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Diese authentischen Kriminalfälle aus dem vereinten Berlin in den Jahren 1990 bis 1998 schließen die Berlin - Trilogie von Horst Brandt ab. Er ergänzte diesen Band mit Einblicken in sein Lebenswerk zum Katastrophenschutz und zur Opferhilfe. Weitere Bände dieser Trilogie sind Band I "Von Ganoven, Zuhältern und kriminellen Banden" stellt Kriminalfälle aus West- Berlin in den Jahren 1961 bis 1974 vor, Band II "Gegen das Verbrechen" beschreibt Kriminalfälle aus West-Berlin in den Jahren 1974 bis 1989.
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Seitenzahl: 216
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Der Kriminaldirektor i.R. Horst Brandt hat in den beiden Büchern „Von Ganoven, Zuhältern und kriminellen Banden. West-Berlin 1961 bis 1974“ und „Gegen das Verbrechen. West-Berlin 1974 bis 1989“ authentische Kriminalfälle, Terroranschläge und Katastrophen im Zeitraum der Teilung Berlins beschrieben. Die handelnden Personen sind real, ihre Namen wurden aber geändert.
Im vorliegenden dritten Band werden Fälle aus dem wiedervereinigten Berlin bis zur Jahrtausendwende geschildert, die oft eine ganz neue Dimension hatten. Doch dabei bleibt der Autor nicht stehen. Eine Frage trieb ihn Zeit seines Berufslebens immer wieder um: wie kann den Opfern wirksame Hilfe zu Teil werden? Im Verlaufe seiner Arbeit erkannte er Schwachstellen im alltäglichen Handeln und betretenes Schweigen, wo einfühlsame helfende Worte und Taten bitter nötig waren. Ebenso erkannte er, dass auch die Angehörigen der Opfer und die Helferinnen und Helfer selbst wirksame Hilfsangebote benötigen.
Um diesen „blinden Fleck“ in der Wahrnehmung öffentlicher Stellen zu erhellen, organisierte Horst Brandt Katastrophenschutzseminare und ließ Betroffene, Helfer, Einsatzleiter, Notärzte, Psychologen, Forensiker und viele andere zu Wort kommen, ohne jede Sensationshascherei und Schuldzuweisungen. In diesem geschützten Umfeld wurden persönliche Betroffenheiten offenbart, die alle in eine grundsätzliche Frage mündeten: Was muss getan werden, um Opfern, ihren Angehörigen und den Helferinnen und Helfern die von ihnen bitter benötigte Hilfe zukommen zu lassen?
Einige Schilderungen Betroffener aus diesen Seminaren haben Eingang in dieses Buch gefunden und führen uns menschliches Leid, unsägliche Verzweiflung aber auch uneigennützige Hilfe ohne viele Worte vor Augen und machen uns auch heute noch betroffen. Diese Schilderungen sind zeitlos, weil menschliches Leid und menschliche Größe bei Hilfe und Unterstützung ebenfalls zeitlos sind. Mögen diese Berichte uns daran erinnern, dass unsere scheinbar heile Welt sehr schnell Schaden nehmen kann und wir dann selbst Opfer, Angehörige oder Helfer sein können und Hilfe benötigen werden und auch geben können.
Dieses Buch ist sicher keine leichte Lektüre aber es kann die Leserinnen und Leser zu Gedanken anregen, welche Rolle Menschlichkeit ohne Wenn und Aber in unserem Leben spielt.
Prof. Dr. Eberhard Kühne
Emeritus Hochschule der Sächsischen Polizei (FH)
Rothenburg/Oberlausitz
GELEITWORT
KAMPF GEGEN DAS VERBRECHEN IM VEREINTEN BERLIN
ZUSAMMENWACHSEN DER POLIZEIDIENSTSTELLEN
KEINE REINEN OST-BZW. WESTDIENSTSTELLEN
UNRUHIGE ZEITEN
IM LAGEZENTRUM DER POLIZEI
EIN FELDTELEFON
BESUCH AUS OSTBERLIN
DER BRAND IM HOCHREGALLAGER NEUKÖLLN IM MÄRZ 1991
ZWEI TOTE FEUERWEHRLEUTE
DER AUSBRUCH DES FEUERS
WIE HATTE ES ZU DIESER KATASTROPHE KOMMEN KÖNNEN?
BRAND - AUSGELÖST IN KAKAOSÄCKEN?
BETREUUNG DER OPFER
DER SCHWERE GANG DER BENACHRICHTIGUNG
VOM UMGANG MIT OPFERN
EIN UNGLAUBLICHES GESCHEHEN
SKINHEADS ALS TÄTER?
