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Ein durchtriebener Serienkiller und ein Psychologe unter Mordverdacht: »Kaltblütige Lügen« ist der erste Band der San-Diego-Thriller-Reihe der Bestseller-Autorin Karen Rose um die toughe Polizistin Kit McKittrick und den Psychologen Sam Reeves, mit dem Karen Rose für jede Menge Nervenkitzel sorgt. Nachdem Detective Kit McKittrick vom San Diego Police Department einen anonymen Hinweis auf das mögliche Grab eines Mordopfers in einem Stadtpark bekommen hat, stößt ihr Team dort tatsächlich auf die Leiche einer jungen Frau. Sie ist mit pinken Handschellen gefesselt – so wie zahlreiche Opfer eines Serienkillers, der schon seit Jahren sein Unwesen treibt. Kit schöpft Hoffnung, endlich eine neue Spur zu haben. Doch schon bald nimmt der Fall neue, ungeahnte Dimensionen an. Mittendrin der Psychologe Sam Reeves, der sich als der anonyme Hinweisgeber herausstellt und alles andere als unschuldig scheint … Ein Pageturner zum Nägelkauen Thriller-Autorin Karen Rose legt mit »Kaltblütige Lügen« den Start einer neuen Thriller-Reihe mit einer starken weiblichen Ermittlerin und schockierenden Twists vor, den man am liebsten in einem Rutsch durchlesen will. »Fesselnde Spurensuche mit ungeahnten Wendungen und viel weiblicher Intuition.« Hörzu
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Seitenzahl: 717
KarenRose
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Hald und Ursula Held
Knaur eBooks
Der fesselnde Start der San-Diego-Reihe von Bestsellerautorin Karen Rose
Nachdem Detective Kit McKittrick vom San Diego Police Department einen anonymen Hinweis auf das mögliche Grab eines Mordopfers in einem Stadtpark bekommen hat, stößt ihr Team dort tatsächlich auf die Leiche einer jungen Frau. Sie ist mit pinken Handschellen gefesselt – so wie zahlreiche Opfer eines Serienkillers, der schon seit Jahren sein Unwesen treibt. Kit schöpft Hoffnung, endlich eine neue Spur zu haben. Als sie auf eine weitere Leiche stößt, nimmt der Fall jedoch neue, ungeahnte Dimensionen an. Mittendrin der Psychologe Sam Reeves, der sich als der anonyme Hinweisgeber herausstellt und alles andere als unschuldig scheint …
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Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Dank
Verzeichnis der Romane von Karen Rose und der darin auftretenden Figuren
Leseprobe »Böse Herzen«
Für Margaret Taylor.
Danke für deine Unterstützung bei diesem Buch
und für deinen langjährigen Einsatz für unsere Gemeinschaft.
Danke vor allem aber für deine Freundschaft.
Und, wie immer: für Martin. Ich liebe dich.
Sie ist weg.
Katherines Hand zitterte, als sie die Stalltür berührte. Ihr ganzer Körper zitterte. Und ihr Magen rumorte so heftig, dass sie dachte, sie müsste sich übergeben.
Sie ist nicht mehr da.
Und es ist meine Schuld.
Sie hätte so viel tun können. Tun sollen.
Ich werde es tun. Aber sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
Zumindest wusste sie, wo sie sein musste.
Allein. Im Stall. Dort, wo sie sich als verängstigte, zwölfjährige Ausreißer verkrochen hatten, um der nächtlichen Kälte zu entkommen. Dort, wo sie – viel später – zusammengehockt und geredet hatten. Über alles.
Na gut, Wren hatte geredet. Und Katherine hatte zugehört.
Katherine war eine gute Zuhörerin. Zwangsweise. Sie hatte gelernt, die Zwischentöne wahrzunehmen. Damit sie wusste, ob man ihr helfen oder wehtun wollte.
Damit sie wusste, ob man sie belog oder die Wahrheit sagte.
Jetzt aber wollte sie niemandem zuhören. Sie wollte allein sein und alles herausschreien. Ihre unbändige Wut. Dort, wo sie niemanden verletzen könnte.
Denn Wren war nicht mehr da.
Ihre Augen brannten, und sie schluckte das Schluchzen hinunter, das in ihrer Kehle aufstieg, als sie die Stalltür aufschob. Dünn, wie sie war, brauchte sie nur einen kleinen Spalt zum Durchschlüpfen. Denn sie wusste genau, ab welchem Winkel die Tür quietschte.
Dazu ließ sie es nicht kommen. Obwohl das Quietschen nicht weiter schlimm gewesen wäre, aber es gefiel ihr, sich an einen Ort zu schleichen, an dem sie nicht sein sollte. Zumindest nicht jetzt. Sie durfte in den Stall gehen, wann immer sie wollte. Um diese Uhrzeit aber sollte sie eigentlich schlafen.
Dabei hatte sie seit fast zwei Wochen nicht geschlafen. Daran würde sich auch in dieser Nacht nichts ändern, sie hatte es aufgegeben.
Jemand hatte das Nachtlicht angeschaltet, dessen schwacher Schein den Schuppen erhellte. In den Ecken lauerten Schatten, die ihr jedoch keine Angst machten. Sie kannte sie alle. Der Stall war ihr Rückzugsort. Ihr Ort zum Nachdenken.
Jetzt war er ihr Ort zum Trauern.
Sie holte tief Luft. Atmete den Geruch von Pferden und frischem Heu – und frischem Motoröl – ein. Das mit dem Öl war seltsam. Normalerweise roch es hier nach altem Motoröl.
Rings um den kaputten Traktor hinten an der Wand lagen Werkzeuge herum. Er lief schon seit Monaten nicht mehr. Und niemand hatte Zeit, ihn zu reparieren.
Anscheinend hatte heute jemand an ihm geschraubt.
Jemand, der immer noch hier war.
Sie hielt angespannt inne, hörte ein schweres Atmen aus einem der leeren Verschläge.
Nein, kein Atmen. Jemand weinte.
Sie wollte schon weglaufen, als das Weinen in Schluchzen umschlug. Heftiges, herzzerreißendes Schluchzen.
Wenigstens einer, der Wren auch vermisst. Kein sehr fairer Gedanke. Alle drüben im großen Wohnhaus vermissten sie. Wie sollte es anders sein?
Sie ging noch tiefer in den Stall, lauschte – bereit, jeden Augenblick die Flucht zu ergreifen. Aber sie wollte wissen, wer an ihren geheimen Ort gekommen war, um zu weinen. Obwohl sie ahnte, wer es sein könnte.
Die Werkzeuge rund um den Traktor hatten ihr einen ersten Hinweis gegeben.
Ein großer, stämmiger Mann hockte in einem der leeren Verschläge, den Rücken an die Bretterwand gelehnt. Seine Schultern bebten. In einer seiner Pranken hielt er ein Stück Holz, in der anderen sein Schnitzmesser.
Harlan McKittrick. Ihr Pflegevater.
Sie hatte ihn noch nie weinen sehen, in den ganzen drei Jahren nicht, die sie hier wohnte. Nicht einmal heute auf dem Begräbnis. Er hatte wie unbeteiligt dagestanden, starr wie eine Statue, hatte den Arm um Mrs McK gelegt, die sich die Augen ausgeweint hatte. Am offenen Grab hatte er ein paar Worte gesprochen, mit seiner tiefen, rauen Stimme, über den Frieden und die Ewigkeit und Gott.
Am liebsten hätte Katherine laut geschrien. Sie hatte sich zwingen müssen, nicht auf jemanden loszugehen.
Sie hatte Mr McK schlagen wollen, weil er so gefasst war. So gefühllos.
Doch nun wurde ihr bewusst, dass sie komplett falschgelegen hatte. Dieser Mann war nicht gefühllos. Er hatte seine Trauer aufgespart für die Zeit, wenn er allein sein würde.
Genau wie ich.
Sie wich einen Schritt zurück, weil sie ihn in Ruhe lassen und sich einen anderen Ort für ihre Wut suchen wollte, als er den Kopf hob. Ihre Blicke trafen sich in dem trüben Licht.
Eine ganze Weile rührte sich keiner von beiden. Die Tränen liefen ihm weiter über die Wangen, und sie wäre am liebsten geflohen. Am Ende wischte er sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
»Kit«, sagte er schroff.
»Tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich verschwinde.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Musst du nicht. Dieser Ort gehört dir. Und ihr. Ich hätte wissen müssen, dass du herkommst.«
Ihre Wangen begannen zu glühen. Schließlich war sie dabei erwischt worden, wie sie nachts um drei herumstreunte. Es gab Regeln, selbst hier. »Ich gehe dann mal.«
»Nein, Liebes. Ich gehe. Mrs McK wundert sich sicher schon, wo ich bin. Du kannst hierbleiben.« Er stand auf und streckte sich ächzend. »Ich bin zu alt, um auf dem Stallboden zu hocken. Ich wollte ein bisschen schnitzen, aber dann …« Er seufzte. »Dann hat es mich kalt erwischt. Du weißt, wie es einem manchmal gehen kann, stimmt’s, Kitty-Cat?«
Er nannte sie Kit oder Kitty-Cat, nie Katherine. Sie hatte sich schon oft gefragt, warum. Jedenfalls hatte sie nichts dagegen, sondern es gefiel ihr sogar. Ein bisschen zumindest.
Rede mit ihm. Sag etwas, damit er sich besser fühlt. Denn Mr McK war freundlich. Und bei den McKittricks war es viel besser als bei den anderen Leuten, bei denen sie bisher untergekommen war. Und das waren ziemlich viele.
Mr und Mrs McK waren anständige Menschen. Sie brüllten nicht, sie schlugen nicht, so wie es in vielen anderen Pflegefamilien üblich war. Außerdem … kamen sie den Kindern nicht zu nahe, was anderswo ebenfalls häufig passierte.
