Kaltes Brot - Uwe Klappert - E-Book

Kaltes Brot E-Book

Uwe Klappert

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Beschreibung

Die Lebenswege völlig unterschiedlicher Menschen kreuzen sich, auf mitunter recht merkwürdige Weise. Vieles was es zu erzählen gilt wäre ohne die schöne, gar nicht mehr so neue Welt der digitalen Medien nicht möglich. Auch die Katastrophe nicht ...

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Reputation ist das, was Männer und Frauen über uns sagen. Charakter ist das, was Gott und die Engel über uns wissen.(Unbekannt)

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Kapitel 1: Man kennt sich

Kapitel 2: Ortstermin in der Provinz

Kapitel 3: Drei Wochen zuvor: Messezeit in St. Bartholomäus

Kapitel 4: Ein Sonntag in der Provinz - warten auf Schnullerbacke

Kapitel 5: Jette Oesting hat sich ein Herz gefasst

Kapitel 6: An der Rezeption

Kapitel 7: Der Kreiskämmerer a.D.

Kapitel 8: Die Versammlung der Insulaner

Kapitel 9: Alles auf Anfang und darüber hinaus

Kapitel 10: Ein anderer Ansatz

Kapitel 11: Die Detektei Pinkert & Saale

Zweiter Teil

Kapitel 1: Die Befindlichkeiten der Frau Branconi

Kapitel 2: Freya wirkt angefasst

Kapitel 3: Die Privatermittler geraten aneinander

Kapitel 4: Ein Frauengespräch

Kapitel 5: Gute Nachrichten für Herrn Bertram

Kapitel 6: Jette leistet Abbitte

Kapitel 7: Die kleine Frau Sonneberg

Kapitel 8: Im Zug

Kapitel 9: Der Schwester Offenbarung

Kapitel 10: Das Hosanna des Herrn Bertram

Kapitel 11: Angekommen!

Kapitel 12: Aufschlag …!

Kapitel 13: Die erste Nacht danach

Kapitel 14: Herr Bertram wird unruhig

Kapitel 15: Die zweite Nacht

Kapitel 16: Frau Branconi schnuppert Inselluft

Kapitel 17: Der Riss

Kapitel 18: Das Frühstück

Kapitel 19: Im Anflug

Kapitel 20: Henner muss gehen

Kapitel 21: Zwiegespräch und Fastfood

Kapitel 22: Jette will zurück

Kapitel 23: Zwei die sich nicht kennen

Epilog

Erster Teil

Kapitel 1

Man kennt sich

»Holst du Jette irgendwann die nächsten Tage rüber, wenn ich dir sage wann?«

Wesentlich freundlicher als ihr zumute war klang die einfach gestrickte Frage, zu der sie sich einigermaßen hatte überwinden müssen. Ein hinzugesetztes »Bitte« verkniff sie sich denn auch. Auf seiner abgewetzten, wie üblich unbezogenen Matratze sitzend, den steifen, quietschgelben Friesennerz eng um sich gerafft, kauerte Frau Freya Oesting, wo sie sich oft geschworen hatte nie mehr zu sitzen. Das Kinn auf die offene Handfläche gestützt, schaute sie angewidert zur Seite. Sich den schmierigen, von Ölflecken übersäten Blaumann richtig hochzuziehen, bevor er -nach mindestens einer halben Stunde- wieder auf der Bildfläche erschien, kam dem Torfkopp auch nach dreizehn Jahren, die sie ihn leider kannte, noch nicht in den Sinn. Geschweige denn die morsche, kaum noch in den Scharnieren hängende Türe zum stillen Örtchen zuzumachen. Den unerträglichen Gestank seiner chronisch dünnen Scheißerei, roch er doch schon lange nicht mehr.

Selbst da drinnen war er ihr damals ungestüm in den Rücken gefallen. Erst hatte sie, mit gekünstelter Einfalt, heftig dagegen protestiert und wild mit den Armen um sich geschlagen, dann aber doch sein widerliches Gestose genossen. Beim bloßen, doch gottlob seltenen Erinnern überkam sie der Ekel. Anscheinend blieb sie das anrüchige Naturwunder, über das sich glänzend rutschen ließ. Manchmal könnte sie sich bespucken. Sogar die Tiere trösteten sie dann nicht. Die kosteten sie nur das letzte Hemd. Von denen mittlerweile über zwanzig, und sogar von der besten Sorte, in ihrem Schrank hingen.