IN DER KEITHSTRAßE
EIN TOTES BABY WIRD GEFUNDEN
EINEN TAG SPÄTER
ZIGARETTENMAFIA UND BANDENKRIEG
SECHS TOTE VIETNAMESEN IN MARZAHN
WIE WAR DIE LAGE ZU BERUHIGEN?
DIE HEUCHLER
EIN VERSCHWUNDENES MÄDCHEN
ZEUGE ODER TÄTER?
DAS GESTÄNDNIS
DER FALL IN DER ÖFFENTLICHKEIT
BESONDERHEITEN DIESES FALLES
DIE POLIZEILICHE BEARBEITUNG VON KINDESMISSHANDLUNGEN
DER SEXUELLE MISSBRAUCH VON KINDERN
POLIZEISTRUKTUREN WERDEN ANGEPASST
„
WER AUF DÜNNEM EISE RETTET, KANN SELBST EINBRECHEN“
MISSBRAUCH UND HILFE
DOPPELMORD IN DER SILVESTERNACHT
WAS WAR GESCHEHEN?
WAS KANN MAN DENN JETZT NOCH TUN?
DIE IDEE VON DER NOTFALLSEELSORGE
AUFWARTUNG UND TROST?
VON DER ROLLE?
TÄTER UND OPFER ZUGLEICH
VOR UNLÖSBAREN KONFLIKTEN
„
VON DA AN WAR ALLES GANZ ANDERS FÜR MICH“
WAS KANN NOTFALLSEELSORGE LEISTEN?
MANCHE FÄLLE VERGISST MAN NIE …
DAS FENSTER ZUM FLUR
TOD AM PLANUFER
DREIFACHMORD IN EINER KREUZBERGER STRAßE
TOTE NACH SPRENGSTOFFANSCHLAG
„L
EBT ER NOCH?“
NACHDENKEN ÜBER DEN UMGANG MIT OPFERN, SCHULD UND SCHMERZ
DIE „ALTEN HASEN“ UND DIE NEUEN COMPUTER
WIRKSAME HILFE FÜR OPFER, ANGEHÖRIGE UND HELFER – ABER WIE?
ERINNERN WIR UNS?!
DER BEGINN DER KATASTROPHENSCHUTZ- SEMINARE
DIE RAMSTEIN- KATASTROPHE
DAS INFERNO
AUS KATASTROPHEN LERNEN
DER BEGINN DER KATASTROPHENSCHUTZSEMINARE IN BERLIN
DER EINSATZLEITER DER RAMSTEIN- KATASTROPHE
WAS IST DIE IDKO UND WAS TUT SIE?
DIE IDENTIFIZIERUNGSMETHODEN
VORLIEGEN EINER ZWEIFELSFREIEN IDENTIFIZIERUNG
DIE IDKO ALS INTERDISZIPLINÄRES TEAM
INFORMATIONEN FÜR VERMISSENDE UND HINTERBLIEBENE
DIE ARBEIT DER IDKO NACH DEM ABSTURZ EINES FLUGZEUGES DER LAUDA
AIR
DREI MÄNNER DER IDKO IN BERLIN
„
GOING DOWN, GOING DOWN“ AM 4. OKTOBER 1992
DER LETZTE KAMPF DER BESATZUNG
„W
OLLEN SIE NACH AMSTERDAM FLIEGEN?“
PROFESSIONELLE HILFE FÜR DIE HELFER ANBIETEN
DAS ZUGUNGLÜCK VON ESCHEDE
EIN BILD DES GRAUENS UND DER VERWÜSTUNG
PSYCHOLOGISCHE HILFELEISTUNG
OFFIZIELLES HANDELN UND PERSÖNLICHE BETROFFENHEIT DER HINTERBLIEBENEN
DIE TRAUERFEIER IN CELLE
DAS WIRKEN HEINRICH LÖWENS
DIE KATASTROPHENSCHUTZSEMINARE UND IHRE UNTERSTÜTZER
DIE REAKTORKATASTROPHE VON TSCHERNOBYL AM
26. APRIL 1986
TSCHERNOBYL-GESCHÄDIGTE KINDER
HILFE FÜR DIE SCHWÄCHSTEN
EIN KREBSKRANKES KIND AUS MINSK
MENSCHLICH OHNE WENN UND ABER
DIE GLETSCHERBAHNKATASTROPHE VON KAPRUN AM 11. NOVEMBER 2000
DAS GESCHEHEN IM TUNNEL
TRAGIK FÜR DIE OPFER UND DIE EINSATZKRÄFTE
DER BERICHT VON OBERST LANG
DER FAMILIEN- UND PAARTHERAPEUT PETER FÄSSLER- WEIBER AUS WINTERTHUR
KANN MAN LERNEN, KATASTROPHEN ZU MANAGEN?