Sie hatten sie behalten, obwohl Katherine nicht besonders brav oder nett gewesen war. Sie durfte bleiben. Sie hatten ihr sogar angeboten, sie »Mom« und »Pop« zu nennen, so wie die anderen Kinder es taten, die eine Zeit in dem großen, warmen Haus der McKittricks verbrachten, in dem es nach Apfelkuchen, frischer Wäsche und Zitronen-Möbelpolitur roch.
Doch sie war bei »Mr« und »Mrs« geblieben. Um sie auf Distanz zu halten. Und die beiden hatten ihr deswegen nie ein schlechtes Gewissen gemacht.
Sie wünschte, sie könnte etwas tun, damit es ihm besser ging, denn sein Weinen erschütterte sie. So ein großer, rauer, schroffer Mann. Und doch weinte er.
Wegen Wren.
Sie zeigte auf das Holz in seiner Hand. »Was schnitzen Sie da?«
Die Frage schien ihn zu überraschen. Seine Verwunderung war berechtigt: Katherine redete nicht viel. Sie stellte niemals auch nur annähernd persönliche Fragen und antwortete ihrerseits auf sämtliche Fragen mit »Gut« oder »Okay«. Als sie ihr angeboten hatten, sie zu adoptieren, damit sie auch offiziell zu den McKittricks gehörte, hatte sie nur erwidert: »Nein, danke.«
Denn so nett konnte niemand sein. Es gab niemanden, dem man wirklich trauen konnte. Irgendwann wäre es vorbei.
Irgendwann hätten die McKittricks genug von ihr, würden sie wegschicken, und dann wäre alles nur noch schlimmer.
Mr McK blickte auf die Schnitzerei in seiner Hand. »Ein Zaunkönig. Von dem hat Wren ihren Namen.«
Unwillkürlich schluchzte Katherine. »Ein Zaunkönig?«, fragte sie stockend.
Er nickte, den Blick immer noch auf den kleinen Vogel geheftet. »Ich habe ihr einen in den Sarg gelegt. In ihre Hände, damit sie etwas zum Festhalten hat.« Ein zittriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Vielleicht kann sie sich so an uns erinnern. Und ist nicht so allein.«
Katherine hielt die Hand vor den Mund. Lass es drin. Es muss drinbleiben. »Wirklich?«, murmelte sie.
»Ja. Und dieser hier ist auch fertig.« Er reichte ihr die Schnitzerei. »Der ist für dich. Als Erinnerung.«
Einen Augenblick lang stand sie stocksteif da, starrte nur auf den kleinen Vogel in Mr McKs ausgestreckter Hand.
Erst jetzt sah sie, wie zierlich und schön er war. Wie Wren.
Mr McK hielt ihn weiter in der flachen Hand, damit sie ihn nehmen konnte, ohne ihn dabei zu berühren. Die McKittricks wussten, dass sie Berührungen scheute.
Nur Wren hatte eine Ausnahme gebildet. Sie war ihre Schwester gewesen, wenn auch nicht ihre leibliche.
Langsam streckte Katherine die Hand aus, strich mit dem Finger über den kleinen Vogel, in der Erwartung, dass sich das Holz rau anfühlen würde, stattdessen war es wunderbar glatt. Mr McK blieb unbewegt stehen, mit dem Vogel auf der Hand.
Vorsichtig nahm sie ihn und drückte ihn an sich. »Als Erinnerung«, flüsterte sie. Als ob sie Wren je vergessen könnte. Alles Gute und Schöne, das sie kannte.
Alles, was sie selbst nicht war.
Mr McK lächelte sie traurig an. »Wir werden immer an sie denken, Kit. Sie war etwas Besonderes. Sie hätte ein wunderbares Leben verdient.«
»Aber jetzt ist sie tot«, stieß Kit hervor und umklammerte den kleinen Vogel so fest, dass ihr selbst seine weichen Kanten in die Hand schnitten. »Jemand hat sie getötet. Und es ist allen egal.«
»Uns ist es nicht egal«, flüsterte Mr McK nachdrücklich.
»Aber allen anderen«, schnaubte sie, und ihre Stimme hallte von den Bretterwänden wider. »Den Polizisten, die hier waren und Fragen gestellt haben.«
»Ich kann nicht beurteilen, was sie denken. Ich weiß nur, was ich und Mrs McK empfinden.«
Jetzt war die Wut wieder da. Heftiger als zuvor. Am liebsten wollte sie etwas von sich schleudern, aber das Einzige, was sie hatte, war der kleine Vogel, den sie nur noch fester an sich drückte. Ihn würde sie niemals wegwerfen. Wren wegwerfen, niemals.
»Die haben gedacht, sie ist weggelaufen. Und würde wieder zurückkommen!« Katherine schrie jetzt. Die Pferde in den Boxen begannen zu stampfen, eins wieherte erschrocken auf, aber Katherine konnte nicht aufhören. »Die meinten, sie wollte abhauen. Und würde sich wahrscheinlich herumtreiben und Drogen nehmen. Denen war sie egal!«
Katherine trat einen Schritt zurück. Und noch einen.
Mr McK blieb stehen und sah sie mit so leidvollem Blick an, dass sie auch ihn anschreien wollte.
»Sie haben ihre Leiche in einer Mülltonne gefunden und haben uns nichts gesagt, fünf Tage lang!«, brüllte sie. »Als wäre sie Abfall, und es wäre nicht weiter schlimm, dass sie tot ist!«
»Sie haben erklärt«, erwiderte er ruhig, »dass sie fünf Tage gebraucht haben, um sie zu identifizieren.«
»Das waren fünf Tage zu viel! Fünf Tage lang hat sie ganz allein in der Leichenhalle gelegen.« Ihr Schreien klang immer erstickter, und endlich, endlich kamen die Tränen. Als wäre ein Damm gebrochen und sie könnte die Ströme nicht mehr aufhalten. »Sie haben gesagt, dass sie zu viel zu tun haben und zu wenige Leute. Und dass es ihnen leidtut. Verdammt.«
Wieder wischte Mr McK sich über die Augen. »Ich weiß, Kit.«
»Sie suchen nicht mal nach dem, der das getan hat. Sie haben den Fall zu den Akten gelegt. Es ist eine Woche her, dass man sie gefunden hat, und die tun nicht mal so, als würden sie nach dem Täter suchen.« Sie senkte den Blick und schaute auf den kleinen Vogel in ihrer Hand. »Aber ich werde nach ihm suchen. Ich finde heraus, wer das getan hat. Wer sie uns weggenommen hat.« Mir weggenommen hat.
Mr McK öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder.
Sie sah trotzig zu ihm auf. »Was ist? Sie sagen nicht, das wäre zu gefährlich? Oder dass ich zu jung für so was bin? Weil ich erst fünfzehn bin? Oder dass ich die Nächste sein könnte?«
Er atmete langsam aus. »Warum sollte ich? Du weißt es doch schon.«
Sie wandte den Blick ab. Denn er hatte recht, und es machte sie nur noch wütender. »Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen. Es hätte mich erwischen sollen.«
Er sog heftig Luft ein. »Nein, Kit. Nein. Keiner von euch hätte das passieren dürfen. Keinem Kind sollte so etwas passieren. Bitte. Auch dir nicht.«
Sie schüttelte den Kopf, sie hatte keine Worte mehr.
»Du gehörst zu uns«, sagte er, und es klang so aufrichtig, dass sie beinahe nicht daran zweifelte. Sie wollte ihm glauben. »Du magst es nicht so empfinden oder nicht wollen, dass es offiziell ist, aber du gehörst zu uns, Kit Matthews. Wir sind da, um dich zu beschützen, dich zu lieben, ob du diese Liebe nun willst oder nicht. Dass wir Wren nicht beschützen konnten, wird mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen. Bitte. Ich möchte nicht auch noch um dich trauern müssen. Das stehe ich nicht durch.«
Sie sah zu ihm auf und hasste sich für die Tränen, die immer weiter flossen. »Was machen wir jetzt, Mr McK?«, flüsterte sie. »Sie ist weg. Und kommt nicht wieder.«
Er machte einen Schritt nach vorn und gab ihr die Möglichkeit, ihm auszuweichen.
Aber sie tat es nicht. Sie konnte es nicht. Ihre Beine waren wie erstarrt.
Ihr Herz war erstarrt.
Schließlich strich er ihr über das Haar. »Wir leben weiter, Kit. Wir werden immer an sie denken, aber wir leben weiter. Das müssen wir.« Er zögerte, doch dann legte er seine große Hand um ihre Wange. »Wir werden um sie weinen, aber wir werden auch für sie leben. Du wirst für sie leben. Du wirst ein schönes Leben haben, Kit Matthews. Dafür werden wir sorgen, Mrs McK und ich. Du wirst leben.«
Katherine schloss die Augen und schmiegte ihren Kopf in Mr McKs warme Hand. Nur einen Augenblick. Er bot ihr … Schutz. Sicherheit, Stärke. Und Zuneigung, die sie nicht erwidern musste. Sie würde sich nur ein bisschen davon nehmen, nur kurz. »Ich möchte, dass die, die ihr das angetan haben, dafür büßen müssen. Sie sollen sterben.«
»Das will ich auch, Kit. Aber wir müssen vernünftig sein. Wir werden nichts überstürzen und leichtfertig unser Leben aufs Spiel setzen, sodass Mrs McK allein zurückbleibt.«
Sie musterte ihn vorsichtig. Er meinte es ernst. »Sie helfen mir?«
»Ich helfe dir. Ich würde auch dann nach ihrem Mörder suchen, wenn du nicht mitmachen würdest.« Eine seiner breiten Schultern hob sich zu einem angedeuteten Achselzucken. »Ich habe mir alles genau überlegt. Aber ich bin Farmer, kein Polizist. Es wird nicht einfach.«
Sie sah ihm in die Augen. »Und wenn ich Polizistin werde?«
»Du wärst eine richtig gute Polizistin. Du würdest keiner Familie das Gefühl geben, dass es gleichgültig ist, wenn man einen geliebten Menschen verliert.«
Sie schnaubte. »Klingt, als wären Sie sich ganz schön sicher, Mr McK.«
Er löste seine Hand von ihrem Gesicht, hob sein Messer vom Boden auf, klappte es ein und steckte es in die Hosentasche. »Ich glaube an dich, Kit.«
Überwältigt von ihren Gefühlen, trat sie einen Schritt zurück.
