Kalte Knochen - Inga Janßen - E-Book

Kalte Knochen E-Book

Inga Janßen

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Beschreibung

Tierärztin Greta braucht dringend Ruhe, um ihre Dissertation zu schreiben. Die Eltern ihres chaotischen Mitbewohners Jens haben ein einsam gelegenes Ferienhäuschen in Schweden, das sie ihr für die Zeit gerne zur Verfügung stellen. So macht sich Greta mit WG-Hündin Paula auf den Weg nach Småland. Beide fühlen sich wohl in dem alten Haus und Gretas Arbeit macht gute Fortschritte. Ruhe und Beschaulichkeit sind allerdings dahin, als Paula eines Tages nicht alleine von einem Ausflug wiederkommt… Zusammen mit ihren schwedischen Nachbarn ist Greta einem rätselhaften Fall auf der Spur, der sie weit in die Vergangenheit zurückführt.

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Buch

Tierärztin Greta braucht dringend Ruhe, um ihre Dissertation zu schreiben. Die Eltern ihres chaotischen Mitbewohners Jens haben ein einsam gelegenes Ferienhäuschen in Schweden, das sie ihr für die Zeit gerne zur Verfügung stellen. So macht sich Greta mit WG-Hündin Paula auf den Weg nach Småland. Beide fühlen sich wohl in dem alten Haus und Gretas Arbeit macht gute Fortschritte. Ruhe und Beschaulichkeit sind allerdings dahin, als Paula eines Tages nicht alleine von einem Ausflug wiederkommt…

Zusammen mit ihren schwedischen Nachbarn ist Greta einem rätselhaften Fall auf der Spur, der sie weit in die Vergangenheit zurückführt.

Autorin

Inga Janßen, Jahrgang 1970, studierte Tiermedizin in Leipzig und Hannover und pendelt mit ihrer Familie zwischen Ostfriesland, Berlin und Småland. »Kalte Knochen« ist ihr erster Roman.

Für Justus,

unseren Kämpfer

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 1

»Verdammt noch mal, was ist denn jetzt schon wieder?«

Greta drehte sich auf ihrem Stuhl herum und funkelte ihren Mitbewohner Jens böse an.

»’Tschuldigung, ich hatte kein… Ich wollte nur… Tut mir leid.«

Greta musste lachen. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass sich ein fast-zwei-Meter-Mann nicht einfach irgendwo reinschleichen und Druckerpapier klauen kann?«

Schuldbewusst guckte Jens auf die Blätter in seiner Hand. »Na ja, war einen Versuch wert, du warst so vertieft, ich wollte dich nicht stören.«

»Haha, hat ja super geklappt.« Greta strich sich eine braune Haarsträhne aus der Stirn. »Ich komm’ hier einfach nicht weiter, es ist zum Verrücktwerden.« Frustriert lehnte sie sich zurück. »Schon allein die Gliederung hat mich Tage gekostet, ich weiß wirklich nicht, wie ich die Arbeit in drei Monaten fertigbekommen soll.«

Jens rieb sich das Kinn. »Nun ja, du könntest natürlich irgendwo klauen und einfach was zusammenbasteln, aber in heutigen Zeiten bist du deinen Doktortitel dann im Handumdrehen wieder los.«

»Nee, Danke, meine Dissertation schreibe ich schon lieber selbst, so viel Stolz habe ich dann doch noch. Witzbold!« Greta warf dem grinsenden Jens einen vernichtenden Blick zu. »Wenn ich nur mehr Ruhe hätte, ich kann mich hier überhaupt nicht konzentrieren. Ständig ist irgendwas: Das Telefon, der Postbote, laute Nachbarn… und du bist auch nicht gerade leise!«

»Ich habe mich doch schon entschuldigt, und, um es mal mit Loriot zu sagen: Ich wohne hier! Außerdem«, fuhr Jens fort, »falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Aus lauter Rücksicht auf dich bin ich in letzter Zeit fast nur noch bei Karla, obwohl ich ihre WG echt anstrengend finde.«

Greta fand Karla selbst auch echt anstrengend, sagte aber lieber nichts. Sie hatte schon lange aufgegeben, sich in Jens’ Liebesleben einzumischen. Oder in seinen Versuch, das Studium der Elektrotechnik als Tattergreis abzuschließen. Er hatte es nicht eilig und seine Eltern das nötige Geld.