DIE GASEXPLOSION IN DER LEPSIUSSTRAßE
DER ANSCHLAG AUF DIE DISKOTHEK LA BELLE AM 4. APRIL 1986
VON 1986 BIS 1998, WAS HAT SICH VERÄNDERT?
KATASTROPHENSCHUTZ 1986
KATASTROPHENSCHUTZ 1998
MEDIENKONTAKTE
ANGEHÖRIGE UND NOTFALLSEELSORGER
BESICHTIGUNG EINES VERSTORBENEN
MEIN PERSÖNLICHES FAZIT
NACHWORT
Das Jahr 1990 war im vollen Gange und noch immer hallten nicht nur bei den Berlinern die Worte des Altbundeskanzlers Willi Brandt :„Es wächst zusammen, was zu zusammengehört“ in den Ohren nach, sondern auch die des Bundeskanzlers Helmut Kohl, der am 1.Juli 1990 in seiner Fernsehansprache zur Einführung der Währungs-Wirtschafs- und Sozialunion zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik, dass es uns „durch eine gemeinsame Anstrengung gelingen wird, Mecklenburg- Vorpommern und Sachsen- Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“
In Berlin feierten die Menschen wie vermutlich sonst nirgendwo die deutsche Einheit und entdeckten Freiräume, an die sie bis vor wenigen Wochen nicht einmal im Traum zu hoffen gewagt hatten und vergaßen schon das ein ums andere Mal, dass friedliches Miteinander durchaus auch anders aussehen könnte.
Sie erfuhren, wer aus ihrer unmittelbaren Nähe ein Zuarbeiter für die Stasi gewesen ist und wollten nach der Einführung der D-Mark am 1.Juli 1990 in der DDR schon gar nicht vergeben und vergessen, was vielen von ihnen in den Jahren zuvor angetan worden war. Nicht zuletzt deshalb stürmten viele von ihnen die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin, entfernten an Papieren, was ihnen unter die Finger kam und ließen dieses unwirklich erscheinende Gebäude im Schnee der vielen beschrifteten Streifen, die durch das gesamte Haus flatterten, nahezu harmlos aussehen.
Und was das ‚Zusammenwachsen, was zusammengehört‘, anbelangte, wussten eigentlich alle, die ein wenig auf ihren Verstand hörten, dass es dauern würde, eigentlich auch dauernd müsste, weil zwei so unterschiedliche Systeme in Deutschland ein eigenes und nahezu völlig anderes Leben geführt hatten.
Dann aber kam der 30. November 1990, der Tag, an dem der Abriss der Berliner Mauer offiziell beendet wurde und das ging dann wohl so: Gegen 10.40 Uhr entfernte ein Bagger zwischen den Stadtteilen Pankow und Reinickendorf das letzte Stück Mauer. Und von diesem Tag an stand innerhalb des Stadtgebietes Berlin kein Segment des Betons mehr, den die DDR am 13. August 1961 hatte errichten lassen. 28 Jahre hatte die Mauer nicht nur die Berliner, vor allem aber sie voneinander getrennt. Um aber der Wahrheit die Ehre zu geben: Übrig blieben schon noch einige Mauerreste von der damals so viele Kilometer langen innerstädtischen Grenze, um diese aus künstlerischen bzw. denkmalpflegerischen Gründen zu erhalten. Und in schmerzlicher Erinnerung blieben vor allem die vielen Menschen, die ums Leben gekommen waren, als sie den Versuch unternahmen, von Ost- nach West-Berlin zu gelangen.
Der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der Machtstrukturen im Osten Europas und der damit einhergehende Fall der Mauer veränderten vor allem die Kriminalitätssituation der geteilten Stadt Berlin grundlegend. West-Berlin war aufgrund seiner Insellage bis zur Wende ein überwiegend geschlossener Kriminalitätsraum, der weder durch den Ostteil der Stadt noch dem von Berlinern so genannten Westdeutschland nennenswert beeinflusst worden, was nicht zuletzt damit zusammenhing, dass die Mauer die Mobilität der Täter erheblich einschränkte.
Dann aber schlugen Gruppen unterschiedlicher Nationalität zu, die zuvor mit dem Westen Berlins nicht so viel am Hut gehabt hatten.