Sie hasste Gefühle.
»Danke, Mr McK. Für den Vogel. Wir sehen uns morgen.«
Sie wandte sich ab und rannte ins Haus, eilte auf Zehenspitzen in ihr Zimmer und schloss leise die Tür. Ihr Bett war zerwühlt vom Herumwälzen. Auf dem zweiten Bett lag die glatt gestrichene Tagesdecke mit den leuchtend gelben Sonnenrädern. Es war leer.
Denn Wren war nicht mehr da.
Vorsichtig stellte sie den kleinen Holzvogel auf den Nachttisch, wo sie ihn am Morgen gleich als Erstes sehen würde. Sie legte sich ins Bett und starrte an die Decke.
Ich glaube an dich, Kit.
Sie seufzte.
Tja, wenigstens einer von uns.
Hey, McKittrick.«
Kit drehte sich in ihrem Bürostuhl herum und warf Basil »Baz« Constantine, der seit vier Jahren ihr Partner war, einen fragenden Blick zu. »Was ist?«
Baz deutete auf die Doppeltür, die zu den Büros der Mordkommission führte. »Da ist jemand für dich.«
Kit sah gerade noch, wie sich die Türen hinter den vertrauten breiten Schultern schlossen. Harlan McKittrick kam auf sie zu, mit demselben lässigen Gang und warmen Lächeln, das sie seit neunzehn Jahren an ihm kannte.
»Pop!« Sie stand auf und trat in seine ausgestreckten Arme. Noch immer wurde sie nicht gerne angefasst, aber für Mom und Pop McK machte sie eine Ausnahme. Den beiden tat die Nähe gut.
Und Kit würde nahezu alles tun, um sie glücklich zu machen.
»Kitty-Cat.« Er umarmte sie so fest, bis ihre Rippen protestierten und Kit ein leises Stöhnen von sich gab. »Entschuldige. Ich habe dich lange nicht gesehen«, sagte er verlegen.
»Erst vor zwei Wochen«, antwortete sie trocken und stellte sich auf die Zehenspitzen, um dem hochgewachsenen Mann einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu geben. Beim Anblick seiner erfreuten Miene wurde ihr warm ums Herz. »Was machst du in der Stadt?«
Harlan McKittrick hasste die Stadt. Er war für offene Weiten geschaffen, nicht für Hochhäuser und dichten Verkehr.
»Wir kriegen ein neues Pflegekind. Mom trifft sich mit dem Sozialarbeiter, und ich dachte, ich schaue kurz rein und sage Hallo.«
»Na dann: Hallo. Setz dich. Ich kann eine kurze Pause einschieben.«
Er blickte sich neugierig um, während er ihr zurück zum Schreibtisch folgte. In der Mordkommission war er kein Unbekannter, schließlich war er in den Jahren nach Wrens Tod regelmäßig dort erschienen. Das Versprechen nach Wrens Beerdigung hatte er gehalten und Kit bei der Suche nach dem Mörder ihrer Schwester geholfen. Bisher hatte diese Suche keinen Erfolg gehabt, das Monster war unauffindbar, doch sie hatten auch nach sechzehn Jahren nicht aufgegeben.
Sie fragte sich, ob er wohl mit einem neuen Hinweis kam. Wenn ja, wäre das der erste seit fünf Jahren.
»Nein«, sagte er und nahm auf dem Stuhl Platz. »Nichts Neues.«
Er hatte immer schon ihre Gedanken lesen können. Als Teenager hatte sie das beinahe um den Verstand gebracht. Er hatte stets gewusst, wann sie auszurasten drohte oder die ganze Wahrheit sagte. Inzwischen war es eine Wohltat, dass jemand sie so gut kannte.
»Ich habe auch nichts. Erzähl lieber, wer zu euch kommt.«
»Ein dreizehnjähriges Mädchen.« Seine Schultern sackten herab. »Sie hatte Angst vor mir.«
Kit drückte seine Hand. »Sie wird schon erkennen, wie du wirklich bist. Das tun sie alle.«
Sein Mundwinkel hob sich. »Du hast es erkannt.«
»Ja, habe ich.«
Eine Weile saß er stumm da, dann holte er etwas aus der Hosentasche. Kit sah angespannt zu, denn sie wusste, was es war, bevor sie die kleine Schnitzerei sah.
Es war wieder so weit. Noch ein Jahr war vergangen.
Zum sechzehnten Mal jährte sich der Mord an Wren, und bis heute war er nicht aufgeklärt. Doch Pop McK hatte den Sonnenschein von einem Mädchen nicht vergessen.
Er hielt sein Geschenk in der ausgestreckten Hand, so wie immer, Jahr für Jahr. Immer war es ein kleiner Vogel. Kit hatte neben ihrem Bett ein eigenes Regal für ihre Sammlung, damit sie sie sah, sobald sie morgens die Augen aufschlug.
Sie waren die einzigen Gegenstände in ihrem Zuhause, die sie regelmäßig abstaubte. Heute aber war es kein Vogel – beziehungsweise nicht nur, sondern eine Katze, auf deren Kopf ein Vogel thronte. Der Vogel hatte einen fragenden Ausdruck, die Katze dagegen wirkte sehr zufrieden. Die Schnitzerei maß sieben mal drei Zentimeter, sehr fein und detailliert gearbeitet und wunderschön.
»Pop«, hauchte sie und nahm den Vogel behutsam von seiner flachen Hand. Anfangs war sie so vorsichtig gewesen, weil sie keine Berührungen ertrug, nun jedoch lag es daran, dass sie Angst hatte, die kleine Figur könnte zerbrechen. »Danke.«
»Sie geht nicht kaputt«, versicherte er. »Du kannst sie in die Hosentasche stecken, als Glücksbringer.«
»Das mache ich.« Zuvor aber hielt sie die kleine Schnitzerei ins Licht und bewunderte McKs Kunstfertigkeit. »Erstaunlich.«
Sein Lächeln war schüchtern, was bezaubernd wirkte bei einem kräftigen Mann von über einem Meter siebenundachtzig. Seine Hand verschwand nochmals in die Hosentasche und holte eine weitere Schnitzerei hervor. Dieses Mal war es nur ein Vogel, ebenso liebevoll gearbeitet, nur saß dieser allein auf einem Ast.
»Für dein Regal.«
Sie nahm die Schnitzerei. »Danke, Pop.«
»Keine Ursache, Kitty-Cat«, murmelte er und strich ihr übers Haar. »Für dich habe ich auch etwas, Baz.«
Baz stand auf und setzte sich auf Kits Schreibtischkante. Er hatte nicht einmal so getan, als würde er nicht zuhören. »Ja?«
Harlan hielt ein kleines geschnitztes Pferd in die Höhe, das Kit und Baz stirnrunzelnd beäugten, denn normalerweise gab es nur Vögel.
»Das ist für Luna«, erklärte Harlan. »Bei eurem letzten Besuch hat sie mir beim Schnitzen zugeschaut und gefragt, ob ich ihr eins zum Geburtstag schenke.«
Bei der Erwähnung seiner fünfjährigen Enkelin erhellte sich Baz’ Miene. »Darüber wird sie sich riesig freuen, Harlan. Danke.«
»Schon gut.« Harlan räusperte sich unbeholfen. »Du hast uns unzählige Male geholfen, deshalb muss ich mich bei dir bedanken.« Er hielt eine vierte Schnitzerei in der Hand. Einen Vogel. »Für dich.«
Harlan schenkte beiden jedes Jahr aufs Neue einen geschnitzten Zaunkönig – Kit, damit sie sich an Wren erinnerte. Und Baz, damit er das Opfer nicht vergaß, dessen Ermordung er noch nicht aufgeklärt hatte.
Baz versuchte nicht, seine Rührung zu überspielen. Er war vor sechzehn Jahren als junger Detective mit dem Fall betraut worden und keinesfalls so herzlos, wie die fünfzehnjährige Kit es vermutet hatte.
Der Mord an Wren war sein erster Mordfall gewesen. Er hatte ihn tief erschüttert, und das Bemühen, sich von der Trauer der Familie zu distanzieren, um seinen Job machen zu können, hatte ihn kalt und gefühllos wirken lassen. Was er definitiv nicht war, vielmehr half er Kit und Harlan seitdem, jedem kleinsten Hinweis nachzugehen.
Dass sie Wrens Mörder noch nicht gefunden hatten, hatte also nichts mit mangelndem Engagement zu tun.
Baz steckte die Figürchen in die Hosentasche. »Ich mache ein Video, wenn wir Luna das Pferd überreichen. Mach dich auf Schreie gefasst, dass die Gläser im Schrank zerbersten.«
Hinter ihnen ging eine Tür auf, und die Stimme des Lieutenants durchbrach die Geräuschkulisse des Einsatzraums. »Constantine, McKittrick. Zu mir. Sofort.«
»Oh, oh!«, tönte es von den Kollegen, als säßen sie in der Schule. Dabei benahmen sich die meisten Polizisten des Dezernats – obgleich es zum größten Teil aus gestandenen Männern mittleren Alters bestand – tatsächlich wie die Teenager. Es war ihre Art, mit all dem umzugehen.