Mit nicht eben den besten Vorahnungen auf seine Antwort wartend kam es Freya Oesting vor als wäre sie erst gestern hier, in seinem dank nur winziger Fensterchen schummrigen, eigentlich aber recht hübschen Fährmannshäuschen gewesen, das gut versteckt hinter einer mächtigen Düne liegend auf den sprichwörtlichen Sand gebaut war. In Pietjes rustikaler Landbleibe, die nur aus einem einzigen, niedrigen Raum bestand, in dem es weder Telefon noch einen Fernseher gab, herrschte nach wie vor eine selbst für Gressiel ungewöhnliche Kargheit.

»Und hier bei uns soll das arme Dirn dann bleiben und wahrscheinlich noch den alten Andresen heiraten. Wenn sein Krüllhahn nur halb so groß ist wie seine Klappe bekommt sie Spaß.« Pietjes lachte auf. Es war ein kaltes, unangenehmes Lachen. In tiefen Schüben hebte und senkte sich seine weiße Hühnerbrust, von der Freya schon damals nicht unbedingt angetan gewesen war.

»Du mieser ...« Sie biss die Zähne zusammen, bis die Wangenknochen knirschten.

»Die A Cappella ist kein Eisbrecher, Mäusken. Hast du dir mal die Fahrrinne angesehen? Überall Dreckhaufen. In die Luft jagen sollte man die scheiß Schwimmbagger.«

Nicht im Traum dachte Pietjes daran einfach »ja« zu sagen. Seit fast acht Jahren hatte sie sich nicht blicken lassen, war stattdessen, während ihrer zahlreichen abendlichen Spaziergänge, einfach an seinem Zuhause vorbeigegangen.

Schwerfällig streifte er sich die verdrillten Träger über die schlaksigen Arme, aus denen dicke, hellblaue Venen hervortraten. Feuerrot war sein vom Kortison aufgedunsenes Gesicht, dessen ruhiger, ihr gleichgültig vorkommender Ausdruck Freya in eine wunderliche Rasche versetzte. Aber wie glücklich war sie doch, wem Gressiel die Bagger nicht zu verdanken hatte. Obwohl auch sie nicht wirklich begriff, was es da plötzlich zu vertiefen geben sollte.

»Wer blecht den Schaden, wenn es kracht oder mich ausgerechnet die Odin aus dem Dreck schleppen muss? Du?« Genüsslich setzte er hinzu: »Brauchst du dein Geld derzeit nicht woanders für? Die Paragrafenreiter lassen sich doch jeden Furz bezahlen. Aber du hast ja genug gebunkert, was man so hört.« Was er nicht gehört hatte aber wusste war, wie sehr sie dafür geschuftet hatte. Jeden Kerl arbeitete sie in Grund und Boden und ganz sicher auch ihn. Es machte ihm nichts.

»Reagier dich ab! Es gibt keinen Anwalt. Ich kann froh sein, wenn ich für die keinen Stall voll Therapeuten buchen muss«, blaffte sie aufgebracht. Diese krächzende, dazu leicht weibische Stimme, wenn die Emotionen bei ihm durchschlugen. Es fröstelte sie. Noch enger raffte sie ihre unbequeme Gummihaut um sich. Sie hasste die Dinger. »Und nenn mich gefälligst nicht Mäusken. Die Zeiten sind vorbei.«

Für ihn waren sie anscheinend nicht vorbei. Was sein Bier war. Bier … Den Suff jedenfalls hatte er besiegt. Selbst hier, auf der kleinsten der sechs Boddeninseln, wurde aus Tradition heraus geschluckt. Es gab keine Tradition! Ein kalter Entzug, ohne nur einen einzigen Menschen der ihm beigestanden hätte. Freia schluckte.

Freilich imponierte ihr des schnodderigen Pietjes Hinnerksens Überlebenswille. Sie zeigte es ihm nicht. Ebenso wenig die aufrichtige, immer noch vorhandene Besorgnis, seit er im letzten Sommer, vor den entgeisterten Blicken etlicher Tagestouristen, sein Kreislauf kollabiert und er beinahe zwischen Schiff und Pier ins Wasser geknallt wäre. Wochenlang hatte es beim geschwätzigen Inselvölkchen kein wichtigeres Thema gegeben. Nur sie hatte sich nicht am Getratsche beteiligt. Denn immer noch stand sie unter Beobachtung. Trotz der Jahre, die seither vergangen waren. Ja genau deshalb hatte sie ihr ansonsten recht freches Mundwerk gehalten. So geriet der Dauerbrenner womöglich doch noch in Vergessenheit. Normal angesehen wollte sie endlich wieder werden. Mit den anzüglichen Blicken einiger hier kam sie zurecht, nicht aber mit den blutunterlaufenen Augen, in denen sie das Wissen um die schräge Geschichte förmlich stehen sah:

