Kalle Blomquist 2. Kalle Blomquist lebt gefährlich - Astrid Lindgren - E-Book

Kalle Blomquist 2. Kalle Blomquist lebt gefährlich E-Book

Astrid Lindgren

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Beschreibung

Wenn die Polizei im Dunkeln tappt, dann kann nur einer helfen: Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv. Gerade noch haben er und Eva-Lotta mit dem alten Gren gesprochen - und nun liegt er tot beim Herrenhof. Welches Geheimnis verbarg der Alte? Und wer ist der Mann in der grünen Hose, den Eva-Lotta am Tatort gesehen hat? Von Kalle Blomquist gibt es noch mehr spannende Fälle: "Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv" und "Kalle Blomquist, Eva-Lotta und Rasmus".

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über dieses Buch

Wenn die Polizei im Dunkeln tappt, dann kann nur einer helfen: Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv. Gerade noch haben er und Eva-Lotta mit dem alten Gren gesprochen – und nun liegt er tot beim Herren­hof. Welches Geheimnis verbarg der Alte? Und wer ist der Mann in der grünen Hose, den Eva-Lotta am Tatort gesehen hat?

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1. Kapitel

»Du bist ja nicht normal«, sagte Anders. »Du kannst einfach nicht normal sein. Liegst da herum und träumst!«

Der, der nicht normal sein sollte, sprang hastig aus dem Gras auf und blinzelte unter einem flachsgelben Haarschopf gekränkt auf die beiden am Zaun.

»Lieber, kleiner, süßer Kalle«, sagte Eva-Lotta, »du wirst dich noch wund liegen, wenn du nicht endlich damit aufhörst, unter dem Birnbaum zu liegen und zu glotzen – jeden Tag, den ganzen Sommer lang.«

»Ich lieg aber nicht den ganzen Tag rum und glotze«, sagte Kalle verärgert.

»Nein, Eva-Lotta, nun übertreib mal nicht«, meinte Anders. »Erinnerst du dich nicht an den Sonntag Anfang Juni – da lag Kalle nicht ein einziges Mal unterm Birnbaum. Er war den ganzen Tag lang nicht Detektiv. Diebe und Mörder waren unbewacht und konnten tun und lassen, was sie wollten.«

»Natürlich, jetzt erinnere ich mich«, sagte Eva-Lotta. »Die Diebe und Mörder hatten ja tatsächlich Anfang Juni einen ungestörten Sonntag.«

»Haut ab!«, brummte Kalle.

»Genau das wollten wir«, gab Anders zu. »Aber wir wollten dich mithaben. Natürlich nur, wenn du glaubst, dass die Mörder eine Stunde ohne Aufsicht auskommen.«

»Oh, das können sie sicher nicht«, stichelte Eva-Lotta. »Die müssen gehütet werden wie Babys.«

Kalle seufzte. Es war hoffnungslos, absolut hoffnungslos. Meisterdetektiv Blomquist – das war er. Und er verlangte Achtung vor seiner Tätigkeit. Aber bekam er, was er verlangte? Bestimmt nicht von Anders und Eva-Lotta. Dabei hatte er doch nachweislich im vorigen Sommer drei Juwelendiebe festgesetzt – er ganz allein! Klar, Anders und Eva-Lotta hatten ihm nachher dabei geholfen, aber es war doch er, Karl Blomquist, gewesen, der durch Scharfsinn und Beobachtungsgabe den Schurken auf die Spur gekommen war.

Damals hatten Anders und Eva-Lotta begriffen, dass er wirklich ein Detektiv war, der seinen Beruf verstand; aber nun machten sie sich wieder über ihn lustig, als wäre das alles nie gewesen. Als gäbe es überhaupt keine Verbrecher auf der Welt, die beobachtet werden müssten. Als wäre er ein Blödmann, der den Kopf voller Hirngespinste hatte.

