonderlackierungen und vielem mehr.

Der ganze Schnickschnack wird zwar nicht benötigt und kostet sehr viel Geld, aber das wird von einem sehr großzügigen Sponsor bezahlt, also spielt das keine Rolle. Es wird ein Vertrag unterzeichnet, dass man die Autos so lange am Laufen hält, bis sie 65 Jahre alt sind. Mit den Jahren werden sie anfällig, der Lack blättert ab, sie werden langsamer, brauchen mehr Sprit und sind technisch nicht mehr auf dem neuesten Stand. Immer mehr Arbeiter kommen, aber da man sich keine neuen Autos leisten kann, baut man mehr Sitze in die vorhandenen, woraufhin diese überladen sind und noch langsamer ihr Ziel erreichen. Als sie nach 65 Jahren Dienst endlich in die Garage gestellt werden, stellt man fest, dass keine neuen Autos als Ersatz zur Verfügung stehen. Mangels Bedarfs wurden keine mehr gebaut. Was tun? Man nimmt alles, was verfügbar ist, Schrottkisten, Fahrräder, Schubkarren, Tretautos, Bobbycars, um die Arbeiter zu transportieren. Das geht natürlich schief, aber immerhin hat man seine Pflicht erfüllt und die Arbeiter irgendwie transportiert. Man hat sich also nichts vorzuwerfen.

Realitätsfremder Schwachsinn?

Dann lies mal Prolog 2

Prolog 2

Stelle dir folgendes vor:

Ein Staat braucht viele sehr Lehrer, um Schüler zu unterrichten, damit sie ihr Lernziel erreichen.

Bevor die Lehrer mit ihrer Arbeit beginnen, werden sie viele Jahre an Universitäten ausgebildet und lernen dort fast nur theoretische Dinge, die sie in ihrem späteren Beruf überhaupt nicht benötigen. Das kostet zwar sehr viel Geld, aber der Steuerzahler hat es ja. Dann gibt man ihnen einen Arbeitsvertrag, der ihnen eine lebenslange Versorgung garantiert. Sie müssen bis zu ihrem 65. Lebensjahr arbeiten, danach dürfen sie sich zur Ruhe setzen bei voller Bezahlung. Mit der Zeit werden sie müde, sind nicht mehr auf dem neuesten Stand und verlieren immer mehr das Ziel aus den Augen. Junge, motivierte Lehrer drängen auf den Markt, aber man kann sie nicht einstellen, weil die alten ja den Job verrichten. Die Klassen werden größer, aber für neue Lehrer ist kein Geld da, also stellt man mehr Stühle in die Klassenzimmer. Die Lehrer werden immer häufiger krank und fallen aus. Also stellt man noch mehr Stühle in die Klassenzimmer und streicht das letzte Schuljahr.

Als die Lehrer endlich 65 sind und in den bezahlten Ruhestand verabschiedet werden, will man neue, junge, motivierte Lehrer einstellen und stellt fest, dass es keine gibt. Sie sind mittlerweile woanders untergekommen oder haben gleich einen anderen Beruf gelernt. Da kommt ihnen eine geniale Idee in den Sinn: sie nehmen jeden, den sie einfangen können und stellen ihn vor die Klassen. Ohne jahrelange Ausbildung, ohne die geringste Ahnung von dem, was sie zu tun haben. Man weist sie zwei Tage lang ein, das muss genügen, denn mehr Zeit steht nicht zur Verfügung. Das geht natürlich schief, aber man hat seine Pflicht erfüllt und die Schüler irgendwie unterrichtet. Man hat sich also nichts vorzuwerfen.

Realitätsfremder Schwachsinn?

Dann lies mal Prolog 3

Prolog 3

»Keinen Bock auf Arbeit? Hurraaa - Mach, was dir Spaß macht, und werde Lehrer*in.«

Werbeslogan von „The Länd“ 2023 (www.theländ.de)

Um dem akuten Lehrermangel entgegenzuwirken, hat die Landesregierung Baden-Württembergs im Jahr 2023 eine Werbekampagne ins Leben gerufen, die es fachfremden Quereinsteigern ermöglicht, nach einem zweitägigen pädagogisch-didaktischen Blitzlehrgang eigenverantwortlich Klassen zu unterrichten. Das ursprünglich auf Grundschulen begrenzte Programm soll 2024 auf alle Schularten ausgedehnt werden. Nach zwei Jahren werden die neuen Pädagogen auf Lebenszeit verbeamtet.

Realitätsfremder Schwachsinn?

Dann lies mal den Roman hier…

»Bildungsauftrag? Träumen Sie weiter. Das ist alles nur Einbildung. Die Politik gibt uns eine Quote vor und die müssen wir erfüllen. Nur darum geht es. Bevor wir Unterrichtsausfall melden, stellen wir eher die Selbstgespräche führende rumänische Putzfrau vor die Klasse und nennen das Fremdsprachenunterricht«, sagt der Schulleiter bestimmt.

Die Wende

»Entschuldigung. Wo finde ich denn die Bioservietten? Ich kann sie in der veganen Abteilung, wo sie sonst immer waren, nicht finden.«

»Ganz am Anfang der Reihe rechts, wenn Sie hier hereinkommen. Nach den Bananen und vor dem Blauschimmelkäse.«

»Ach so. Das macht Sinn. Danke.«

»Bitte sehr, gerne.«

Achtung! Der Marktleiter naht. Und er sieht nicht gut gelaunt aus.

»Würden Sie mir mal sagen, was Sie hier machen?«, fragt er mit gereiztem Unterton.

»Ich arbeite, Chef. Regale einräumen. So wie gestern und vorgestern. Das war Ihre Idee.«

»Ja, weil Sie an der Kasse zu langsam sind. Wo kämen wir hin, wenn wir jedem Kunden die Tür aufhalten und am Ende die Tasche noch zum Auto tragen? Wir sind doch hier nicht bei der Caritas.«

»Aber ein Mensch bleibt doch auch ein Mensch, wenn er bei Aldi ist. Ich dachte nur…«

»Fürs Denken sind Sie nicht hier, das überlassen Sie besser mal denen, die es können. Mir zum Beispiel. Und darf ich fragen, warum Sie gerade die Rindersteaks statt in die Fleischtheke, wo sie hingehören, in das Regal neben den Giottos und den Mohrrüben einsortieren?«

»Ach, Mohrrüben sind das? Ich dachte, das sind Gelbe Rüben. Dann müssen die natürlich neben die Marmelade.«

»Waaaas??!« Seine ohnehin nicht allzu gute Stimmung sinkt schlagartig in den Keller. »Wollen Sie mich verarschen, Mann?«

»Nein, Chef. Ich dachte nur, dass man das Warensortiment hier besser strukturieren könnte, damit die Kunden alles schneller finden.«

»Ist das Ihr Ernst, Nachtnebel? Sie treiben mich noch in den Wahnsinn mit Ihren idiotischen Ideen! Der Schwachsinn, mit jedem Kunden den Einkauf auf dem Kassenzettel nochmal im Kopf durchzurechnen, ob auch alles stimmt, war ja schon irre, aber was in Dreiteufelsnamen haben die Rindersteaks hier zu suchen?«

Er wird nun so laut, dass ein paar Kunden ihre Köpfe zu uns drehen.