Jens lehnte sich an den Türrahmen. »Weißt du was? Meine Eltern haben doch das Sommerhaus in Schweden, das könntest du bestimmt für einige Zeit haben. Dann kannst du in aller Ruhe schreiben, ohne dass dich jemand nervt.«

»Schweden!?« Bilder von dunklen Wäldern, stillen Seen, roten Holzhäusern und Elchen zogen vor ihrem geistigen Auge vorbei. »Hmmm…« Es folgten brennende Schwäne und verstümmelte Leichen. Schwedenkrimis waren Gretas besondere Leidenschaft. »Liegt das Haus sehr einsam?«

»Es geht, der Nachbarhof ist ein oder zwei Kilometer entfernt. Aber es gibt Strom und fließendes Wasser. Und Paula müsstest du sowieso mitnehmen, Karla und ich wollen im September für ein paar Tage in den Süden. Dann hättest du auch gleich jemanden, der auf dich aufpasst. Die nötigen Impfungen und so weiter hat sie ja.«

Greta streichelte die schwarze Neufundländermischlingsdame, die neugierig angetrottet kam, als ihr Name fiel. Eigentlich gehörte sie Jens, war aber inzwischen zum WG-Hund geworden. Ja, mit Paula würde sie sich bestimmt sicherer fühlen. Schweden. Ruhe. Schreiben…

Greta nickte Jens nachdenklich zu: »Das klingt nach einer richtig guten Idee! Also – wenn du meinst, dass das wirklich okay ist, dann ruf deine Eltern doch gleich mal an und frag, ob sie einverstanden sind.«

»Jawoll«, erwiderte Jens zackig und verschwand aus dem Zimmer, um zu telefonieren. Paula ließ sich zufrieden seufzend in einem Fleck Morgensonne auf dem Holzfußboden nieder.

Greta fing in Gedanken bereits an zu packen. Mit Paula würde es etwas eng werden in ihrem Kangoo, da musste sie gut überlegen, was sie mitnehmen wollte.

Einen Moment später stand Jens schon wieder in der Tür: »Alles klar! Sie freuen sich sehr, wenn das Häuschen nicht leer steht. Der Nachbar guckt zwar ab und zu nach dem Rechten, aber ein bewohntes Haus ist doch etwas ganz anderes. Den Schlüssel kannst du auf dem Hinweg bei ihnen in Hamburg abholen, da musst du eh lang.«

»Mann, ist das aufregend«, freute sich Greta. Sie war eigentlich nicht der spontane Typ, aber alles in ihr sagte, dass dieser Schweden-Arbeitsurlaub jetzt genau das Richtige wäre.

Von ihrer Arbeit im Institut war sie für die nächsten Monate freigestellt, eine Beziehung hatte sie zur Zeit nur mit ihrem MacBook, ihr Pass war noch gültig, das Auto gerade durch den TÜV – nichts, was sie momentan in Hannover hielt.

Es fühlte sich zwar verrückt an, aber sie würde ihre Diss tatsächlich in Schweden schreiben. Wow! Greta staunte über sich selbst.

»Meinst du, ich kann morgen früh schon losfahren? Schaffe ich das mit Packen und allem? Sind deine Eltern wohl da wegen des Schlüssels?«

»Na ja, Packen, Vorräte besorgen, Termine und so absagen…« Jens kratzte sich am Kopf. »Wenn du dich ran hältst, kriegst du das sicher hin. Außerdem fährst du nicht in die Wüste, wenn du etwas vergessen hast, kannst du es auch dort besorgen. Und sollten meine Eltern morgen nicht da sein, können sie den Schlüssel ja in der Garage oder so deponieren, das klappt auf jeden Fall. Ansonsten haben die Nachbarn in Schweden auch einen. Okay, dann wollen wir mal!«

Jens druckte ihr vorsichtshalber die Route aus und erzählte ihr bei einem zweiten Frühstück alles, was sie zum Haus wissen musste. Seine Eltern hatten es vor vielen Jahren erworben und aufwändig renovieren lassen. Greta fühlte sich zuerst auf den Arm genommen, als Jens von der Heizung, fließend warmem Wasser und Bad im Haus schwärmte, merkte jedoch schnell, dass er es durchaus ernst meinte.