»Letzten Sommer wart ihr ziemlich stolz«, sagte er und spuckte verdrießlich ins Gras. »Damals, als wir die Juwelendiebe festsetzten, hat sich niemand über Meisterdetektiv Blomquist beklagt.«

»Es beklagt sich auch jetzt niemand über dich«, meinte Anders. »Aber du begreifst doch wohl, dass so was einmal passiert und nie wieder. Seit siebenhundert Jahren gibt es diese Stadt nun, und bis heute hat es, soviel ich weiß, keine anderen Verbrecher gegeben als gerade deine Juwelendiebe. Das ist jetzt ein Jahr her. Du aber liegst noch immer unterm Birnbaum und wälzt Kriminalprobleme. Gib’s auf, kleiner Kalle, gib’s auf! Glaub mir, für die nächste Zeit kommen keine Schurken mehr zum Vorschein, selbst wenn du sie mit der Lupe suchst.«

»Alles hat seine Zeit, das weißt du doch«, sagte Eva-Lotta. »Strolche jagen hat seine Zeit, und Hackfleisch aus den Roten machen hat seine Zeit.«

»Ach ja, um Hackfleisch ging es«, sagte Anders begeistert. »Die Rote Rose hat wieder den Krieg erklärt. Benka hat vor einer Weile ihre Kriegserklärung gebracht. Lies selbst!« Er zog ein großes Plakat aus der Tasche und gab es Kalle. Und Kalle las:

»Krieg! Krieg!

An den wahnsinnigen Chef der verbrecherischen Brut, die sich ›Die Weiße Rose‹ nennt.

Hiermit tun wir kund und zu wissen, dass es in ganz Schweden keinen Bauern gibt, der ein Schwein hat, das auch nur andeutungsweise so dumm ist wie der Chef der Weißen Rose. Das erwies sich, als dieser Abschaum der Menschheit gestern auf dem Großen Markt dem hochherzigen und allgemein geachteten Chef der Roten Rose entgegentrat. Fiel es da doch besagtem Abschaum nicht ein, zur Seite zu gehen, sondern erfrechte er sich in seiner gräulichen Dummheit nicht noch, unsern edlen, hochberühmten Chef zu schubsen und dabei in widerliche Schmähungen auszubrechen! Diese Schmach kann nur mit Blut abgewaschen werden. Nun herrscht Kampf zwischen der Roten Rose und der Weißen Rose, und tausend und abertausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes.

Sixten,

Edelmann und Chef der Roten Rose«

»Und jetzt«, sagte Anders, »wollen wir ihnen eins auf die Rübe geben. Machst du mit?«

Kalle grinste zufrieden. Der Krieg der Rosen, der mit kurzen Unterbrechungen nun schon seit Jahren tobte, war nicht etwas, wovon man sich freiwillig ausschloss. Das gab Spannung und Inhalt für die Sommerferien, die sonst vielleicht etwas eintönig gewesen wären. Rad fahren und baden, Erdbeerbeete begießen, Besorgungen machen für Vaters Lebensmittelgeschäft, angelnd am Fluss sitzen, in Eva-Lottas Garten Ball spielen – das alles reichte nicht, die Tage auszufüllen. Die Sommerferien waren ja so lang.

Ja, Sommerferien waren glücklicherweise lang. Und sie waren die beste Erfindung, die jemals gemacht worden war, fand Kalle. Seltsam zwar, sich vorzustellen, dass Erwachsene so was erdacht hatten. Da ließen sie einen tatsächlich so einfach zehn Wochen lang im Sonnenschein herumlaufen, ohne dass man sich über den Dreißigjährigen Krieg oder so etwas den Kopf zerbrechen musste. Man konnte sich stattdessen mit dem Krieg der Rosen beschäftigen, und das war viel schöner.

»Ob ich mitmache? Musst du das überhaupt fragen?«

So dünn gesät, wie die Verbrecher in letzter Zeit waren, da konnte sich Meisterdetektiv Blomquist ruhig etwas Urlaub gönnen, um seine Freizeit der höheren Kriegsführung zu widmen und zu sehen, was die Roten diesmal wieder ausgeheckt hatten.

»Ich glaube, ich mach mich erst mal auf einen kleinen vorbereitenden Kundschaftergang«, sagte Anders.