»Ich muss dann mal«, entschuldigte sich Kit. »Bis dann, Pop.«
»Wird eh Zeit, dass ich deine Mom und unser neues Kind abhole. Wünsch mir Glück.«
»Das brauchst du gar nicht«, widersprach sie. »Wahrscheinlich nennt das Mädchen dich in einer Woche schon Pop.«
»Es sei denn, sie ist wie du«, meinte er lachend. »Dann dauert es vier Jahre.«
»Ich war eben ein wenig starrköpfig«, gab sie zu.
Baz schnaubte. »Ein wenig, ja?«
»Halt den Mund«, entgegnete sie gutmütig. »Ich komme am Sonntag zum Essen, Pop.«
Harlan schloss sie noch einmal in eine feste Umarmung. »Tu das. Deine Mutter macht sich Sorgen.«
Betsy McKittrick sorgte sich tatsächlich um Kit. Sie und Harlan waren die Einzigen, die das taten.
»Ich werde da sein. Versprochen.« Sie ging zum Büro ihres Vorgesetzten und drehte sich erst um, als Harlan hinter den Doppeltüren verschwunden war.
Sie drückte die Schultern durch, steckte die beiden Schnitzereien in ihre Hosentaschen und betrat das Büro des Lieutenants. »Was gibt es, Chef?«
Reynaldo Navarro deutete auf die Stühle vor seinem Schreibtisch und reichte Kit und Baz ein Blatt Papier. »Das ist die Abschrift eines eingegangenen Anrufs. Den Audiomitschnitt können Sie in Ihren E-Mails abrufen.«
Kit überflog die Notiz und sah stirnrunzelnd auf. »Er hat mich erwähnt?«
»Explizit«, bestätigte Navarro und drückte eine Taste an seinem Computer, woraufhin eine nervöse männliche Stimme ertönte.
»Hallo. Dies ist eine Nachricht für Detective Kit McKittrick. Ich habe Grund zur Annahme, dass Sie im Longview Park ein Mordopfer finden werden, und zwar unter den folgenden Koordinaten.« Er ratterte eine Zahlenfolge herunter, dann endete der Anruf.
Kit versuchte, die Stimme zu erkennen, hatte aber nicht den Hauch einer Ahnung, wer es sein könnte. »Ich glaube nicht, dass ich den Anrufer kenne.«
Navarro hob die Schultern. »Sie mögen ihn vielleicht nicht kennen, aber er kennt Sie. Ich möchte, dass Sie der Sache nachgehen und mir berichten. Baz, Sie sind entlassen. Kit, Sie bleiben.«
Verdammt. Kit schwante, was jetzt kommen würde.
Als Baz das Zimmer verlassen hatte, erklärte Navarro mit einem Seufzen: »Sie haben wieder mal Ihren Termin geschwänzt.«
Ja, genau das hatte sie erwartet. »Ich dachte, das Ganze sei freiwillig.«
Navarro brachte seinen typischen enttäuschten Blick zum Einsatz. Sie war nahezu immun dagegen. »Sie haben es versprochen«, sagte er. »Deswegen war es freiwillig.«
Ja, sie hatte es versprochen. »Tut mir leid. Ich hasse diese Sitzungen.«
»Niemand geht gerne zum Seelenklempner, Kit. Aber wir reden jetzt seit vier Jahren davon. Und sämtliche Vorgesetzte, die Sie vor mir hatten, haben Sie ebenfalls darauf angesprochen. Immer zu dieser Zeit im Jahr arbeiten Sie bis zur Erschöpfung. Und wir alle kennen den Grund.«
Okay, klar. Dass sie um diese Zeit ihre Schwester Wren verloren hatte, war kein Geheimnis. Besonders nicht in der Mordkommission.
»Arbeiten hilft. Ich schaffe das.«
»Kann sein, dass Sie es in diesem Jahr schaffen, und vielleicht auch im nächsten. Aber irgendwann wird es zu viel. Ihre Leistung wird darunter leiden. Irgendwann haben Sie es nicht mehr im Griff.«
Sie knirschte mit den Zähnen. Er kannte sie einfach zu gut, denn mit dem Argument, dass ihre Leistung nachlassen könnte, traf er sie an ihrem empfindlichsten Punkt.
»Gehen Sie zu den Terminen, Kit. Dr. Scott könnte Sie überraschen und Ihnen tatsächlich helfen.«
»Und wenn nicht?«
»Wie meinen Sie das? Dass Sie ihm nichts Persönliches erzählen möchten?«
»Ja.« Denn das wollte sie nicht. Sie fand Dr. Scott nicht unsympathisch, sondern wollte bloß keinen Seelenstriptease betreiben. Welcher normale Mensch wollte das schon?
»Dann setzen Sie sich hin und sprechen über Ihre Fälle. Nur eine Stunde pro Woche, Kit. Es wird Sie nicht umbringen.« Er blickte auf die Akten vor sich auf dem Tisch und entließ sie damit.
Sie flüchtete ohne Zögern aus seinem Büro.
»Dieser anonyme Anrufer hört sich an wie ein Spinner«, brummte sie in Baz’ Richtung, als sie wieder an ihrem Platz saß. »Als hätten wir nichts Besseres zu tun, als irgendwelchen anonymen Hinweisen nachzugehen.«
»Ich sehe hier nur Berge von Berichten, die wir schreiben müssen. Draußen ist schönes Wetter. Wir können es ja überprüfen und gehen dann was essen.«
»Wir sind im verdammten San Diego. Hier herrscht immer schönes Wetter.«
»Hör auf zu maulen, McKittrick. Wie wär’s mit vietnamesisch?«
Augenrollend folgte Kit ihm hinaus. »Reine Zeitverschwendung.«
Zum Glück aß sie gern vietnamesisch.
Kit hielt sich ein Taschentuch vor Nase und Mund, während sie zusah, wie zwei Beamte der Spurensicherung vorsichtig Erde aus einer Grube schaufelten. Es war tatsächlich ein Grab.
Sie hatten sich zu den durchgegebenen Koordinaten begeben und bemerkt, dass der Boden an der Stelle leicht absackte und eine einen Meter siebzig lange und fünfundsiebzig Zentimeter breite Vertiefung entstanden war.
Ein Bodenradar hatte die Umrisse einer Leiche angezeigt.
Der Körper war verhältnismäßig klein.
Kit steckte die Hand in die Hosentasche, tastete nach der hölzernen Katze und strich mit dem Daumen darüber. Bitte, lass es kein Kind sein.
»Ich hoffe, es ist kein Kind«, murmelte Baz gerade in diesem Moment.
Tötungsdelikte waren ohne Ausnahme ein Schlag. Selbst ein auf der Straße ermordeter Drogendealer war von irgendjemandem geliebt worden. Wurde von jemandem vermisst.
Morde an Kindern jedoch waren die reinste Hölle.
Sie wandte den Blick von der Grube ab und sah zu Sergeant Ryland, dem Chef der Spurensicherung, der gerade einen Gipsabdruck von der einzigen Fußspur machte, die man im nahen Umkreis entdeckt hatte. Es war der Abdruck eines Herrenschuhs, Größe 45.
»Haben Sie was für uns, Ryland?«, rief sie.
»Könnte sein.«
Sie und Baz gingen zu einer Stelle, wo jemand den Weg verlassen hatte und auf den Streifen zwischen Asphalt und der angrenzenden Rasenfläche getreten war.
Ryland goss den Rest Gips in den Abdruck, strich die Masse glatt und stellte den Timer an seinem Handy. »Der braucht dreißig Minuten zum Aushärten. Sie können sich aber schon mal die Fotos ansehen, die ich vorhin gemacht habe.« Er holte seine Kamera hervor und winkte sie heran. »Auf der Sohle ist ein Schriftzug, offenbar der Name der Schuhmarke. Ich kann es auf dem Foto nicht richtig erkennen, hoffe aber, dass die Analyse des Gipsabdrucks es deutlicher zeigt.«
»Das heißt, in zweiundsiebzig Stunden?«, fragte Baz, und Ryland nickte.
Kit beugte sich weiter über das Display. »Könnten Sie das mal heranzoomen?«
Ryland vergrößerte den Bildausschnitt und reichte Kit die Kamera. »Ich erkenne da ein Y am Ende, aber –«
»Sperry«, sagte Kit. »Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche, Sergeant. Ich kenne diese Marke. Das sind Bootsschuhe von Sperry.« Sie gab ihm die Kamera zurück. »Meine Schwester betreibt einen Bootsverleih für Angeltouren, und an meinen freien Tagen bin ich öfter dort. Viele ihrer Kunden tragen diese Dinger.«
Ryland betrachtete das Foto. »Sie könnten recht haben.«
Das hatte sie. Kit war sich sicher. »Das Problem ist nur, dass das sehr beliebte Schuhe sind. Selbst ich habe ein Paar.«
»Ich auch«, sagte Baz. »Ist fast zwecklos, dem nachzugehen.«
Kit hob die Schultern. »Trotzdem, wenn wir den Typen finden, dem diese Schuhe gehören, können wir nachweisen, dass er am Tatort war. Lässt sich das Körpergewicht der Person schätzen?«
Ryland schüttelte den Kopf. »Der Untergrund ist nicht weich genug. Der Schuh ist gerade noch tief genug eingesunken, um einen Abdruck zu hinterlassen. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich Genaueres weiß.«
»Detectives?«, rief der Leiter der Spurensicherung. Es klang dringend. »Hier ist etwas, das Sie sich anschauen sollten.«
»Danke, Sergeant« Kit wandte sich ab und ging mit Baz zu der Grube. Sie bemühte sich, ihren Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten. Wenn hier ein Kind vergraben lag, würde sie sich dennoch professionell verhalten. Erst später, wenn sie allein wäre, würde sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen.