»Meine Eltern waren von je her schwedenbegeistert, du kannst dir nicht vorstellen, in was für Baracken wir dort schon gehaust haben. Ohne Strom, Plumpsklo im Hof, Wasser aus dem Brunnen… Mein Bruder und ich hatten schon überlegt, ob wir das Jugendamt einschalten sollten!« Jens lachte. »Das klingt vielleicht alles ganz spannend, aber irgendwie kam der Abenteuerfaktor bei uns damals nicht so rüber. Aber keine Angst, du wirst dort nichts vermissen, meine Eltern haben sich in dem Haus sogar eine Geschirrspülmaschine zugelegt.« Er stand auf. »So, dann halte ich dich nicht länger vom Packen ab. Wenn ich dir was helfen kann, sag Bescheid. Den Tisch deck’ ich ab, leg du mal los.«

Greta ging in ihr Zimmer, holte ihren Rucksack unterm Bett hervor und musterte kritisch den Inhalt des Kleiderschrankes. Wenn sie tatsächlich einige Wochen in Schweden blieb, müsste sie vom T-Shirt bis zum dicken Pulli alles mitnehmen. Noch war August und der Sommer meinte es gut, aber laut Jens könnte es Ende September schon recht kalt in Småland werden. Schließlich war Greta zufrieden mit ihrer Auswahl, musste aber noch eine große Reisetasche hinzunehmen, weil der Rucksack schon aus allen Nähten platzte.

Sie baute Drucker und Computer ab und setzte Tintenpatronen und Druckerpapier auf ihre geistige Einkaufsliste. Dann suchte sie die ganzen Artikel, Bücher und sonstigen Unterlagen zusammen, die sie für die restlichen Kapitel ihrer Arbeit benötigen würde, und stellte schon mal alles in den Flur.

Einkaufen musste sie noch. Vor allem Hundefutter! Sie machte sich einen Becher Tee und setzte sich mit Zettel und Stift an den Küchentisch. Die Einkaufsliste wurde ziemlich lang.

Greta kam erst spät und total erledigt aus der Stadt zurück. Den größten Teil ihres Gepäcks verstaute sie schon im Auto, damit sie am nächsten Tag möglichst früh losfahren konnte. Erschöpft saß sie schließlich wieder in der Küche. Als ihr Magen laut knurrte, fiel ihr ein, dass sie seit dem zweiten Frühstück bis auf einen schnellen Muffin nichts gehabt hatte.

Gerade als sie sich aufraffen und ein Brot schmieren wollte, kam Jens herein: »Meine Güte, wie siehst du denn aus? Hast du überhaupt schon etwas gegessen?« Bevor Greta antworten konnte, schnipste er mit den Fingern. »Pass auf: Ich bestell’ uns eine Pizza und du gehst so lange in die Badewanne.«

Greta strahlte: »Mhhh, ein heißes Bad und anschließend Pizza, das ist der Himmel! Jens, du bist ein Schatz!« Sie sprang auf, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand in Richtung Badezimmer.

»Die Pizza wie immer?«, rief Jens ihr hinterher.

»Wie immer!«, kam es zurück.

»Ahhh, tut das gut…«

Greta seufzte wohlig, als sie sich im warmen Wasser ausstreckte und ihre Augen schloss. Nach ein paar Minuten klopfte es und Jens reichte ihr ein Bier herein.

Greta nahm die eiskalte Flasche und trank einen großen Schluck. »Mann, das wird ja immer besser, Danke! Was kommt denn jetzt noch? Jonny Depp in ’ner Sahnetorte?«

Jens lachte. »Tut mir leid, damit kann ich im Moment nicht dienen. Will dich nur etwas verwöhnen, bevor du in die Wildnis ziehst. Aber wenn du möchtest, kann ich Marten fragen, ob er dir was in seinem Leoparden-Stringtanga vortanzt.«

Ihr Nachbar Marten war Anfang 30, eher klein und rundlich und hatte noch ungefähr drei Haare auf dem Kopf.