»Tu das«, sagte Eva-Lotta. »Und wir starten dann in etwa einer halben Stunde. Ich will nur erst die Messer schleifen.«

Das hörte sich imponierend und gefährlich an. Anders und Kalle nickten zustimmend mit dem Kopf. Ja, Eva-Lotta war schon ein Krieger, auf den man sich verlassen konnte! Die Messer, die geschliffen werden sollten, waren freilich nur Bäckermeister Lisanders Brotmesser – aber trotzdem! Eva-Lotta hatte ihrem Vater versprochen, ihm beim Schleifen zu helfen, bevor sie wegging. In der brennenden Julisonne den schweren Schleifstein zu drehen, war schon eine schweißtreibende Arbeit. Aber es erleichterte ein wenig, wenn man sich vorstellte, dass das, womit man sich abrackerte, notwendige Waffen für den Krieg der Rosen waren.

»Tausend und abertausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes«, murmelte Eva-Lotta vor sich hin, während sie am Schleifstein stand und drehte, dass ihr der Schweiß von der Stirn tropfte.

»Was sagst du?«, fragte Bäckermeister Lisander und sah vom Schleifstein auf.

»Nichts.«

»Das war wohl genau das, was ich gehört habe«, sagte der Bäckermeister und fuhr prüfend mit dem Finger über die Schneide eines Brotmessers. »Du kannst laufen!«

Und Eva-Lotta lief. Sie schlüpfte durch den Zaun, der ihren Garten von Kalles trennte. An einer Stelle fehlte ein Brett. Solange sich Menschen entsinnen konnten, fehlte dort das Brett, und es würde dort fehlen, solange Eva-Lotta und Kalle etwas zu sagen hatten. Sie brauchten diese Abkürzung.

Es konnte passieren, dass Lebensmittelhändler Blomquist, der ein ordentlicher Mann war, zu Bäckermeister Lisander, wenn sie an Sommerabenden in der Laube des Bäckermeisters saßen, sagte: »Hör mal, Freund, wir sollten vielleicht den Zaun in Ordnung bringen. Sieht ziemlich verkommen aus, finde ich.«

»Ach, wir warten lieber, bis die Kinder so groß geworden sind, dass sie in der Öffnung stecken bleiben«, erwiderte der Bäckermeister dann. Aber Eva-Lotta war immer noch, obwohl sie ausdauernd Kuchen aß, dünn wie ein Stock, und es machte ihr absolut keine Schwierigkeiten, durch die enge Öffnung zu schlüpfen.

Von der Straße war ein Pfiff zu hören. Anders, Chef der Weißen Rose, war von seinem Kundschaftergang zurückgekehrt. »Sie halten sich in ihrem Hauptquartier auf«, schrie er. »Vorwärts zu Kampf und Sieg!«

 

Kalle hatte seinen Platz unter dem Birnbaum wieder bezogen, als Eva-Lotta zum Schleifstein und Anders auf seinen Kundschaftergang verschwunden waren. Er benutzte die kurze Atempause, bevor der Krieg der Rosen ausbrach, zu einem wichtigen Gespräch.

Ja, er hatte ein Gespräch, obwohl kein lebendes Wesen in der Nähe zu sehen war. Meisterdetektiv Blomquist sprach mit seinem eingebildeten Zuhörer. Seit Jahren schon hatte er diesen lieben Begleiter. Oh, das war ein wunderbarer Mensch, dieser Zuhörer! Er behandelte den berühmten Detektiv mit der Hochachtung, die er so sehr verdiente und so selten bekam, am allerwenigsten von Anders und Eva-Lotta. Gerade jetzt saß er, andächtig auf jedes Wort lauschend, zu des Meisters Füßen.

