8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 15,99 €
Unsere Erde in naher Zukunft. Eines Tages tauchen am Himmel gewaltige Raumschiffe auf, die der Menschheit eine Botschaft übermitteln: »Ihr habt 30 Tage Zeit, um die Antarktis zu erreichen. Jeder, der es bis dahin nicht schafft, wird vernichtet.« Diejenigen, die diesen Wettlauf gegen die Zeit gewonnen haben, erwartet ein hartes Schicksal in der eisigen Kälte. Doch einige Wissenschaftler in der McMurdo-Station fassen einen Plan: Sie wollen menschliche und tierische DNA vermischen, um eine neue Art von Mensch zu erschaffen, der in der brutalen Umgebung überleben kann. Mit fatalen Folgen für das, was von der Menschheit noch übrig geblieben ist …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 494
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das Buch
Unsere Erde in der nahen Zukunft. Bei einem Urlaub in Portugal verliebt sich Medizinstudentin Liza in den Touristenführer Atto. Doch ehe sich die beiden näherkommen können, geschieht das Unfassbare: Überall am Himmel tauchen gewaltige Raumschiffe auf, die der Menschheit eine Botschaft übermitteln: »Ihr habt dreißig Tage Zeit, um die Antarktis zu erreichen. Wer es bis dahin nicht schafft, wird vernichtet.“
Zwanzig Jahre später. Liza und Atto gehören zu den wenigen, die das Rennen in die Antarktis überlebt haben. Und doch haben sie an diesem tödlichen Ort Liebe und Glück gefunden. Ihre Tochter Echo ist kein gewöhnlicher Mensch, sondern das Ergebnis eines wagemutigen Experiments: Wissenschaftler in der McMurdo-Station haben menschliche und tierischen DNA kombiniert, um Wesen zu erschaffen, die an das Leben in der Kälte angepasst sind. Doch nicht alle »neuen Menschen« sind bereit, den Planeten mit ihren Vorfahren zu teilen. Echo muss eine Entscheidung treffen, die das Schicksal der gesamten Menschheit für immer verändern wird …
Der Autor
Tom Rob Smith wurde 1979 als Sohn einer schwedischen Mutter und eines englischen Vaters in London geboren, wo er auch heute noch lebt. Er studierte in Cambridge und Italien und arbeitete anschließend als Drehbuchautor. Mit seinem Debüt Kind 44 gelang Tom Rob Smith auf Anhieb ein internationaler Bestseller. Der in der Stalin-Ära angesiedelte Thriller basiert auf dem wahren Fall des Serienkillers Andrej Chikatilo und wurde u. a. mit dem Steel Dagger ausgezeichnet, für den Man Booker Prize nominiert und bisher in dreißig Sprachen übersetzt. Nach Kind 44 und Kolyma schloss der Autor seine Trilogie um den Geheimdienstoffizier Leo Demidow mit dem Roman Agent 6 ab. Nun legt er mit Kälte seinen ersten Science-Thriller vor.
Mehr über Tom Rob Smith und seine Werke erfahren Sie auf:
TOM ROB SMITH
Roman
Aus dem Englischen vonMichael Pfingstl
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
COLD PEOPLE
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstausgabe 04/2023
Redaktion: Ralf-Oliver Dürr
Copyright © 2023 by Tom Rob Smith
Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com(Click Bestsellers, Bruce Rolff, Alex Stemmers, Rawpixel.com)
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-30133-0V002
www.diezukunft.de
Für Suzanne Baboneau,die seit fünfzehn Jahren meine Lektorin ist
Erster Teil
Erste Sichtung der Antarktis
Ui blickte in den Nachthimmel hinauf und sah ihm unbekannte Sterne. Das hier waren andere Konstellationen als die, von denen er sich zwischen den Inseln seiner polynesischen Heimat leiten ließ. Das hier waren die Sterne vom äußersten Rand des Himmels – sein Volk hatte sich nie die Mühe gemacht, ihnen einen Namen zu geben, da man nicht nach ihnen navigieren konnte, und sie als petuu vare abgetan: die törichten Sterne. Ui stellte sich vor, wie sie auf ihn herabblickten und fragten, wer hier der Tor war. Er, ganz allein und so weit weg von zu Hause. Ein starker Wind blähte das aus Blättern des Schraubenbaums geflochtene Segel, und sein Boot machte gute Fahrt. Die beiden von einem Bambusgeflecht zusammengehaltenen schlanken Rümpfe schnitten elegant durch die Wellen. Sie waren aus dem Holz des ältesten Calophyllumbaums seiner Heimatinsel geschnitzt. Sein Vater war ein Meister des Schiffbaus und hatte monatelang daran gearbeitet. Er hatte jede Fuge mithilfe von Schlammpaste überprüft, sie betupft und dann auseinandergezogen, um jede noch so kleine undichte Stelle zu finden, wo Wasser eindringen könnte. Die Fähigkeiten seines Vaters waren hochgeschätzt, Seefahrer von weit entfernten Inseln fragten seine Dienste an, und doch hatte er alle Angebote ausgeschlagen und ausschließlich an dem Schiff seines Sohnes gearbeitet, dem besten, das je gebaut worden war.
Viele in Uis Gemeinschaft hielten sowohl den Bau des Schiffs als auch Uis Expedition für bloße Eitelkeit, denn für ihr Patagonien gab es durch diese Reise ins Unbekannte nichts zu gewinnen. Dass niemand an seine Navigationskünste und seefahrerischen Fähigkeiten heranreichte, war hinlänglich bekannt. Ui hatte nichts zu beweisen. Er wurde von vielen Frauen bewundert und von vielen Freunden beneidet. In ihren Augen war dieses Abenteuer nichts als eine Torheit, die er nur aus Besessenheit beging, besessen von dem mythischen Land Iraro.
Das erste Mal hörte Ui das Wort, als er noch ein kleiner Junge war und sein Vater ihm anhand einer in den Sand gezeichneten Karte Polynesien zeigte. Ui betrachtete die Inseln, deutete auf die Ränder des Ozeans und fragte: »Was ist das?«
»Wir nennen diese Wasser Iraro.«
»Was ist Iraro?«
»Der Ort, über den wir nichts wissen.«
»Warum wissen wir nichts darüber?«
»Weil niemand je dort war.«
»Eines Tages segle ich dorthin.«
Sein Vater lachte weder, noch tat er Uis Worte als die Prahlerei eines kleinen Kindes ab. Er beugte sich herunter und wischte die Karte weg in der Furcht, er könnte einem beeinflussbaren Geist einen gefährlichen Floh ins Ohr gesetzt haben. »Und wenn du dorthin segelst, mein Sohn, den ich sehr liebe und ohne den ich nicht leben könnte, wirst du dann auch wieder zurückkehren?«
Ui hielt das Boot an. Er holte das Segel ein und suchte den Horizont ab. Wenn er nicht bald Land fand, würde er umkehren müssen. Die hohlen Rümpfe waren voller Vorräte, Päckchen mit fermentiertem Gemüse, Zuckerrohrbündel, hauptsächlich aber Kokosnüsse zum Trinken, denn Nahrung gab es im Ozean genug. Auf seiner Reise hatte Ui unbekannte Lebewesen gesehen, Schulen eleganter Fische mit milchfarbenen Schuppen und Augen wie Perlen, die in unvorstellbarer Zahl aus dem Wasser schossen wie Vögel. Früher hatte er geglaubt, Wärme bedeute Leben und Kälte bedeute Tod. Doch jetzt wusste er, dass er sich getäuscht hatte. Kälte war lediglich eine andere Form von Leben.
Er schnitt eine Kerbe in den Mast als Markierung für den neunundsechzigsten Tag auf See ohne Land. Die Luft in Iraro war kalt, Ui hatte sich in die dicksten Kleider und Pelze gewickelt, die eigens für seine Reise gemacht worden waren. Er nippte an der kostbaren Kokosmilch, trank gerade genug, damit sein Geist und sein Körper bei Kräften blieben, und überlegte, wie es wäre, wenn er mit leeren Händen nach Hause zurückkehrte. Ui war sich seiner Eitelkeit vollauf bewusst und dachte, dass er angesichts der Erwartungen seiner Landsleute möglicherweise lügen würde, sein Scheitern verbergen, indem er Geschichten über seltsame Lande erfand, die von seltsamen Kreaturen bevölkert waren. Die meisten würden ihm in stummer Ehrfurcht zuhören, ganz egal, was für fantastische Geschichten er erzählte, und ihm glauben. Nur sein Vater nicht, denn ihn hatte Ui nie belügen können. Mit leeren Händen heimzukehren würde bedeuten, dass dieses prächtige Boot, geschnitzt aus dem ältesten Baum der Insel, in Schande zurückkam. Und mit einer Lüge. Es würde seinem Vater das Herz brechen. Besser nicht zurückkehren. Besser sterben als lügen.
Ui setzte sich, er streckte den Arm nach unten und legte seine Hand aufs Wasser. Die Wellen zu lesen, galt vielen als eine Art Magie, über die nur jene verfügten, die der Geist des Meeres berührt hatte. Die Wellen draußen auf dem Ozean hatten eine mächtige Stimme. Ihr Vor und Zurück war anders als das sanfte Auf und Ab der Wellen, die vom Land zurückgeworfen wurden, das immer leiser wurde, je weiter man sich von der Küste entfernte, und schließlich ganz verstummte. Uis Körper zitterte vor Kälte. Er beschwor den Ozean, zu ihm zu sprechen, ihn zu leiten. Zu seiner Erleichterung antwortete er diesmal, flüsterte, dass Land in der Nähe war.