»Na ja«, sage ich ruhig. »Wie gesagt, versuche ich, Struktur in den Laden zu bekommen. Deshalb sortiere ich die Ware nach dem Alphabet. Von A wie Aal bis Z wie Zucker. Da findet man alles in Windeseile und hat dann noch genügend Zeit, mit dem Kassierer den Kassenzettel…«

Weiter komme ich nicht.

»Alphabetisch ordnen?? Haben Sie jetzt den letzten Rest Verstand verloren? Und überhaupt, wie buchstabieren Sie eigentlich Rindersteak? Das schreibt man mit R! R wie Rotze! R wie Rattengift! R wie Rumpelstilzchen!!! Und das ist hier ist ja wohl offensichtlich nach Ihrer Logik das Regal mit den Sachen, die mit G anfangen. G wie geisteskrank. G wie gestört. G wie GAGA!! «

»Ja, schon klar, Chef. Aber haben Sie das Haltbarkeitsdatum von den Fleischflatschen hier gesehen? Letzte Woche abgelaufen. Deshalb ordne ich sie jetzt hier ein neben den Gelben Rüben. Schreibt man auch mit G. G wie Gammelfleisch.«

»Waaas?? Gammelfleisch? Sind Sie völlig meschugge, Mann? Bei Aldi gibt es nur topfrische Ware!«

»Ja, klar, Chef. Ich weiß. Aber da gibt es ein Problem. Sie haben doch am Eingang diesen Zettel hängen, dass immer alles vorrätig ist bei uns und wenn mal nicht, dass der Kunde dann zwei Stück davon kostenlos bekommt.«

»Ja, das war meine geniale Idee. Damit sind wir Lidl und den anderen Discountern weit voraus. Und was bitte hat das jetzt damit zu tun, dass Sie…«

»Na ja«, unterbreche ich ihn, »die Rindersteaks gingen gestern Abend noch aus und heute Morgen kam die angekündigte Lieferung nicht. Und dann kam dieser Kunde, der darauf bestand, zwei Packungen Rindersteaks umsonst zu bekommen, wie auf dem Aushang versprochen. Das Dumme war nur, dass ich ihm keine zwei Packungen schenken konnte, weil ja nicht mal eine einzige da war. Was hätte ich denn machen sollen? Sie wecken? Oder ihn zu Lidl schicken? Ich bin dann eben in den Container draußen gekrochen und habe die abgelaufenen Pakete wieder herausgeholt.«

»Was??? Sie haben dem Kunden abgelaufene Rindersteaks aus dem Müllcontainer gegeben???«

»Ja, das heißt nein, also jein… Ich habe in Ihrem Büro das Etikettiergerät geholt und das Haltbarkeitsdatum kurzerhand um drei Wochen verlängert…«

»Sie haben was gemacht??«

»Na ja, sonst hätten wir den Kunden sicher an die Konkurrenz verloren. Wir sollen doch jeden Kunden halten, um jeden Preis, haben Sie gesagt. Zudem hat er sie ja kostenlos bekommen, einen besseren Preis bekommt er nirgends. Und er weiß ja nicht, dass die Dinger eigentlich weit über dem Datum sind. Für ihn sind sie noch drei Wochen haltbar, hihihi. Jedenfalls ist er ganz glücklich gegangen und kommt sicher wieder.«

Wenn er den Angriff auf seine Gesundheit überlebt.

»Sie sind doch von allen guten Geistern verlassen, Mann! Jetzt reicht es endgültig. Packen Sie Ihren Kram und verziehen Sie sich. Und kommen Sie nicht auf die Idee, sich hier noch einmal blicken zu lassen!«

Ich steige langsam von der Leiter.

»Neee, ganz sicher nicht. Aldi ist ohnehin ein Schrottladen und Regaleinräumer werden überall gebraucht. Die bei Lidl würden sich die Hände reiben, wenn…«

»Lidl?? Da wurden Sie doch schon rausgeworfen, bevor Sie bei uns angefangen haben.«

»Ach ja, stimmt. Hatte ich ganz vergessen. Aber Netto würde…«

»Dann geh doch zu Netto!«

»Danke für den Tipp, Chef. War der jetzt kostenlos oder wird er von meinem Lohn abgezogen?«

»Raus hier! Und komme nicht auf die Idee, dich nochmal blicken zu lassen!«

»Da müssen Sie sich keine Sorgen machen, auf Gammelfleisch habe ich echt keinen Bock. Ich sollte mal dem Gesundheitsamt einen Tipp geben, dass…«

»Raus!«, brüllt er. »Verpiss dich, sonst vergesse ich mich.«

»Okay, okay, ich gehe ja schon«, sage ich und hebe beschwichtigend die Arme. Ich drücke ihm die blaue Kutte mit dem Aldi-Logo auf dem Rücken in die Hand und ziehe Leine. Er wird mir genauso wenig fehlen wie der Laden. War ohnehin ein scheiß Job. Wie all die anderen, in denen ich mich in den letzten Wochen, Monaten, Jahren probiert habe. Zeitungsausträger, Straßenmusiker, Autowäscher, Erfinder, Moderator, Müllmann, Flaschensammler und was weiß ich noch alles. Nichts hat funktioniert. Überall flog ich nach kurzer Zeit raus oder auf die Nase. Es ist immer das gleiche: In dem Augenblick, in dem man sein Hirn einschaltet und konstruktive Beträge leisten will, schießt man sich ins Abseits. Du darfst immer nur funktionieren, bloß nie reflektieren. Und wenn ich nur an die unzähligen Bewerbungen denke. Absage, Absage, Absage. Und das alles nur, weil ich keinen richtigen Schulabschluss habe. Ohne Abschluss zählst du in diesem Land nichts. Keiner fragt dich, was du kannst. Jeder will nur Papiere sehen, Zeugnisse, Befugnisse, Bescheinigungen, Bestätigungen, Bewilligungen, Zertifikate, Brief und Siegel. Habe ich alles nicht. Ich frage mich, was da falsch gelaufen ist. Zuerst sagten sie, ich sei „hochbegabt“ und ließen mich die dritte Klasse überspringen, und dann flog ich kurz vorm Abi von der Schule, weil ich zweimal die Versetzung nicht schaffte und angeblich „zu blöd“ war, dabei hatte ich einfach keinen Bock auf den langweiligen Scheiß, den sie mir mit der Holzhammermethode verklickern wollten. Was die mir erzählten, wusste ich alles schon längst. Penner haben sie mich genannt. Die größten Penner sind doch die Lehrer selbst. Flaschen vor dem Herrn! Und die wollen einem beibringen, was im Leben abgeht? Vergiss es!