»Es handelt sich um ein postpubertäres weibliches Opfer«, erklärte der Spurensicherer. »Die Forensik kann Ihnen sicher ein genaueres Alter nennen, aber ich schätze, das Mädchen war vierzehn bis achtzehn Jahre alt.«
Kit spürte Baz’ Blick und erwiderte diesen kurz, um ihm zu versichern, dass sie klarkam.
Er war immer in Sorge, wie sie reagieren würde, wenn ein Opfer etwa so alt war wie Wren zum Zeitpunkt ihrer Ermordung. Nach vier Jahren bei der Mordkommission hatte Kit viel zu viele Opfer in Wrens Alter gesehen. Es wurde nicht leichter.
Sie hoffte, dass es niemals leichter würde.
Zumindest fragte sie sich nicht mehr automatisch, ob es derselbe Täter war. Das war anfangs jedes Mal ihr erster Gedanke gewesen. Sie würde nie aufhören, nach Wrens Mörder zu suchen, hatte jedoch ihren Frieden damit gemacht, dass sie ihn womöglich nicht finden würde.
Die Spurensicherung hatte bereits Kopf und Oberkörper des Opfers freigelegt. Die Leiche war stark verwest, trotzdem war noch erkennbar, wie das Mädchen ausgesehen haben musste: hellhäutig, mit schulterlangen blonden Haaren.
Sie trug ein rosafarbenes T-Shirt und Jeans, deren Bund über ihrem noch mit Erde bedeckten Unterkörper herausragte.
Große, goldene Creolen-Ohrringe hoben sich vom dunklen Erdreich ab, während die Ohrläppchen schon lange zersetzt waren. Um den Hals des Mädchens lag eine Kette mit einem Siegelring. Wahrscheinlich ein Absolventenring.
Von einer Highschool oder einem College?, dachte Kit.
Sie hörte Baz neben sich keuchen. Er starrte auf die Leiche, seine Augen hinter den Brillengläsern waren weit aufgerissen. Ihr war auf Anhieb klar, was ihn so erschütterte.
»Verdammt«, flüsterte sie.
Die Handgelenke des Opfers waren mit pinkfarbenen Handschellen gefesselt, die trotz der Schmutzschicht noch funkelten.
»Pink«, stieß Baz heiser hervor.
Kit schluckte. »Glitzerpink.«
Obwohl der Kriminaltechniker Maske und Schutzbrille trug, war sein entsetzter, wissender Blick deutlich erkennbar.
Seine junge Assistentin begriff jedoch nicht. Sie war damit beschäftigt, mit einer kleinen Bürste den Schmutz vom Unterkörper der Leiche zu wischen, hielt nun inne und fragte zögernd: »Was verpasse ich hier?«
»Alte Serienmörder-Geschichte«, erklärte ihr Vorgesetzter leise. »Seine Opfer trugen immer pinkfarbene Handschellen. Die letzte Leiche wurde vor fünf Jahren gefunden. Die erste vor fünfzehn, dazwischen noch zwei weitere. Das hier könnte sein fünftes Opfer sein.«
Ihre Augen weiteten sich. »Oh. Verdammt.«
Allerdings. »Die pinkfarbenen Handschellen wurden in keinem Polizeibericht erwähnt.« Kit suchte den Blick der jungen Frau und drückte die stumme Warnung aus, kein Wort darüber zu verlieren.
»Ich sage nichts«, versprach sie. »Heilige Scheiße. Dann war es wohl kein Nachahmer.«
Baz atmete frustriert aus. »Eben das müssen wir herausfinden.«
Kit wandte den Kopf in Richtung ihres Polizeiwagens. »Wir sollten dem Chef Bescheid geben.«
Baz verzog das Gesicht. »Stein, Schere, Papier. Der Verlierer ruft an.«
Kit rollte mit den Augen. »Sei nicht albern. Ich erledige das.« Sie wartete, bis sie beide im Wagen saßen und die Türen geschlossen hatten, bevor sie Navarro anrief und das Gespräch auf laut stellte.
»Kit und Baz hier. Sind Sie allein?«
»Ja«, antwortete Navarro langsam. »Warum?«
»Weil das Opfer pinkfarbene Handschellen trägt.«
Kurz herrschte Stille. »Dieser Scheißkerl«, grollte Navarro. »Nicht schon wieder.«
»Ja, so haben wir auch reagiert«, erwiderte Baz. »Das tote Mädchen passt ins Profil: blond, zierlich. Die Leiche liegt sicher schon ein, zwei Jahre unter der Erde, nach dem Verwesungsgrad zu urteilen. Die Rechtsmedizin wird das genauer eingrenzen können. Aber außerdem trägt sie einen Absolventenring an einer Halskette. Vielleicht können wir damit etwas anfangen oder sie sogar identifizieren.«
»Gibt es Hinweise auf den Täter?«
»Eine Fußspur«, antwortete Baz. »Könnte vom Täter oder vom Anrufer oder beiden in einer Person stammen, wenn der Mörder selbst uns den Hinweis gegeben hat. Der Schuh ist ein Sperry-Bootsschuh, Kit hat die Marke erkannt.«
»Davon habe selbst ich ein Paar«, brummte Navarro. »Das bringt uns nicht weiter.«
»Nein, damit finden wir ihn nicht«, stimmte Kit zu. »Wir gehen die Vermisstenanzeigen der letzten Jahre nach blonden Teenagermädchen durch und lassen den Anruf von der IT verfolgen. Wir wollten wissen, ob das mit den Handschellen unter Verschluss bleibt.«
»Auf jeden Fall. Das fehlt uns noch, dass die Presse davon Wind bekommt. Am Ende geht es nur viral, und wir bekommen Nachahmer und Falschsichtungen, und was weiß ich was. Identifizieren Sie das Opfer und finden Sie heraus, woher der Anruf kam. Dann machen wir weiter.«
»Alles klar«, antwortete Kit. »Wir kommen jetzt zurück.« Sie beendete das Gespräch und sah zu Baz, der diese Woche das Fahren übernahm. »Mir ist nicht nach Essen.« Sie hatten das Mittagessen ausgelassen, inzwischen war es Abend, aber sie hatte immer noch keinen Hunger.
Baz startete den Motor. »Jetzt, wo ich keine Leiche mehr vor mir habe, fängt mein Magen an zu knurren. Wir können vom Büro aus etwas bestellen.« Er warf ihr einen strengen Blick zu. »Du musst etwas essen.«
Sie widersprach nicht, denn Baz hatte ja recht. Außerdem würde er sie sonst bei ihrer Mutter verpetzen. »Na schön.«
Grinsend nahm er seinen Sieg zur Kenntnis und gab Kit sein Telefon. »Kannst du bitte Marian schreiben? Sag ihr, dass ich später komme.«
Kit verfasste eine Nachricht und war wieder einmal dankbar, dass sie keinen Partner hatte, den sie wegen ständiger Überstunden enttäuschen musste. »Sie schreibt, du würdest ihr noch ›Dinge‹ schulden. In Anführungszeichen. Will ich wissen, was das ist?«
Er lachte glucksend – ein Laut, der Kit sonst immer fröhlich stimmte, aber dies war ein klassischer Fall von »zu viel Information«. »Nein, Kit. Das möchtest du nicht wissen.«
»Alte-Leute-Sex«, frotzelte sie mit einem übertriebenen Schauder. »Ich muss Snickerdoodle noch unterbringen.«
Sie schrieb ihrer Schwester Akiko eine Nachricht. Neuer Fall reingekommen. Kannst du Snick heute Abend nehmen? Ihr Pudel brauchte unbedingt noch Auslauf.
Akiko antwortete umgehend. Mache ich. Alles klar bei dir?
Geht schon. Nur viel zu tun.
Bleibt es bei Samstag?Samstags hatte Akiko alle Hände voll zu tun, weil bis zum Nachmittag jede Menge Angelausflügler kamen. Zu dieser Jahreszeit war sie immer komplett ausgebucht. Wenn sie es schaffte, griff ihr Kit unter die Arme. Und beide profitierten gleichermaßen davon: Akiko hatte Unterstützung, und Kit verbrachte einen Tag auf dem Wasser, konnte sich entspannen und fing Fische statt Mörder.
Snickerdoodle wiederum bekam Streicheleinheiten von den Gästen, und so waren alle glücklich.
Bis jetzt, ja. Melde mich, wenn sich was ändert.
Als Antwort kam ein erhobener Daumen.