Für die Mordkommissionen, anders als für die Dienststellen, die die Organisierte Kriminalität zu bearbeiten hatte, ergaben sich Vorgehensweisen, die bei weitem das an Gewalt überschritten, was die Westberliner bisher kennengelernt hatten und das war, um es einmal so auszudrücken, auch nicht gerade wenig.
Für das Referat „Delikte am Menschen“ waren es jetzt die bislang in Ostberlin lebenden vietnamesischen Staatsbürger, die noch vor dem Mauerfall aufgrund damalig abgeschlossener Verträge zwischen der DDR und Vietnam zu einem Fremdarbeiter-Status führten.
Hervorgerufen durch die Wende liefen die ehemals geschlossenen Beschäftigungsverträge aus, was große Arbeitslosigkeit unter den Vietnamesen auslöste und zudem das Damokles-Schwert einer drohenden Ausweisung über ihnen schweben ließ. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Situation suchten sie sich Betätigungsfelder, deren finanzielle Anreize vor allem in den straff organisierten Schmuggel- und Verkaufsringen für unversteuerte Zigaretten zu finden waren.
Was die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Polizeidienststellen aus West und Ost anbelangte, war es der klugen politischen Führung West-Berlins, aber auch die der Berliner Polizei dieses Stadtbereiches zu verdanken, dass es trotz der vielen Bedenken, die u.a. darin bestanden, dass ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zunächst offiziell aus ihrem Ministerium ausgeschieden, aber auf recht dubiosen Wegen bei der Berliner Volkspolizei wieder eingestellt und den Westberlinern als deren Mitarbeiter „angeboten“ worden waren.
Die zunächst als Probanden Übernommenen durften, soweit ihnen das möglich war, im Ostteil Berlins ihre eigenen Akten selbst bereinigen und das schwärzen, was sie belastete. Deshalb war in dieser Zeit schnelles und pragmatisches Handeln angesagt, um Unheil für die Zukunft so weit wie irgend möglich auszuschließen.
Dass sich diese Eingliederung dennoch auf professionelle Art und Weise vollziehen konnte, war vor allem dem Leitenden Polizeibeamten der Schutzpolizei Si. zu verdanken, der als Leiter der Schulabteilung in West-Berlin gemeinsam mit seinen engagierten Kolleginnen und Kollegen ein Konzept zur Aus- und Fortbildung des personellen Zuwachses entwickelte und zugleich auch erfolgreich umsetzte.
Was die Kriminalpolizei anbelangte hatte diese von Anfang an darauf verzichtet, reine Ost- oder Westdienststellen zu etablieren, was sich nur wenige Wochen später als eine sehr weise Entscheidung herausstellte. Dennoch war nicht zu verhindern, dass Dienststellen, die man über die Großstadt zu verteilen hatte, immer wieder umstrukturiert werden mussten, weil viele der Neuzugänge aus Ostberlin von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt wurden und zu Recht entlassen werden mussten.
Hinzu kam, dass sich aus der allgemeinen Kriminalitätslageentwicklung Probleme ergaben, die erst nach und nach abgebaut werden konnten. Ein Mammutprogramm, das für Außenstehende kaum nachzuvollziehen war, aber zumindest kurz angerissen werden muss, weil derartige Details, die die Stadt so veränderten, in Vergessenheit zu geraten scheinen.
Im jetzt so riesigen Berlin entstand urplötzlich eine Sogwirkung. Wirtschaftskriminelle aller Couleur, neue Formen ethnisch abgeschotteter Banden bei Eigentumsdelikten, bei Kraftfahrzeugverschiebungen, des Falschgeldabsatzes und natürlich des Zigarettenschmuggels tummelten sich jetzt in dieser Stadt. Es etablierten sich Verbrecher, denen es in einigen Bereichen nicht schwerfiel, Menschen, die ihren Vorstellungen entgegenstanden, auf recht spektakuläre Weise zu beseitigen, wie noch zu berichten sein wird.
Polizeireviere wurden aufgelöst und in Abschnitte umgewandelt, die bisherigen Kriminalinspektionen in örtliche Polizeidirektionen bzw. in Inspektionen zusammengefasst und der Rückzug der Kriminalpolizei aus der Fläche wurde durch kriminalpolizeiliche Sofortdienste, wie es der damalige Landeskriminaldirektor H. beschrieb, kompensiert.
Hartmut Brandes und Klaus Berger hatten sich zu Beginn des Jahres 1990 gerade in der Keithstraße und dort in der Brandinspektion „eingelebt“, als Hartmut Brandes die Nachricht des Landeskriminaldirektors erreichte, auf Klaus Berger für mindestens ein halbes Jahr verzichten zu müssen, da er mit seiner Qualifikation dringend im Lagezentrum des Polizeipräsidenten am Platz der Luftbrücke benötigt werde.