»Du und unser Rumpelstilzchen ...?! Ne, ne, ne ...!«

Freya schürzte die Lippen. Ja, mit ihm, ihm, ihm … Und ganz gleich wie beharrlich sie sich auch eintrichterte, dass Pietjes, der irgendetwas vor sich hin murmelte, doch nur ein armer Kerl war, dem sie vielleicht sogar den größten, besten, geilsten Gefallen seines banalen, wertlosen, beschissenen Lebens getan hatte; an der Tatsache, dass er auf diesem Eiland in gewisser Weise einer Institution glich kam sie nicht vorbei. Einer Institution, die sich vom seinerzeit noch frischeren Leibe zu halten ihr mitunter erhebliche Anstrengungen abverlangt hatte. Eine richtige Sau war er gewesen. Anfangs, als sie mit der Ponywelt die ersten Versuche wagte und an und ab sogar ein paar Euros in die Kasse gespült wurden, war es ihr recht gewesen. Vollkommen neu sollte der Neubeginn nämlich nicht werden. Immerhin: Für eine aus dem Nichts aufgebauten Ponyhof hatte es gereicht! Von einem Lebenswerk aber sprach sie nicht. Nicht vor sich, nicht vor anderen, vor allem aber nicht vor ihm, der sich damals nicht mal herabgelassen hatte ihr ein paar Zaunlatten anzunageln. Was sie eh nicht angenommen hätte, so besoffen wie er oft gewesen war.

Sie war aufgesprungen. Beinahe panisch strich sie sich über den prallen, straffen Hintern.

»Schiss um deine Robe, Mäusken?« Wieder erklang sein unfreundliches, auf schiere Provokation angelegtes Lachen. »Keine Angst, die Soße ist längst eingetrocknet ...« Sehr, sehr nachdenklich wirkte Pietjes plötzlich. »Bei dem feinen Mensen komme ich doch auf keinen grünen Zweig mehr. Nur weil ich mit meinem Kaan aus Versehen an seinem Etepeteteschiffchen vorbei geschrubbt bin.« Den Nasenrotz geräuschvoll nach oben gezogen, raffte sich die klapprig gewordene Gestalt einen Schemel unter den knochigen Allerwertesten, fingerte ein Klappmesser und eine Möhre aus der weiten, ölverschmutzten Bux. »Liebe Fahrgäste ...« begann er, seine Rübe angestrengt nach vorne gereckt, mit breit gestelltem Mund, während er das Schneidinstrument öffnete und bedächtig einen Streifen abschnitt. Noch breiter wurde die Schnute, mit den gelben, an einigen Stellen abgebrochenen Zähnen. »Liebe Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Gressiel. Das Team der Odin wünscht ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt, auf unserer ganz besonderen Insel und bedankt sich für Ihr Vertrauen. Wir hoffen sie bald wieder an Bord begrüßen zu dürfen!«

Dass Mensen, der nicht mal auf Gressiel sondern in Bremsbeck lebte, ein richtiges Arschloch war wusste auch Freya. Reihenweise Fahrgäste jagte er Pietjes ab. Womit er ihm finanziell erheblich zusetzte. Irgendwie tat es ihr leid.

»Was ist jetzt Herr von und zu Hinnerksens, holst du sie?«, bohrte sie, unauffällig auf ihre Uhr sehend, nach. »Ich kann sie nicht in den Heli setzen. Die kotzt denen noch den Apparat voll. Der nächste fliegt sowieso erst nächste Woche. Zudem hat sie wahrscheinlich dickes Gepäck.« Bissig, wenn auch eher an sich selbst adressiert, setzte sie hinzu: »Wenn nicht gerade wieder mehr als drei Knoten Wind sind. Für Sven und seine Kamikazepiloten ist das doch ein regelrechtes Unwetter.«

»So richtig liebgewonnen hast du sie aber immer noch nicht.«

Dass er nicht die Inselhoppers meinte begriff sie sofort.

»Wir haben ein geklärtes Verhältnis. Das sollte dir genügen.«

»Du meinst, du hast sie bequatscht«, kasperte er vor sich hin. Wenn jemand sein Mäusken kannte dann er. »Jette bei diesen komischen Pinguinen einzuquartieren bringst auch nur du fertig. Glaubst du das hindert sie?« An Freya vorbei warf Pietjes sein Messer aufs Bett. Er fasste sich in den Schritt, bewegte sein Becken vor und zurück. Der juckt es doch woanders ...«

»Ich sagte bereits: Wir haben ein geklärtes Verhältnis!« Nichts zu wünschen übrig ließ ihr Tonfall an Schärfe.