Ich habe Hunger. Mein Rauswurf bei ALDI kam so plötzlich und unerwartet, dass ich nicht mal Zeit hatte, mir wie sonst in der Obstabteilung den Bauch vollzuschlagen.

Da meine Hosentaschen so leer sind wie die Zuschauerränge beim Wetthäkeln im Seniorenheim, mache ich mich auf den bekannten Weg zur Bahnhofsmission. Da gibt es immer etwas Warmes für Herz und Bauch.

Ich gehe in das Bahnhofsgebäude und sehe plötzlich dieses überdimensionale knallgelbe Plakat, auf dem in riesigen blauen Buchstaben HURRAAA! steht. Das war gestern noch nicht da.

´Aha´, denke ich, ´interessant. Hurraaa! Schreibt man das nicht hinten mit einem h? Wie war das gleich nochmal? Wir können alles außer Rechtschreibung? ´

Egal, ich werde neugierig und gehe näher an das Plakat heran. Nun kann ich auch den Rest lesen:

»Keinen Bock auf Arbeit? Mach, was dir Spaß macht, und werde Lehrer.«

Verarsche, oder?

Das hat bestimmt Amnesty International angebracht, die sind sich ja für nichts zu schade. Hauptsache, sie können irgendwo hochklettern und Plakate anbringen.

Aber sind deren Plakate nicht immer grün? Oder war das Greenpeace?

Da fällt mir etwas ein. Als ich gestern die Zeitungen einsortiert habe bei ALDI, war doch haargenau dieses Plakat auf einer Titelseite. An den Text darunter kann ich mich nicht erinnern, aber vielleicht ist das doch kein Fake, zumal es die BILD war. Was die schreiben, stimmt ja meistens.

Die scheinen tatsächlich Lehrer zu suchen!

Das passt doch haargenau in mein Profil. Null Stress, das halbe Jahr Ferien, unkündbar, private Krankenversicherung und später eine fette Pension. Wenn das mal nicht meine Stellenbeschreibung ist. Wo ist hier der Haken? Vermutlich musst du da ein 1,0er Abi haben und eine jahrelange unbezahlte pädagogische Ausbildung machen. Bestimmt steht genau so etwas im Kleingedruckten.

Ich gehe noch näher und kann jetzt auch das Kleingedruckte lesen.

»Auch für Fachfremde und Quereinsteiger. Jetzt bewerben. Lehrer-in-BW. de«.

Keine Rede von Zeugnissen, Abschlüssen und Zertifikaten. Klingt fast so, als würden die jeden Idioten nehmen. Fachfremd heißt doch nichts anderes, als dass du von Tuten und Blasen keine Ahnung hast. Und Quereinsteiger bedeutet, dass du mit dem Job zuvor nichts am Hut hattest. Ein Busfahrer mit Höhenangst, der sich als Pilot bei Lufthansa bewirbt, ist nichts anderes als ein fachfremder Quereinsteiger. Klingt völlig absurd, aber genauso ist es. Dann erfüllt doch ein gescheiterter Regaleinräumer beim Discounter zu hundert Prozent das Anforderungsprofil des fachfremden Quereinsteigers als Lehrer, oder?

Na, dann zieht euch mal warm an, Leute. Hier kommt euer Mann.

Vorstellungsgespräch

Kaum zuhause angekommen, fahre ich meinen PC hoch und gehe auf die Seite von „The Länd“.

Viel leeres Bla Bla und sinnfreies Gesülze. Muss ich das alles lesen? Geht das nicht schneller? Ich suche nen Job, keine Lebensberatung.

Ach da, eine Telefonnummer. Ich wähle sie und stelle mich gedanklich auf eine mehrstündige Warteschleife ein. Die haben mit Sicherheit Tausende von Bewerbern, denn eines habe ich bei dem Bla Bla und Gesülze sofort gecheckt: die brauchen dringend Lehrer und nehmen sogar Leute, die kein Lehramt studiert haben. Sie suchen Fachfremde und Quereinsteiger. Ob sie auch Tiefeinsteiger nehmen, also Leute wie mich, die weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung haben, konnte ich auf die Schnelle nicht herausfinden, aber das wird sich klären und man muss ja auch nicht alles gleich auf den Tisch knallen an Infos, oder? Man lernt schließlich aus Erfahrung. Ich habe einmal den Fehler begangen, zu ehrlich zu sein und habe bei einer Bewerbung um einen Job als Aushilfsfriseur gesagt, dass ich etwas gegen Schwule habe. Sie haben mich in hohem Bogen aus dem Salon geworfen. Das wird mir nicht nochmal passieren.

Noch bevor ich mich richtig in meinen bequemen Sessel vom Sperrmüll fallen lasse, höre ich am anderen Ende eine Stimme. Aber keine Stimme vom Band wie man es erwarten würde, sondern eine echte Stimme, also da spricht tatsächlich ein Mensch zu mir. Hmmm…wie verzweifelt kann man eigentlich sein?

»Kultusministerium Baden-Württemberg, Ministerialrat Müller-Beifuß. Grüß Gottle. Was können wir für Sie tun?«

»Nachtnebel hier. H.C. Nachtnebel.«

»Gesundheit.«

»Ich bin nicht erkältet, H.C. ist mein Vorname.«

»Das macht nichts, wir sind bekannt für unsere Toleranz hier im Ländle, egal welchen Geschlechts, Religion, sexueller Ausrichtung oder Vornamen. Nicht wahr? Bei uns sind alle gleich.«

»Schön, das freut mich. Aber deshalb rufe ich eigentlich nicht an.«

»Ja, aber man sollte die Diversität als das akzeptieren, was sie ist, nämlich divers. Finden Sie nicht auch?«

Ah, jetzt kapiere ich. Mein Gesprächspartner, Ministerialrat Müller-Beistuss, versucht sich nicht in Smalltalk, weil sich sein Friseur den Arm gebrochen hat oder sein Therapeut in Urlaub ist, sondern wir befinden uns schon mitten im Vorstellungsgespräch. Der will herausfinden, wie ich ticke. Wie die damals beim Friseur. Clever, da wird nicht viel Zeit verloren. Die müssen wirklich mehr als dringend Lehrpersonal suchen.