Alle Argumente Hartmut Brandes, ihn gerade hier so dringend zu benötigen, ließ der LKA-Chef nicht gelten und wies ihn an, Berger innerhalb der nächsten 10 Tage zu entsenden.
Alle waren sich der Aufgabe, im Lagezentrum der Polizei arbeiten zu können, sehr wohl bewusst, zumal sie wussten, dass gerade die über die Notrufnummer 110 eingehenden Anrufe schnell und professionell bearbeitet werden mussten, um den Bedürfnissen der Anrufenden nachkommen zu können.
Rund um die Uhr ist dieses Lagezentrum besetzt, so dass es sich niemand in dieser Stadt leisten konnte, eine Stelle an diesem so brisanten Ort über einen längeren Zeitraum unbesetzt zu lassen.
Also bereitete sich Klaus Berger, der es sich gerade so richtig „gemütlich“ machen und mit seinen neuen Kollegen „plaudern“ wollte, schon mal auf den neuen Job vor und begann, sich auf die neue Aufgabe, die in nur wenigen Tage auf ihn zukommen sollte, schon mal in Gedanken vorzubereiten.
Er wusste aus seinen jahrelangen Erfahrungen innerhalb der Berliner Polizei, dass er dort als Kriminalbeamter gemeinsam mit drei Kollegen der Schutzpolizei, Leiter war ein Polizeidirektor der „Uniformierten“, sich Tage, vor allem aber die Nächte „um die Ohren schlagen“ musste.
Der Abschied von seiner gerade erst so positiv angelaufenen Dienststelle verlief für ihn ein wenig wehmütig. Da er aber wusste, dass sein Stellvertreter dieses halbe Jahr ganz sicher gut überbrücken würde, hielt sich sein „Kummer“ in Grenzen. Ohne viel Tamtam packte Berger seine „sieben Sachen“ und meldete sich, wie vorgegeben, wenige Tage später im Lagezentrum am Platz der Luftbrücke.
Die Kollegen dort begrüßten ihn mit einem freundlichen „Hallo“, schließlich war er kein Unbekannter in der Polizei. Man wies ihm einen Platz zu, wo er sich einer Menge technischer Geräte gegenübersah, mit denen er sich erst einmal vertraut machen musste.
Zu seinem Erstaunen befand sich (es war Anfang 1990) in einer Ecke, nicht gerade als repräsentabler Platz anzusehen, ein sogenanntes Feldtelefon mit Kurbel, wie es die deutschen Soldaten im 2. Weltkrieg benutzt hatten und die Bundeswehr wohl in abgeänderter Form auch heute in ihren Einsätzen verwendet. Auf seine Frage, welche Bedeutung dieses altmodische Gerät denn gerade in diesem modernen Lagezentrum hätte, erfolgte eine kaum glaubliche Geschichte, die ihm der Polizeidirektor offerierte:
„Dieses altmodische Telefon ist die direkte Verbindung zum Polizeipräsidium in Ostberlin. Wenn Du die Kurbel mehrmals gedreht hast, meldet sich am anderen Ende nicht etwa eine Person mit Namen, sondern eine Stimme, die eine vierstellige Nummer durchgibt und darauf wartet, dass Du eine wichtige Mitteilung für die Polizei in Ostberlin hast, die der sofortigen Erledigung bedarf.
Hast Du Deine Meldung durchgegeben, antwortet Dir niemand, dass man Dich verstanden hat und alles erledigen würde, sondern der „Teilnehmer“ legt einfach auf. Rückfragen haben keinen Zweck. Du musst davon ausgehen, dass die jetzt in Ostberlin kurbeln und ihrer Arbeit nachgehen werden. Du erfährst aus Ostberlin auch nie, ob alles geklappt hat und was aus dem Fall geworden ist. Du hast Meldung auf diese altmodische Art und Weise gemacht und die Polizei hinter der Mauer wird ihre Aufgabe die notwendig ist, hoffentlich erledigen.“
Berger fand das alles als sehr merkwürdig, aber so waren nun mal die Gegebenheiten in diesem geteilten Berlin.
Namen der Polizeiangehörigen aus dem anderen Teil der Stadt wurden nie genannt, womit der Westen keine Schwierigkeiten hatte und so auch in dem Fall, den Klaus Berger nach vier Tagen des Schichtdienstes auf diese Weise weiterleiten musste.
Zunächst aber war wichtig für ihn zu erfahren, wie dieses altmodische Telefon denn auch zur Verbindung nach Ostberlin wurde, mit der brisante Tatabfolgen durchgegeben werden konnten.