Er kroch über das Bambusgeflecht und wühlte in seinen Vorräten nach einem hölzernen Käfig, in dem ein Fregattvogel saß, den roten Kehlsack gebläht vor Kummer über seine Gefangenschaft. Diese Vögel landeten nicht auf dem Wasser, da sich ihr Gefieder schnell vollsaugte und sie dann nicht mehr fliegen konnten. Aus schierer Notwendigkeit würde der Vogel zum Boot zurückkehren – außer er fand Land. Ui fütterte ihn mit etwas getrocknetem Fisch und ließ ihn frei. Doch nach so vielen Tagen Gefangenschaft verstand der Vogel zunächst nicht und blieb einfach sitzen, bis Ui ihn anstupste und er sich endlich in den Himmel erhob. Ui stand auf und verfolgte seine Flugbahn. Der Fregattvogel umkreiste das Boot ein paarmal und flog dann davon. Er musste Land gesehen haben. Iraro.
Nachdem Ui dem Vogel viele Stunden lang gefolgt war, erreichte er einen eigenartigen Ozean mit zahllosen kleinen Inseln, die glatt und weiß aussahen wie Wolken. Die Luft war so kalt, dass sein Atem zu Nebel wurde. Er holte das Segel ein und navigierte sein Boot mithilfe des Steuerpaddels zur nächstgelegenen Insel. Es gab keine Bäume oder Pflanzen dort und auch keine Tiere. Er schabte mit dem Paddel über den Boden der Insel und sah ein feines weißes Pulver darauf, das zwischen seinen Fingern zu Wasser wurde. Ui betupfte seine Zunge damit. Es schmeckte nicht salzig wie Meerwasser, sondern frisch wie Regen, als wären diese Inseln tatsächlich ins Meer gefallene Wolken. Vielleicht war dies der Ort, an dem die Wolken sich niederließen, wenn sie nicht mehr fliegen konnten. Oder der Ort, an dem sie geboren wurden. Wenn Ui lange genug blieb, könnte er vielleicht beobachten, wie sie sich aufblähten und in den Himmel erhoben.
Er kletterte auf den Mast, hielt sich ganz oben mit perfekter Balance fest und spähte in die Ferne. Er sah weiße Klippen, hoch und glatt, die sich vom einen Ende des Horizonts bis zum anderen erstreckten. Ui fragte sich, wie sie so geworden waren. Vielleicht gab es jenseits dieser weißen Klippen weiße Vulkane, die statt rot glühender Lava weiße kalte spuckten. Vielleicht gab es weiße Wälder mit weißen Bäumen voller weißer Blätter. Vielleicht ganze Herden von Tieren mit weißem Fell und Stämme weißhäutiger Männer und Frauen. Er fragte sich, was für Menschen in einem Land wie diesem leben mochten. Bestimmt waren sie anders. Wild. Nur wilde Menschen könnten in dieser Kälte überleben.
Insel SüdgeorgienZweitausend Kilometer nördlich der Antarktis
Nur die von der Gesellschaft Verstoßenen konnten in diesem eiskalten Klima überleben. Im Lauf der Jahre war Captain Moray zu dem Schluss gekommen, dass es keine Ausnahmen von dieser Regel gab. Manche aus seiner Mannschaft konnten durchaus eine Weile in zivilisierter Gesellschaft zubringen, konnten einen Raum mit Geschichten von ihren Abenteuern unterhalten – aber wenn sie jemanden nicht mochten, und das passierte leicht, waren sie schnell mit dem Messer bei der Hand. Moray kommandierte das erfolgreichste auf Südgeorgien stationierte Robbenfangschiff und war Experte darin, seine Besatzung unter den verfügbaren Verstoßenen auszuwählen. Er bevorzugte melancholische Typen, sexuelle Abweichler und Diebe: Für die Diebe gab es nichts zu stehlen, die Melancholischen konnten auf den Ozean starren, und für die sexuellen Abweichler gab es andere Abweichler. Er erzählte niemandem von seiner eigenen Vergangenheit und kultivierte das Bild von einem autoritären, aber gerechten Mann, einer Bastion der Ordnung in diesem so barbarischen Geschäft. Auf seinem Schiff war nicht genug Platz für noch einen Mörder.
Moray war Kapitän des Zweihundert-Tonnen-Dampfsegelschiffs Red Rose, das in der King-Edward-Bucht vor Anker lag. Er beabsichtigte, ein letztes Mal an Land zu gehen, bevor er Segel in Richtung Kanton in China setzte, wo ein Käufer für seine Ladung Robbenpelze gefunden worden war. Der Preis lag bei drei Dollar und fünfzig Cent pro Fell und damit deutlich unter seinem Rekordpreis von neun Dollar, den er erzielt hatte, als er noch einer der wenigen Robbenfänger gewesen war, die sich so weit nach Süden wagten. Heute ankerten um Südgeorgien herum über sechzig Schiffe, und da der Markt mit Pelzen überschwemmt war, konnte er selbst diese drei Dollar nur erzielen, solange sein Ruf für Qualität garantierte.
Morays letzte Aufgabe vor dem Ankerlichten war ein Abendessen mit dem Magistrat Seiner Majestät, der die Verwaltung der Falklandinseln und Südgeorgiens vertrat, die auf diesem abgelegenen Vorposten das Sagen hatte. Ohne den Segen des Magistrats konnte er nicht in diesen Gewässern operieren. Der Zollinspekteur würde astronomische Gebühren erheben, der Polizeibeamte der Insel würde seine Mannschaft für tatsächliche oder vorgeschützte Verstöße einsperren, und Morays Geschäfte würden zum Stillstand kommen. Vier Besatzungsmitglieder ruderten ihren Kapitän in einer Schaluppe, einem wendigen kleinen Boot mit flachem Boden, das gut für die Jagd und andere Ausflüge geeignet war, an Land. Als sie in dem neuen Hafen anlegten, dachte Moray an die noch nicht allzu lange zurückliegende Zeit, als die Insel noch von Menschen unberührt gewesen war und die Strände so voller Robben, dass er den Kies unter ihren fetten Bäuchen kaum hatte sehen können. Jetzt gab es auf den Felsen nur noch von Sturmvögeln kahl gepickte Robbenschädel und eine Fabrik, die aus Waltran Öl herstellte, fünfzig Cent die Gallone, und dabei einen Übelkeit erregenden Gestank verbreitete, den nur die stärksten Winde zu vertreiben vermochten. Es gab klapprige Schlafsäle für die Arbeiter – menschliche Kolonien voller Etagenbetten und Wäscheleinen, an denen derbe Wollsocken hingen. Hinter den Schlafsälen befanden sich eine Krankenstation und eine behelfsmäßige Kapelle mit einem aus Treibholz gezimmerten Kruzifix.
Als Moray sich der Residenz des Magistrats näherte, fiel ihm der unpassende Lattenzaun um einen Garten mit schwarzer Erde und Büschelgras auf. Die Frau des Magistrats verabscheute diese Insel und gab sich alle Mühe, damit ihr Zuhause so aussah, als befände sie sich auf dem Lande in Großbritannien. Sie hatte Kaninchen mitgebracht, um sich zu trösten, aber die Schiffsratten hatten sie aufgefressen. Sie hatte Wiesenblumen gepflanzt, aber in der salzigen Meeresgischt waren sie verkümmert. Aus Furcht vor den verkommenen Robbenfängern bestand der Magistrat darauf, dass sie einen Beaumont-Adams-Revolver bei sich trug, wann immer sie die Grenzen ihres Gartens verließ. Und zwar nicht versteckt unter der Kleidung, sondern deutlich sichtbar in ihrer Hand. Soweit Moray wusste, hatte sie den Revolver nur einmal benutzt und dabei gut gezielt.
Der Butler, ebenfalls ein britischer Import, öffnete die Eingangstür, seine Miene zu einer permanenten Grimasse verzogen, um von vornherein klarzustellen, dass auch er nicht hierhergehörte. Nachdem Moray seine Lederstiefel ausgezogen und gegen ein Paar Seidenpantoffeln aus der Savile Row eingetauscht hatte, folgte er dem Butler ins Wohnzimmer, das mit schicken Mahagonimöbeln eingerichtet war und dessen Wände Ölgemälde von englischen Landschaften schmückten. Im Kamin knisterte ein Feuer, und mit den zugezogenen Vorhängen, die die trostlose Realität draußen verbargen, sah das Ensemble aus wie der billige Abklatsch eines Salons.
Der Magistrat trat ein und nahm die Flasche Chateau Margaux, die Moray als Geschenk mitgebracht hatte, ohne ein Wort des Dankes entgegen. Zum Abendessen gab es in Scheiben geschnittene pochierte Seeelefantenzunge, serviert mit verschiedenerlei gedünstetem Meeresgemüse. Die importierten Vorräte des Magistrats waren nicht angerührt worden, was Moray nicht als Beleidigung nahm, obwohl genau das beabsichtigt war. In der Hierarchie der Seefahrtsberufe standen die Robbenfänger ganz unten, weit unter den Marineoffizieren Ihrer Majestät und den Händlern, sogar unter den Hochseefischern und den Walfängern. Über Robbenfänger wurden keine Geschichten geschrieben, denn es war ein schändlicher Beruf. Selbst in diesen entlegenen Gewässern hatte sich ein Klassensystem etabliert, als gäbe es keinen Ort auf der Welt, der ohne auskäme.