Ohne ein einziges Wimpernzucken, gaffte Freya ihn an. Egal bei welchem Sabbelhahn er es aufgeschnappt hatte; sie brauchte ihn jetzt. Auch wenn gerade er sicher nicht kapierte, was ein geklärtes Verhältnis ist.

Kapitel 2

Ortstermin in der Provinz

Bedächtig strich sein knubbeliger Warzenfinger über braune, vom Überkochen herrührende Flecken. Als wären die Ungereimtheiten damit weggewischt. Waren sie aber nicht. Zumindest nicht für ihn. Obgleich er den beiden, denen die Betroffenheit deutlich anzumerken war, ihre Aussagen abnahm. Welch grundanständige, unbescholtene Leute. Für die waren selbst verspätet an die Straße gestellte Müllsäcke ein Sündenfall. Ein paar mehr von denen, in den letzten dreißig Jahren, und er würde anders auf die Welt blicken. Wenn ihn in der auch schnell die Langeweile gepackt hätte.

Schwerfällig wie eine Dampfwalze entfernte er sich von dem versifften Herd, ließ sich keuchend auf dem durchgesessenen Sofa nieder. Die fettigen Fransen aus der schwitzenden Stirnfurche wischend, blickte er sich um. Wobei er seine Hornbrille wieder und wieder zurechtrückte.

Hier aber gab es wirklich nicht viel. Ein einfaches Steckregal, voller der Größe nach sortierter Computerbücher, Programmhefte irgendwelcher Schülertheateraufführungen an die Wände geheftet, ein eingerahmtes Bild von Christos berühmten Regenschirmen, über dem einfach aussehenden Schreibtisch. Nicht eine leere Bierflasche, kein stinkender Aschenbecher. Der quoll draußen über. Keine dreckigen Spritzen, die Roland Derksen eh nicht erwarten hatte. Nein, überhaupt nicht roch ihm das hier nach Suff, Party und Drogen. Im Gegenteil: In einer richtigen Asketenbude war er gelandet, in der niemand gewohnt hatte, dem die Dinge völlig aus dem Ruder gelaufen waren, der seine kümmerliche Wohnung nur des guten Eindrucks willen auf Vordermann brachte. Oder aus Besorgnis, vor einem unangemeldeten Besuch des Vermieters.

»Und sonst hat er tatsächlich keinen Besuch bekommen?«, fragte er betont ungläubig, als könne er sich das absolut nicht vorstellen. Konnte er aber doch. Von den Escorddamen abgesehen bekam nämlich auch er keinen Besuch.

»Seine Schwester schaute manchmal nach ihm. Dann stand er mit ihr unterm Vordach und hat geraucht. Wir haben das immer am Rande mitbekommen.« Der zwei Köpfe größere, mit einem kreisrunden Haarausfall geschlagenen Hausbesitzer Gerlach starrte unter sich. »Auch als diese Frau noch mit ihm zusammen war. Wissen sie … wir haben nie besonders viel Umgang mit ihm gehabt, sind einfach nicht an ihn herangekommen. Selbst als wir ihm das Du angeboten haben. Allerdings ...« - als müsse er sich der Richtigkeit seiner Erinnerung vergewissern, hielt er kurz inne- » … allerdings hatten wir schon den Eindruck er wird allmählich zugänglicher. Zwei drei Sätze waren da immerhin drin. Viel ihm aber nicht leicht. Ist doch so Jule oder nicht?«

»Ja ...«, bestätigte die Angesprochene schwach, die eigentlich Juliane-Verena hieß, und deren Erschütterung noch größer als die ihres Mannes war. Noch dazu fühlte sie sich dem massigen Polizisten regelrecht ausgeliefert, fand in ihrem eigenen Heim keinen Mut sich neben ihn zu setzen. Wie bestellt und nicht abgeholt stand sie mit ihrem Mann mitten im Raum. Zum wiederholten Male aber nicht minder scheu fragte sie: »Können wir ihnen, bevor sie wieder wegmüssen, denn nicht wenigstens … die ganze Nacht gefahren und nichts gegess ...«