Früher, noch Jahre vor dem Mauerbau, erinnerte er sich, bekam man in der Friesenstraße im Bezirk Kreuzberg auf der dortigen Polizeiwache einen Anruf aus dem Osten, aus der hervorging, dass etwas Wichtiges mit den Westlern zu besprechen sei. Wie unschwer zu erkennen, handelte es sich um einen Telefonanruf der Polizei aus Ostberlin.
Angekurbelt wurde es zwischen dem in Ostberlin agierenden Polizeipräsidenten Paul Markgraf und in Westberlin über Polizeipräsident Johannes Stumm. Die beiden telefonierten miteinander und ließen ihre Kriminalbeamten einen Treffpunkt abmachen.
Die verabredeten einen Treffpunkt an der Friedrichstraße, man traf sich dort im Bezirk Kreuzberg am Schlagbaum, der Ost und West trennte, gab sich als die Polizei aus dem jeweils anderen Stadtteil zu erkennen und besprach das Delikt, das sofort, weil beispielsweise Mord, bearbeitete werden müsste, und zwar in beiden Stadtteilen. Diese Art der Kommunikation, die noch bis kurz vor dem Mauerbau im Jahre 1961 Bestand hatte, war jedoch längst passe´ und Gesichter sah man deshalb auch lange nicht mehr.
Nun aber zum Feldtelefon, von dem ihm seine Kollegen nahezu gemeinsam berichteten:
„Das Kabel dieses Gerätes wurde aus dem Polizeipräsidium raus zur nächsten U-Bahnstation, dem „Platz der Luftbrücke“ verlegt. Von dieser Station aus konnte man den Weg des Kabels bis nach Ostberlin und dort zum Alexanderplatz, ebenfalls eine U-Bahnstation, verfolgen. Das Kabel führte anschließend in die Keibelstraße, dem dortigen Hauptsitz der Ostberliner Polizei.
So einfach war das. Insgesamt runde 6 Kilometer verlegtes Kabel. Das hätte man sicher auch besser und einfacher gestalten können. Aber so war es nun mal. Berger konnte nur den Kopf schütteln, wobei die Kollegen, die das lange hinter sich hatten, seine Reaktion vollauf verstehen konnten.
Jetzt aber zu dem Fall, der für Berger Aktualität hatte:
Ein besorgter Angehöriger aus West-Berlin war im Lagezentrum aufgetaucht und hatte zunächst an der Wache, anschließend direkt im Lagezentrum erklärt, dass er auf Umwegen erfahren habe, dass sich ein nächster Angehöriger im Bezirk Prenzlauer Berg (Ostberlin) umbringen wolle. Dies müsste, so seine Hoffnung, doch durch einen gemeinsamen Einsatz der unterschiedlichen Polizeidienststellen in West und Ost zu verhindern sein.
Normalerweise die einfachste Nebensache der Welt, dachte Berger, konnte diesem besorgten Mann allerdings nicht erklären, dass er sich jetzt gleich an sein Feldtelefon setzen und diese Meldung absetzen würde. Er entließ ihn aber mit der Beruhigung, alles zu unternehmen, um den Tod eines nahen Angehörigen soweit es ihm möglich war, zu verhindern.
Der Anzeigende hatte halbwegs zuversichtlich das Lagezentrum verlassen, als auch Berger schon wie besessen an der Kurbel des Feldtelefons drehte. Es dauerte tatsächlich nur Sekunden, bis sich eine Stimme meldete, die nichts weiter als eine vierstellige Nummer von sich gab, danach Schweigen. Berger redete deshalb drauf los, sagte seinen Namen, seinen Dienstgrad und seine Dienststelle und bat darum, der Anzeige durch einen Westberliner in Ostberlin nachzugehen. Als er fertig war, hörte er nichts mehr. Nichts, was ihn misstrauisch hätte machen können. Nichts, einfach nichts. Der „Teilnehmer“ hatte einfach aufgelegt.
Die Kollegen beruhigten den jetzt ein wenig aufgebrachten Berger und erläuterten ihm, dass er sich keine Sorgen machen solle, es würde jetzt alles vernünftig ablaufen. Das waren schließlich ihre Erfahrungen aus wochenlanger „Zusammenarbeit“.
Auf die Frage Bergers, ob das Feldtelefon auch von Ost nach West funktionierte, sah er nur ein Achselzucken seiner Kollegen. Angerufen hatte sie in all den Jahren, in denen das Feldtelefon nun schon angeschlossen war, niemand aus Ostberlin. Also einmal mehr eine einseitige Informationsschiene.