Moray kam schnell zur Sache. »Ich bin hier, um mich zu erkundigen, welche Gebühren noch zu begleichen sind.«
Normalerweise sprach der Magistrat nur zu gerne über seine Bestechungsgelder, aber heute schien er daran nicht interessiert und drängte den Captain zu einem anderen Thema. »Ich habe gehört, dass dies Ihr letztes Jahr hier sein soll. Dass Sie ein Auge auf ein Stadthaus am Cavendish Square geworfen haben. Kann das sein?«
Moray schnitt sich ein kleines Stück Seeelefantenzunge ab und kaute nachdenklich. Es stimmte. Die Robben standen kurz vor der Ausrottung, weil undisziplinierte Besatzungen Jagd auf Jungtiere und trächtige Kühe machten. Die einst unbegrenzte Ressource der Insel war nicht länger unbegrenzt. Die Robbenindustrie würde keine fünf Jahre mehr überleben, und der Magistrat trug die Schuld daran, denn statt die Gesetze durchzusetzen, ließ er sich lieber schmieren. Und wenn die Robbenindustrie zusammenbrach, würde ihn nicht einmal die Abgeschiedenheit dieses Ortes vor einer Untersuchung aus London bewahren.
»Diese Insel ist am Ende, Sir. Wir haben sie ruiniert.«
»Ruinen sind lediglich das Ende einer Gelegenheit und der Beginn einer neuen.«
Der Magistrat klatschte in die Hände, und der Butler trat ein. Moray lehnte sich überrascht zurück, als der Butler die Flasche Wein servierte, die er als Geschenk mitgebracht hatte. Einen solchen Akt der Großzügigkeit hatte es noch nie gegeben.
»Letzte Woche sah ich auf den Klippen über der Cumberland Bay eine Gruppe Robbenfänger. Sie hatten eine Herde weiblicher Seeelefanten mit ihren Jungen in die Enge getrieben, es gab kein Entkommen. Die Mannschaft tötete sie in aller Ruhe und trieb die Tiere mit Knüppeln zurück, wenn sie versuchten zu entwischen. In ihrer Verzweiflung brach eine der Kühe aus und sprang von der Klippe – sie stürzte hundert Meter in die Tiefe und federte beim Aufprall ein Stückchen zurück in die Luft, aber sie überlebte und schleppte sich ins Meer. Da sprang noch eine, um dem Massaker zu entgehen, und dann noch eine, und schließlich folgte ihr die gesamte Herde über die Klippe. Viele starben bei dem Sturz, aber einige überlebten, von ihren üppigen Fettpolstern geschützt. Die Jungtiere folgten ihren Müttern, aber sie waren zu klein, und alle starben.«
Der Magistrat nippte an dem guten Wein und musterte Moray. »Glauben Sie, dass die Londoner Gesellschaft Sie als den Gentleman akzeptieren wird, der Sie zu sein vorgeben? Dass man Sie zu sich nach Hause einladen oder Ihre Gesellschaft wünschen wird? Natürlich werden Sie lügen, was Ihre Vergangenheit betrifft. Sie werden erzählen, Sie hätten als Händler ferne Länder bereist und mit teuren Gewürzen gehandelt, mit Safran und Zimt. Sie werden die feinsten Kleider tragen und sich Kunstwerke an die Wände hängen. Aber die Londoner werden den Blubber auf Ihrer Haut riechen und die schmutzigen Geschichten unter Ihren Fingernägeln sehen. In ihren Augen werden Sie ein Schlächter sein. Ein Wilder in einem Seidenhemd.«
Moray dachte über die Worte des Magistrats nach. »Das mag sein. Aber die Robben sind Geschichte, Sir. Bald wird das einzige Gewerbe hier darin bestehen, toten Seeelefanten die Zähne aus dem Schädel zu ziehen und sie zu polieren, damit sie für Schmuck taugen. Das ist kein Gewerbe für einen Mann, nicht einmal für einen unzivilisierten.«
Der Magistrat hatte anderes im Sinn. »Nach Süden, Moray, Sie müssen nach Süden gehen, zu den großen Eisweiten, dem unerforschten Kontinent, wo es unentdeckte Kreaturen und unberührte Reichtümer jenseits unserer Vorstellungskraft gibt.«
Er legte eine Künstlermappe auf den Tisch, die voller Skizzen von außergewöhnlichen Kreaturen war, die auf dem unerforschten Eis gesichtet worden waren. Da waren Robben mit einem Horn aus Ozeanelfenbein auf der Stirn, ein Walross mit einem glitzernden Silberpelz und Vögel mit Federn von solcher Schönheit, dass die feinsten Pariser Modehäuser sie würden haben wollen.
»Das Eis ist unpassierbar.«
»Nein, es gibt Wege hindurch, und Sie werden sie finden. Gefährlich, aber das Risiko wert.«
»Und Sie?«
»Ich werde meine schützende Hand über Sie halten. Sie werden diese Insel als Basis nutzen und an diesem Tisch essen. In London können Sie kein Gentleman sein, aber hier können Sie es. Sie werden wichtig sein, und man wird Sie respektieren. In England wird Ihnen das nie gelingen. Moray, wir können nicht zurück. Nie mehr. Diese Insel hat uns gebrandmarkt. Wir gehören hierher, ob es uns gefällt oder nicht.«
Der Butler kam zurück und brachte ein Tablett mit Desserts: ägyptische Datteln, Lavendelblütenhonig, dunkle Schokolade und Brandy-Sahne. Bald war Moray trunken von Träumen von kalten Geschöpfen mit Hauern aus gedrehtem Perlmutt und einem Fell so weich wie Schnee. Mit vom Portwein fleckigen Zähnen sagte der Magistrat: »Das Eis, Captain, wir werden das Eis plündern!«
AntarktisMcMurdo-Forschungsstation
Doug Reynolds hatte die Angewohnheit, Neuankömmlingen ein paar Weisheiten mit auf den Weg zu geben, wie zum Beispiel: Das Schwierigste am Überleben in der Antarktis ist nicht die Kälte, es sind die Menschen.
Als Veteran, der acht Jahre lang auf dem antarktischen Kontinent gelebt hatte, amüsierte Doug die Verwirrung der Leute, wenn sie herauszufinden versuchten, was seine Worte bedeuten mochten. Immerhin war Antarktika der kälteste, windigste und lebensfeindlichste Kontinent auf dem gesamten Planeten. Zu behaupten, das Schwierigste hier seien die Menschen, war schlicht bizarr. Zunächst einmal gab es nicht allzu viele davon. Im Sommer lebten in der McMurdo-Basisstation tausend Wissenschaftler und Hilfskräfte, im Winter schrumpfte diese Zahl auf unter zweihundert. Außerdem war es ein prestigeträchtiger Arbeitsplatz. Wer hier stationiert wurde, zählte zu den Besten seines Fachs und war vom Antarktis-Programm der amerikanischen Regierung in einem harten Bewerbungsverfahren ausgewählt worden. Auf dem Papier gehörten sie zu den ausgeglichensten Menschen, die je an einem Ort versammelt gewesen waren. Sie alle hatten sich einer strengen psychologischen Untersuchung unterzogen, bei der unter anderem folgende Fragen beantwortet werden mussten:
1.Wurde bei Ihnen je eine Depression diagnostiziert?
2.Hatten Sie je Alkohol- oder Drogenprobleme?
3.Neigten Sie je zu Gewaltausbrüchen?
Die psychiatrischen Gutachter gingen noch etwas weiter und stellten Fragen wie:
1.Welche Verschwörungstheorien finden Sie interessant?
2.Wurden Sie in einer erotischen Situation je wütend?
3.Ihnen fällt eine Gruppe von Menschen auf, die lachen. Sie fragen, worüber, aber die Angesprochenen lachen so heftig, dass sie nicht antworten können. Wie fühlen Sie sich in dieser Situation?
Doch Doug wusste, egal wie viele Experten erklärten, dass ein Subjekt mit dem Leben im Eis zurechtkommen würde, man wusste es nie mit Sicherheit. Es stellte sich erst heraus, wenn die Betreffenden hier waren. Dieser Kontinent veränderte die Menschen. Intelligente, stabile, anständige Leute verloren den Verstand, und kein Gutachten konnte vorhersagen, wer als Nächster durchdrehen würde. Trotzdem hätte Doug nach acht erfolgreichen Jahren niemals gedacht, dass es ausgerechnet ihn treffen würde.
Er wohnte in Gebäude 201 und stand jeden Morgen um sechs Uhr auf. Selbst an seinen freien Tagen schlief er nicht länger, um seine Routine nicht zu durchbrechen. Er duschte nie länger als zwei Minuten und sah sogar auf die Stoppuhr, um das kostbare Wasser nicht zu vergeuden, das vor Ort durch kraftstoffhungrige Umkehrosmose aufbereitet wurde. Vor ein paar Jahren hatte eine der brillantesten Wissenschaftlerinnen der Station – die bislang unbekannte Bakterien in den Tiefen der zugefrorenen Seen erforschte – begonnen, länger zu duschen. Aus drei Minuten wurden fünf, aus fünf wurden zehn, bis ihre besorgte Mitbewohnerin es der Aufsicht meldete. Auf die Länge ihrer Duschen angesprochen, geriet die Wissenschaftlerin in Rage, sie beschimpfte ihre Mitbewohnerin als Verräterin und drohte damit, ihre Sachen zu verbrennen, die ihrer Meinung nach in dem beengten gemeinsamen Zimmer viel mehr Platz einnahmen als ihre eigenen. Sie entdecke neue Lebensformen, schrie sie, sie könne so lange duschen, wie sie wolle. Daraufhin wurde sie sediert, gefesselt und mit dem nächsten Sanitätsflug evakuiert.