Baz verließ das Parkgelände und nickte den Polizisten zu, die den Tatort abgeriegelt hatten. »Und, Snickerdoodle versorgt?«
»Ja. Akiko nimmt sie. Snick wird bei ihr nach Strich und Faden verwöhnt, da wird sie sich freuen.«
Baz schnaubte. »Bei dir wird sie auch schrecklich verwöhnt, schieb mal nicht andere vor.«
»Ja, aber mit Aufmerksamkeit, nicht mit Käse.«
Baz sah sie fragend an. »Ich dachte, Akiko sei Veganerin? Gibt sie dem Hund etwa veganen Käse?«
Kit lachte. »Akiko ernährt sich nicht vegan, sondern pescetarisch. Sie hat eine Laktoseintoleranz. Den Käse kauft sie extra für Snickerdoodle.« Sie sah über den Seitenspiegel auf den kleiner werdenden Fundort der Leiche. »Sie war jung.«
Baz begriff den Themenwechsel auf Anhieb und nickte. »Ich hoffe, jemand hat sie vermisst gemeldet.«
Das hoffte Kit auch. Natürlich wäre es ein schrecklicher Verlust für die Familie, doch Kit wünschte sich, dass das Mädchen von jemandem geliebt worden war. »Ihr T-Shirt war von einem Ariana-Grande-Konzert, das drei oder vier Jahre her ist. Wenn wir sie nicht über Fingerabdrücke oder den Ring an ihrer Kette identifizieren können, bliebe immer noch die Überprüfung der Vermisstenanzeigen nach ihrer Kleidung.«
»Er hat ihr den Schmuck nicht abgenommen.«
»Nein.« Das war tatsächlich ungewöhnlich. »Trugen die anderen Opfer noch Schmuck?«
»Zumindest zwei von ihnen«, antwortete Baz. »Das dritte Opfer konnte sogar identifiziert werden, weil die junge Frau eine Halskette mit ihrem Namen darauf trug. Ricki Emerson. Und das erste Opfer hatte eine Halskette mit einem Kreuz um.«
»Und wurde nie identifiziert.«
Baz seufzte. »Nein. Wir haben sämtliche Leute aus der Gegend um den Fundort der Leiche befragt, aber niemand kannte sie.«
»Auch sie war schon eine ganze Weile tot.«
»Stimmt. Laut Gerichtsmedizin mindestens zwei Jahre, vielleicht sogar fünf. In der Nachbarschaft des Fundorts wohnen viele Coronado-Familien.«
»Ja, da gibt es eine hohe Fluktuation«, murmelte Kit. Der Marinestützpunkt auf Coronado Island beherbergte rund dreißigtausend Mitarbeiter plus deren Familien, die nur eine begrenzte Zeit blieben.
»Genau. Die meisten Anwohner, die wir gesprochen haben, sind da noch keine zwei Jahre.«
»Vielleicht haben wir bei diesem Mädchen Glück, und jemand erinnert sich, dass er sie irgendwo gesehen hat, bevor sie verschwunden ist. Und wenn wir ganz großes Glück haben, können wir den Anruf rückverfolgen und den Fall von zwei Seiten angehen.«
Baz hielt seine gekreuzten Finger hoch. »Welche Seite nimmst du? Das Opfer oder den Anrufer?«
»Da er explizit nach mir gefragt hat, nehme ich den Anrufer.«
Wenn sie ihn gefunden hätte, müsste er ihr ein paar plausible Antworten auf ein paar knallharte Fragen geben.
Erschöpft stellte Kit ihr Auto auf dem Mietparkplatz ab. Es sich mit einer Tasse Tee gemütlich zu machen und mit ihrem Hund kuscheln, das war alles, was sie jetzt noch wollte. Aber leider war Snickerdoodle bei ihrer Schwester am anderen Ende der Stadt. Akiko schlief sicher schon, und Kit wollte sie nicht wecken. Morgen stand eine große Bootstour an, für die Akiko fit sein musste.
Die IT-Kollegen hatten schlechte Nachrichten gehabt: Der Anruf war von einem Wegwerfhandy gekommen, das sich nicht rückverfolgen ließ. Eine Sackgasse also.
Frustriert hatten Kit und Baz sich an die Identifikation des Opfers gemacht. Sie hatten gehofft, dass der Absolventenring den entscheidenden Hinweis geben würde, doch keine Schülerin der betreffenden Highschool galt als vermisst, und nach dem Ring selbst konnten sie erst am nächsten Tag fahnden. Also waren sie die Meldungen blonder, zierlicher Teenagermädchen durchgegangen, die in den letzten ein oder zwei Jahren verschwunden waren.
Es waren tragisch viele Fälle. In den meisten Berichten hieß es, die Mädchen seien von zu Hause weggelaufen. Natürlich musste Kit automatisch an Wren denken. Die Polizei hatte anfangs auch behauptet, Wren sei ausgerissen, das passe schließlich zu ihrer »Geschichte«.
Eine Geschichte, die aus einem einzigen Mal bestand. Wren und Kit waren mit zwölf aus ihrer Pflegefamilie weggelaufen. Allein hatte Wren zu viel Angst gehabt, mit Kit hatte sie es gewagt. Danach waren sie bei den McKittricks gelandet, und keine von beiden hatte dann noch den leisesten Grund gehabt, von dort abzuhauen.
Beim Durchgehen der Akten hatten Baz und sie das Opfer aus dem Park anhand des Ariana-Grande-T-Shirts schließlich identifizieren können: Die sechzehnjährige Jaelyn Watts war zuletzt in diesem T-Shirt gesehen worden. Die Familie war vor Sorge fast verrückt geworden, als das Mädchen nicht nach Hause gekommen war. Da sie sich aber offenbar mit ein paar Freundinnen nach Los Angeles aufgemacht hatte, um dort an einem offenen Casting für eine Sitcom teilzunehmen, wurde sie als Ausreißerin behandelt, und die Fahndung war im Sande verlaufen. Kit nahm sich vor, den Kollegen anzurufen, der mit dem Fall betraut gewesen war. Sie wollte ihm mitteilen, dass man das Mädchen gefunden hatte: tot, im Park verscharrt. Sie hoffte, dass er in Zukunft noch einmal genau nachdachte, bevor er ein vermisstes Kind als Ausreißer abtat.
Seufzend nahm sie ihre Sachen und schloss ihren Subaru ab. Das Parken am Hafen war nicht ganz billig, aber sie hatte sonst nicht viele Ausgaben, und der Abstellplatz nahe ihres Boots war überaus praktisch, wenn sie mitten in der Nacht zu einem Tatort gerufen wurde.
Sie stutzte, als sie sich dem Boot näherte. Hinter dem Bullauge brannte Licht. Sicher hatte Akiko es angelassen, als sie am Nachmittag Snickerdoodle geholt hatte.
Kit würde sich nicht über die Energieverschwendung beklagen – nicht, wenn Akiko so nett war, sich um ihre Hündin zu kümmern.
Prüfend ließ sie den Blick über das Deck schweifen, bevor sie an Bord ging, um sich zu vergewissern, dass alles an seinem Platz war. Die Marina hatte einen hervorragenden Sicherheitsdienst, aber das Segelboot gehörte ihrem großen Bruder Arthur, und Kit achtete darauf, es mit Sorgfalt zu behandeln.
Als sie die Kabinentür öffnete, hörte sie Musik. Zuerst noch schwach, doch mit jedem Schritt wurden die Gitarrenklänge lauter: Countrymusik.
Akiko war da. Dann konnte Snickerdoodle auch nicht weit sein.
Kit wurde sofort ruhiger.
Das Wohnen auf einer Jacht von elfeinhalb Metern brachte mit sich, dass man alles gleich im Blick hatte: Akiko saß auf dem Bett und las. Sie winkte Kit zu, als Snickerdoodle aufsprang und sie wie jeden Tag mit freudig wedelndem Schwanz begrüßte.
Kit kniete sich hin und schlang die Arme um den Hals der Pudeldame. »Was macht ihr denn hier?«, fragte sie und kraulte Snick hinterm Ohr, wo sie es am liebsten mochte.
Akiko folgte Snickerdoodle in die Kabine. »Der Trip für morgen wurde abgesagt, deshalb habe ich mir überlegt, ich bringe Snick zurück und warte hier auf dich.«
Kit erhob sich verärgert. Für morgen hatte ein ganztägiger Ausflug angestanden. »Unverschämt, dir so auf den letzten Drücker abzusagen. Die kriegen hoffentlich ihr Geld nicht zurück.« Akiko hatte zu hohe Kosten, um auf einen solchen Batzen zu verzichten.
»Tun sie nicht, und sie haben auch keinen Ärger gemacht. Es sollte ein Junggesellenabschied werden, aber der Bräutigam hat die Braut mit ihrem Ex im Bett erwischt, und …« Sie zog die Schultern hoch. »Jetzt kümmert sich der Trauzeuge darum, alles abzusagen, denn der Bräutigam steht unter Schock. Ich habe gesagt, wenn es dem Armen wieder besser geht, können sie noch einmal eine Fahrt buchen, zum reduzierten Preis.«
Ihre Schwester hatte ein weiches Herz. »Ein Wunder, dass du überhaupt Gewinn machst«, brummte Kit.
»Freundlichkeit bewirkt, dass die Leute wiederkommen. Der Trauzeuge hat schon einen Platz für eine meiner Angeltouren reserviert.«
»Aha.« Kit schnupperte. Ihr Magen knurrte hörbar. Irgendetwas roch hier lecker. »Hast du gekocht?«
»Ich habe etwas vom gestrigen Fang bei mir gegrillt und mitgebracht. Soll ich es schnell für dich aufwärmen?«
»Würdest du das tun?«
»Na klar. Setz dich, Kit. Du siehst erschöpft aus.«
»Das bin ich.« Sie ließ sich aufs Sofa fallen und klopfte sich auf die Schenkel. Snickerdoodle sprang ihr auf den Schoß und rollte sich zusammen. Kit fühlte sich augenblicklich besser.
Kurz darauf stand ein Teller mit Blauflossen-Thunfisch, Butterkartoffeln und frischen Zuckererbsen vor ihr. Die Kartoffeln und Erbsen stammten von Harlans und Betsys Hof, sie schmeckten also garantiert köstlich.
Akiko hockte sich neben sie aufs Sofa, die Hände um eine Tasse Tee gelegt, und wartete schweigend, bis Kit aufgegessen hatte, da sie wusste, dass es keinen Zweck hätte, ihr Fragen zu stellen, bevor der Teller leer war.