Die Tage gingen ins Land und so langsam hatte sich Klaus Berger in den Schichtdienst seines neuen Arbeitsplatzes gewöhnt und beinahe hätte er den Anzeigenden vergessen, der vor einigen Wochen vor ihm gestanden und Hilfe für einen Angehörigen in Ostberlin gesucht hatte.
Dann aber kam bei Berger die Erinnerung wieder, als der Mann auch schon voller Freude erzählte, dass der Einsatz aller Verantwortlichen in West und Ost dazu beigetragen hatten, dem Verwandten vom Prenzlauer Berg das Leben zu retten. Mehr noch, die Ostberliner hatten den Mann zunächst einmal Ärzten übergeben, die sich seiner angenommen und ihn über einen längeren Zeitraum betreut hatten. Jetzt ging es ihm gut und die Phase der Depression war augenscheinlich vorbei.
Natürlich freute sich Berger, dass trotz der etwas seltsamen Kommunikation zwischen Ost- und Westpolizei alles so gut geklappt hatte, bedanke sich erst recht bei dem Mann, der ihm diese Mitteilung gemacht hatte und brachte den noch immer freudig erregten Mann runter zur Wache, wo er ihn in dem Trubel des dort herrschenden Verkehrs zwar aus dem Auge, nicht aber aus dem Gedächtnis verlor.
Vielleicht lag der Grund für den einst deprimierten Verwandten in Prenzlauer Berg auch darin begründet, dass die Mauer gefallen und damit einhergehend auch Depressionen und Niedergeschlagenheiten bei vielen Berlinern in beiden Teilen der Stadt einen anderen Weg gefunden hatten.
Besuch aus Ostberlin
Der Mauerfall zeigte nicht nur auf den Dienststellen in Westberlin, sondern auch in den Lagediensten der Stadt und erst recht im Lagezentrum am Platz der Luftbrücke seine Wirkung.
Dann, es war bereits Juli 1990, als Berger morgens seinen Dienst antrat und die Kollegen der Nachtschicht nach Hause gehen konnten, als das Zentrum durch eine ungewohnte Anzahl an Männern besucht wurde, die sich zuvor an der Wache als „Kollegen aus Ostberlin“ angemeldet hatten und mit den Angehörigen des Lagezentrums sprechen wollten. Sieben Majore und Oberste traten, nachdem der Wachposten seine Erklärungen abgegeben hatte, in die Räumlichkeiten ein. Ein wenig überrascht bot ihnen der Schichtleiter Sommer einige Plätze an und ließ für die übrigen Männer Stühle aus einem anderen Büro herbeischaffen. Dann ließ er sich die Ausweise zeigen, die Dienstgrade kurz erläutern und entschuldigte sich für ein paar Minuten, um den Polizeipräsidenten von dem unverhofften Besuch in Kenntnis zu setzen.
Der machte auch kein großes Aufsehen ob dieses Besuches und überließ dem Schichtleiter die Gesprächsführung mit diesen Polizeibeamten. Er selbst wollte dort nicht erscheinen, letztlich hatte er andere Verpflichtungen, die ihn in Kürze in Anspruch nehmen würden. Er bat nur noch darum, nach dem Ende des Besuches unterrichtet zu werden.
So kam der Schichtleiter wieder zurück und wunderte sich über das Stimmengewirr in seinen Diensträumen, die ansonsten eher von ruhigen Tönen geprägt waren. Berger befand sich in einem intensiven Gespräch mit einem Major, wie sich gleich herausstellte, der einer der Ansprechpartner am anderen Ende des Feldtelefons gewesen war. Der jetzt mit einem Namen versehene Mann war vor zwei, drei Wochen noch die Nummer 3761, die den Anruf von Berger entgegengenommen und die weiteren Maßnahmen zur Rettung des Mannes vom Prenzlauer Berg eingeleitet hatte.
„Schön, dass ich jetzt auch mal ein Gesicht dieser Nummer zuordnen und den Mann kennenlernen kann, mit dem ich vermutlich über das Feldtelefon kommuniziert habe und das möglicherweise in nur wenigen Tagen in der Polizeihistorische Sammlung in unserem Präsidium landen wird“.
Was der Besuch so vieler Polizeibeamter des Höheren Dienstes aus Ostberlin letztlich bezwecken sollte, war erst so nach und nach aus deren Gesprächen zu entnehmen. Es sah so aus, als wollten sie sich schon mal in die Startlöcher begeben, sollten bei einer fortschreitenden Wiedervereinigung auch Polizisten mit einem Hochschulstudium aus dem Osten der Stadt benötigt werden.