Am heutigen Morgen informierte die an der Plastikseifenablage befestigte Stoppuhr Doug darüber, dass er bereits seit einer Minute und fünfundfünfzig Sekunden unter der Dusche stand. Er sagte laut und mit ruhiger Stimme, als handele es sich um eine öffentliche Bekanntmachung: »Es ist Zeit, das Wasser abzustellen.«
Dougs Hände bewegten sich nicht. Die Frist verstrich. Zwei Minuten elf, zwölf, dreizehn. Er lehnte den Kopf an die Wand, das Wasser lief ihm über Lippen und Nase: »Stell das Wasser ab, Doug. Reiß dich zusammen und dreh es ab.«
Zwei Minuten zwanzig, zwei Minuten einundzwanzig. Seine Stimme klang jetzt eher wie die eines Liebhabers, der um eine zweite Chance bettelt: »Bitte stell das Wasser ab, bitte …«
Zwei Minuten dreißig. Zwei Minuten vierzig. Er schrie: »Stell sofort das Wasser ab!«
Mit einer Drehung des Handgelenks stellte Doug das Wasser ab, stand tropfend und nach Luft schnappend da und starrte auf die Stoppuhr. Zum ersten Mal seit acht Jahren hatte er seine Routine durchbrochen.
Eine seiner eigenen Weisheiten ignorierend – dass kleine Brüche im Verhalten immer Vorboten von größeren sind –, zog Doug sich an, redete sich ein, dass alles in Ordnung sei, streifte seinen Gänsedaunenparka über und machte sich auf den Weg zu Gebäude 155, um zu frühstücken. Er betrat die Kantine und begutachtete das Selbstbedienungsbuffet. Im Winter änderte sich die Auswahl nur selten, es gab weder frische Kräuter noch Obst oder Gemüse. Doug starrte die aus einer Pulvermischung zubereiteten Rühreier an und konnte den Blick nicht von der unnatürlich leuchtend gelben Farbe abwenden. Er konnte es nicht länger leugnen. Irgendetwas stimmte nicht, und dieses Etwas war ein Neuankömmling, ein Mann namens Zack.
Zack war Neuseeländer und gehörte zum Rettungsteam. Alle waren sich einig, dass er ein außergewöhnlich netter Kerl war, genauso freundlich wie gut aussehend, genauso charmant wie tatkräftig. Wenn sie auf der Station einen Beliebtheitswettbewerb abhalten würden, würde Zack nicht nur gewinnen, sondern wäre auch noch überrascht davon. Im Lauf der Jahre hatte sich Doug bemüht, sympathischer zu werden. Er war vielleicht nicht der aufgeweckteste Kerl und ganz sicher nicht der attraktivste, aber er war interessant und freundlich. Er bemühte sich, Neuankömmlingen bei der Eingewöhnung auf der Station zu helfen. Er zeigte den Leuten witzige Passagen aus dem »Antarktis-Leitfaden«, die sie dann per E-Mail an ihre Freunde und Familien weiterleiteten:
»U.S. Antarktis-Leitfaden:
Geld. Am Südpol stehen aufgrund der begrenzten Satellitenverfügbarkeit weder Geldautomaten noch Kreditkartennutzung zur Verfügung.
Aber aus diesen Begegnungen entstand nie eine tiefere Freundschaft. Seine engste Beziehung hatte Doug schon immer zu seiner Arbeit gehabt. Er machte nur dann einen Schritt auf jemanden zu, wenn er betrunken war. Auf Nachfragen am nächsten Tag erhielt er stets eine Abfuhr. Jegliche Intimität wurde als eine Nacht unverbindlichen Vergnügens an einem Ort mit begrenzten Möglichkeiten abgetan. Doug spielte mit und vertrat ebenfalls die Meinung, dass es besser war, lediglich befreundet zu bleiben. Ablehnung hatte ihn nie gestört, bis Zack kam. Nichts hatte ihn je gestört, bis Zack kam. Er hasste Zack. Es war irrational, aber deshalb nicht weniger real. Doug holte tief Luft und sagte: »Das ist Eisgerede. Du hasst diesen Zack nicht. Du kannst ihn gar nicht hassen. Niemand hasst ihn.«
Mit seinem Frühstückstablett in der Hand setzte Doug sich an einen leeren Tisch am Ende des Raums – mit dem Rücken zu den anderen, um zu signalisieren, dass er an diesem Morgen keine Gesellschaft wollte. Er hatte erst wenige Bissen von den pulvrig glänzenden Eiern genommen, als er eine Stimme hörte: »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Es war Zack. Sein Job war es zu spüren, wenn Menschen in emotionaler Bedrängnis waren. Je mehr sie sich versteckten, desto mehr suchte er sie auf. Lächelnd setzte er sich, und Dougs erster Gedanke war zu gehen. Er schätzte ab, wie viel von seinem Frühstück noch übrig war. Er hatte kaum damit begonnen, und wenn er so viel davon wegwarf, würde das Aufmerksamkeit erregen. Die McMurdo-Kantine war streng, was Lebensmittelverschwendung betraf. Man würde Fragen stellen. Es würden Berichte geschrieben werden. Er sagte sich: Sei nett. Sag einfach was Nettes.
Stattdessen sagte Doug: »Haben Sie je von Air New Zealand Flug 901 gehört?«
Es war der einzige Passagierflug, der je in der Antarktis abgestürzt war. An der Flanke des Mount Erebus, dem Vulkan unweit der Basis, lagen bis heute Wrackteile herum. Zack schien die Frage nicht zu verstehen.
»Flug 901?«
»Alle Menschen an Bord starben, als das Flugzeug gegen den Mount Erebus gekracht ist. Es war ein Rundflug, in niedriger Höhe, von Christchurch aus. Sind Sie aus Christchurch?«
»Auckland.«
»Die Maschine ist jedenfalls in Christchurch gestartet, aber einige Passagiere könnten auch aus Auckland gewesen sein. Wie auch immer, die Passagiere konnten sich frei im Flugzeug bewegen und Fotos machen. Einige Kameras wurden sogar geborgen. Wissen Sie, was das Verrückteste von allem ist? Nach dem Absturz haben die Inspekteure die Filme entwickelt. Und wissen Sie, was sie gefunden haben? Der Himmel war strahlend blau. Keine einzige Wolke. Wie kann ein Flugzeug gegen einen Berg krachen, wenn der Himmel klar ist und das Flugzeug keinen technischen Defekt hat? Im Abschlussbericht steht, ›heimtückische Polarlichter‹ hätten eine Rolle gespielt. Verschwörungstheoretiker behaupten, dass das Flugzeug mit einem Ufo zusammengestoßen ist. Wollen Sie wissen, was der wahre Grund für den Absturz war?«
Eisgerede, ohne Zweifel. Zack aß nicht, er starrte Doug nur mit seinen großen freundlichen, fürsorglichen Augen an.
»Und zwar?«
»Menschen.«
»Menschen?«
»Menschen haben das Flugzeug zum Absturz gebracht. Menschen, die ihren Verstand verloren haben. Vielleicht war der Pilot zu sehr von dem Vulkan fasziniert. Vielleicht glaubte er, auf eine Wolkendecke zu blicken, dabei war es das ewige Eis unter ihm. In der Antarktis besteht eine Kluft zwischen dem, wie wir die Welt wahrnehmen, und dem, wie sie tatsächlich ist.«
»Diese Kluft besteht doch immer, meinen Sie nicht?«
»Aber hier ist sie am größten.«
»Eine interessante Theorie.«
»Wie finden Sie Ihre Eier, Zack?«
»Meine Eier?«
»Wie schmecken Ihnen Ihre künstlichen knallgelben Eier? Außergewöhnliche Farbe, oder? Es gibt zwar keine Sonne hier, aber dafür haben wir Eier in Pulverform.«
»Doug? Ist alles okay?«
»Natürlich, wie auch nicht? Mein Job ist, die Sterne zu studieren, und es gibt keinen besseren Ort auf der Erde dafür als genau diesen. Die Südpol-Teleskopstation befindet sich auf einem Plateau dreitausend Meter über dem Meeresspiegel, wo die katabatischen Winde nicht so stark sind und die Luft fast keine Wassertröpfchen enthält. Wie können Sie hier sitzen und mich fragen, ob alles okay ist, wenn ich einen Blick auf die Sterne habe, wie er nur vom All aus noch besser sein könnte? Wissen Sie, was ich gesehen habe? Neulich?«
»Nein, Doug. Was haben Sie gesehen?«
»Eine Sternschnuppe. Sie zieht über den Himmel, und dann, ganz plötzlich, hält sie an. Diese Sternschnuppe, sie hält einfach an, wendet um neunzig Grad und fliegt weiter über den Himmel, aber in eine völlig andere Richtung.«
»Sie hat die Richtung geändert?«
»Eine Sternschnuppe hat die Richtung geändert. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.«
»Wie ist das möglich?«
»Sagen Sie’s mir, Zack, sagen Sie’s mir.«
»Ich war nicht dabei, Doug. Ich weiß es nicht.«
Doug stand abrupt auf und schob seinen Stuhl so schnell zurück, dass Zack zusammenzuckte. »Wenn Sie mich entschuldigen, ich habe zu arbeiten. Es gibt neue Galaxien, die entdeckt werden müssen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Mit diesen Worten verließ er den Tisch und fühlte sich bereits besser, weil er nicht mehr an diesem Tisch saß, nicht mehr bei Zack. Doug kratzte seinen Teller ab und reagierte auf den missbilligenden Blick des Küchenchefs. »Schauen Sie mich nicht so an. Es sind nicht einmal echte Eier.«
An der Tür, als er gerade gehen wollte, spürte Doug eine Hand auf seiner Schulter, und er drehte sich um. Zack stand vor ihm.