»Herr Bengtsson und Fräulein Lisander sind von wahrhaft beklagenswerter Interesselosigkeit gegenüber den Verbrechen in unserer Gemeinde«, versicherte Herr Blomquist und sah seinem eingebildeten Zuhörer ernst in die Augen. »Eine kleine Ruhepause nur – und sie verlieren alle Wachsamkeit. Sie verstehen nicht, dass gerade die Ruhe gefährlich ist.«

»Tatsächlich?«, sagte der eingebildete Zuhörer und sah ganz verdattert aus.

»Die Ruhe ist trügerisch«, fuhr der Meisterdetektiv mit Nachdruck fort. »Diese kleine, friedliche Stadt, diese strahlende Sommersonne, diese idyllische Ruhe – bah! Von einer Minute zur anderen kann sich das alles verändern. Ganz plötzlich kann das Verbrechen seinen düsteren Schatten auf uns werfen!«

Der eingebildete Zuhörer stöhnte. »Herr Blomquist, Sie erschrecken mich«, flüsterte er und warf scheue Blicke um sich, als wollte er sehen, ob das Verbrechen nicht schon hinter einer Ecke lauerte.

»Überlassen Sie das alles nur mir«, sagte der Meisterdetektiv. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich wache.«

Jetzt konnte der eingebildete Zuhörer kaum noch sprechen, so gerührt und dankbar war er. Seine gestammelten Dankesworte wurden außerdem durch Anders’ Kriegsruf vom Zaun her unterbrochen: »Vorwärts zu Kampf und Sieg!«

Als hätte ihn eine Biene gestochen, fuhr Meisterdetektiv Blomquist in die Höhe. Man durfte ihn nicht noch einmal unter dem Birnbaum finden.

»Leben Sie wohl!«, rief er dem eingebildeten Zuhörer zu und hatte dabei selbst das Gefühl, als wäre es ein Abschied für ziemlich lange. Der Krieg der Rosen würde ihm wohl kaum Zeit lassen, im Gras zu liegen und über Kriminalität zu diskutieren. Und das war eigentlich gut. Ehrlich gesagt: Es war schon ein Kreuz, in dieser Stadt Verbrecher fangen zu müssen. Ein ganzes Jahr seit dem letzten Mal – kann man sich das überhaupt vorstellen? Nein, der Krieg der Rosen war ihm wirklich herzlich willkommen.

Sein eingebildeter Zuhörer sah ihm lange und ängstlich nach.

»Leben Sie wohl!«, rief der Meisterdetektiv noch einmal. »Ich bin nun eine Weile zum Militärdienst einberufen. Aber keine Sorge. Ich kann mir nicht vorstellen, dass gerade jetzt irgendetwas Besonderes passieren wird.«

Ich kann mir nicht vorstellen … Diesmal hat sich der Herr Meisterdetektiv geirrt, der eigentlich über die Sicherheit der Stadt wachen sollte! Da läuft er nun, fröhlich pfeifend, und seine nackten braunen Füße patschen auf dem Gartenweg, wie er Anders und Eva-Lotta entgegensaust. Ich kann mir nicht vorstellen! Kann mir nicht vorstellen … Da läuft der Meisterdetektiv!

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2. Kapitel

In dieser Stadt gibt es nur eine Straße und eine Querstraße«, pflegte Bäckermeister Lisander den Leuten zu erzählen, die aus einer anderen Gegend zu Besuch hierherkamen. Und der Bäckermeister hatte recht. Hauptstraße und Kleine Straße, das war alles, was es gab – und den Großen Markt natürlich. Der Rest waren winzige kopfsteingepflasterte, bucklige Gassen und Straßenstummel, die zum Fluss hinunterführten oder auch ganz plötzlich aufhörten vor einem baufälligen alten Haus, das mit dem Recht des Alters dort stand und den Weg versperrte und sich eigensinnig jeder modernen Stadtplanung widersetzte. Gewiss fand sich am Stadtrand die eine oder andere moderne Villa in einem schön gepflegten Garten; aber das waren Ausnahmen. Die meisten Gärten waren wie der des Bäckermeisters: wild gewachsen mit alten knorrigen Apfel- und Birnbäumen und verwilderten Grasflächen, die nie gemäht wurden. Auch die Häuser ähnelten meist dem des Bäckermeisters: große Holzkästen, die ein Baumeister längst vergangener Zeit in wildem Schönheitsrausch mit ganz unerwarteten Vorsprüngen, Türmchen und Zinnen geschmückt hatte.