Obwohl ich anderer Meinung bin als er, spiele ich das Spiel mit, ich bin ja lernfähig und sinnloses Zeug labern ist mein Spezialgebiet.

»Ja, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Was wäre unsere Gesellschaft, unser Länd, ja unsere Welt ohne all diese tollen Menschen, die so anders sind als normal, Frauen mit Bärten, Männer mit Busen…viel zu lange mussten wir darauf warten, dass…«

»Sie sind mir nicht böse, wenn ich Sie unterbreche, aber in fünf Minuten beginnt meine Mittagspause und ich habe einen Tisch bei meinem Lieblingsitaliener reserviert, da sollten wir doch gleich zum Grund für Ihren Anruf kommen. Sie möchten nicht zufällig Lehrer werden, oder?«

»Ja, schon, aber…«

»Hurraaa«, ruft er erfreut in den Hörer. »Sie sind der Erste heute. Dann können wir es kurz machen. Wenn Sie die wichtigste Voraussetzung erfüllen und fachfremder Quereinsteiger sind, ist das in trockenen Tüchern.«

»Äh, ja, das kann man so sagen. Also mit Schule hatte ich noch nie viel am Hut.«

»Wunderbar. Großartig. Sie sind unser Mann. Wann können Sie anfangen?«

»Ähhh, im Grunde sofort. Das heißt, müsste ich da nicht zuerst eine Lehramtsausbildung machen, damit…«

»Ach was«, unterbricht er mich, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren «Ausbildung wird allgemein völlig überbewertet. Nicht wahr? Das haben wir von Ländern wie Moldavien und Aserbaidschan gelernt, die in der neuesten Pisa-Studie besser abgeschnitten haben als Deutschland, obwohl sie keine ausgebildeten Lehrer haben. Besser gesagt, gerade weil. Es geht doch nichts über gesunden Menschenverstand. Das bekommen wir schon hin. Sie müssen nur der Form halber einen zweitägigen pädagogischdidaktischen Blitzkurs absolvieren und schon sind Sie Lehrer. Wo ist Ihr Wohnsitz?«

»Heidelberg, aber ich wäre auch bereit…«

»Aber nein, das passt wunderbar, Herr… Hatschi…«

»Gesundheit.«

»Danke, aber ich bin nicht erkältet. Amtsstubenallergie. Wir haben hier eine mehr als dringend zu besetzende Spitzenstelle an einem ehemaligen Elitegymnasium in Heidelberg für die Fächer Sport, Biologie und Englisch. Ist das ein Problem für Sie?«

»Ähhh, für mich nicht, aber…was heißt das, „ehemaliges“ Elitegymnasium?«

»Oh, das ist eine lange Geschichte. Um es kurz zu machen: die Titanic war ja auch mal ein Luxuskreuzer, oder? Und dann…, naja, Geschichte. So ähnlich verhält es sich hier. Aber das schaffen Sie schon als Profi. Als fachfremder Quereinsteiger bringen Sie ja keinerlei pädagogischen Defizite mit wie all die anderen ausgebrannten und verhärmten Kollegen, die wir sonst auf die Schüler loslassen müssen. Da können Sie absolut nichts falsch machen. Nicht wahr? Ich schicke Ihnen in drei Stunden, wenn ich wieder am Arbeitsplatz bin, per SMS die Koordinaten und dann können Sie sich gleich morgen früh an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg zum Lehrgang einfinden. Herzlich willkommen im Bildungsländ Baden-Württemberg.«

Dann legt er auf.

Ich schüttle mich kurz und lasse den wesentlichen Inhalt des Telefonats Revue passieren. Wenn ich das richtig verstanden habe, bin ich in zwei Tagen Gymnasiallehrer für die Fächer Sport, Biologie und Englisch an einer Schule, die mit der Titanic ein mir unbekanntes Schicksal teilt. Krass! Ich hätte ihm ja gerne noch gesagt, dass mein Englisch eher bescheiden ist, dass ich auf alle Grünpflanzen allergisch reagiere und dass ich außer Fußball nie eine andere Sportart ausgeübt habe. Aber ich will ja nicht schuld daran sein, dass seine Pasta kalt werden.

Qualifikationslehrgang

Am nächsten Morgen stehe ich extra sehr früh auf, damit ich pünktlich um 10 Uhr zum Lehrgangsbeginn an der Pädagogischen Hochschule bin. Und wenn ich die PH in Neuenheim nicht mit der IGH in Rohrbach verwechselt hätte, hätte ich es tatsächlich rechtzeitig geschafft. Vom typischen Heidelberger Novemberregen triefnass, betrete ich um 11.43 Uhr das altehrwürdige PH-Gebäude. Es wimmelt von jungen Leuten, ich bin mit Abstand der Gesichtsälteste und versuche, den abfälligen Blicken auszuweichen. Ich muss nicht fragen, ein Schild in der Eingangshalle zeigt mir den Weg: Pädagogisch-Didaktischer Schulungslehrgang für fachfremde Quereinsteiger, 10.00 Uhr, Raum 305. Eine Wasserspur hinter mir herziehend, trabe ich schweren Schrittes die Treppen nach oben. Ob sie mich überhaupt noch hineinlassen?

Ich klopfe vorsichtig an die Tür mit der Nummer 305 und als ich nichts höre, öffne ich diese einen Spalt breit. Nichts zu sehen. Hinter der Tür befindet sich ein hoher, schräg nach oben verlaufender Hörsaal. Ich öffne die Tür vollständig und kann nun den ganzen Raum sehen. Nichts. Niemand da. Bin ich falsch? Ist der Lehrgang schon vorbei? Machen sie Mittagspause beim Italiener um die Ecke? Sind alle auf der Toilette?

Da vernehme ich eine Stimme.

»Herr Nachtnebel, sind Sie das?«

»Äh, ja«, antworte ich und frage mich, woher die Stimme meinen Namen kennt.

Nun zeigt sich auch ein dazugehöriges Gesicht, das hinter einem hohen Stehpult auftaucht und sich die Augen reibt.

»Entschuldigung«, sagt das Gesicht, das zu einem kleinen, grauhaarigen Mann um die Ende 60 herum gehört. »Professor Schmidt-Fiebich. Lehrgangsleiter. Ich habe mir erlaubt, ein kleines Nickerchen zu machen. Der Tag gestern steckt mir noch in den Knochen.«

»Oh,« sage ich empathisch, »hatten sie schwere körperliche Arbeit zu verrichten?«

»Na ja, wie man es nimmt. Ich musste drei Klausuren korrigieren von Lehramtsstudentinnen, die nun nach 5 Jahren Studium ihre Abschlussarbeit geschrieben haben und das ist sehr anstrengend. Hat sich auch nicht gelohnt, sind alle drei durchgefallen. Da wird sich die Bäckerinnung freuen, Bäckereifachverkäuferinnen mit Abitur werden gerade wieder händeringend gesucht und wir sind die besten Lieferanten. Aber jetzt sind Sie ja da und wir können beginnen.«

»Wo sind denn all die anderen Lehrgangsteilnehmer?«, wage ich eine vorsichtige Frage.