»Wie wäre es, wenn Sie noch ein bisschen mit mir abhängen? Der Wind frischt auf. Es fehlt nicht mehr viel zu Kategorie zwei.«
»Sie können mich nicht disziplinieren, weil ich bei Kategorie zwei nach draußen gehe.«
»Niemand spricht von Disziplinierung. Vielleicht sollten Sie noch einen Moment warten. Trinken Sie einen Kaffee, setzen Sie sich zu mir. Sie brauchen nicht zu reden. Wir warten einfach, bis der Wind nachlässt.«
Es gab drei Kategorien für das Wetter. Kategorie drei hieß normale Bedingungen ohne Bewegungseinschränkungen, Kategorie zwei hieß Winde von über achtundvierzig Knoten, und Kategorie eins, die schlimmste, bedeutete Winde von über fünfundfünfzig Knoten und einen Windchill von minus einhundert. Bei Kategorie eins durfte niemand die Station verlassen, niemand durfte sich im Freien aufhalten. Als Sicherheitsbeauftragter der Station hatte Zack die Befugnis, jedes gefährliche Verhalten zu melden. Die Stationsleitung war paranoid, was Unfälle betraf. Aus diesem Grund ließen sich die meisten Mitarbeitenden bei kleinen Schnittwunden und Prellungen gar nicht erst behandeln, weil sie fürchteten, dass damit eine Risikobewertung eingeleitet werden würde, die damit enden könnte, dass sie abgezogen wurden. Denn man könnte argumentieren, dass eine kleine Verletzung stets als Vorstufe zu einem ernsten Zwischenfall gesehen werden musste.
»Ich will nicht mit Ihnen abhängen, Zack. Ich will keinen Kaffee trinken. Ich will die Sterne studieren. Das ist mein Job, die Sterne zu studieren, und das kann ich nicht, wenn ich mit Ihnen an einem Tisch sitze und so tue, als wären wir Freunde, was wir nicht sind.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Doug die Tür und trat ins Freie. Er hatte noch nicht einmal den Reißverschluss zugezogen und ging mit flatterndem Parka hinaus in den starken Wind. Zack würde ihm bestimmt hinterherlaufen, voller Sorge und Mitgefühl. Der Gedanke ließ Doug wie von der Tarantel gestochen losrennen. Der Wind brüllte so laut, dass er seine eigenen Gedanken nicht mehr hören konnte. Die Kälte war überall, sie breitete sich in Dougs Armen, den Beinen und seinem Körper aus. Mit jedem Schritt verlor er an Kraft, er blieb stehen, sank auf die Knie und akzeptierte die nüchterne Wahrheit: Nach acht Jahren war seine Zeit gekommen.
Langsam stand er auf, änderte die Richtung und stapfte auf die Krankenstation zu. Wenn er hineinging und ihnen die Wahrheit sagte, würden sie Verständnis zeigen – Doug hatte niemandem etwas getan. Aber er wusste, dass der Wahnsinn nur noch schlimmer werden würde. Jemand würde zu Schaden kommen, und das wäre wahrscheinlich er selbst. Wenn er die Situation erklärte, würde man ihn von der Arbeit abziehen, sedieren und in Sicherheit bringen, bis ein Sanitätsflugzeug eintraf. Eines war sicher, er würde nie wieder zur South-Pole-Telescope-Station zurückkehren. Dougs Karriere im Eis war vorbei. Sein Leben in der Antarktis war vorbei. Doug öffnete die Tür zur Krankenstation und sagte: »Mir ist kalt.«
Zweiter Teil
LissabonPraça do Comércio6. August 2023
Ihr Fremdenführer schwadronierte: »Wir stehen hier auf der Praça do Comércio, was übersetzt Platz des Handels bedeutet. Früher befand sich hier der Königspalast, bis er am 1. November 1755 durch das Große Erdbeben von Lissabon zerstört wurde. Dieses Erdbeben, von dem Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben, tötete über einhunderttausend Menschen und hinterließ einen fünf Meter tiefen Graben in der Stadt. Das Meerwasser wurde aus dem Hafen herausgerissen wie von einer Mutter, die ihrem schlafenden Kind das Bettlaken wegzieht, alle Schiffe und Boote blieben auf dem Sand und dem Schlick liegen. Dann kam ein Tsunami und schleuderte dieselben Boote und Schiffe gegen Häuser und Paläste – das Meer schoss so schnell die Ufer hinauf, dass sich nur Leute mit Pferden rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Während die Fluten die tiefer gelegenen Gebiete verwüsteten, steckten die umgestürzten Kerzen der Allerheiligen-Gottesdienste die hölzernen Ruinen auf den Hügeln in Brand. Unten Überschwemmungen, oben Feuer: Tod und Zerstörung, wie es sie in der Geschichte meiner Stadt noch nie gegeben hat. Es war eine Katastrophe von solchem Ausmaß, dass sich das Schicksal meiner Nation an einem einzigen Tag für immer veränderte. Ganze Familien wurden ausgelöscht, von den Urgroßeltern bis zu den Enkeln. Die Wirtschaft lag am Boden, unsere globalen Ambitionen waren für immer zunichtegemacht. Seitdem existiert das portugiesische Imperium nur noch in den Geschichtsbüchern, und neue Imperien sind aufgestiegen. So ist der Lauf der Welt: Aufstieg und Fall.«
Liza betrachtete den Platz, der einst das Tor zu einem Ozeane und Kontinente überspannenden Weltreich gewesen war und heute nur noch eine Touristenattraktion mit Akkordeonmusik, Eisverkäufern und Händlern, die auf gemusterten Tüchern ihren Schmuck feilboten. Da sie befürchtete, dass der Reiseleiter ihnen gleich schildern würde, wie China die USA eines Tages von der Weltherrschaft verdrängen wird, brach sie die private Tour mit ihrer Familie ab.
»Ich gehe eine Flasche Wasser kaufen. Bin gleich wieder da.«
Sie schlenderte davon, der Fluss zog sie an, weil sie einen Moment allein sein wollte. Liza setzte sich auf die Steintreppen am Ufer zu den anderen Touristen, die, an eiskalten Limonaden nippend, ihre laminierten Stadtpläne studierten, und ließ ihre Gedanken schweifen. Das Licht, das sich auf dem schimmernden Wasser spiegelte, hatte etwas Hypnotisches. Da merkte Liza, dass sie den Namen des Flusses vergessen hatte. Zu ihrer Verteidigung sei gesagt, dass heute der dreizehnte Tag ihrer zweiwöchigen Familienreise durch ein Europa voller Flüsse und historischer Brücken, Könige und Architekten, Marmorsorten und Statuen war, weshalb ihr Kopf vor Fakten regelrecht überquoll. Während sie die Sonne genoss, spielte sie ein kleines Spiel: Sie stellte sich vor, wie es wäre, hier zu leben, ein neues Leben anzufangen und eine neue Sprache zu lernen. Würde sie ein anderer Mensch werden, wenn sie an einem anderen Ort lebte? Glücklicher vielleicht. Natürlich würde sie es nie ausprobieren, es war nur ein müßiger Gedanke, trotzdem genoss Liza das Spiel.
An der Anlegestelle lag ein ungewöhnliches Holzboot vertäut, kein modernes, sondern eine Nachbildung der caravelas, die sie heute Morgen auf den mittelalterlichen Gemälden im Museu da Lisboa gesehen hatte. Auf dem Bug saß ein junger Mann, der unter den Passanten nach potenziellen Kunden Ausschau hielt. Er war Anfang zwanzig, hatte dunkles lockiges Haar und grüne Augen und trug merkwürdige markenlose Kleidung: altmodische Leinenhosen, die von einer sandfarbenen Kordel zusammengehalten wurden, dazu ein wallendes weißes Baumwollhemd.
Liza vermutete, dass es sich bei der Kleidung um eine Tracht für jene handelte, die diese Imitationen historischer Boote fuhren. Die meisten Leute hätten darin einfach nur lächerlich gewirkt, aber nicht dieser Mann. Er sah außergewöhnlich gut aus, als gehörte auch er auf ein Gemälde in einem Museum, auf dem er ehrfürchtig nach oben zeigte, während Gott aus den flauschigen Kumuluswolken herabschaute. Vielleicht spürte der junge Mann ihren Blick, denn er drehte sich um und sah, wie Liza ihn anstarrte. Sie errötete und schaute weg.
Ohne weitere Aufforderung sprang er von seinem Boot und kam näher. »Das ist mein Boot.«
Liza war so überrascht, angesprochen zu werden, dass es ihr die Sprache verschlug. Der junge Mann stellte ein Bein auf die unterste Stufe der Treppe wie eine Figur aus einem altmodischen Broadway-Musical: der gut aussehende Matrose, kurz davor, ihre Hand zu nehmen und mit ihr über den Platz zu tanzen.