»Anfangs dachten wir es läge an der Sache mit seinem komischen nicken. Wie jemand mit Parkinson«, fuhr Herr Gerlach nicht minder sachlich seiner Jule dazwischen. »Worauf ihn meine Frau auch mal vorsichtig angesprochen hatte. Sie wissen schon, wegen der Arbeit und so. Der war ja bei keinem Unternehmen angestellt. Bis uns klar wurde: der will einfach nur seine Ruhe haben.« Er seufzte. »Aber damit … «

»Hätte doch auch jemand anderes sein können. Oder sahen die beiden sich irgendwie ähnlich?« Erdenklich Mühe gab sich Derksen eine dienstliche Strenge beizubehalten, während er den vergilbten Monitor eingehend betrachtete. Förmlich davor sitzen sah er den Burschen. »Viel Persönliches wird gerade der doch nicht heraus posaunt haben ...« Im Stillen stellte er fest: auch solche Leute besaßen ihre Existenzberechtigung.

Sein verqualmter Kürbis funktionierte jedenfalls. Blieb die Frage wie lange. Vor nichts fürchtete er sich mehr, seit der Sechzigste hinter ihm lag und die Aussetzer zunahmen. Seinen neuen Kumpanen vom Freizeitskat, von denen einer sogar in der Elbchaussee wohnte, mochten das auf die leichte Schulter oder sogar komisch finden. Immerhin trafen die spitzen Bemerkungen einen Bullen, einen Mann der das Gesetz durchsetzte, einen Mann der sich mehr herausnehmen durfte als andere.

Dermaßen satt gefressen hatte er sich daran.

»Nein ...« Jetzt hatte Juliane-Verena Gerlach, die nicht aufhörte an einem Papiertaschentuch herumzuknüllen, auch den etwas energischeren Teil ihrer Sprache wiedergefunden. Ahnend, wie zornig dieser Derksen werden konnte behielt sie sich im Griff. »Wir haben es uns aber gedacht. Der war niemand, der andauernd eine andere …Wie denn auch bei dem Ausseh ...«

»Wenn schon!«, fiel ihr die Pläte, den ergrauenden Vollbart kraulend, barsch ins Wort. »Wir hätten bestimmt nichts gesagt!«

»Nein ...«, bestätigte seine Jule leicht erschrocken. Auch sie wusste wie hellhörig das einfache, der örtlichen Bank noch etliche Jährchen gehörende Haus war. Nichts hatte sich ihr Untermieter jemals anmerken lassen. Obwohl sie beide dabei nicht unbedingt leise waren. Unvermittelt rief sie aus: »Er hatte doch auch einen Schlüssel ...!«

»Natürlich hatte er einen Schlüssel«, gab Derksen, bei dem sich die lange Nachtfahrt allmählich bemerkbar machte, wenig überrascht zurück. Anhaltend gähnte er in seine Hand. »Entschuldigung ...«

»Meine Frau meint von unserer Wohnung«, klärte Herr Gerlach, dem Derksens plötzliche Unkonzentriertheit nicht verborgen blieb, die Sache auf. »Ich denke auch, sie sollten etwas essen und einen Kaffee trinken. Wir könne gerne hoch zu uns gehen ...«

Derksen wurde wach:

»Sie haben ihm einen Zweitschlüssel gegeben?!«

»Haben wir«, meldete sich jetzt wieder Frau Gerlach und sogar mit einer kräftige Portion Trotz zu Wort.

»Weil wir ihm vertraut haben«, ergänzte die Pläte fest. Mussten sie jetzt auch noch erklären, warum sie ihn überhaupt so lange bei sich hatten wohnen lassen? Hatten sie aber. Ohne es nur einen Tag lang bereut zu haben. Weil er keinen Krawall veranstaltet hatte.

»Schon gut«, brummte Derksen. »Ist ihre Sache, wem sie einen Schlüssel geben. Hat ja auch mit der Sache hier nichts zu tun. Oder vermissen sie etwas?«

»Nein!«, antwortete Herrn und Frau Gerlach einigermaßen entgeistert, wie aus einem Munde. Wobei Frau Gerlach noch hinzufügte: »Aber den Schlüssel hätten wir schon gerne zurück. In seinem Schreibtisch ist er nicht ...«

»Sie haben ...«

Die Pläte schaute nach unten.