»Die anderen? Es gibt keine anderen. Sie sind der einzige Bewerber auf unsere Anzeigenkampagne.«

»Der Einzige?«

»Ja, der Einzige. Und deshalb können wir es auch kurz machen. Herr Ministerialrat Müller-Beifuß hat mich gestern noch darüber informiert, dass Sie hochqualifiziert sind und wir in Ihrem Fall den Kurzlehrgang verkürzen können. Wenn der Dachstuhl brennt, greift man ja auch zum nächsten Feuerlöscher und joggt nicht erst mit einem Eimer in der Hand zum Badesee, oder?«

Von seinem eigenen Witz begeistert, kichert er in seinen grauen Bart und da ich ihn nicht beleidigen will, kichere ich mit, obwohl ich kein Wort verstanden habe. Feuerlöscher? Wassereimer? Badesee? Ist das hier die Freiwillige Feuerwehr? Und wenn er mit »Feuerlöscher« mich meint, entsorgt man diese nicht nach einmaligem Gebrauch? Fragen über Fragen, die ich mich nicht zu stellen traue. Dass ich nicht mal dazu tauge, auch nur ein kleines pädagogisches Flämmchen zu löschen, wird sich ohnehin in wenigen Minuten herausstellen, wenn er die entscheidenden Fragen stellt.

»Wie gesagt, mein lieber Herr Nachtnebel, können wir das Ganze hier abkürzen. Mit all meiner Erfahrung sehe ich doch auf den ersten Blick, dass Sie einer ganz anderen pädagogischen Liga angehören als all diese jungen, unerfahrenen Schnösel hier. Ein Pionier, von Wind und Wetter gegerbt sozusagen. Nichts ist wertvoller als Erfahrung, vor allem Lebenserfahrung. Was sollen wir also hier groß herumreden und unsere Zeit vertrödeln. Wie ich gehört habe, werden Sie morgen ohnehin schon an Ihrer neuen Arbeitsstelle erwartet, da möchte ich gar nicht lange Ihre wertvolle Zeit stehlen. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

»Ähhh, ja…das heißt eigentlich…so im Moment…auf die Schnelle…fallen mir gerade keine Fragen ein…«

Nach einem Föhn für meine klatschnassen Haare will ich ihn lieber nicht fragen.

»Sehen Sie, das ist das, was ich meine. Es geht doch nichts über eine gute Vorbereitung. Diese Studentinnen mit ihrer ewigen Fragerei gehen mir so etwas von auf die Nerven. Wer fragt, hat keine Ahnung. Und wer nicht fragt, ist qualifiziert, weil er die Antworten kennt. So einfach ist das. Ich kann sehr gut verstehen, warum Herr Ministerialrat Müller-Beifuß so begeistert ist von Ihnen. Diesen Eindruck kann ich nur bestätigen. Herzlichen Glückwunsch, mein lieber Herr Nachtnebel, Sie haben den Lehrgang mit Bravour bestanden. Sie sind mir nicht böse, wenn ich mich nun noch ein bisschen zurückziehe. Das alles hier hat mich doch sehr erschöpft. Sie finden den Weg hinaus?«

»Ja, klar«, sage ich leicht verwirrt und verlasse den Raum mit quietschenden Schuhen.

Man kann ja über das „Länd“ sagen, was man will. Aber lange um den heißen Brei herumgeredet wird hier nicht. Zack, Zack. Deckel drauf. Und Feierabend.

Der erste Tag

Das Telefonat mit der Sekretärin an meiner zukünftigen Arbeitsstelle verlief sehr zielorientiert.

Dr. Grappa vom Kultusministerium hatte mich schon angekündigt, sodass sie sofort im Bild war. Sie nannte mir die Adresse und meinte, wenn ich um 9.00 Uhr da sein könnte, wäre das »ganz wunderbar.«

Da ich eher Spätaufsteher bin, schaffe ich es nicht ganz pünktlich und biege um 10.30 Uhr mit meinem Fahrrad vom Schrottplatz auf dem Schulhof vom Gymnasium ein. Ich parke es zwischen all den gestylten 5000-Euro-E-Bikes der Schüler und folge einfach dem roten Teppich, den sie für mich ausgelegt haben. Eigentlich ist er blau, aber da ich partiell farbenblind bin, nehme ich das kaum wahr und schon gar nicht persönlich.

Drinnen erwartet mich schon das versammelte Empfangskomitee in Form der Chefsekretärin.

»Sorry, dass ich etwas zu spät komme, aber…«

»Das ist überhaupt kein Problem, lieber Herr Nachtnebel. Wir sind ja sooo froh, dass Sie überhaupt kommen. Sie können sich nicht vorstellen, was unser Schulleiter, Herr Dr. Grabenmoos, alles versucht hat, um für die Stelle eine qualifizierte Lehrkraft zu bekommen. Selbst im Willkommenscenter für neu eingewanderte Migranten mit rudimentärer deutscher Sprachkenntnis hat er einen Aushang gemacht, aber nichts, keine Reaktion. Es ist wirklich zum Verzweifeln. Niemand möchte Lehrer werden und nun schickt Sie der Himmel.«

Beim Wort »qualifiziert« zucke ich kurz zusammen und bei der Erwähnung des Himmels schaue ich verschämt zu Boden.

»Herr Dr. Grabenmoos erwartet Sie schon sehnsüchtig.«

Sie öffnet eine schwere Tür, hinter der sich offensichtlich das Büro des Schulleiters befindet.

Dieser sitzt hinter einem schweren Schreibtisch aus Mahagoni oder Eiche und atmet schwer. Offenbar hat er einen schweren Tag hinter oder vor sich.

»Mein lieber Herr Nachtnebel, kommen Sie, setzen Sie sich. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich ich bin, Sie zu sehen. Ich bin ja sooo froh, dass Sie sich für unsere Schule entschieden haben.«

Offensichtlich hat er denselben Redenschreiber wie seine Chefsekretärin.

»Sicher hatten Sie eine große Auswahl und umso mehr macht es mich glücklich und sooo froh, dass Sie nun Ihre Arbeitskraft unserem bescheidenen Haus zur Verfügung stellen möchten.«

Also ich würde dem Redenschreiber in den Hintern treten.