»Vielleicht hast du zu viel Zeit in Galerien und Museen verbracht.«
Als Liza wieder sprechen konnte, erwiderte sie: »Warum sagst du das?«
»Du bist es nicht gewohnt, dass die Dinge, die du anstarrst, zu dir sprechen.«
»Ich habe nur dein Boot bewundert.«
»Wenn das so ist, hast du Lust auf ein Abenteuer?«
»Ein Abenteuer?«
»Ist das nicht die beste Frage, die dir je gestellt wurde?«
»Auf jeden Fall die beste am heutigen Tag.«
»Alles, was du tun musst, ist Ja sagen.«
»Wohin soll es denn gehen?«
Er deutete übers Wasser, unter der roten Hängebrücke hindurch.
»An den Rand des Ozeans, wo alle großen Abenteuer beginnen.«
Liza stellte sich die Reise einen Moment lang vor, ein unerwartetes Abenteuer mit einem unerwartet aufgetauchten Mann. »Das ist sehr nett. Aber ich bin mit meinen Eltern unterwegs. Wir haben schon einen Führer.«
Sie gestikulierte in Richtung ihrer Familie. Der junge Mann begutachtete die kleine Gruppe kurz.
»Stimmt. Aber er hat kein Boot.«
»Nein, aber er hat einen Plan, und den hält er streng ein.«
»Soll ich mit deinen Eltern reden?«
Obwohl er die Frage mit einem Lächeln stellte, spürte Liza einen Anflug von Verärgerung und verschränkte die Arme. Sie wusste, dass er sie nur aufzog. Sie hatte gerade ihr zweites Jahr an der Harvard Medical School abgeschlossen und würde einen Beruf ergreifen, bei dem es um Leben und Tod ging. Sie brauchte nicht wegen jeder Kleinigkeit ihre Eltern zu fragen. Eigentlich war sie schon zu alt für so einen Urlaub. Aber ihr Vater hatte die Reise organisiert, nachdem er sich von seiner Krebserkrankung erholt hatte, und die zwei Wochen waren ein voller Erfolg gewesen. Über dem gesamten europäischen Festland lag eine Hitzewelle, und in den Städten, die sie besucht hatten, herrschte eine Art Karnevalsstimmung. Die Brunnen waren ausgetrocknet und die Flussbetten erst recht. Sie nächtigten in umgebauten Klöstern oder restaurierten Schlössern, alle mit Klimaanlage und historischem Ambiente, in dem Rucolasalat mit Olivenöl und gegrillter Fisch serviert wurde. Es hatte keinen Streit gegeben, und ihre Mutter hatte sich nicht ein einziges Mal bei ihrer Arbeitsstelle gemeldet, zumindest hatte niemand etwas davon mitbekommen. Es war der erste Moment in diesen zwei Wochen, in dem Liza sich wünschte, sie wäre alleine hier.
»Meine Eltern werden keine Lust auf eine Bootsfahrt haben.«
»Und du? Was hättest du geantwortet, wenn deine Eltern nicht hier wären?«
»Ich hätte gefragt, ob einer deiner Konkurrenten billiger ist.«
Er lachte. Liza mochte sein Lachen sehr.
»Das bezweifle ich.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«
»Weil ich kein Geld verlange.«
»Du hast wohl auf alles eine Antwort.«
»Und du hast immer noch nicht geantwortet.«
Liza hörte, wie ihr Name gerufen wurde. »Ich muss gehen.«
Der Bootsführer sagte: »Für heute hat niemand eine Sonnenuntergangstour gebucht. Wenn du gegen sechs Uhr wieder hier bist, fahre ich mit dir raus, dreißig Minuten, eine Stunde, solange du eben Zeit hast.«
»Ich werd’s versuchen.«
Liza hatte ihm durch die Blume sagen wollen, dass sie nicht kommen würde. Aber zu ihrer Überraschung hatten ihre Worte so geklungen, als würde sie alles Menschenmögliche versuchen, um bis sechs Uhr wieder hier zu sein.
Als Liza zu ihrer Familie zurückkehrte, spielte sie den Grund ihrer Abwesenheit herunter. Ja, es stimmte, der gut aussehende Mann hatte sie angesprochen und ihr eine Bootstour angeboten, aber sie habe kaum zugehört.
Ihr privater Führer bezeichnete die Einladung als einen Fake-Service von arbeitslosen Fischern, die die meisten Touristen für unwissend und leichtgläubig hielten und nur vorgaukelten, sich mit der Stadtgeschichte auszukennen. »Die meisten dieser Männer haben noch nie in ihrem Leben ein Buch gelesen.«
Er musterte Liza missbilligend. Sie hatte ihn zweimal vor den Kopf gestoßen. Zuerst, indem sie einfach ging, und dann noch einmal, als sie mit einer Einladung von einem Fischer zurückkehrte, der sich als Reiseführer ausgab.
Als sie aufbrachen, schaute Liza noch einmal zum Platz und hoffte, den Bootsführer irgendwo in der Menschenmenge zu entdecken. Aber er war verschwunden. Es war eine jugendliche Schwärmerei, sagte sie sich, nichts weiter. Dennoch hatte sich die Begegnung irgendwie bedeutsam angefühlt. Fast hätte sie gelacht, was sicherlich ein Selbstschutzmechanismus war. Emma, ihre jüngere Schwester, legte ihr einen Arm um die Taille und flüsterte Liza ins Ohr: »Es ist heiß heute, findest du nicht? So was von heiß.«
Liza liebte ihre schelmische kleine Schwester sehr und küsste sie auf die Wange.
Gleicher Tag
In dem Terrassencafé neben dem Castelo de São Jorge, das auf einem der höchsten Hügel der Stadt lag, saß Liza mit ihrer Familie und blickte auf die Skyline aus Basiliken, Kirchturmspitzen und roten Ziegeldächern. Sie hatte nicht vorgehabt, sich mit Blick auf die Praça do Comércio zu setzen, wo sie die kleinen Touristenboote sehen konnte, die von der Anlegestelle aus zu ihren Sonnenuntergangstouren aufbrachen. Sie hatte auch nicht vorgehabt, auf die Uhr zu schauen, sobald sie sich gesetzt hatte, und festzustellen, dass es fünf Minuten vor sechs war. Der Platz lag eine Viertelstunde zu Fuß entfernt. Liza wusste nicht, warum sie diese Berechnungen anstellte, denn sie hatte nicht vor, noch einmal hinzugehen und zu überprüfen, ob die Begegnung mit dem Bootsmann wirklich so bedeutsam war, wie sie sich in ihrer Fantasie angefühlt hatte. Sie spielte mit den Eiswürfeln in ihrer Cola light und fragte: »Wie heißt dieser Fluss noch mal?«
In Lizas Gedanken hatte die Frage unschuldig geklungen, aber laut ausgesprochen wirkte sie wie ein Geständnis, dass sie nicht an Wasser und Flüsse, sondern an Boote und Bootsführer dachte.
Der Reiseleiter, der gerade mit Lizas Familie einen Aperitif genoss, sah ungehalten in ihre Richtung, denn er hatte ihr ungebührliches Verhalten von vorhin nicht verziehen. »Er heißt Rio Tejo oder einfach Tajo, wenn Sie sich das besser merken können.«
Er schien misstrauisch, doch ihre Eltern, im Schatten eines alten Olivenbaums sitzend, waren vollkommen ahnungslos. Lizas Mutter war in Gedanken bei den historischen Bauwerken, in denen sie den größten Teil des Tages verbracht hatten, während ihr Vater die vielen Broschüren studierte, die er unterwegs gesammelt hatte. Liza war erstaunt, wie wohl ihre Eltern sich miteinander fühlten. Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe war ihre Beziehung stärker denn je, und Liza sehnte sich nach diesem Gefühl – einem gemeinsamen Glück. Sie war jetzt zwanzig, und obwohl sie als Medizinstudentin die Anatomie des menschlichen Herzens in- und auswendig kannte, war sie noch nie verliebt gewesen.
Sie stand abrupt auf, als gäbe es einen Notfall. »Haben wir vor dem Abendessen noch ein bisschen Freizeit?«
Ihre Mutter nickte. »Wir treffen uns um neun in der Hotellobby.«
»Die Sache ist die, dass ich noch gar keine Geschenke gekauft habe. Für meine Freunde. Zu Hause.«
Die Lüge wurde mit jedem Wort absurder, als hätte Liza gerade einen Ausflug zum Mars angekündigt oder so. Ihr Vater fragte: »Hast du Geld dabei?«
Wie so viele Lügen scheiterte auch diese schon beim ersten Test. »Nein, ich glaube, ich habe keins.«
Lizas Schwester trommelte vergnügt mit den Fingern auf den Tisch. Offensichtlich genoss sie das quälende Schauspiel. »Es ist schwer, ohne Geld Geschenke zu kaufen.«
Ihr Vater holte seine Brieftasche hervor und gab ihr einen Fünfzigeuroschein. Ihre Mutter staunte über den großzügigen Betrag, entschied sich aber, nichts zu sagen, und Liza war ihren Eltern unendlich dankbar. Sie wusste, dass sie diesen Abgang noch weit unangenehmer hätten gestalten können.