»Ja, haben wir ... Durften wir wohl nicht, was?«

»Keine Ahnung aber egal jetzt. Ich kümmere mich darum.«

»Danke ...«

»Auch das hat mit dem Fall nichts zu tun aber haben sie eigentlich Kinder?« Derksen gelang ein für ihn ungewöhnlich nettes Lächeln, das sofort erlosch, als es in seiner olivgrünen Jacke vibrierte. »Moment ...« Erst nach dem zweiten Anlauf stand er auf den kurzen Beinen, stob, das Telefon in Händen haltend, so schnell es ihm möglich war zur Haustüre hinaus. Doch selbst draußen, wo er sich zwischen zwei in letzter Blüte stehenden Sternsträuchern herumdruckste, hielt er die angekratzte Stimme gesenkt, als habe auch das ihn umgebende Gewächs Ohren. » … gut Ortwin, dann kann ich mir das hier im Prinzip auch schenken. Hättet ihr damit nicht eher herausrücken können? Vergiss es. Ich bin abends zurück. Und noch was: Wir müssen uns morgen mal genauer den Schlüsselbund ansehen, den der Junge bei sich hatte. Ok, ich muss jetzt wieder rein.«

Ohne die Verbindung zu unterbrechen ließ Roland Derksen sein Handy zurück in die Jackentasche fallen. Um ein Haar über den Türabsatz stolpernd, eilte er zurück ins Haus. Und fast aber nur fast hätte er sich noch bei seinem Vorgesetzten, den er vielleicht sogar am meisten vermissen würde, bedankt.

Kapitel 3

Drei Wochen zuvor: Messezeit in St. Bartholomäus

Vollendet barock, noch dazu recht malerisch am Ende der alleengleichen, auf rumpelnden Pflastersteinen leicht bergwärts führenden Fliederstraße gelegen; hierhin, zur in der Gegend sittsam bekannten Altkirche St. Bartholomäus, hatte sich Jette Oesting damals, bereits in der ersten Woche nach ihrer Ankunft, begeben. Weniger aus echtem Verlangen als der inneren Ruhe, eines ihr absolut nicht unbekannten Kleinbeigebens wegen. Versprochen hatte sie es Freya, hoch und heilig versprochen. Wie alle hohen und heiligen Versprechen aber, die ihr im Laufe der jungen Jahre abgerungen worden waren, sollte ihr auch dieses doch bitteschön eine Angelegenheit des aller reinsten Herzens sein. War es aber nicht, und so gesagt hatte es Freya auch nicht. Trotzdem: Die unerschütterliche Riege der Heiligen schien sie nur schwerlich wieder loszuwerden. Gleich mit Pattex verstärkte Kletten klebten die christlichen Epigonen an ihr. Nichts klebte an ihr! Aber dachte sie so ging es ihr besser mit sich. Noch besser aber ging es ihr, wenn sie sich das aller reinste Herz zurecht spöttelte. All das in ihrem Verstand an den rechten Ort legen konnte sie aber nicht. Noch viel weniger konnte sie sich Freyas Eismoral entziehen, die in einem merkwürdigen Widerspruch zu ihrer Erscheinung stand, wie es Jette Oesting immer wieder in den Sinn kam. Dann fragte sie sich ernsthaft warum sie überhaupt der verwunschenen Schäre den Rücken gekehrt hatte. Weil es galt einen sogenannten ordentlichen Beruf zu erlernen? Für den es, mit ihren seinerzeit bereits zweiundzwanzig Lenzen, höchste Eisenbahn geworden war? Um Freya endlich zu entkommen? Doch selbst jetzt blieb es die Autoritätsperson, deren Vornamen in den Mund zu nehmen Jette sich lange nicht getraut hatte.

Am Tage ihrer herbei gesehnten Abreise jedoch, als sie morgens an der heruntergelassenen Rampe der qualmenden, vor sich hin wummernden Fähre stand, im nervösen Augenwinkel den im verqualmten Führerhäuschen sie hektisch herbeiwinkenden Pietjes, war sie mutig gewesen. Und immer noch wüsste sie gerne, in welcher Beziehung das absonderliche Männlein zu Freya stand. Aufgeschnappt hatte sie vieles, geglaubt nur wenig. Nicht noch mehr Probleme wollte sie bekommen Freya irgendwo einzuordnen.

»Ich melde mich sofort bei dir, sobald ich bei denen angekommen bin … und danke für alles ... Freya ...«

»Mach das, Kind.«

»Jetzt muss ich aber los, sonst fährt die A Capella ohne mich ab und du musst mich noch eine Nacht ertragen.«

»Ohne dich fährt die alte Butterbirne nirgendwohin!« Wie eine an Pietjes adressierte Drohung hatte es geklungen.