Eine schöne Stadt war es also, streng genommen, nicht, aber sie war von altmodischer, gemütlicher Ruhe. Und eigentlich war sie von einer gewissen Schönheit, jedenfalls an einem warmen Julitag wie diesem, wenn in allen Gärten die Rosen, Levkojen und Pfingstrosen blühten und wenn die Linden in der Kleinen Straße ihre Wipfel im Flüsschen spiegelten, das so nachdenklich in seinem Bett dahinfloss.

Kalle und Anders und Eva-Lotta, die gerade am Ufer des Flusses entlang dem Hauptquartier der Roten Rose entgegentrabten, fragten auch nicht viel danach, ob ihre Stadt schön war oder nicht. Sie wussten nur, dass sie einen ausgezeichneten Kriegsschauplatz im Krieg der Rosen abgab. Da konnte man in schmalen, winkligen Gassen die Verfolger abschütteln, Zäune gab es zum Überspringen und Dächer, auf die man klettern, Holzschuppen, in denen man sich verbarrikadieren konnte, und außerdem noch tausendundeine Gelegenheit, sich zu verstecken. Solange eine Stadt diese außerordentlichen Vorzüge besaß, brauchte sie nicht schön zu sein. Es war vollauf genug, dass die Sonne schien und die Pflastersteine sich unter den nackten Füßen so warm und behaglich anfühlten. Das war wie Sommer im ganzen Körper. Der leicht modrige Geruch vom Fluss, der sich ab und zu mit verirrtem Rosenduft aus irgendeinem Garten mischte, war auch angenehm und sommerlich. Und die Eisbude hinten an der Straßenecke verschönerte das Stadtbild gerade genug, fanden Kalle und Anders und Eva-Lotta. Mehr Schönheit war hier gar nicht nötig.

Sie kauften sich jeder ein Eis und liefen weiter die Straße entlang.

Hinten von der Flussbrücke her kam ihnen Wachtmeister Björk langsam patrouillierend entgegen. Seine Uniformknöpfe blitzten im Sonnenschein.

»Hallo, Onkel Björk«, rief Eva-Lotta.

»Hallo«, erwiderte der Wachtmeister. »Hallo, Meisterdetektiv«, setzte er noch hinzu und legte Kalle freundlich den Arm um den Nacken. »Heute keine neuen Fälle?«

Kalle sah ärgerlich aus. Onkel Björk war doch wohl damals dabei gewesen und hatte die Früchte von Kalles Verbrecherjagd im vorigen Sommer geerntet. Er brauchte nun wirklich keine faulen Witze zu machen.

»Nein, heute keine neuen Fälle«, antwortete Anders für Kalle. »Alle Diebe und Mörder haben den Befehl bekommen, ihre Arbeit bis morgen aufzuschieben. Kalle hat nämlich heute keine Zeit für sie.«

»Nein, heute wollen wir den Roten Rosen die Ohren abschneiden«, sagte Eva-Lotta und lächelte Wachtmeister Björk freundlich an. Sie konnte ihn gut leiden.

»Eva-Lotta, manchmal hab ich so das Gefühl, als müsstest du etwas mädchenhafter sein«, sagte Wachtmeister Björk und sah bekümmert auf die schlanke, sonnenverbrannte Amazone, die da an der Bordsteinkante stand und versuchte, mit dem gekrümmten großen Zeh eine Zigarettenkippe aufzuheben. Es glückte, und mit kräftigem Schwung schleuderte sie die Kippe in den Fluss.

»Mädchenhafter? Ja, montags«, versicherte Eva-Lotta, und ein helles, strahlendes Lachen lag auf ihrem Gesicht. »Hej, Onkel Björk, nun müssen wir aber flitzen!«

Wachtmeister Björk schüttelte den Kopf und wanderte weiter.