»Wir sehen uns dann um neun. Ich werde pünktlich sein.«
Ihre Schwester fand die Situation viel zu lustig, um Liza so leicht davonkommen zu lassen. »Vielleicht nicht. Ich meine, wer weiß schon, was alles passiert? Ich könnte mich verspäten. Papa könnte sich verspäten. Oder Mama.«
»Nun, ich nicht.«
Als Liza wegging und den Schein zusammenfaltete, hörte sie ihre Schwester rufen: »Ich hoffe, du findest was Schönes!«
Liza war erst ein paar Schritte gegangen, da spürte sie eine Berührung am Arm. Sie drehte sich um und sah, dass ihr Reiseleiter sie eingeholt hatte.
»Ich tue so, als würde ich Sie beim Geschenkekauf beraten.«
»Warum?«
»Ich möchte Sie warnen. Diese hübschen Bootsführer sind berüchtigt. Sie schmeicheln schönen amerikanischen Mädchen, schönen französischen Mädchen, schönen Mädchen aus der ganzen Welt. Sie nehmen sie bei Sonnenuntergang mit aufs Meer, und alles ist ganz furchtbar romantisch. Sie sagen ihnen, wie besonders sie sind, aber sie tun das jeden Tag, jede Woche, in jeder einzelnen Saison. Wenn Sie in sein Boot steigen, ist das, was Sie für etwas Besonderes halten, für alle anderen nur ein schlechter Witz.«
Liza wollte ihm klarmachen, dass er kein Recht hatte, so mit ihr zu sprechen. Stattdessen sagte sie: »Danke für die Warnung. Aber ich kaufe nur Geschenke für meine Freunde.«
»Dann seien Sie vorsichtig. Es gibt viele Fälschungen da draußen.«
Liza lief den Hügel hinunter, vorbei an einem Souvenirladen nach dem anderen, und war zunehmend verärgert über die Einmischung des Reiseleiters. Sie stellte sich vor, wie die anderen von ihrem malerischen Aussichtspunkt aus ihre Route durch die Stadt verfolgten, während der Reiseleiter abfällige Bemerkungen darüber machte, dass Liza bereits an den besten Geschäften vorbeigelaufen sei und er sich frage, wohin sie eigentlich wolle. Vielleicht machte sie sich tatsächlich lächerlich. Mit ziemlicher Sicherheit war der Bootsführer bereits mit anderen Touristen aufgebrochen, oder er hatte noch zwanzig anderen, hübscheren Frauen das gleiche Angebot gemacht. Aber sie würde es trotzdem versuchen. Sie ging ein Risiko ein. Sie musste. Ihre Schwester Emma, die immer in der einen oder anderen Beziehung war – manchmal sogar in zweien gleichzeitig –, hatte einmal gesagt, Liza erwecke wahrscheinlich den Eindruck, dass sie niemanden brauche. Sie wirke so selbstsicher und gelassen, dass die Leute sie unnahbar fänden. Weniger mitfühlende Beobachter würden Liza wahrscheinlich als arrogant und abgehoben beschreiben. Ein Mitstudent, mit dem sie einmal zusammen gewesen war, hatte nach einem Monat mit ihr Schluss gemacht und seinen Freunden erzählt, Liza sehe zwar heiß aus, sei aber innerlich kalt. Als sie ihn zur Rede stellte, entschuldigte er sich und gab dem Alkohol die Schuld. Doch seine Worte hatten sie verletzt, und Liza war zu dem Schluss gekommen, dass man sich nicht verlieben konnte, indem man andere beeindruckte. Es gehörte etwas Magisches dazu, und was auch immer das sein mochte, sie hatte es nicht.
Als sie mit zwanzig Minuten Verspätung auf dem Platz ankam, trug sie immer noch dieselbe verstaubte Sightseeing-Kleidung wie zuvor: Shorts, Turnschuhe und ein Poloshirt. Sie fühlte sich unwohl, während die eleganten Einheimischen mit edlem Designerschwarz, makellosen Frisuren und Moschusparfüm an ihr vorbeistolzierten. Liza hatte keinen Umweg übers Hotel gemacht, um sich umzuziehen. Sie trug weder Make-up noch Parfüm, und der Bootsführer wäre wahrscheinlich enttäuscht, weil sie sich keinerlei Mühe gegeben hatte. Vielleicht wäre er sogar brüskiert und bereute, dass er sie überhaupt eingeladen hatte. Mitten während ihrer Selbstzweifel sah sie ihn, und da wusste Liza, dass er niemanden sonst gefragt hatte. Er wartete auf sie.
Als sie die Stufen zum Steg hinunterging, sagte er: »Ich heiße Atto.«
»Ich bin Liza.«
»Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Ich freue mich auch, dich kennenzulernen.«
Vielleicht war es die Förmlichkeit, die Liza zum Lachen brachte. »Ich weiß selber nicht, was ich gerade so lustig finde.«
Er grinste. »Ich bin genauso nervös wie du.«
Gleicher Tag
Als sie unter der Ponte 25 de Abril hindurchfuhren, schlüpfte Atto in die Rolle des Tourguides. »Bei ihrer Fertigstellung war das die längste Hängebrücke Europas. Sie wurde nach António de Oliveira Salazar benannt, dem Diktator, der Portugal bis 1968 regiert hat. Und danach hat man sie umbenannt, um den Tag seines Sturzes zu feiern.«
»Ich habe den Namen Salazar noch nie gehört.«
Liza erwartete einen Schwall von Fakten über Salazar oder die Brücke: Salazars Aufstieg zur Macht, wie viel Stahl für den Bau der Brücke verwendet wurde und dergleichen. Stattdessen sagte Atto: »Ich werde jetzt aufhören, wie ein Fremdenführer zu reden.«
»Sind wir im Moment nicht beide Fremdenführer?«
»Ach ja? Wie das?«
»Wir haben unser erstes Date und führen uns gegenseitig herum: Hier sind meine guten Eigenschaften, da drüben gehst du besser nicht hin, da liegt mein emotionaler Ballast.«
Er lachte, was Liza daran erinnerte, wie sehr sie sein Lachen mochte.
»Mach deine Augen zu.«
»Ich soll die Augen schließen?«
»Vertrau mir.«
Liza schloss die Augen und fragte sich, ob Atto sie gleich küssen würde und wie es sich wohl anfühlen würde.
»Was hörst du?«
Die Frage überraschte Liza. Sie brauchte einen Moment, um darüber nachzudenken. Obwohl sie wusste, dass sie sich an einem schönen sonnigen Abend auf einem ruhigen Fluss befanden, hörte sie Wind heulen, einen furchterregenden Atlantiksturm, als würde sie, wenn sie die Augen wieder öffnete, auf eine dreißig Meter hohe Wand aus wütenden grauen Wellen blicken anstatt auf das ruhige Blau des Meeres.
»Ich höre einen Sturm.«
»Was für einen Sturm?«
»Weit draußen auf dem Meer.«
Liza öffnete die Augen und starrte auf die Brücke, die wie ein riesiges Musikinstrument jedes Windgeräusch verzerrte und verstärkte. Atto nickte.