»Sag mal, wie hast du es eigentlich fertiggebracht, dass die mich in der ersten Zeit da wohnen lassen? Du wirst ja hoffentlich niemanden bestochen haben!«

Ihr nachgeschobenes, süßliches Lächeln hätte sich Jette besser verkniffen. Bis ins Mark waren ihr Freyas schlagartig kalt gewordene, bohrende, weder abends noch in der Frühe trübe Pupillen gedrungen. Es interessierte sie aber! Bis heute interessierte es Jette. Bei den Schwestern nämlich bezog sie immer noch Quartier. Wobei sie es belassen wollte. Zumindest bis klar war, wie es mit ihr beruflich weiterging.

Doch wie hatte sie die beiden gegenüberliegenden, in speckige Ockerfarben gehaltene Wohnriegel, mit ihren klitzekleinen Balkonen, anfänglich gehasst. Nicht minder den dazwischen gelegenen Park der Berufenen des Heiligen Bernadetto, mit ihren blütenweißen Hauben über dem hellgrauen Habit. Sie grüßten, ja, sogar recht freundlich, unterbrachen dafür sogar ihr offenkundiges in sich gekehrt sein, und -was für Jette besonders wichtig war-: sie fragten nicht. Doch kamen ihr die Frauen unangenehm informiert, zuweilen sogar wie dezente Aufpasserinnen vor, die nur so taten, als ginge ihnen die Welt am Arsch vorbei. Besonders Schwester Marie-Ambrosine, mit ihrer überbordenden Herzlichkeit, bei der sie regelmäßig ein sonderlich wohliges Empfinden beschlich.

Ebenso daran knabbernd saß Jette Oesting auch an diesem Sonntag wieder im gewaltigen Mittelschiff von St. Bartholomä, presste die an den Fingern leicht bläulichen Hände zwischen die fein bestrumpften Schenkel und Freyas ihr immer fadenscheiniger werdenden Namen aus dem nach bitterer, einsamer Nacht schmeckenden Mund. Dass Kirchen nicht ordentlich beheizt werden schmeckte Jette Oesting nicht. Erst recht nicht an diesem, ihr die mieseste Stimmung seit langem bescherendem Morgen. Als würde sie Sonntage, an denen weniger als nichts geschah, an dem andere ausgiebig taten was sie immer noch nicht tat, nicht genug verabscheuen!

Stillstandtage, Nullchancentage, Tage so überflüssig wie jener an dem Freya viel zu früh und unangemeldet bei ihr aufgeschlagen war. Noch dass sie, um ihrer neue Bleibe eine zumindest kleine persönliche Note abzutrotzen, damit fertig geworden war die karge Hinterlassenschaft der Oberin Theresa, mit etlichen inneren Respektbezeugungen, vorsichtig umzuräumen und sich ein halbes Dutzend billige Stiefmütterchen aufs schmale Fenstersims zu stellen.

Umgänglicher war ihr Freya vorgekommen, freundlicher …

Jedenfalls: Woran zum Glück der auffallend reizvollen Jette Oesting bis zum heutigen Tage nicht vorbeizukommen war: Endlich weg von Gressiel! Wenn auch nicht alles dort Erlebte ihre Laune regelmäßig verdunkelt hatte, nein, überhaupt nicht. In den Sommermonaten zum Beispiel, wenn sie Freyas zottelige, mit allerlei Kraftfutter fett gemästete Ponys, mit einem Dötzchen oben drauf, über die wild wuchernden Wiesen zum besonders schönen Nordstrand hin führen durfte (für immerhin ein recht großzügiges Taschengeld, von diesem oder jenem Elternteil). Nicht zu reden von den noch wärmer machenden Vorstellungen, denen sie dabei nachzuhängen pflegte. Kamen ihr die Väter der Kurzen doch oft nicht viel älter vor als die Pferdeführerin. Mitunter recht ansehnliche, knackige Väter, die nicht immer das passende Gegenstück im Gepäck hatten.

Nichts war je passiert. Nicht die kleinste Andeutung hatte sie auf die Reihe bekommen.

Scheu aber interessiert blickte sie neben sich, wo der Mann, gehüllt in seinen beigen Lodenmantel, die silbergrauen Haare akkurat gekämmt, auch heute wieder innig lauschte. Wenigstens tat er so. So stellte die junge Frau Jette Oesting sich einen gepflegten, älteren Herrn vor. Oder einen Agenten, aus einem Jerry-Cotton-Groschenheft. Einmal hatte sie eines beim Reinemachen eines Gästezimmers gefunden und in aller Schnelle durchgeblättert. Fehlte nur noch der stilechte, schief aufgesetzte Hut, der Zigarettenstummel im Mundwinkel, all die Coolness, die schließlich einen echten Agenten auszeichnet.