Mit einem Seufzer schluckte Kit den letzten Bissen hinunter. »Danke. Ich bin fast umgekommen vor Hunger und habe mit Schrecken an eins meiner Mikrowellengerichte gedacht.« Die Mikrowelle gehörte zu den wenigen Geräten, die sie nach ihrem Umzug auf das Boot angeschafft hatte. Mit dem Stromanschluss im Hafen funktionierte das Ding prima, aber draußen auf dem Wasser war es schon schwieriger, deshalb gab es dort nur Sandwiches.
Arthur hatte seine Mahlzeiten am Marinestützpunkt eingenommen, und als Kit noch bei der Küstenwache gewesen war, hatte sie es genauso gemacht. Allerdings waren ihre Arbeitszeiten im Morddezernat nicht mit den Öffnungszeiten der meisten Imbisse kompatibel, deshalb musste sie nach langen Tagen auf die Mikrowelle zurückgreifen.
»Ich habe dir immer schon gesagt, ich würde für dich kochen«, sagte Akiko sanft. »Ich koche doch ohnehin für mich, da spielt es keine Rolle, ob ich die doppelte Menge zubereite.«
Kit stand auf und erledigte den Abwasch. Die beiden hatten das schon oft diskutiert: Akiko bot immer wieder an, ihre Schwester mit Essen zu versorgen, aber Kit wollte ihr keine Umstände bereiten. »Ich möchte dir das nicht auch noch aufhalsen.«
Akiko schüttelte den Kopf. »Im Gegensatz zu dir koche ich gerne. Es macht mir nichts aus, Kitty-Cat. Wirklich nicht. Weißt du was? Ich nehme dir die Entscheidung hiermit aus der Hand. Von jetzt an werde ich doppelte Portionen kochen und dir ein Abendessen bringen. Und zum Monatsende bekommst du eine Rechnung für deinen Anteil an den Einkäufen.«
Kit warf ihr ein Lächeln zu. »Wie lieb von dir.«
Akiko grinste. »Ich weiß.«
Kit räumte auf – in der Kombüse war kein Platz für schmutzige Geschirrstapel – und machte sich eine Tasse Tee. »Ich hatte einen schrecklichen Tag. Und ich darf dir nicht viel darüber erzählen.«
»Ich kann mir schon denken, dass es um einen Mord geht«, bemerkte Akiko trocken, als Kit sich wieder zu ihr aufs Sofa setzte. »Wie sollte es anders sein bei der Mordkommission?«
»Klar«, murmelte Kit und hatte wieder die im Longview Park verscharrte, mit glitzernden Handschellen gefesselte Leiche vor Augen. Jaelyn Watts, die an der Schwelle zu einem eigenen Leben gestanden hatte. »Wir haben das Opfer identifiziert. Ich ertrage es nicht, wenn sie so jung sind.«
»Wie jung denn?«, fragte Akiko, in deren dunklen Augen Mitgefühl stand.
Kit zögerte. Das Alter des Mädchens würde bei der Veröffentlichung des Falls kein Geheimnis bleiben. So viel konnte sie verraten. »Sechzehn.«
»Oh.« In der einen Silbe lag ehrliche Anteilnahme.
Akiko hatte Wren nie kennengelernt, da sie erst kurz nach deren Ermordung zu den McKittricks gekommen war, kannte jedoch natürlich die Zusammenhänge. Sie wusste, wie sehr es Kit innerlich zerrissen hatte. Und sie war es auch gewesen, die gemeinsam mit Harlan und Betsy alles darangesetzt hatte, dass Kit sich einigermaßen fing.
In den darauffolgenden Jahren war Akiko zu Kits engster Vertrauten geworden.
»Oh. Genau.«
»Du findest heraus, wer das getan hat«, versicherte Akiko mit unerschütterlicher Gewissheit. »Und falls nicht, hätte es auch niemand anders herausfinden können.«
Akiko fand immer die richtigen Worte. »Danke.«
»Kein Problem. Ich war mit Snick Gassi, bevor du nach Hause gekommen bist, deshalb muss sie nicht noch mal raus. Geh schlafen. So wie ich dich kenne, hastest du gleich morgen früh wieder ins Büro.«
Das stimmte. »Bleib doch hier. Ich mag es nicht, wenn du noch so spät nach Hause fährst.«
Akiko lachte. »Es ist gerade mal Mitternacht, Kit, und ich falle nicht unter den Jugendschutz. Ich kann auf mich aufpassen. Aber natürlich kann ich bleiben, und sei es nur, damit ich dir ein ordentliches Frühstück machen kann, bevor du gehst.« Sie hob mahnend den Zeigefinger. »Ich habe diese Pop-Tarts in deinem Schrank gesehen.«
»Die stecken voller Vitamine und Mineralien.«
Akiko schnaubte. »Na klar.«
»Du musst nicht aufstehen und mir Frühstück machen. Schlaf dich doch an deinem freien Tag aus.«
»Ich lege mich wieder hin, sobald du etwas Vernünftiges im Magen hast, und dann nehme ich Snick und fahre zu Mom und Pop. Ich glaube, ich werde meinen freien Tag mit Unkrautjäten verbringen.«
Die McKittricks forderten keine Unterstützung ein, aber die meisten ihrer ehemaligen Pflegekinder kamen regelmäßig auf die Farm und halfen bei den vielen, nicht endenden Arbeiten.
Kit war lange nicht bei ihnen gewesen, zumindest nicht für einen ganzen Tag. Stattdessen hatte sie an ihren Fällen gesessen, zuerst den aktuellen und dann, sobald sie gelöst waren, den unaufgeklärten.
Navarro hatte recht. Um diese Zeit des Jahres arbeitete sie ohne Unterbrechung. Sie zählte darauf, dass Harlan, Betsy und der Rest der Familie Verständnis dafür hatten, aber vielleicht sollte sie das nicht einfach von ihnen erwarten.
Sie duschte und zog sich den Schlafanzug an. Bevor sie ihre Sachen in die Wäsche gab, holte sie vorsichtig die geschnitzten Figuren aus den Hosentaschen. Sie hielt die Katze in der Hand und betrachtete den kleinen Vogel, der auf deren Kopf hockte.
Akiko, die schon auf einer Seite des Betts lag, nahm ihre Kopfhörer ab. »Pop hat sie dir also gegeben.«
»Ja. Er ist heute vorbeigekommen. Die beiden haben ein neues Kind aus der Stadt abgeholt. Er meinte, ich solle die Figur bei mir tragen, als Glücksbringer.«
»Ich habe sie letzten Sonntag gesehen, als ich bei Mom und Pop zum Abendessen war. Ist was anderes als dein üblicher Zaunkönig.«
»Davon hat er mir auch wieder einen geschenkt. Und Baz auch.« Sie stellte den einzelnen Vogel zu den anderen. »Bald brauche ich ein größeres Regal.«
Akiko erwiderte nichts darauf, denn es gab im Grunde nichts zu sagen. Gerade das mochte Kit an ihrer Schwester: dass sie ein Schweigen nicht mit unnötigen Worten füllte.
Kit schloss ihre Waffe weg und legte die Katze zusammen mit ihren Schlüsseln und dem Portemonnaie auf den Tisch. Morgen und an jedem darauffolgenden Tag würde sie sie wieder in die Hosentasche stecken. »Komm, Snick. Ab ins Bett.«
Die Hündin sprang aufs Bett und pflanzte sich zwischen sie und Akiko. Kit stellte einen Wecker auf ihrem Handy, wobei sie die offene Audio-Wiedergabe bemerkte: Sie hatte sich den anonymen Anruf den ganzen Tag über immer wieder angehört, erkannte die Stimme aber trotzdem nicht. Sie schob sich ihre Kopfhörer in die Ohren, rutschte unter die Decke und startete die Aufnahme erneut, in Endlosschleife.
Hallo. Dies ist eine Nachricht für Detective Kit McKittrick. Ich habe Grund zur Annahme, dass Sie im Longview Park ein Mordopfer finden werden, und zwar unter den folgenden Koordinaten.
Der Anrufer klang nervös. Nahezu verängstigt.
Wer war er? Warum hat er sich an mich gewandt? Kenne ich ihn?
Woher wusste er von dem Grab?
Ist er womöglich der Mörder?
Kit ertappte sich bei dem Gedanken, er möge es nicht sein. Denn er klang … aufrichtig.
Typischer Anfängerfehler: einer Person Aufrichtigkeit anzudichten.
Sie strich Snick über das lockige, weißbraune Fell. Und hörte sich die Stimme des Anrufers immer wieder an, bis sie in den Schlaf fiel.
Und?«, fragte Navarro, als Baz und Kit am nächsten Morgen in seinem Büro saßen.
»Wir sind zu neunundneunzig Prozent sicher, dass es sich bei der Toten um Jaelyn Watts handelt«, erklärte Baz. »Sie war sechzehn Jahre alt, als sie letzten Februar, also vor vierzehn Monaten, verschwand. Wir fahren später raus zu ihrer Familie. Hoffentlich hat der Zahnarzt noch einen Zahnstatus von ihr, oder die Eltern haben noch eine Zahnbürste oder eine Haarbürste von ihr, für einen DNA-Abgleich.«
»Ihre Eltern haben am Tag ihres Verschwindens eine Vermisstenanzeige aufgegeben«, informierte Kit Navarro und legte eine Kopie des Dokuments auf seinen Schreibtisch. »Sie hatte die Schule geschwänzt und wollte anscheinend nach Los Angeles, um dort für eine Sitcom vorzusprechen, deshalb wurde sie als Ausreißerin gehandelt. Die Eltern haben die Polizei in L.A. kontaktiert, die sich daraufhin bei der Produktionsfirma erkundigt hat: Sie ist zu dem Casting nicht aufgetaucht.«
»Offenbar ist sie nie dort angekommen«, kommentierte Baz seufzend. »Sie hat San Diego gar nicht erst verlassen.«
Navarro presste die Kiefer aufeinander. »Sechzehn. In dem Alter waren auch die anderen Opfer.«
Baz nickte. »Ja. Ricki Emerson war sechzehn, und die Rechtsmedizin hat die anderen auf etwa dasselbe Alter geschätzt. Und jetzt Jaelyn.«
»Und die Todesursache?«, fragte Navarro.