»Ich höre auch einen Sturm, aber wenn ich die Augen schließe, sehe ich Schnee. Das ist komisch.«
»Warum ist das komisch?«
»Ich habe nur einmal in meinem Leben Schnee gesehen.«
»Wann denn?«
»Vor zehn Jahren. Damals hat es in Lissabon zum ersten Mal seit fünfzig Jahren geschneit.«
»Du lebst schon immer in Lissabon?«
»Mein Vater kommt aus Marokko. Als er achtzehn Jahre alt war, ist er nach Portugal gezogen und hat sich verliebt. Die Leute behaupten, er hätte meine Mutter nur geheiratet, damit er im Land bleiben kann. Aber das stimmt nicht. Sie haben sich geliebt, und sie lieben sich immer noch, bis heute.«
»Was macht er beruflich?«
»Er ist Fischer. Vor ein paar Jahren hat er dieses Boot für mich gekauft.«
»Du wolltest kein Fischer werden?«
Attos gute Laune schwand. »Doch, ich wollte. Aber meine älteren Brüder arbeiten auf dem Boot meines Vaters, und mein Vater hielt es nicht für klug, wenn wir alle vom selben Beruf abhängig sind. Es gibt eine Obergrenze, wie viel Fisch meine Familie fangen darf. Manchmal dürfen wir gar nicht rausfahren. Früher gab es hunderttausend Tonnen Sardinen vor der Küste, jetzt sind es nur noch zwanzigtausend, und die Bestände erholen sich nicht, selbst wenn wir ein ganzes Jahr lang nicht fischen.«
»Warum nicht?«
»Wir haben zu viel genommen. Und das Meer verändert sich. Es wird immer wärmer. Mein Vater hatte also recht mit seiner Entscheidung. Ich kann mich nicht beschweren. Dieser Job hat viele Vorteile. Mein Englisch ist gut geworden, oder?«
»Es ist perfekt.«
»Weil ich den ganzen Tag mit Touristen rede.«
»Wenn ich das sagen darf – du klingst ein bisschen traurig darüber, dass du kein Fischer mehr bist.«
Atto blickte ihr fest in die Augen und nickte. »Es ist das Geschäft meiner Familie, und meine Familie wollte nicht, dass ich mitmache. Mein Vater sieht in mir eine Art Schausteller, der diese Klamotten trägt und den Touristen Witze erzählt. Das hat etwas – wie sagt man? – Gefälschtes an sich. Es ist aber nichts Falsches daran, ein Fischer zu sein. Meine Brüder segeln durch Stürme. Sie riskieren ihr Leben. Und ich? Ich bin ein Unterhaltungskünstler. Kein ernsthafter Mensch. Ich liebe meinen Job, und ich liebe meine Stadt. Die Leute denken, ich wüsste nichts, weil ich nicht auf der Uni war. Aber ich habe viele Bücher gelesen. Und ich begegne Menschen aus der ganzen Welt. Sie erzählen mir von ihrem Leben, und mir ist nie langweilig. Ist es gefährlich? Nein. Muss ich gegen Wellen und Wetter ankämpfen? Nein. Aber es ist interessant. Und die meiste Zeit bin ich glücklich.«
Als Atto merkte, dass er lange genug geredet hatte, gab er dem Gespräch eine andere Wendung. »Was ist mit dir, Liza aus den Vereinigten Staaten? Wer bist du?«
Sie lachte. »Wer ich bin? Okay. Ich komme aus New York. Aber jetzt studiere ich auf dem College in Boston Medizin.«
»Willst du Ärztin werden?«
»Das ist der Plan.«
»Ein guter Plan.«
»Klar.«
Als Reaktion auf ihren Tonfall und in Anlehnung an Lizas Worte von vorhin sagte er: »Wenn ich dir deinen Satz klauen darf – du klingst irgendwie traurig darüber.«
Liza ertappte sich dabei, dass sie auf eine Art antwortete, wie sie es noch nie getan hatte, weder vor ihren Eltern noch vor ihrer Schwester, ja nicht einmal vor sich selbst. »Ich verbringe meine Zeit unter einigen der klügsten Studenten auf der ganzen Welt, und sie alle studieren mit Leidenschaft. Deshalb strenge ich mich an, weil ich Angst habe zurückzufallen. Aber egal, wie hart ich arbeite, ich werde nie die gleiche Leidenschaft aufbringen wie sie. Und wenn ich ehrlich bin – wenn ich mutiger wäre, sollte ich das Studium abbrechen und erst einmal herausfinden, was ich wirklich will.«
»Du willst keine Ärztin werden?«
»Es ist einer der besten Berufe der Welt. Niemand fragt dich, warum du Ärztin werden willst, und auch ich habe mich das nie gefragt. Es ist so, als hätte ich die Entscheidung nie wirklich getroffen, es ist einfach so passiert. Ich wollte einen Beruf, der etwas bedeutet, und habe diesen Weg eingeschlagen, aber ich weiß nicht, ob es mein Weg ist.«
Verwirrt, dass dieses Geständnis einfach so aus ihr herausgesprudelt war, fügte sie hinzu: »Es tut mir leid … Ich weiß nicht, was das war.«
»Die Wahrheit, oder?«
»Wenn meine Mutter hören würde, wie ich laut über einen Studienabbruch nachdenke, würde sie sofort einen Herzinfarkt bekommen. Ich müsste sie wiederbeleben, und das Erste, was sie zu mir sagen würde, wenn sie die Augen öffnet, wäre, dass ich ihr gerade das Leben gerettet habe und wie ich da auch nur daran denken kann, mein Studium abzubrechen.«
Atto fragte: »Vielleicht würde sie es verstehen?«
»Meine Mutter? Sie würde bestimmt nicht verstehen, wenn ich aussteige. Sie hat in ihrem Leben noch nie etwas abgebrochen. Sie ist … die viertmächtigste Frau in New York.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Genau genommen die neuntmächtigste.«
»Woher weißt du das?«
»Hochglanzmagazine haben diese Listen – die zehn besten Restaurants in New York, die zehn mächtigsten Menschen, die zehn besten Restaurants, ausgewählt von den zehn mächtigsten Menschen, und so weiter.«
»Und dein Vater?«
»Er ist Lehrer. Für englische Literatur. Er ist der netteste und sanfteste Mann der Welt. Ich weiß nicht, warum ich dir das alles erzähle.«
»Liza, darf ich dich was fragen? Vertraust du deinen Gefühlen?«
»Nein.«
»Außer heute.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil du sonst nicht in diesem Boot sitzen würdest.«
Gleicher Tag
Der Torre de Belém war eine Festung am Nordufer des Flusses, kurz bevor der Tajo in den Atlantik mündete. Er stammte aus den Zeiten der Renaissance und hatte die Form eines übergroßen Zahns. Als sie den Turm passierten, holte Atto das Segel ein und ließ sein Boot in den Sonnenuntergang treiben, als hätte er das Schauspiel persönlich so arrangiert. Es waren nur wenige andere Schiffe in der Nähe: eine Touristenfähre, die aussah wie eine Zahnpastawurst und die gerade von irgendeinem Strand zurückkehrte, außerdem ein Kreuzfahrtschiff in der Ferne, das den nächsten Hafen anfuhr. Atto deutete auf den Turm.
»Stell dir den Anblick hier vor fünfhundert Jahren vor. Der Torre de Belém war das Tor zu meiner Stadt. Wir sind hier an dem Ort, an dem die legendärsten Entdecker der Welt in See gestochen sind – Gaspar Corte-Real, Vasco da Gama und Bartolomeu Dias. Wir befinden uns hier am Ausgangspunkt von einigen der größten Abenteuer in der Menschheitsgeschichte: die erste Reise nach Indien, ans südliche Ende Afrikas und nach Brasilien. Rechts von hier lagen Handelsgaleonen vor Anker, die tausend Tonnen und mehr wogen. Zu unserer Linken lagen die königlichen Kriegsschiffe, vollgepackt mit Kanonen. Heute gibt es hier nur dich und mich und dieses kleine Boot.«
Das ist der Spruch, dachte Liza, das ist sein Stichwort.
Tatsächlich saß Atto ganz dicht neben ihr, sein Bein berührte ihres. Aus einem unerfindlichen Grund wurde er plötzlich ernst. »Ich mache mir Sorgen.«
»Worüber?«
»Dass du denkst, ich würde diese Bootsfahrt jeden Tag mit irgendeiner hübschen Frau unternehmen, die über den Platz läuft.«
Liza zuckte die Achseln. »Ich muss nicht die erste sein, die du küsst.«
»Du glaubst, das alles ist inszeniert? Der Sonnenuntergang, der Turm, das Boot, meine Worte?«
»Ich gebe zu, dass ich kurz daran gedacht habe. Aber es ist mir egal.«
»Liza, ich will nicht, dass du denkst, dass das alles nur ein Trick ist. Als ich dich in der Mittagssonne auf den Steinstufen sitzen gesehen habe, musste ich dich ansprechen. Ich konnte nicht anders. Es waren so viele Menschen auf dem Platz, aber du warst diejenige.«
Sie lächelte. »Selbst wenn du das schon mal mit anderen Frauen gemacht hast, ist das in Ordnung. Es macht mir nichts aus.«
Liza hatte gehofft, ihn damit zu beruhigen, aber seine Stimmung schien nur noch düsterer zu werden.
»Du bist nicht sehr erfahren, oder?«
»Erfahren in was?«
»In der Liebe.«
Liza wurde zum zweiten Mal an diesem Tag rot, diesmal vor Beschämung. Dass etwas an ihr unzulänglich war, wusste sie bereits. Aber dass selbst ein vollkommen Fremder es so schnell bemerkte, tat ihr weh. »Jedenfalls bestimmt nicht so erfahren wie du.«
»Ich sage das nur, weil ich glaube, dass da etwas zwischen uns ist.«
»Was denn?«
»Eine Verbindung. Ich spüre es wahrscheinlich stärker als du, weil ich jede Woche mit Tausenden von Menschen spreche. Vielleicht kommt dir das alles hohl vor. Ein bisschen Spaß haben, mehr nicht. Aber alles, woran ich denken kann, ist, wie traurig ich sein werde, wenn wir anlegen und uns verabschieden. Dabei sollte ich dich jetzt anstrahlen, mit dir flirten und Witze reißen.«
»Strahlen, flirten und Witze reißen hört sich eigentlich ganz gut an.«
»Ich sollte versuchen, dich zu küssen. Aber ich kann es nicht. Weil du denkst, dass das alles nicht echt ist.«
Liza sah Atto an und versuchte, seine Worte zu verstehen. »Vielleicht ist es ein kulturelles Problem oder ein sprachliches, aber ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Lass es mich so sagen: Wärst du beleidigt, wenn ich nicht versuchen würde, dich zu küssen?«
»Wenn du nicht versuchst, mich zu küssen? Wenn du mich nicht küsst, ob ich dann beleidigt wäre? Das ist die Frage?«
»Du bist beleidigt.«
»Unsinn, ich möchte mir nur im Klaren sein, worum ich gebeten werde: Du bittest mich um Erlaubnis, mich nicht zu küssen. Habe ich das richtig verstanden?«
»Um zu beweisen, dass das hier echt ist.«
»Indem du mich nicht küsst?«
Liza lachte. Die Situation war völlig absurd. Sie musste ein besonderes Talent haben, jede Lust zu ersticken. Das war die einzige Erklärung. Das Gefühl der Demütigung wurde so stark, dass auch ihre Stimmung umschlug. »Weißt du was? Ich bin beleidigt.«
»Es war nicht meine Absicht, dich …«
»Was auch immer deine Absicht war, was auch immer du glaubst, mit dieser Nummer …«
»Nummer?«
»Diesem romantischen Theaterstück, das du aufführst.«