»Na toll, jetzt werde ich das Bild bestimmt nie wieder los: Marten tanzend mit nichts als einem gefleckten Faden in der Kimme. Danke, Jens! Und überhaupt: Wie kommst du darauf, dass er einen Leoparden-Stringtanga hat?«

»Den habe ich gesehen, als wir neulich zusammen unten im Waschkeller waren.«

»Es gibt Sachen, die man einfach nicht wissen möchte.« Greta schüttelte sich. »Schade eigentlich, dass es in dem Häuschen keine Wanne gibt, aber ich muss ja sowieso arbeiten, dann komme ich wenigstens nicht in Versuchung, stundenlang darin zu verschwinden. Ach, ich bin schon so gespannt!« Sie spielte gedankenverloren mit dem Schaum.

»Es wird dir ganz bestimmt gefallen, vielleicht komme ich auch mal für eine Woche vorbei, wenn dir die Decke auf den Kopf fällt. So, jetzt gehe ich den Tisch decken, die Pizza müsste in einer Viertelstunde da sein.«

»Ist gut. Ich komm’ dann gleich.« Greta ließ sich genüsslich noch etwas tiefer ins warme Wasser sinken und merkte, wie die Anspannung des Tages langsam von ihr abfiel.

Jens war schon ein richtig feiner Kerl. Seit vier Jahren wohnten sie jetzt zusammen und über die Zeit war er ihr bester Freund geworden. Damals war Gretas Beziehung in die Brüche gegangen und ihr Ex-Freund ausgezogen. Sie suchte einen neuen Mitbewohner und als Jens mit der zotteligen Paula vor der Tür stand, war alles klar: Liebe auf den ersten Blick! Greta hatte tief in die braunen Augen geschaut und war rettungslos verloren. Dann hatte sich Jens geräuspert.

Greta war zusammengezuckt und aus der Hocke hochgekommen. »Oh Gott, entschuldige bitte«, hatte sie lachend gesagt, aufgehört, Paula zu kraulen und Jens die Hand geschüttelt.

Hund und Herrchen waren schon am nächsten Wochenende eingezogen. Greta und Jens verstanden sich hervorragend, gelaufen war aber nie etwas zwischen ihnen und damit waren beide zufrieden.

Als es an der Haustür klingelte, schoss Greta aus der Wanne und rubbelte sich in Windeseile ab. Ihr war schon ganz flau vor Hunger. Jens hatte den Tisch feierlich mit Kerzen und den guten Rotweingläsern gedeckt, die bereits großzügig gefüllt waren.

»So!«, sagte er und reichte ihr ein Glas. »Auf eine schöne und erfolgreiche Zeit in Schweden. Möge deine Arbeit wachsen und gedeihen!«

Sie stießen an und ließen sich die Pizza schmecken.

Nach dem Essen und einer halben Flasche Wein konnte Greta kaum noch die Augen offen halten. »Ich muss ins Bett. Frühstücken wir morgen zusammen?«

»Wenn’s nicht in aller Herrgottsfrühe ist, gerne. Ich helfe dir dann, den Rest in den Wagen zu räumen.«

»Super! Dann schlaf gut – und vielen Dank für alles. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue!«

»Träum schön. Vielleicht von großen, blonden Schweden«, zog Jens sie auf.

»Für so was habe ich keine Zeit, ich träume lieber von kleinen, brünetten Fledermäusen«, sagte Greta und ging sich die Zähne putzen.

Kapitel 2

Nach einem tiefen und traumlosen Schlaf hüpfte Greta am nächsten Morgen beschwingt aus dem Bett und tänzelte summend unter die Dusche.

Als sie im Badezimmer fertig war, klopfte sie an Jens’ Tür: »Aufstehen, du Faulpelz, ich mache jetzt Frühstück!«

Sie zog sich an, setzte das Teewasser auf und sauste hinunter zum Bäcker. »Frische Brötchen werden in der nächsten Zeit wohl Luxus sein. Komische Vorstellung«, dachte sie.

Eigentlich war Greta ja eher ein Landmensch, aber das Studium und die anschließende Arbeit als Tierärztin an der Tierärztlichen Hochschule Hannover – kurz TiHo – ließen sich nur schlecht mit Landleben vereinbaren. Inzwischen mochte sie Hannover zwar ganz gerne, aber auf lange Sicht schwebte ihr schon eher ein kleines Häuschen im Grünen vor. Auf jeden Fall etwas mit vielen Tieren, das stand für sie fest.