Wenn man über die Brücke ging, wurde man einer schweren Versuchung ausgesetzt. Natürlich konnte man auf die allgemein übliche Weise hinübergehen. Aber da gab es Geländer, recht schmale Geländer. Und wenn man über die Brücke ging, indem man über diese Geländer balancierte, hatte man ein Weilchen einen angenehmen Kitzel in der Magengrube. Es konnte ja passieren, dass man runterfiel. Gewiss, es war trotz ausführlicher Versuche noch nie geschehen, aber ganz sicher war man ja nicht. Und wenn auch das Ohrenabschneiden der Roten Rosen eine recht dringende Angelegenheit war, fanden sowohl Kalle als auch Anders und Eva-Lotta doch, dass immer noch etwas Zeit für einen kleinen Balanceakt übrig sein musste. Es war natürlich verboten; aber Wachtmeister Björk war schon verschwunden, und auch sonst war kein Mensch zu sehen.

Doch, einer war zu sehen. Gerade als sie zielstrebig auf die Geländer geklettert waren und das angenehm kitzelnde Gefühl im Magen sich wieder einzustellen begann, kam auf der anderen Seite der Brücke der alte Gren angetrottet. Aber um ihn kümmerte man sich nicht. Der alte Gren blieb vor den Kindern stehen, seufzte wie gewöhnlich und sagte in seiner üblichen abwesenden Art: »Ja, ja, die glücklichen Spiele der Kindheit. Die glücklichen, unschuldigen Spiele der Kinder. Ja, ja!«

Das sagte der alte Gren immer. Die Kinder ahmten ihn manchmal nach. Selbstverständlich nie so, dass er es hören konnte. Aber wenn Kalle aus Versehen den Fußball genau in Vater Blomquists Schaufensterscheibe schoss oder Anders vom Fahrrad fiel und dabei mit dem Gesicht mitten in einem Brennnesselgestrüpp landete, konnte es sein, dass Eva-Lotta seufzte und sagte: »Ja, ja, die glücklichen Spiele der Kindheit. Ja, ja.«

Sie erreichten glatt das andere Ende der Brücke. Auch diesmal wieder war keiner ins Wasser gefallen. Anders sah sich um, ob sie jemand beobachtet hatte. Die Kleine Straße aber war nach wie vor leer. Nur der alte Gren ging dort ganz hinten. Seinen trottenden Gang konnte man nicht verwechseln.

»Ich kenn niemand, der so komisch geht wie Gren«, sagte Anders.

»Gren ist durch und durch komisch«, meinte Kalle. »Aber vielleicht wird man komisch, wenn man so allein ist.«

»Der Ärmste«, sagte Eva-Lotta. »Stellt euch vor, in solch einer alten Bruchbude wohnen zu müssen und keinen Menschen zu haben, der für einen aufräumt oder mal Essen kocht und so.«

»Tja, Aufräumen ist ja nicht unbedingt wichtig«, fand Anders nach kurzem Überlegen. »Ich hätte nichts dagegen, wenn ich ein Weilchen allein wäre. Dann würde wenigstens niemand meine Modellbauflugzeuge anrühren.«

Für einen, der wie Anders mit vielen kleinen Geschwistern auf engstem Wohnraum zusammenleben musste, war es kein übler Gedanke, ein ganzes Haus für sich zu haben.

»Ach, du würdest in einer Woche wunderlich werden«, sagte Kalle, »noch wunderlicher, als du jetzt schon bist, meine ich. Genauso wunderlich wie Gren.«

»Papa kann diesen Gren nicht leiden«, rief Eva-Lotta. »Er sagt, Gren ist ein Wucherer!«

Weder Anders noch Kalle wussten, was ein Wucherer ist, aber Eva-Lotta erklärte es schon:

»Papa sagt, ein Wucherer ist so einer, der Geld ausleiht – an Leute, die es nötig haben.«

»Ja, aber das ist doch nett von ihm«, sagte Anders.