Alle Anwesenden ließen diese Vorstellungen erst einmal so im Raum stehen, schrieben sich Namen und Dienstgrade der Männer auf und brachten sie dann wieder zur Wache, wo man ihnen erklärte, dass man zu gegebener Zeit ganz sicher wieder voneinander hören werde.
Polizeidirektor Sommer suchte nach diesem Besuch den Polizeipräsidenten auf, dem er die Situation kurz schilderte, ansonsten aber bei ihm auch nicht gerade auf besonderes Interesse stieß, da er mit seinem unmittelbaren Stab einige weitreichende und andere Entscheidungen zu treffen hatte. Dennoch bedankte er sich, höflich wie immer, bei seinem Kollegen, dann war die Sache „gegessen.“
Für Klaus Berger war die Anwesenheit im Lagezentrum mittlerweile zu einem Hit geworden. Stündlich, manchmal auch im Minutentakt, hagelten die neuesten Informationen dieser aufgewirbelten Stadt Berlin auf den Tisch des Schichtleiters, der sie zuständigkeitshalber den Kollegen der Schutzpolizei bzw. der Kripo zuwies und um alsbaldige Erledigung bat.
Es war schon ein gewaltiges Pensum, was an Erledigungen, Erkundigungen und Umsetzungen der eingegangenen Berichte durchgeführt werden musste, aber es machte allen anwesenden Kollegen, so dachte Berger ein ums andere Mal, auch richtigen Spaß. Und was das Tollste daran für ihn war, dass sie die brisantesten Fälle, seien es Verkehrsunfälle von gravierender Bedeutung für Mensch und Material oder aber Brand, Raub- Mord und Sexualdelikte u.a.m. nahezu als erste in der Polizei auf den Tisch bekamen. Dieses Team war es, dass die zuständigen Dienststellen davon in Kenntnis setzten und deren Mitarbeiter bat bzw. anwies, sich jetzt mal auf die „Socken zu machen“ (in Berlin bedeutete das, sich zu beeilen) und dem Lagezentrum mit einer schnellen Rückmeldung über das Erreichte zu informieren.
Klaus Berger hatte die Zeit von einigen Wochen beim Lagezentrum längst überschritten und niemand, weder die Kollegen dieser Dienststelle noch der Landeskriminaldirektor dachten daran, ihn wieder abzuziehen und ihn in die Keithstraße zum dortigen Brandkommissariat zurückzuschicken. Berger selbst drängte es jetzt, nachdem er sich an den Schichtdienst und die neue interessante Tätigkeit gewöhnt und sogar Spaß daran gefunden hatte, auch nicht mehr so sehr, wieder zurückzukehren.
Nachdem aus den Wochen beim Lagezentrum jetzt schon Monate geworden waren, erreichte dieses Team am 18. März 1991 die Mitteilung von einem Großbrand eines Hochregallagers in Berlin- Neukölln, das, so wurde vermutet, durch einen Brand in den dort lagernden Kakaosäcken entstanden sein könnte.
Da Berger um die mitunter langen Leitungen innerhalb der Behörden wusste, rief er seinen alten Kumpel Hartmut Brandes in der Keithstraße an und teilte ihm schon mal vorab mit, dass da einiges an Arbeit auf ihn und seine Kollegen zukommen könnte.
Als Hartmut Brandes sich sofort ans Telefon setzte, einen Teil seiner Kollegen aus den Brandkommissariaten zu sich ins Inspektionsbüro beorderte, kamen Horrormeldungen heraus, die schlimmer kaum hätten sein können.
Die Feuerwehr, die mit zahlreichem Personal und diversen Löschgeräten im Einsatz war, hatte dabei zwei Kollegen verloren, die unter noch nicht geklärten Umständen beim Löschen ihr Leben verloren hatten.
Hartmut Brandes telefonierte deshalb als nächstes mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr Anton Bremer, der ihm leider bestätigen musste, dass es tatsächlich zu einem Unglück gekommen war und bat Brandes, doch persönlich zum Einsatzort zu kommen, was er auch sofort zusagte. Nachdem in der Runde der anwesenden Kommissionsmitglieder das Nötigste besprochen wurde, begann die kurze Einweisung seiner eignen Leute und dann ging es ab zur noch immer in Flammen stehenden Lagerhalle.
Dort eingetroffen, stießen sie auf konsternierte Feuerwehrleute und Anton Bremer, der seine Erleichterung, jetzt Brandes vor sich zu haben, nicht verbergen konnte und auch gar nicht wollte.