Wieder linste sie zu dem vornehmen Herrn. Als der recht eindeutig ihren Blick erwiderte, zuckte sie -nicht wenig besorgt seine Hände könnten wieder auf Wanderschaft gehen- zusammen. Schon waren die süßen Grübchen aus ihren frostigen Wangen verschwunden, alles ja doch wieder dem gläubigen Ernst da vorne am pompösen Altartisch gewichen. Hoch zur Kanzel, mit ihren fünf Engelköpfen, schaute sie und weiter zum Prospekt der mächtigen Pfeifenorgel, deren Putten und Weinranken sie als nicht minder geschmacklosen Firlefanz empfand.

Kapitel 4

Ein Sonntag in der Provinz - warten auf Schnullerbacke

Immer noch schaute Henner Berg in die Röhre. Das aber tat er ausgesprochen konzentriert. Wobei er, seine Nickelbrille weit über die Nasenwurzel geschoben, die Liste abermals durchging.

So gefreut hatte er sich auf sie.

Was erwartete er? Deutlich genug war doch der im Chatprofil hinterlegte Hinweis ihrer strengen katholischen Erziehung, die er, gemessen an ihrer zauberhaften Erscheinung, beinahe als Folter betrachtete. Saß sie halt noch in der Kirche, mit ungebrochenem Käuschheitswillen des hohen Priesters geschwätzigen Worten lauschend. Die verunsicherte Schöne, die sich erst körperlich finden muss, und der sich um alles und jeden kümmernde Herrgott. Gerne würde er es glauben. So wie schließlich auch er glaubte.

Vielleicht aber kokettierte das Schnuckelchen auch nur mit ihrer ach so strengen katholischen Erziehung, bedacht darauf das gelackmeierte Mannsvolk im Chat noch heißer zu machen. Immer öfter überlegte er daran.

Entgegen seinen sonstigen, wie er selbst zuweilen einräumte recht zweifelhaften Chatgewohnheiten wollte er ihre mögliche Unerfahrenheit nicht auszunutzen, zu der das auf verblasst getrimmte Profilbild irgendwie passte, auf dem sie lächelte wie eine entrückte, auf sinnliche Erweckung wartenden Madonna. Eine Madonna, die sich, zugunsten welcher Aktivitäten auch immer, im Chat nicht blicken ließ.

Abgesehen von der Sache mit dem alten Mann, die ihm recht unverblümt auf die Nase gebunden worden war, plauderte sie auch nicht viel. Als wäre alles ein dramatisches, für fremde Augen undurchdringbares Geheimnis. So kam es Henner vor, der hier immer wieder höchst pikante Offenbarungen erlebte und -sofern es sich dabei nicht um ein wirklich erbärmliches Dasein drehte- genoss. Anscheinend nahm auch sie die Unterhaltung mit seiner strahlkraftlosen Wenigkeit nicht ernst. Auch jetzt, wo er immer mürrischer, immer frustrierter wurde half er sich mit dem bösen Verdacht.

Die Damen spielten, spielten mit ihm, probierten sich aus. Wurden schmallippig oder machten rucki zucki die Schotten dicht, nachdem sie sich sein Bild angetan hatten: Der unfreundlich dreinschauende, eindeutig zu jung aussehende Mann, mit dem gewissen Nichts, gewandet in einen abgetragenen Sakko, des am Krebsleiden zeitig verstorbenen Papas blauweiße Krawatte um den schlaksigen Hals verknotet. Es gefiel ihm. Richtig gut gefiel es ihm. Weil er sich zur Abwechslung gefiel. Obgleich er, nach einem weiteren der fruchtlosen Vorstellungsgespräche, angespannt und genervt in die Handykamera geschaut hatte. Nicht wie all die Gutwettergesichter. Überwinden hatte er sich müssen ein Foto in sein Profil einzustellen. Jetzt blieb es drinnen.

Doch manchmal verhielt es sich auch umgekehrt. Dann lag die Möglichkeit eine der Damen abzulehnen bei ihm. Henner tats nicht oft. Am wenigsten bei den unterwürfigen Tussen, bei denen selbst er zum Zuge kam. Nur weil ihre Dauergespönste beim Radieschen gießen weder Dreh noch den passenden Tonfall fanden.

Sie: Dürfen deine Gäste mich auch hart benutzen?

Er: Wie kommst du denn darauf, dass ich Gäste habe?

Sie: Fantasie ...