Ein Mann dazu wäre auch ganz nett, aber bisher hatte Greta noch keinen getroffen, mit dem sie sich ein Leben auf Dauer hätte vorstellen können. Sie war jetzt 29 und sah der Zukunft recht gelassen entgegen. Gab es den Mann, mit dem es klappen könnte, würde sie ihm begegnen; wenn nicht, konnte sie immer noch die schrullige Alte mit den vielen Katzen werden.

Jens schlurfte gerade ins Bad, als sie wieder nach oben kam. Greta goss den Tee auf und deckte den Tisch.

So langsam fing es in ihrem Bauch wieder an zu flattern. Bald würde sie im Auto Richtung Schweden sitzen! Gestern hatte sie sich während einer kurzen Einkaufspause im Café per Handy von ihren Eltern und ein paar Freunden verabschiedet und musste immer noch über die ungläubigen Reaktionen lachen. Genauso gut hätte sie eine Expedition in den Himalaya ankündigen können. Nur ihre Freundin Karin war hellauf begeistert: »Mann, Greta, Schweden – mein Traumland! Oh, das wird bestimmt toll. Ich würde dich wahnsinnig gerne mal besuchen kommen, aber in der Klinik ist gerade die Hölle los, in den nächsten 50 Jahren kriege ich garantiert keinen Urlaub.« Karin machte gerade ihre Weiterbildung zur Fachtierärztin für Chirurgie – Greta beneidete sie nicht um den stressigen Job.

Nach dem Frühstück ging Jens noch eine große Runde mit Paula, während Greta die restlichen Sachen zusammenpackte, sich ein paar Brötchen für unterwegs schmierte und alles im Auto verstaute. Als Jens und Paula um die Ecke kamen, war sie gerade fertig. Für Paula war noch ein gemütliches Plätzchen hinter der Rückbank frei geblieben. Greta ließ den Hund in den Wagen springen und ging mit Jens noch mal nach oben, um sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatte.

»Warte«, sagte Jens, und verschwand kurz in seinem Zimmer, »ich hab’ noch was für dich.« Er kam mit einem kleinen, etwas unbeholfen eingewickelten Päckchen wieder, das verdächtig nach einem Buch aussah. »So, das kannst du vielleicht brauchen. Aber erst in Schweden aufmachen!«

»Danke, das ist lieb von dir. Ach Mensch, ich werde dich richtig vermissen«, sagte Greta und umarmte ihn.

»Ihr werdet mir auch fehlen«, sagte Jens, »aber bevor wir jetzt anfangen, Tränen zu vergießen, lass uns mal lieber runtergehen.«

Beim Auto angekommen, beugte Jens sich noch einmal zu Paula hinein, die es sich auf ihrem Platz bereits bequem gemacht hatte, und tätschelte ihr zum Abschied liebevoll den dicken Kopf. »Und du passt gut auf Greta auf, ja? Halte ihr die Eriks, Svens und wie sie alle heißen vom Hals, damit sie mit ihrer Arbeit gut vorankommt.«

Greta lachte. »Genau, liebestolle Schweden werden in Rudeln durch den Wald toben und nur auf mich warten. Du Spinner!« Sie küsste Jens auf die Wange, drückte ihn noch einmal kräftig und stieg ein.

»Hast du dein Handy?«, fragte Jens durchs offene Wagenfenster. Er selbst fühlte sich ohne sein iPhone unvollständig und trug es praktisch immer bei sich, was ihm regelmäßig Frotzeleien von Greta einbrachte. Für sie war das Handy lediglich ein Gebrauchsgegenstand, der ab und zu zwar ganz nützlich war, aber keine Panikattacken auslösen sollte, wenn man plötzlich merkte, dass man ihn nicht dabei hatte. Von daher war Jens’ Frage nicht ganz unberechtigt.

»Ja, ich habe tatsächlich dran gedacht«, antwortete Greta, und klopfte auf die Brusttasche ihrer Jacke. Ohne Handy hätte sie in Schweden keinen Internetzugang und der Routenplaner war unterwegs natürlich auch ganz praktisch – wie sie sich insgeheim eingestehen musste.