»Nein, das ist es nicht«, sagte Eva-Lotta. »Das ist so – verstehst du … Nimm doch mal an, du musst dir fünfundzwanzig Öre leihen, du brauchst die fünfundzwanzig Öre unbedingt für irgendetwas.«

»Für ein Eis«, schlug Kalle vor.

»Du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Ich fühl direkt, wie ich es unbedingt brauche!«, bestätigte Anders.

»Na ja, dann gehst du eben zu Gren«, sagte Eva-Lotta, »oder zu irgendeinem anderen Wucherer. Und der gibt dir dann die fünfundzwanzig Öre …«

»Tut er das wirklich?«, fragte Anders, völlig überwältigt von dieser Möglichkeit.

»Klar. Aber du musst dich verpflichten, sie in einem Monat zurückzuzahlen«, sagte Eva-Lotta. »Und es reicht nicht, wenn du ihm fünfundzwanzig Öre zurückgibst. Du musst ihm fünfzig Öre geben.«

»Auf keinen Fall!«, empörte sich Anders. »Warum muss ich das?«

»Kindchen«, sagte Eva-Lotta, »hast du denn in der Schule noch nie Prozentrechnen gehabt? Gren will Prozente für sein Geld haben. Kapier das doch endlich!«

»Aber er kann sich doch wohl etwas mäßigen«, meinte Kalle.

»Das tun die Wucherer aber nun mal nicht«, sagte Eva-Lotta. »Die mäßigen sich nicht. Die nehmen immer zu viele Prozente. Und im Gesetzbuch steht, dass man das nicht darf. Ja, und deshalb kann Papa den Gren nicht leiden.«

»Aber warum sind die Leute denn so vernagelt, dass sie Geld von Wucherern leihen?«, fragte Kalle verwundert. »Können die sich das Geld für ihr Eis nicht woanders borgen?«

»Dummchen«, sagte Eva-Lotta. »Vielleicht geht es nicht nur um fünfundzwanzig Öre für ein Eis, sondern um Tausende von Kronen. Da gibt es vielleicht Menschen, die müssen durchaus fünftausend Kronen haben und gerade jetzt in dieser Sekunde, und kein Mensch ist da, der sie ihnen borgen will. Keiner, nur so ein Wucherer wie Gren.«

»Jetzt pfeifen wir auf Gren«, sagte Anders, der Chef der Weißen Rose. »Vorwärts zu Kampf und Sieg!«

 

Da lag das Haus des Postdirektors und im Garten dahinter ein Schuppen, der als Garage diente. Als Garage und als Hauptquartier der Roten Rose. Denn Postdirektors Sixten war der Chef dieser streitsüchtigen Bande.

Augenblicklich schien die Garage verlassen und leer. Schon von Weitem konnte man sehen, dass ein weißes Plakat an die Tür genagelt war. Es wäre ein Leichtes gewesen, durchs Gartentor zur Garage zu spazieren und zu lesen, was auf dem Plakat stand. Aber so ging man nicht vor im Krieg der Rosen. Es könnte eine Falle sein. Vielleicht lagen die Roten Rosen drinnen in ihrem verrammelten Hauptquartier auf der Lauer, bereit, sich auf die Arglosen zu stürzen, die sich in die Nähe wagten.

Der Chef der Weißen Rose gab seinen Truppen Anweisung: »Kalle, du schleichst an der Hecke entlang, bis du hinter dem Hauptquartier außer Sicht für den Feind bist. Dann hinauf aufs Dach! Schaff sie herbei, die Bekanntmachung, tot oder lebendig!«

»Die Bekanntmachung – tot oder lebendig? Was meinst du damit?« fragte Kalle.

»Halt den Schnabel«, sagte Anders. »Du sollst tot oder lebendig sein, kapierst du das nicht? Eva-Lotta, du liegst hier still hinter der Hecke und spähst. Wenn du irgendeine Gefahr für Kalle merkst, pfeifst du unser Signal.«

»Und du? Was willst du machen?«, fragte Eva-Lotta.

»Ich geh rein und frage Sixtens Mutter, ob sie weiß, wo Sixten ist«, antwortete Anders.