»Wie Herr Ministerialrat Dr. Müller-Beifuß Ihnen sicher schon gesagt hat, dürfen wir Ihnen aufgrund Ihrer überragenden Qualifikation und nach der sehr erfolgreichen Absolvierung des Qualifikationslehrganges als Lehrgangsbester…«

Ganz großes Kino bei einem einzigen Teilnehmer!

»…eine hochdotierte Position anbieten, um die sie so mancher Kollege, der hier schon 30 Jahre oder mehr Dienst leistet, beneiden wird. Aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen, nicht wahr?«

Ich will ihm lieber nicht widersprechen.

»Kaffee? Tee? Wasser? Prosecco? Ich selbst würde zur Feier des Tages ein Gläschen Cognac trinken. Möchten Sie auch eines?«

»Nein, Danke. Ein Wasser vielleicht.«

Er schenkt mir ein Glas Wasser ein und sich ein Glas Cognac. Dem gebrauchten Glas und seinen blutunterlaufenen Augen nach zu urteilen nicht das erste heute.

»Nun sagen Sie mir doch noch kurz, auf welche pädagogische Erfahrung Sie zurückgreifen können, damit ich Ihr Deputat haargenau darauf abstimmen kann, mein guter Herr Nachtnebel. All Ihre Deputatswünsche sollen erfüllt werden.«

´Okay´, denke ich, ´jetzt wird es schwierig. Was bitte bedeutet „Deputat“? Vielleicht sollte ich das besser nicht fragen. Und soll ich ihm sagen, dass es bei mir nicht mal zum Abitur gereicht hat und dass ich meine Lehrer allesamt für Versager hielt und eigentlich überhaupt nichts mit diesem Beruf im Sinn, geschweige denn eine pädagogische Ausbildung habe und im Grunde nur hier bin, weil ich selbst ein noch größerer Versager bin als die allergrößte Flasche, die jemals an einer Schule unterrichtet hat? Hmmm…das wäre die Wahrheit, aber vielleicht nicht genau das, was er hören will…´

Hah, da fällt mir etwas ein.

»Ja, es ist nämlich so«, beginne ich meinen pädagogischen Erfahrungsbericht, »dass ich einmal einen Nachbarn hatte, also genau genommen war er kein richtiger Nachbar, sondern er wohnte ein paar Häuser weiter, aber eigentlich spielt das ja auch keine Rolle…«

Dr. Grabenmoos scheint alle Zeit der Welt zu haben. Geduldig schaut er mich an, nickt zwei oder dreimal mit dem Kopf und schenkt sich noch einen Cognac ein.

Nickt er wirklich mit dem Kopf oder nickt er ein?

»Nun ja«, fahre ich fort, »in jedem Fall erzählte mir dieser sozusagen Nachbar mal, dass er ein Lehramtsstudium mit Auszeichnung als Jahrgangsbester in den Fächern Deutsch, Geografie und Englisch abgeschlossen hatte. Auch sein anschließendes Referendariat beendete er mit einer glatten 1,0. Großartig, oder?«

Erwartungsvoll schaue ich mein Gegenüber an. Habe ich ihn damit beeindruckt? War es das, was er hören wollte?

»Ja, wirklich sehr beeindruckend«, sagt er ohne ein Zeichen emotionaler Regung. »Ich schätze, er ist mittlerweile längst Schulleiter oder in einer hohen Position im Kultusministerium?«

»Nein, leider nicht. Er ist Schuhverkäufer. Zu der Zeit, als er seine Ausbildung abschloss, wurden keine Lehrer eingestellt.«

»Bedauerlich, aber wenn man so blöd ist, sich jahrelang zum Pädagogen ausbilden zu lassen ohne Jobgarantie und ohne Plan B, ist einem leider nicht zu helfen…«

Okay, Empathie ist also keine Schlüsselqualifikation, die man mitbringen muss, wenn man Schulleiter werden will.

»…aber das ist heute anders, mein lieber Herr Nachtnebel. Heute nehmen wir quasi jeden, der sich bei Drei nicht hinter einer Mülltonne versteckt, sozusagen, hihihi. Die Politik gibt uns eine Quote vor und die müssen wir erfüllen. Unterrichtsausfall fällt bei uns grundsätzlich aus. Zur Not lassen wir die Schüler Toiletten putzen, da lernen sie auch etwas. Von Ihrem Nachbarn mal abgesehen, in welchem pädagogischen Bereich waren Sie zuletzt tätig? Herr Ministerialrat Müller-Beifuß hat Sie zwar wärmstens empfohlen, aber er hatte nur eine Minute Zeit wegen eines wichtigen dienstlichen Termins.«

Ich weiß. Mit einer Flasche edlem Chianti.

»Ähm, also um, ähhh, ehrlich zu sein«, fange ich an zu stottern, denn jetzt kommt die Stunde der Wahrheit und ich will meinen neuen Job nicht mit einer Lüge beginnen, »also jetzt ganz zum Schluss, also bis gestern, ähm, war ich Regaleinräumer bei ALDI…«

»Hahaha, hohoho, der war gut! Hahaha, ich falle gleich vom Stuhl vor Lachen!! Regaleinräumer bei Aldi! Hahaha, Humor haben Sie, das muss ich Ihnen lassen, hahaha!«

Er wischt sich die Tränen aus den Augen und ich nutze die Gunst der frohen Stunde, endgültig mit der Wahrheit herauszurücken und sage: »Davor machte ich den gleichen Job bei Lidl…«

»HAAAHAAAHAAA«, brüllt er dröhnend heraus, »LIDL. HAAAHAAAHAAA, ich werfe mich gleich aus dem Fenster! Sie sind ja der lustigste Vogel, den wir hier jemals im Haus hatten, hahaha, ich halte es nicht aus. Ach, köstlich, einfach köstlich.«

Erneut wischt er sich Tränen von den Backen und schnäuzt in sein Taschentuch, dass die Scheiben wackeln.

»Wollen Sie nicht doch ein Gläschen Cognac? Ich finde, das haben Sie sich jetzt mehr als verdient. So gelacht habe ich schon lange nicht mehr, mein bester Herr Nachtnebel.«

»Na gut, einen kann ich nehmen, ich habe ja heute nichts mehr vor«, sage ich nichtsahnend und schiebe ihm mein leeres Wasserglas hin. »Was haben Sie denn da Feines im Angebot?«

Ich schaue mir die Flasche näher an.