»Netzteil?«

»Ups!«, sie schlug sich die Hand vor den Mund.

Jens hatte sich schon halb umgedreht, um es zu holen, als Greta kichernd sagte: »Nein, nein, bleib hier, ich wollte dich nur veralbern, ich habe es dabei!«

»Haha, sehr komisch.« Jens klopfte aufs Autodach. »Fahrt mal lieber los, bevor ich mich vor Lachen nicht mehr halten kann… Und grüß meine Eltern!«

»Mach ich, Tschühüss!« Greta ließ den Motor an und fuhr aus der Parkbucht. Jens schaute ihr nach und hörte noch ein leises »Schweden, ich komme!« aus dem Auto wehen.

Zuerst musste Greta in Hamburg den Schlüssel bei Jens’ Eltern, Magda und Hans Hansen, abholen. Sie war dort schon mehrmals mit Jens zu Besuch gewesen und mochte die beiden sehr gerne. Sie waren so hanseatisch unkompliziert.

»Na, mien Deern, dann hüte unser Häuschen mal schön«, sagte Jens’ Vater und nahm sie in die Arme. »Und wenn was ist, ruf an, unsere Nummer hast du ja.«

»Und alles Gute für die Dissertation!« Jens’ Mutter drückte sie an sich.

»Und du kannst dich wirklich jederzeit an die Hallströms wenden, deren Hof ist ja nicht weit weg. Das sind sehr nette Leute und sie wissen auch schon, dass du kommst. Mit dem Häuschen kennen sie sich bestens aus.«

»Vielen Dank ihr beiden, ich weiß gar nicht, wie ich das jemals wiedergutmachen soll«, sagte Greta.

»Mit einem summa cum laude, ist doch wohl klar«, schmunzelte Jens’ Vater.

»Ich werde mich bemühen, aber ehrlich gesagt bin ich schon froh, wenn ich endlich meinen roten Faden finde und Struktur in das Ganze bringen kann.«

»Wir drücken auf jeden Fall die Daumen. Fledermäuse finde ich richtig spannend. Auch wenn wir vermutlich nur die Hälfte verstehen – ich hoffe, wir kriegen dann später ein Exemplar von dir«, sagte die Mutter.

»Auf jeden Fall!«, nickte Greta.

Sie ließ Paula, die brav neben ihr gesessen hatte, wieder einsteigen und setzte sich hinter das Steuer.

»Ich danke euch vielmals!« Sie fuhr los und winkte durch das offene Fenster.

»Gute Fahrt, grüß Schweden von uns!«

»Oh«, rief Jens’ Mutter ihr noch hinterher, »und strick nicht am Baum!«

Greta nickte lachend und kurbelte das Fenster wieder hoch. »Strick nicht am Baum« – was sollte das denn? Sie schüttelte den Kopf. Konnten Jens’ Eltern tatsächlich etwas von Guerilla Knitting gehört haben? Egal – momentan hatte sie weder Zeit noch Muße, Bäume und Schilder mit bunter Wolle zu verschönern.

»Strick nicht am Baum«, Greta gluckste in sich hinein – das fing ja gut an!

Nach knapp zwei Stunden hatte sie die Fähre in Puttgarden erreicht.

Greta stand mit Paula an der Reling und ließ sich die Seeluft um die Nase wehen. »Na, mein Mädchen, da wird dir noch richtig was geboten, oder?«

Sie kraulte Paulas weiche Ohren und war froh über ihre Gesellschaft.

Vier Stunden später und eine Fähre weiter setzte sie ihren Fuß zum ersten Mal auf schwedischen Boden. »So, Paula, laut Jens’ Plan fahren wir jetzt noch ungefähr drei Stunden, dann haben wir es geschafft. So langsam reicht es mir dann auch mit der Fahrerei.« Greta ordnete sich Richtung Ljungby ein und genoss das ruhige Fahren auf den schwedischen Straßen. Als sie etwa eine Stunde später nach Älmhult abbog, war sie schon völlig gefangen von der Landschaft.

»Mann, ist das schön hier, wieso hat mir das nie jemand erzählt? Was meinst du, Paula, ob wir wohl einen Elch zu sehen bekommen? Wald genug gibt’s hier ja eigentlich.« Paula wuffte zustimmend.