»Wahrscheinlich Strangulation«, antwortete Baz. »Aber die Autopsie ist noch nicht abgeschlossen.«
»Erdrosselt. Wie bei den anderen«, murmelte Navarro. »Gibt es Anzeichen für eine Vergewaltigung?«
Kit und Baz nickten stumm, Navarro ließ die Schultern sacken. »Verdammt.« Er sah Kit an. »Und der Anrufer?«
Kit sah missmutig drein. »Bis jetzt nichts. Die IT kann ein Wegwerfhandy nicht rückverfolgen. Sie wollen die Aufnahme noch analysieren und hoffen auf Hinweise, aber da ist wohl nicht viel drin. Wir haben dem noch keine hohe Priorität gegeben, die IT steckt bis zum Hals in Arbeit. Wir wollten noch warten, bis Sie die oberen Etagen informiert haben und der Fall als Teil eines Serienmords behandelt wird.«
»Sind Sie sicher, dass Ihnen die Stimme nicht bekannt vorkommt?«, hakte Navarro noch einmal nach.
Kit schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die Aufzeichnung gestern mindestens fünfzigmal angehört.« Sie hatte sogar von der Stimme geträumt, nachdem sie endlich eingeschlafen war. »Wenn ich diesem Mann schon einmal begegnet sein sollte, dann habe ich es vergessen.«
Navarro erwiderte achselzuckend: »Kann genauso gut sein, dass er Sie online gefunden hat. Sollte er ein wichtiger Zeuge sein, wäre nachvollziehbar, dass er sich als Erstes an Sie gewandt hat. Dasselbe gilt, wenn er der Mörder ist und uns nur an der Nase herumführen will.«
Denn Kit war dafür bekannt, dass sie sich ungelöster Fälle von vermissten Teenagern annahm. Fast ein Dutzend hatte sie in den vier Jahren, die sie bei der Mordkommission arbeitete, doch noch aufklären können. Eine lokale Online-Zeitung hatte vor zwei Jahren einen Bericht über sie veröffentlicht, der ihr viel ungewollte Aufmerksamkeit beschert hatte.
Kit konnte es ohnehin nicht ertragen, im Mittelpunkt zu stehen, doch die betreffende Reporterin war auch noch aufdringlich und viel zu persönlich geworden. Seitdem hatte es sich Tamsin Kavanaugh zur Aufgabe gemacht, Kit förmlich an den Fersen zu kleben und über ihre Mordfälle zu berichten.
»Kann sein«, sagte sie. »Wir haben die Fallakten zu den vorigen vier Opfern herausgesucht und eine Vergleichstabelle erstellt, die Sie oben vorlegen können.« Sie reichte ihm die Dokumente. »Ich weiß, dass Sie sämtliche Details kennen, aber die Chefs finden das vielleicht nützlich.«
Navarro war damals an den Ermittlungen beteiligt gewesen, zuerst als Detective, dann als ihr Vorgesetzter. »Danke. Seit gestern Nachmittag läuft mein Telefon heiß. Sie müssen mir auf die Sprünge helfen.«
»Alle fünf Mordopfer trugen pinkfarbene Handschellen«, erklärte Baz. »Die vier bisher untersuchten Paare wurden mit Glitzerfarbe der Marke Krylon besprüht, die man in jedem Heimwerkermarkt bekommt. Wir warten noch auf die Analyse des fünften Paars. Die Farbe, die bei den ersten beiden Paaren vor fünfzehn und vor dreizehn Jahren verwendet wurde, stammt aus derselben Charge, womöglich sogar aus derselben Dose. Dasselbe gilt für die Paare, die vor acht und fünf Jahren gefunden wurden, allerdings handelt es sich nicht um dieselbe Charge wie bei den ersten Paaren. Die Farbdosen selbst sind unauffindbar.«
»Ich erinnere mich«, murmelte Navarro und überflog die Dokumente.
»Alle Leichen wurden in verschiedenen Parks im San Diego County entdeckt«, fuhr Kit fort. »Die erste in einer Innenstadtgrünanlage, von einem Hundebesitzer, dessen Hund das Schienbein des Opfers ausgegraben hatte. Die anderen haben Leute gefunden, die mit Metalldetektoren in Parks unterwegs waren. Zum Glück haben zwei dieser drei Personen die Handschellen nicht zu Gesicht bekommen. Sie haben aufgehört zu graben, als bei der einen Leiche ein knochiger Finger und bei der anderen ein zersetztes Gesicht zum Vorschein kam.«
Kit fragte sich, wie es nach den grausigen Leichenfunden um die Psyche dieser Menschen bestellt sein mochte. Zwar hatte ihre zufällige Entdeckung einen Mordfall ans Licht gebracht, der vielleicht aufgeklärt und bestraft würde, aber die meisten hatten abgesehen von einer Beerdigung niemals mit einer Leiche zu tun gehabt.
Die wenigen, mit denen sie während ihrer Ermittlungen gesprochen hatte, plagten noch Jahre später Albträume. Für Kit war dies eine weitere Auswirkung der Grausamkeit des Täters. Seine Tat hatte weitreichende Folgen.
»Aber einer dieser Sondengänger hat die Handschellen gesehen«, erinnerte sich Navarro.
»Ja«, bestätigte Baz, der ebenfalls an dem Fall gearbeitet hatte. »Aber der schien ein verlässlicher Typ zu sein. Er hat versprochen, dieses Detail für sich zu behalten.«
Navarro sah ihn scharf an. »Finden Sie heraus, ob er immer noch so verlässlich ist. Wir müssen die Sache ganz anders angehen, wenn es sich um einen Nachahmer handeln könnte.«
»Das haben wir vor«, entgegnete Baz. »Wir wollten ihn noch heute aufsuchen.«
»Also ist das neueste Opfer das erste, auf das uns ein möglicher Zeuge aufmerksam gemacht hat«, stellte Navarro nachdenklich fest. »Ist der Anrufer auch der Mörder?«
»Das ist die Frage«, fiel Kit ein. »Seine Nervosität könnte gespielt sein. Der Täter ist vor siebzehn bis zwanzig Jahren in Erscheinung getreten. Das erste, vor fünfzehn Jahren gefundene Opfer lag ja schon eine ganze Weile unter der Erde. Vielleicht ist er der Anonymität überdrüssig und sucht die Aufmerksamkeit der Medien. Oder der Anrufer ist tatsächlich ein ernst zu nehmender Zeuge.«
Navarro brummte zustimmend und blätterte noch einmal in den Papieren. »Alle Opfer trugen Schmuck, wenn auch keinen wertvollen. Der Täter hat offenbar kein Interesse an makabren Souvenirs.«
»Nur seltsam, dass er die Sachen nicht loswird«, entgegnete Kit. »Eine der ersten Toten – Ricki Emerson – wurde anhand ihres Schmucks identifiziert.« Vor Jaelyn war dieses Mädchen das einzige identifizierte Opfer gewesen. »Man könnte meinen, der Täter hätte dazugelernt. Vorausgesetzt, er weiß, dass Rickis Leiche entdeckt wurde.«
»Es sei denn, er macht sich um so was keine Sorgen«, überlegte Navarro. »Levinson glaubt, er will, dass alle es wissen.«
Dr. Alvin Levinson war der Kriminalpsychologe des Reviers und hatte folgendes Täterprofil entwickelt: weißer Mann mittleren Alters mit einer Neigung zur Theatralik. Das war natürlich zu vage, um irgendwie nützlich zu sein. Doch dafür konnte niemand etwas, es gab einfach nicht genug Hinweise für eine aussagekräftige Analyse.
»Das findet er wahrscheinlich aufregend«, meinte Baz. »Werden die Mädchen gefunden oder nicht? Und wenn, kann die Polizei ermitteln, wer sie sind? Und kommen sie anhand ihrer Identität auf mich?«
»Irgendetwas in der Richtung.« Navarro zog die Schultern hoch. »Ist nur so eine Theorie.«
»Wenn ich ein Serienmörder wäre, würde ich es so machen«, befand Kit. »Ein überheblicher Killer, meine ich. Einer, der mit der Polizei spielen will.«
»Du wärst garantiert einer von der überheblichen Sorte«, bemerkte Baz mit einem liebevollen Nicken.
Kit verdrehte die Augen. »Die Opfer waren alle zwischen einem Meter fünfzig und einem Meter sechzig groß«, erklärte sie und führte zurück zum Thema. »Und wogen zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig Kilo. Jaelyn ist einen Meter fünfundfünfzig groß bei zweiundfünfzig Kilo, damit passt sie ins Schema. Aber Ricki und sie haben verschiedene Highschools besucht, insofern gibt es keine Überschneidungen.«
»Mist«, murmelte Navarro.
»Aber«, warf Kit ein und hob einen Finger, »sowohl Ricki Emerson als auch Jaelyn Watts waren an ihren Schulen in Theatergruppen aktiv. Wir werden nochmals mit Rickis Familie und Freunden reden und finden hoffentlich noch mehr Gemeinsamkeiten mit Jaelyn. Obgleich es zehn Jahre her ist, dass sie verschwunden ist – und acht Jahre, seit man ihre Leiche entdeckt hat. Da wird es nicht leicht, an zuverlässige Aussagen zu gelangen.«