»Oh, 10 Jahre alter Hennessy, im Fass gereift. Da lassen Sie sich aber nicht lumpen, mindestens 50.- Euro die Flasche. Haben Sie schon mal die Hausmarke Pennerglück von ALDI probiert? Schmeckt praktisch genauso gut, kostet aber deutlich weniger als die Hälfte. Also wenn Sie mehr als eine Flasche pro Woche konsumieren, rechnet sich das schnell hoch.«

»Sie scheinen ein echter Tausendsassa zu sein, mein Bester. Ich hatte in meiner Funktion als Schulleiter sicher schon ein paar hundert Vorstellungsgespräche hier mit den besten Leuten, das können Sie mir glauben. Aber mit Cognac kannte sich bislang noch keiner aus. Und Kopfrechnen können Sie, mein lieber Herr Gesangsverein. Da könnte ich Sie ja eigentlich auch fachfremd einsetzen, oder? Katholische Religion ist bei uns notorisch unterbesetzt. Seit dem Messdienerskandal laufen uns alle katholischen Gottesmänner scharenweise davon. Weiß der Teufel, warum. Sind Sie bibelfest?«

Bibelfest. Trinkfest. Immer her damit. Ich lasse kein Fest aus.

»Fachfremd unterrichten ist gewissermaßen meine eigentliche Stärke«, antworte ich ohne rot zu werden, denn es entspricht zu 100% der Wahrheit. Egal, welches Fach er mich unterrichten lässt, es ist mir fremd.

Ich schiebe ihm mein Wasserglas hin, das er bis zum Rand mit der braunen Flüssigkeit füllt, die er auch sich nun ein weiteres Mal gönnt.

»Wunderbar. Und wo wir schon mal dabei sind, Aufgabenbereiche zu verteilen: Der Kollege, der bislang für die Sicherheit im Hause zuständig war, ist leider bei einem Sicherheitscheck in den Fahrstuhlschacht gefallen und hat sich beide Beine gebrochen. Er wird mit Sicherheit für den Rest des Schuljahres ausfallen. Kennen Sie sich mit Sicherheitstechnik zum Beispiel im Brandfalle aus?«

»Also ich weiß in etwa, wie man einen Feuerlöscher bedient«, gebe ich zögernd zurück.

»Na also«, sagt er dann, wobei ich glaube, ein leichtes Lallen zu hören, »dann dürfen Sie das auch machen. Und mehr muss ich jetzt auch gar nicht wissen, denn um ehrlich zu sein, habe ich Sie schon kurzfristig für Religion in der 8b vorgemerkt, da hier ein Kollege langfristig ausfällt.«

»Oh, hatte er auch einen Unfall?«

»Nein, Nervenzusammenbruch. Und der Kollege, der diese Klasse vor ihm in Religion unterrichtete, hat wegen eines Burn-Outs den Beruf und die Orientierung gewechselt. Er ist jetzt Krankenschwester. So geht das hier Tag für Tag. Plumps, Pardauz, einer fällt runter oder raus. Und keiner kommt nach. Zugegeben, die 8b ist nicht ganz einfach, aber dafür haben wir ja jetzt Sie. Der ökumenische Religionsunterricht in der 8b beginnt gleich zur dritten Stunde. Das ist in fünf Minuten. Da können Sie sich noch in aller Ruhe frisch machen und einen Blick in den Bildungsplan werfen. Die Zeit sollte reichen für einen Profi, nicht wahr?«

Für einen Profi vielleicht…

Er steht auf und reicht mir zum Abschied die Hand.

»Ich habe jetzt auch gleich einen Arzttermin. Meine Sekretärin, Frau Schneider, gibt Ihnen noch Ihren Stundenplan und alle notwendigen Unterlagen. Dann viel Glück und Erfolg, Herr Kollege. Willkommen im Bildungsländ.«

Okay, Glück werde ich jede Menge brauchen.

Und wie sich bald herausstellen soll, wird das mit dem Erfolg etwas anders aussehen, als er sich das wohl vorstellt.

Völlig anders.

Aber das weiß er in diesem Augenblick genauso wenig wie ich selbst

Gott und die Welt

Ich gehe noch kurz auf die Lehrertoilette, die das sanitäre Etablissement eines Fünf-Sterne-Hotels glatt in den Schatten stellt. Vorgewärmte Klobrille, achtlagiges Toilettenpapier, sanfte Karibikklänge aus unsichtbaren Bose Lautsprechern, wohlige Düfte umschwirren meine Nasenflügel.

Kein Wunder, dass in den Klassenzimmern Lehrermangel herrscht. Wer einmal auf so einer Toilette sitzt, will nie wieder aufstehen.

So komme ich erst fünf Minuten nach dem zweiten Läuten wieder heraus. Für einen Blick in den Bildungsplan reicht es leider nicht mehr. Ich hätte ohnehin nicht gewusst, wo ich diesen finden kann und nach was ich da schauen soll. Was wird da auch schon drinstehen? Worum geht es in Religion? Um Gott und die Welt. Und da kenne ich mich wahrlich aus. Ganz im Sinne von Dr. Grappa ist mein gesunder Menschenverstand mein bester pädagogischer Berater. Und den habe ich immer bei mir, da muss ich in keinen Plan schauen.

In der menschenleeren Aula hängt ein Raumplan. 8b, Zimmer 209. Zweiter Stock also.

Am Treppenaufgang hängt ein handgeschriebenes Schild:„Mit Ausnahme von Lehrern dürfen Flaschen nicht mit in die Klassenzimmer genommen werden“. Ich frage mich, was genau das zu bedeuten hat, mache mich dann aber auf den beschwerlichen Weg.

Schon von weitem kann man hören, dass in Raum 209 eine 8. Klasse hochmotiviert mit großer Vorfreude auf ihren Religionslehrer wartet. Die Messer sind gewetzt und der Altar ist bereitet für das Opfer. Das kenne ich noch von meiner eigenen Schulzeit und das wird hier nicht anders sein. Aber da ich weder ein Burn-Out habe noch Krankenschwester bin, werde ich mich nicht schlachten lassen von der Schülermeute.

Ich öffne die Tür und mir schlägt eine Geräuschwelle entgegen, die einer Technoparty morgens um 5 Uhr alle Ehre macht. Hier sieht keiner so aus, als wäre er daran interessiert, Gott und die Welt kennenzulernen. Hier ist Party angesagt. Rock and Roll, Baby, nicht Dur und Moll.

Trotzdem nehmen mich ein paar Schüler zur Kenntnis und packen schnell ihr Handy und andere verbotene Gegenstände weg, als sie mich sehen. Ein paar fragende Blicke, wer ist das schon wieder? Offensichtlich wurde ich nicht groß angekündigt.

»Ich bin H.C. Nachtnebel, euer neuer Relilehrer«, rufe ich so laut ich kann in Richtung Klasse.