Sie ließen Älmhult hinter sich und nach einer guten halben Stunde hielt Greta zweifelnd vor einem schmalen, unbefestigten Weg an. Sie war sich nicht sicher, ob der tatsächlich zu bewohnten Gebieten führen konnte. Doch laut Jens’ Wegbeschreibung und dem zur Sicherheit hinzugezogenen Navi müsste sie hier wirklich abbiegen. Es wurde langsam dämmerig. Sie gab Gas und fuhr los. »Na, Paula, dann wollen wir mal. Halt dich gut fest, ist ein bisschen holprig hier.«

Der Weg führte kleine Hügel hinauf und hinunter, um scharfe Kurven und durch einen geradezu endlos scheinenden Wald mit Felsbrocken, die wie dicke Trolle im Moos saßen. »Meine Güte, das hört ja gar nicht mehr auf! Hoffentlich kriegen wir hier keine Panne… Na ja, wenigstens haben wir jede Menge Proviant dabei!«

Die Dämmerung ging schon in Dunkelheit über und Greta wurde nun doch etwas unheimlich zu Mute. Gerade als sie überlegte, ob so langsam Panik angesagt wäre, sah sie einen Lichtschimmer zwischen den Bäumen. »Hurra, wir sind gerettet! Paula, alles wird gut!« Greta fühlte sich, als wäre sie tagelang durch sibirische Wälder geirrt und musste über sich selbst lachen.

Der Wald lichtete sich und Greta sah auf der einen Seite des Weges ein stattliches Wohnhaus, auf der anderen Seite mehrere Nebengebäude. Eine Lampe über der Haustür verbreitete helles Licht. Greta fuhr langsamer und musterte das Haus. Ob das der Hof der Hallströms war? Sie überlegte gerade, ob sie dort nach dem Weg fragen sollte, als plötzlich die Haustür aufging und eine Frau winkend herauskam. Greta hielt an und stellte den Motor ab. Sie schätzte die Frau auf Anfang 50, was laut Jens zu Frau Hallström passen würde.

Greta stieg aus und wurde von der Frau mit einem bezaubernden Akzent auf Deutsch begrüßt: »Hej! Sie müssen Greta sein, ich habe schon die ganze Zeit Ausschau nach Ihnen gehalten!«

Greta fiel ein Stein vom Herzen. »Frau Hallström? Ach, ich bin ja so froh, dass ich doch richtig gefahren bin, ich war mir nicht ganz sicher.«

Die Frau lachte: »Ja, der Weg sieht im Dunkeln nicht sehr einladend aus, das stimmt. Wollen Sie erst mal reinkommen und etwas essen? Sie müssen ja ganz kaputt sein nach der langen Fahrt!«

Greta war hin und her gerissen, entschied sich dann aber doch, gleich weiterzufahren: »Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich muss ja auch noch alles auspacken und dann möchte ich eigentlich nur noch ins Bett fallen.«

Frau Hallström nickte. »Ich habe gelüftet, Ihnen ein Bett bezogen und die Hauptschalter angemacht, Strom und Wasser müssten Sie also haben. Unsere Telefonnummer habe ich Ihnen auf den Küchentisch gelegt, falls Sie noch Fragen haben oder irgendetwas sein sollte.«

Greta bedankte sich herzlich und musste Frau Hallström versprechen, am nächsten Tag auf einen Kaffee vorbeizukommen.

Wenige Minuten später erreichte sie ein kleines, rotes Schwedenhäuschen. Inzwischen war es stockdunkel, aber was Greta im Licht der Scheinwerfer sehen konnte, entzückte sie. Sie parkte den Wagen neben dem Haus und atmete tief aus – endlich am Ziel!

Greta ließ die geduldige Paula aus dem Auto springen und tapste im Dunkeln vorsichtig auf den Eingang zu. Gerade als sie umdrehen wollte, um ihre Taschenlampe zu holen, ging neben der Haustür eine Lampe an. Sie schloss auf, knipste das Licht im Flur an und holte erstmal nur die wichtigsten Sachen aus dem Auto. Paula stöberte währenddessen interessiert im Garten herum.

»So, den Rest mache ich morgen, hier wird ja wohl keiner was klauen. Paula, komm!«

Greta schloss die Haustür hinter dem Hund ab und sah sich um. Dem Eingang gegenüber führte eine steile Treppe nach oben. Links ging es in die Küche. Dort stand auf dem Tisch ein Blumenstrauß, daneben lag ein wunderbar duftender Hefezopf und im Kühlschrank fand sie Milch, Butter und Eier. An der Blumenvase lehnte ein Zettel mit einem Willkommensgruß und der Telefonnummer ihrer Nachbarn.

»Mann, das ist ja lieb.« Greta war richtig gerührt. Sie schaute sich weiter um.

Hinter der Küche lag ein Schlafzimmer mit Doppelbett.

»Ah, hier schlafen bestimmt Jens’ Eltern«, sagte sie zu Paula, die hinter ihr her trottete.

Aus dem Schlafzimmer führte eine Tür ins Wohnzimmer, von dem aus man wieder in den Flur gelangte.

»Das ist ja praktisch – wenn es mal regnet, kann man hier unten seine Runden joggen. Also – falls man denn so etwas machen möchte.« Greta hatte nie ganz nachvollziehen können, was Leute dazu trieb, ihrem Körper derartigen Stress anzutun.

»Hast du diese wunderschönen alten Öfen gesehen, Paula? Jens hat mir gar nicht erzählt, dass hier solche Schmuckstücke stehen.« Paula interessierte sich offensichtlich mehr für die Tasche mit ihrem Futter und antwortete nicht. »Ja, okay, du hast gewonnen. Wir essen jetzt erst einmal was.«

Nachdem beide satt waren und Greta eine Rund-SMS an ihre Familie, die engsten Freunde und die Hansens geschickt hatte, dass sie gut angekommen war, ging sie nach oben. Dort fand sie das Badezimmer und links und rechts davon zwei kleinere Schlafzimmer. In dem einen war das Bett bezogen. »Gut, dann ist mir die Entscheidung abgenommen: Schlafe ich also hier.«

Sie ging wieder nach unten, guckte, ob Paula versorgt war, kontrollierte, ob sie die Haustür auch wirklich abgeschlossen hatte, nahm die Tasche mit ihren Sachen und machte sich bettfertig.

Das Zimmer gefiel ihr gut. Es war mit weißem Holz vertäfelt und luftig und hell eingerichtet. Über dem Bett war ein dichtes Netz angebracht, das bis auf den Boden fiel und es vollständig umschloss. Irgendwie fühlte sie sich an ein Himmelbett erinnert.»Hoffentlich verheddere ich mich da heute Nacht nicht drin«, dachte Greta, »aber das ist wahrscheinlich ein wirksamer Mückenschutz.« Sie schlüpfte ins Bett, streckte sich behaglich aus, las noch einige Seiten in ihrem Thriller und als sie die Augen kaum noch offen halten konnte, machte sie das Licht aus.

Sie drehte sich zur Wand und bekam fast einen Herzinfarkt.

Kreischend schoss sie hoch. Unten fing Paula an zu bellen. Keuchend tastete Greta nach dem Lichtschalter. Helligkeit umfing sie. »Ist gut, Paula, alles gut, beruhige dich wieder«, rief Greta mit zittriger Stimme.

Sie atmetet tief durch. Langsam ließ der Schreck nach und schlug in aufrichtige Empörung um. »Welcher Volldepp, welcher blödsinnige blöde Blödmann hängt denn so was da hin? Verdammt noch mal!«

Paula fing unten wieder an zu knurren. »Nein Süße, alles okay, ich rege mich nur ein bisschen auf, nichts passiert.«

Ihr Herzschlag hatte sich wieder einigermaßen normalisiert. Geladen war sie aber immer noch. »Was für ein Vollidiot hängt denn eine fluoreszierende Clownsmaske neben sein Bett?« Greta hatte die helle Maske hinter dem Netz bei Licht nicht bemerkt. Weiter leise vor sich hinschimpfend zog sie das Netz hoch, um die Maske abzunehmen. »Wenigstens warnen hätten sie einen können. Ist wahrscheinlich der Running Gag, wenn sie hier Besuch haben.«