Gelächter. Ein Typ mit ner Baseballkappe Schild nach hinten und Kaugummi im Mund fragt provokativ: »Nachtnebel? Soll das ein Name sein oder der Wetterbericht?«

Gejohle und Zurufe wie »Yo, Alder!« oder »Krasser Spruch, Digga!« und »Knock-Out!!« oder »Dem haste es gezeigt, Digga!«

»Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?«, frage ich scheinbar ungerührt.

»Jannis«, sagt er in aufreizend lässigem Tonfall. «Jannis Nerovasilis.«

»Nerovasilis?«, gebe ich genauso lässig zurück. »Soll das ein Name sein oder eine Hautkrankheit?«

»Yo, Alder, lol. Jetzt sind wir deuce«, sagt Jannis Neurodermitis mit breitem Grinsen.

Ich frage ihn, warum er sein Handy weggesteckt hat, als ich in den Raum gekommen bin.

»Damit Sie es mir nicht wegnehmen.«

»Warum sollte ich dir dein Handy wegnehmen, ich habe selbst eines.«

»Weil hier alle Lehrer die Handys wegnehmen?«

»Okay, ich bin vielleicht neu hier, aber deshalb muss ich mich ja nicht verhalten wie alle, oder? Die Handys könnt ihr behalten, die braucht ihr noch für den Unterricht.«

Irgendwie scheint das Partyvolk auf das Wort „Unterricht“ konditioniert zu sein oder sie sind einfach müde, denn nach und nach setzen sie sich jetzt auf ihre Plätze und schauen erwartungsvoll nach vorne zu mir.

»Okay, Leute. Wir haben jetzt Religionsunterricht. Könnt ihr mir einfach mal so sagen, was euch dazu einfällt?«

Zwei Schülerinnen aus der ersten Reihe melden sich.

»Nein, ohne Melden«, sage ich. »Einfach so in den Raum rufen.«

»Unterrichtsausfall.« »Langeweile.« »Krankenschwester«. »Zocken.« »Ätzend.« »Zeitverschwendung.«

»Super«, sage ich. »Klingt wie Spaß hoch Zehn. Dann frage ich mal anders: Was fällt euch zu dem Wort Religion ein?«

»Kirche.« »Messdiener.« »Kein Plan.« »Beichte.« »Kreuzzüge.« »Kirchensteuer.« »Leck mich.« »Mittelalter.« »Glockengebimmel.« »Bibel.«

»Danke«, sage ich, »das ist mehr, als ich erwartet hätte und mir selbst eingefallen wäre. Leck mich finde ich etwas respektlos und das gehört eher auf den Straßenstrich, aber Bibel ist gut. Die Bibel ist das meistgelesene Buch aller Zeiten. Wer von euch hat in letzter Zeit in der Bibel gelesen?«

»Hahaha, Verarsche, oder was?« »Hast du keine Freunde, Alder?« »Morgen wieder.«

»Alles klar. Also keiner. Ich auch nicht.«

»Sie lügen uns doch an«, sagt einer mit einem pickeligen Gesicht und einer schwarzen Strickmütze fast bis zur Nase ins Gesicht gezogen, als hätte er etwas zu verbergen.

»Nein, warum sollte ich?«, frage ich. »Ein Friseur lässt sich ja auch nicht jeden Tag die Haare schneiden, oder? Außerdem bin ich fachfremder Relilehrer, ich habe also mit der Kirche genauso viel oder wenig am Hut wie ihr.«

»Und da wollen Sie uns unterrichten?«

»Wer sagt, dass ich euch unterrichten will? Vielleicht wisst ihr ja mehr als ich. Ich will mich mit euch gedanklich austauschen, vermutlich kann ich von euch noch mehr lernen als ihr von mir. Ich bin mir absolut sicher, dass ihr sehr vieles wisst, von dem ich keine Ahnung habe und das interessiert mich. Also zurück zur Bibel. Wenn Millionen Menschen seit vielen Jahrhunderten Antworten auf ihre Fragen in diesem Buch suchen, kann es nicht falsch sein, mal einen Blick hineinzuwerfen, oder? Also alle die Bibel herausholen und wir schauen da mal zusammen hinein.«

»Bibel herausholen? Der will uns doch verarschen, Digga«, höre ich aus der hinteren Reihe.

»Sie glauben jetzt doch nicht im Ernst, dass auch nur einer von uns so ein fettes Teil mit sich rumschleppt, oder?«, fragt Jannis, der Typ mit dem dauerhaften Juckreiz.

»Klar schleppt ihr das mit euch herum. Genauso wie einen Weltatlas und die gesammelten Werke von Charles Dickens und alle Bilder von Picasso…«

Die staunenden Schüler schauen erst mich an, dann sich gegenseitig mit großen unsichtbaren Fragezeichen über den Köpfen. Einer macht mit der Hand eine Kreisbewegung vor dem Gesicht, zwei andere tippen sich an die Stirn. Irgendwo zwischen den Reihen höre ich das Wort »Klapse«.

»Okay, ihr checkt es nicht. Holt einfach eure Handys heraus und googelt Bibel. Das schafft ihr doch, oder?«

»Das ist doch nur ein mieser Trick, damit Sie uns die Handys abnehmen können«, sagt die schwarze Wollmütze ohne Gesicht.

»Nein, warum sollte ich so einen Schwachsinn machen?«

»Weil das eine Anordnung ist von der Schulleitung. Wollen Sie also sagen, der Schulleiter ist schwachsinnig?«

»Nein, nur weil einer auf Lampen steht, ist er noch lange keine Stehlampe, oder? Ich sehe das einfach nur anders. Euer Handy ist euer wichtigstes Arbeitsmittel. Also nochmal, Handys raus, Bibel googeln und dann sucht ihr einen Satz oder Spruch in der Bibel, der euch gefällt oder den ihr nicht versteht oder den ihr schrottig findet und schreibt ihn an die Tafel. Wer einen angeschrieben hat, kann danach mit dem Handy machen, was er will oder aufs Klo gehen oder ne Runde pennen.«

Das scheint sie zu interessieren oder ihre Blase ist zum Platzen gefüllt. Oder es gefällt ihnen auch nur, dass sie im Unterricht mit dem Handy hantieren dürfen, was sonst wohl bei Todesstrafe verboten zu sein scheint.

Nach und nach kommen Schüler an die Tafel und schreiben Bibelsprüche an. Als nach ca. 30 Minuten die gesamte Tafel vollgeschrieben ist, darf jeder einen Strich hinter den Spruch machen, der ihm am besten gefällt oder den er am wenigsten versteht. Oder der ihm noch mehr am Arsch vorbeigeht als die anderen.

Am Ende hat dieser Spruch die meisten Striche: