Kampf um das Erbe - J. S. Fletcher - E-Book

Kampf um das Erbe E-Book

J.S. Fletcher

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Beschreibung

Als der wohlhabende Bauunternehmer Jacob Herapath tot in seinem Büro gefunden wird, mit einem Revolver an seiner Seite und einer Schusswunde im Kopf, wird der Zeitpunkt seines Todes auf Mitternacht festgelegt. Bemerkenswert nur, dass sein Fahrer ihn eine Stunde nach Mitternacht noch lebend gesehen haben will. Ein alter Familienskandal, ein zwielichtiger ehemaliger Sekretär und ein angeblich gefälschtes Testament bilden die Grundlage für dieses mörderische Puzzle um das Herapath Erbe. Null Papier Verlag

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J. S. Fletcher

Kampf um das Erbe

Kriminalroman

J. S. Fletcher

Kampf um das Erbe

Kriminalroman

(The Herapath Property)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Hans Barbeck EV: Delta-Verlag, Berlin, 1930 (233 S.) 2. Auflage, ISBN 978-3-962815-58-5

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

Zu­sam­men­fas­sung

1. Ka­pi­tel – Ver­misst.

2. Ka­pi­tel – Mord?

3. Ka­pi­tel – Bar­thor­pe über­nimmt die Lei­tung.

4. Ka­pi­tel – Der Be­richt­er­stat­ter.

5. Ka­pi­tel – Das Glas und das Brot.

6. Ka­pi­tel – Der Chauf­feur.

7. Ka­pi­tel – Das Te­sta­ment.

8. Ka­pi­tel – Der zwei­te Zeu­ge.

9. Ka­pi­tel – Ein Di­plo­mat.

10. Ka­pi­tel – Mr. Ben­ja­min Half­pen­ny.

11. Ka­pi­tel – Schat­ten.

12. Ka­pi­tel – Zehn Pro­zent.

13. Ka­pi­tel – Ver­tagt.

14. Ka­pi­tel – Das schot­ti­sche Ur­teil.

15. Ka­pi­tel – Jun­ge Kräf­te.

16. Ka­pi­tel – Na­men­lo­se Furcht.

17. Ka­pi­tel – Das Ge­setz.

18. Ka­pi­tel – Der Ro­sen­holz­kas­ten.

19. Ka­pi­tel – Das Netz zieht sich zu­sam­men.

20. Ka­pi­tel – Der Dia­mant­ring.

21. Ka­pi­tel – Die ver­las­se­ne Woh­nung.

22. Ka­pi­tel – Ja und Nein.

23. Ka­pi­tel – Eine Fäl­schung.

24. Ka­pi­tel – Hand­schel­len.

25. Ka­pi­tel – Un­ter Mor­dan­kla­ge.

26. Ka­pi­tel – Im Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis.

27. Ka­pi­tel – Der letz­te Scheck.

28. Ka­pi­tel – Ho­tel Ra­ven­na.

29. Ka­pi­tel – Der Zet­tel in dem Ge­bet­buch.

30. Ka­pi­tel – Die frem­de Dame.

31. Ka­pi­tel – Das un­ter­bro­che­ne Abendes­sen.

32. Ka­pi­tel – Ein Yorks­hi­re-Sprich­wort.

33. Ka­pi­tel – Burchill tritt auf.

34. Ka­pi­tel – In­spek­tor Da­vid­ges Trumpf­kar­te.

35. Ka­pi­tel – Der Haft­be­fehl.

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Zusammenfassung

Als der wohl­ha­ben­de Bau­un­ter­neh­mer Ja­cob He­ra­path tot in sei­nem Büro ge­fun­den wird, mit ei­nem Re­vol­ver an sei­ner Sei­te und ei­ner Schuss­wun­de im Kopf, wird der Zeit­punkt sei­nes To­des auf Mit­ter­nacht fest­ge­legt. Be­mer­kens­wert nur, dass sein Fah­rer ihn eine Stun­de nach Mit­ter­nacht noch le­bend ge­se­hen ha­ben will.

Ein al­ter Fa­mi­li­ens­kan­dal, ein zwie­lich­ti­ger ehe­ma­li­ger Se­kre­tär und ein an­geb­lich ge­fälsch­tes Te­sta­ment bil­den die Grund­la­ge für die­ses mör­de­ri­sche Puzz­le um das He­ra­path Erbe.

1. Kapitel

Vermisst.

Mr. Sel­wood war nun seit drei Wo­chen Se­kre­tär bei dem be­kann­ten Par­la­men­ta­ri­er Ja­cob He­ra­path, der als Jung­ge­sel­le eins der vor­nehms­ten Häu­ser am Port­man Squa­re be­wohn­te. Mr. He­ra­path war be­kannt we­gen sei­ner Ar­beit in der so­zia­len Für­sor­ge. Er hat­te eine große Zahl mo­der­ner Wohn­häu­ser er­baut, die in je­der Be­zie­hung als Vor­bild die­nen konn­ten, was Lüf­tung, Hei­zung, Be­leuch­tung und alle sons­ti­gen sa­ni­tär­en Ein­rich­tun­gen be­traf. Als Sel­wood sei­ne Stel­lung an­trat, er­hielt er von sei­nem Chef die An­wei­sung, eine ge­eig­ne­te klei­ne Woh­nung in der Up­per Sey­mour Street zu be­zie­hen, die in der Nähe lag, da­mit er auch in der Nacht leicht zu er­rei­chen war. Ja­cob He­ra­path hat­te manch­mal ge­ra­de mit­ten in der Nacht ge­nia­le Ein­fäl­le, und er ge­hör­te zu den ak­ti­ven, ener­gi­schen Män­nern, die es lie­ben, sol­che Ein­fäl­le so­fort in al­len De­tails durch­zu­ar­bei­ten. Sel­wood war je­doch wäh­rend der ver­gan­ge­nen drei Wo­chen noch nie­mals aus sei­ner Nachtru­he ge­stört wor­den. Aber plötz­lich klin­gel­te ei­nes Mor­gens um halb acht die Te­le­fonglo­cke, als er ge­ra­de auf­ste­hen woll­te. Er nahm den Hö­rer vom Ap­pa­rat, der di­rekt ne­ben sei­nem Bett stand. Es mel­de­te sich je­doch nicht He­ra­path, son­dern der Haus­meis­ter Kit­te­ridge, des­sen Stim­me ängst­lich klang.

Plötz­lich wur­de er un­ter­bro­chen; es schi­en je­mand dicht ne­ben ihm zu ste­hen. Der An­ruf war et­was ver­wirrt, aber Sel­wood ver­stand doch so­viel, dass er so­fort zur Woh­nung her­über­kom­men soll­te. In größ­ter Eile klei­de­te er sich an und eil­te nach Port­man Squa­re. Als er dort an­kam, fand er den Haus­meis­ter und den Chauf­feur Moun­tain, der sich in al­ler Eile an­ge­klei­det hat­te, und den man al­lem An­schein nach auch eben aus dem Bett ge­holt hat­te.

»Was ist denn los, Kit­te­ridge?« frag­te Sel­wood. »Ist Mr. He­ra­path krank ge­wor­den?«

Der Haus­meis­ter schüt­tel­te den Kopf und zeig­te mit dem Dau­men nach der of­fe­nen Tür des Ar­beits­zim­mers.

»Wir wis­sen über­haupt nicht, wo er ist. Er hat nicht hier ge­schla­fen und ist auch nicht im Hau­se.«

»Vi­el­leicht ist er ges­tern gar nicht heim­ge­kom­men«, mein­te Sel­wood. »Er kann doch in sei­nem Klub oder auch in ei­nem Ho­tel ge­schla­fen ha­ben.«

Der Chauf­feur, ein klei­ner Mann mit schar­fem Blick, schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, ich habe ihn doch selbst um eins hier­her ge­fah­ren, und ich habe ge­se­hen, wie er die Tür auf­schloss und hin­ein­ging. Si­cher ist er nach Hau­se ge­kom­men!«

»Das stimmt«, pflich­te­te Kit­te­ridge bei. »Kom­men Sie mit, Mr. Sel­wood.« Er führ­te den Se­kre­tär in das Ar­beits­zim­mer und zeig­te auf einen klei­nen Ser­vier­wa­gen, der ne­ben dem großen Schreib­tisch stand. »Se­hen Sie das? Je­den Abend stel­le ich ihm dort eine Fla­sche Whis­ky, einen Si­phon mit So­da­was­ser und ei­ni­ge But­ter­bro­te und Keks hin. Er hat aus dem Gla­se ge­trun­ken, und er hat auch von dem But­ter­brot ge­ges­sen. Also muss er nach Hau­se ge­kom­men sein. Aber er ist nicht mehr hier. Der Kam­mer­die­ner Charles­worth, der ihn je­den Mor­gen Vier­tel nach sie­ben weckt, hat ihn nicht im Schlaf­zim­mer ge­fun­den.«

Sel­wood sah sich in dem Raum um. Die Vor­hän­ge wa­ren noch nicht auf­ge­zo­gen; die elek­tri­sche Kro­ne brann­te und ließ al­les in ih­rem kal­ten, kla­ren Licht her­vor­tre­ten. Er schau­te auf den Schreib­tisch, ob Mr. He­ra­path nicht einen Brief zu­rück­ge­las­sen hat­te, aber er fand nichts.

»Aber es liegt doch kein Grund vor, sich zu ängs­ti­gen, Kit­te­ridge«, mein­te er. »Mr. He­ra­path war viel­leicht ge­zwun­gen, heu­te Mor­gen ganz früh mit dem Zuge weg­zu­fah­ren.«

»Ent­schul­di­gen Sie, Mr. Sel­wood, aber das ist wohl ziem­lich aus­ge­schlos­sen. Ich hat­te selbst schon dar­an ge­dacht, aber wenn er tat­säch­lich einen Nacht­zug be­nüt­zen woll­te, hät­te er sei­nen Rei­se­man­tel, sei­nen Kof­fer und auch eine De­cke mit­ge­nom­men. Aber er hat nichts von al­le­dem an­ge­rührt. Ich bin nun schon sie­ben Jah­re hier im Hau­se und ken­ne sei­ne Ge­wohn­hei­ten ge­nau. Er hät­te mich und den Kam­mer­die­ner ge­ru­fen, da­mit wir für ihn ge­packt hät­ten. Nein, er ist be­stimmt nach Hau­se ge­kom­men und wie­der fort­ge­gan­gen, das ist das Un­ge­wöhn­li­che. So­lan­ge ich hier im Hau­se bin, ist das noch nicht pas­siert.«

»Sie ha­ben also Mr. He­ra­path um ein Uhr nach Hau­se ge­fah­ren?« wand­te sich Sel­wood an den Chauf­feur. »War er al­lein?«

»Es war nie­mand bei ihm«, ent­geg­ne­te Moun­tain. »Am bes­ten er­zäh­le ich Ih­nen al­les, was ich weiß. Gera­de als Sie ka­men, sprach ich mit dem Haus­meis­ter dar­über. Ich hol­te Mr. He­ra­path ges­tern Abend um Vier­tel nach elf vom Par­la­ment ab. Ich hielt an der ge­wöhn­li­chen Stel­le, und er stieg ge­ra­de ein, als die Uhr schlug. ›Fah­ren Sie mich zu dem Büro in der Sied­lung, ich habe dort zu tun‹, sag­te er. Ich brach­te ihn also nach Ken­sing­ton, und beim Aus­s­tei­gen mein­te er, dass er wohl in ei­ner Drei­vier­tel­stun­de fer­tig wäre. Ich war­te­te also auf mei­nem Sitz, aber es dau­er­te eine gute Stun­de. Schließ­lich kam er wie­der und sag­te nur ›Nach Hau­se‹. Und dann habe ich ihn hier­her ge­fah­ren. Als er aus­stieg, schlug es ein Uhr. Ich sag­te noch gute Nacht zu ihm und sah, wie er die Trep­pe hin­auf­stieg und auf­schloss, be­vor ich zur Ga­ra­ge fuhr. Das ist al­les, was ich weiß.«

Sel­wood wand­te sich an den Haus­meis­ter.

»Zu der Zeit war wohl nie­mand mehr auf?«

»Nein, Mr. He­ra­path sieht strikt dar­auf, dass die Haus­ord­nung ein­ge­hal­ten wird, und dass alle Leu­te um halb zwölf zur Ruhe ge­hen. Er dul­det nicht, dass je­mand von der Die­ner­schaft auf ihn war­tet. Des­halb steht je­den Abend noch ein klei­ner Im­biss im Ar­beits­zim­mer für ihn be­reit. Ge­wöhn­lich kommt er ge­gen zwölf Uhr nach Hau­se.«

»Nun ja, viel­leicht war aber doch noch je­mand wach. Ha­ben Sie schon ge­fragt, ob je­mand ge­hört hat, dass Mr. He­ra­path in der Woh­nung um­her­ging und das Haus nach­her wie­der ver­ließ?«

»Ich wer­de da­nach fra­gen«, ent­geg­ne­te Kit­te­ridge. »Aber bis jetzt hat mir noch nie­mand et­was ge­sagt, ob­wohl die Dienst­bo­ten schon wis­sen, dass Mr. He­ra­path nicht im Hau­se ist.«

In die­sem Au­gen­blick öff­ne­te sich die Tür, und eine jun­ge Dame trat her­ein.

»Ha­ben Sie Miss Wyn­ne schon ver­stän­digt?« frag­te Sel­wood den Haus­meis­ter lei­se, als er sie sah.

»Sie hat es si­cher von ih­rem Mäd­chen ge­hört. Alle spre­chen dar­über. Ich woll­te sie nicht stö­ren, be­vor sie auf­ge­stan­den war.«

Miss Wyn­ne war die Nich­te von Mr. He­ra­path, die Toch­ter sei­ner ver­stor­be­nen Schwes­ter, die er sehr ge­liebt hat­te. Er hat­te das Mäd­chen in sein Haus ge­nom­men, als sie noch ein Kind war. Aber nun zähl­te sie schon zwei­und­zwan­zig, war hübsch und hat­te cha­rak­ter­vol­le, schö­ne Züge und klu­ge Au­gen.

Sel­wood trat nä­her, um sie zu be­grü­ßen.

»Was hat dies al­les zu be­deu­ten?« frag­te sie ru­hig. »So­viel ich höre, ist mein On­kel nicht im Hau­se? Aber des­halb braucht man doch nicht den Kopf zu ver­lie­ren, Kit­te­ridge. Er hat­te si­cher et­was vor, wenn er fort­ging. Vor al­lem möch­te ich nicht ha­ben, dass die Dienst­bo­ten wei­ter dar­über spre­chen. Weiß Mr. Ter­ti­us da­von?«

»Der alte Herr ist noch nicht nach un­ten ge­kom­men.«

Auf ih­ren Wink ver­lie­ßen der Haus­meis­ter und der Chauf­feur das Zim­mer.

»Was hal­ten Sie da­von?« frag­te sie Sel­wood. Ihre Stim­me klang plötz­lich ängst­lich. »Sie kön­nen es mir auch nicht er­klä­ren?«

»Lei­der nicht. Ich ken­ne Mr. He­ra­path und sei­ne Ge­wohn­hei­ten noch nicht gut ge­nug, um mir ein Ur­teil bil­den zu kön­nen.«

»Er hat das frü­her nie ge­tan. Ich weiß zwar, dass er manch­mal mit­ten in der Nacht auf­steht und in sein Ar­beits­zim­mer geht, aber nie­mals ist er zu so spä­ter Stun­de aus­ge­gan­gen.«

Sel­wood sah nach der Tür, und sie folg­te sei­nen Bli­cken.

Ein äl­te­rer, schmäch­ti­ger Herr von klei­ner Ge­stalt war ru­hig ins Zim­mer ge­tre­ten. Er hat­te einen grau­en Bart und fei­ne Ge­sichts­zü­ge; sei­ne Au­gen wa­ren von ei­ner dunklen Bril­le be­schat­tet. Er be­weg­te sich nur lei­se und zu­rück­hal­tend und mach­te einen et­was scheu­en Ein­druck. Sel­wood be­merk­te, dass Lip­pen und Hän­de des Man­nes leicht zit­ter­ten, als er nä­her­trat.

»Mr. Ter­ti­us, wis­sen Sie et­was von On­kel Ja­cob?« frag­te Peg­gie Wyn­ne schnell. »Vo­ri­ge Nacht ist er um ein Uhr nach Hau­se ge­kom­men, und jetzt ist er ver­schwun­den. Hat er Ih­nen viel­leicht et­was ge­sagt?«

Mr. Ter­ti­us schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, mir hat er nichts ge­sagt. Sie mei­nen, er ist ver­schwun­den?!«

Er neig­te sich über das Ta­blett, das er auf­merk­sam ei­ni­ge Zeit lang be­trach­te­te.

»Das ist merk­wür­dig«, sag­te er zu Sel­wood, als er wie­der auf­schau­te. »Und doch tut er manch­mal Din­ge, ohne vor­her je­mand et­was zu sa­gen. Ha­ben Sie schon an das Büro in der Sied­lung te­le­fo­niert? Vi­el­leicht ist er dort­hin ge­gan­gen?«

Peg­gie, die sich an den Schreib­tisch ge­setzt hat­te, sprang so­fort auf.

»Das hät­ten wir schon längst tun sol­len! Te­le­fo­nie­ren Sie doch bit­te, Mr. Sel­wood. Wahr­schein­lich er­fah­ren wir dort et­was.«

Sel­wood und Miss Wyn­ne ver­lie­ßen das Zim­mer zu­sam­men. Als sie ge­gan­gen wa­ren, un­ter­such­te Mr. Ter­ti­us das Ta­blett ge­nau. Vor­sich­tig nahm er das But­ter­brot zwi­schen die Spit­zen sei­ner Fin­ger und hielt es nahe ans Licht. Nach­dem er es ein­ge­hend be­trach­tet hat­te, nahm er ein Ku­vert aus dem Pa­pier­hal­ter und leg­te das Brot vor­sich­tig hin­ein. Dann ver­ließ er den Raum schnell und ging zu sei­nem ei­ge­nen Zim­mer. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten kam er wie­der her­un­ter, und gleich nach ihm tra­ten Miss Wyn­ne und Sel­wood ein.

»Wir sol­len so­fort zur Sied­lung hin­aus­kom­men«, sag­te der Se­kre­tär ernst. »Der Ver­wal­ter woll­te uns eben an­läu­ten, als ich ihn an­rief. Es ist ir­gend et­was nicht in Ord­nung.«

2. Kapitel

Mord?

Es fiel Sel­wood spä­ter auf, dass we­der er noch Mr. Ter­ti­us sich zu­erst zum Han­deln auf­raff­ten, son­dern dass Peg­gie dem Haus­meis­ter kla­re An­ord­nun­gen gab.

»Das Auto soll so­fort vor­fah­ren, Kit­te­ridge. Brin­gen Sie rasch et­was Kaf­fee, früh­stücken kön­nen wir erst spä­ter.«

»Sie wol­len doch nicht etwa selbst hin­fah­ren?« frag­te Sel­wood.

»Aber na­tür­lich! Glau­ben Sie, ich wür­de hier war­ten, bis ich Nach­richt be­kom­me? Wir fah­ren zu­sam­men hin, und bis der Wa­gen kommt, wol­len wir schnell noch eine Tas­se Kaf­fee trin­ken.«

Sie folg­ten ihr ins Früh­stücks­zim­mer und tran­ken schweig­sam. Als sie nach­her in die Hal­le tra­ten, um sich für die Fahrt an­zu­zie­hen, wand­te sich Mr. Ter­ti­us an Sel­wood.

»Was ha­ben Sie denn am Te­le­fon ge­hört?«

»Nichts Be­stimm­tes. Ich habe nur so viel ver­stan­den, dass sich ir­gend et­was Erns­tes er­eig­net hat. Wir sol­len so­fort hin­kom­men.«

Mr. Ter­ti­us frag­te nicht wei­ter und blieb nach­denk­lich und zer­streut, bis sie nach Ken­sing­ton ka­men. Auch Peg­gie sag­te nichts wäh­rend der Fahrt. Sel­wood grü­bel­te nach, was wohl ge­sche­hen sein moch­te, und wie sich die­ses Ge­heim­nis lö­sen wür­de. Mr. Ter­ti­us, der ne­ben ihm saß, war ihm auch ein Rät­sel. Wäh­rend sei­ner kur­z­en Dienst­zeit hat­te er noch nicht er­fah­ren, wer die­ser Mann ei­gent­lich war, und in wel­chen Be­zie­hun­gen er zu dem Haus­herrn stand. Er wuss­te nur, dass er ein Haus­ge­nos­se von Mr. He­ra­path war. In ge­wis­ser Wei­se schi­en er doch nicht ganz zur Fa­mi­lie zu ge­hö­ren, denn er kam sel­ten zu den Mahl­zei­ten, und man sah ihn auch sonst nicht häu­fig im Hau­se. Sel­wood hat­te ihn nur ge­le­gent­lich im Ar­beits­zim­mer von Mr. He­ra­path oder im Wohn­zim­mer von Miss Peg­gie Wyn­ne ge­trof­fen. Mr. Ter­ti­us be­wohn­te ei­ni­ge Räu­me in dem obe­ren Stock­werk und einen Raum im Erd­ge­schoss. Nur ein­mal hat­te Sel­wood einen Blick in die­ses un­te­re Zim­mer tun kön­nen. Es war mit Bü­cher­re­ga­len ge­füllt, und auf ei­nem großen Tisch la­gen vie­le Do­ku­men­te und Pa­pie­re her­um. Er hat­te da­mals den Ein­druck ge­habt, dass Mr. Ter­ti­us ein Son­der­ling sei, der Bü­cher lieb­te und Al­ter­tums­kun­de trieb. Aus der Art, wie Mr. He­ra­path und Miss Peg­gie Wyn­ne ihn an­re­de­ten, schloss Sel­wood, dass er nicht mit den bei­den ver­wandt war. Er wur­de von al­len, auch von den Dienst­bo­ten, Mr. Ter­ti­us ge­nannt, und Sel­wood wuss­te nicht, ob das sein Vor- oder Fa­mi­li­enna­me war.

Das Auto hielt nach ei­ner schnel­len Fahrt vor ei­nem großen, nüch­ter­nen Häu­ser­block, dem nichts Ge­heim­nis­vol­les an­haf­te­te. Die großen Sied­lungs­bau­ten des Mr. He­ra­path wa­ren in ganz Lon­don be­kannt und hat­ten be­rech­tig­tes Auf­se­hen her­vor­ge­ru­fen, als ihr Grün­der sie er­rich­te­te.

Ja­cob He­ra­path war ein Grund­stücks­mak­ler und hat­te schon von je­her den Wunsch ge­habt, mo­der­ne Woh­nun­gen zu bau­en, die in je­der Be­zie­hung vor­bild­lich sein soll­ten. Er woll­te den Fach­leu­ten und Bau­meis­tern zei­gen, was man mit gu­tem Wil­len er­rei­chen konn­te. Als er schließ­lich ein großes Ge­län­de in Ken­sing­ton käuf­lich er­wer­ben konn­te, mach­te er sich so­fort an die Aus­füh­rung sei­nes Plans. So wa­ren die­se großen Häu­ser­blö­cke ent­stan­den, die mit al­lem mo­der­nem Kom­fort ver­se­hen wa­ren. Sie be­deu­te­ten eine große Ein­nah­me­quel­le für Mr. He­ra­path, und Sel­wood, der die Höhe der Mie­tein­gän­ge kann­te, dach­te dar­über nach, an wen die­ses Ver­mö­gen wohl fal­len wür­de, wenn Mr. He­ra­path wirk­lich et­was pas­siert sein soll­te.

Als der Wa­gen an­hielt, be­merk­te Sel­wood ei­ni­ge Po­li­zei­be­am­te in der of­fe­nen Tür. Ein In­spek­tor trat vor und sah un­si­cher auf Peg­gie Wyn­ne. Sel­wood stieg schnell aus und ging auf ihn zu.

»Ich bin der Se­kre­tär von Mr. He­ra­path. Mein Name ist Sel­wood«, stell­te er sich vor und zog den Be­am­ten et­was zur Sei­te, so­dass die an­de­ren ihre Un­ter­hal­tung nicht hö­ren konn­ten. »Ist et­was Erns­tes ge­sche­hen? Sa­gen Sie es mir bit­te, be­vor Miss Wyn­ne da­von er­fährt. Mr. He­ra­path ist doch nicht etwa – tot?«

Der In­spek­tor sah ihn be­deu­tungs­voll an.

»Er wur­de von dem Haus­ver­wal­ter in sei­nem Pri­vat­bü­ro tot auf­ge­fun­den. Es ist ent­we­der Mord oder Selbst­mord – das ist klar!«

Sel­wood ging mit Mr. Ter­ti­us und Miss Wyn­ne in den War­te­raum.

»Der In­spek­tor hat mit Ih­nen ge­spro­chen – Sie wis­sen al­les – sa­gen Sie es mir gleich«, wand­te sie sich an ihn. »Ich kann al­les hö­ren, ich habe star­ke Ner­ven. Ist er tot?«

»Ja.«

Miss Wyn­ne senk­te den Kopf. Als sie ihn wie­der hob, war sie zwar blass, zeig­te aber kei­ne Er­re­gung. Auch Mr. Ter­ti­us war ru­hig und ge­fasst.

»Wie starb er?« frag­te er. »War es ein Herz­schlag?«

Sel­wood zö­ger­te.

»Ich fürch­te, es ist eine trau­ri­ge Bot­schaft für Sie«, er­wi­der­te er mit ei­nem Blick auf den In­spek­tor, der eben ein­trat. »Die Po­li­zei ist der Mei­nung, dass ent­we­der Mord oder Selbst­mord vor­liegt.«

Peg­gie wand­te sich kurz an den Be­am­ten. Eine plötz­li­che Röte stieg in ihre Wan­gen.

»Nein, nie und nim­mer kann es Selbst­mord ge­we­sen sein! Mord – das wäre mög­lich. Ver­heim­li­chen Sie mir nichts – sa­gen Sie mir bit­te al­les, was Sie wis­sen.«

Der In­spek­tor schloss die Tür und kam nä­her.

»Un­se­re Sta­ti­on wur­de fünf Mi­nu­ten nach acht von dem Haus­ver­wal­ter hier an­ge­ru­fen. Er sag­te uns, dass Mr. He­ra­path tot in sei­nem Ar­beits­zim­mer läge, und bat uns, so­fort zu kom­men. Ich mach­te mich gleich mit ei­nem an­de­ren Be­am­ten auf, und der Po­li­zei­arzt folg­te ei­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter. Wir fan­den Mr. He­ra­path tot auf dem Bo­den. Dicht ne­ben ihm lag –«

Der Be­am­te brach ab und sah auf Peg­gie. »Die De­tails sind nicht sehr an­ge­nehm – soll ich nicht lie­ber dar­über schwei­gen?«

»Nein«, er­wi­der­te sie ent­schie­den. »Sa­gen Sie nur ru­hig al­les, was Sie ge­fun­den ha­ben.«

»Ein Re­vol­ver lag ne­ben sei­ner rech­ten Hand. Eine Pa­tro­ne war ab­ge­feu­ert, und Mr. He­ra­path hat­te eine Schuss­wun­de in der rech­ten Schlä­fe. Of­fen­sicht­lich war der Schuss aus al­ler­nächs­ter Nähe ab­ge­ge­ben wor­den. Der Arzt sag­te, dass der Tod so­fort ein­ge­tre­ten sei.«

Peg­gie hat­te voll­stän­dig ge­fasst zu­ge­hört und mach­te un­will­kür­lich ei­ni­ge Schrit­te nach der Tür zu.

»Wir wol­len zu ihm ge­hen«, sag­te sie. »Er liegt doch wahr­schein­lich noch dort im Zim­mer.«

Aber Sel­wood trat ihr ent­ge­gen.

»Nein, tun Sie das nicht«, bat er sie.

»Mr. Sel­wood hat recht«, pflich­te­te der In­spek­tor bei. »Der Arzt ist noch dort. Vi­el­leicht geht es spä­ter, wenn die Un­ter­su­chung be­en­det ist. War­ten Sie bit­te so­lan­ge hier. Die Her­ren kön­nen mich be­glei­ten.«

Peg­gie zö­ger­te einen Au­gen­blick, dann wand­te sie sich um und setz­te sich in einen Ses­sel.

»Nun gut.«

Sel­wood dreh­te sich an der Tür noch ein­mal zu ihr um.

»Ver­spre­chen Sie, uns nicht zu fol­gen?«

»Ich blei­be hier. Aber einen Au­gen­blick noch. Wir müss­ten doch ei­gent­lich mei­nen Vet­ter Bar­thor­pe –«

»Wir ha­ben schon nach Mr. He­ra­path ge­schickt«, un­ter­brach sie der In­spek­tor. »Der Ver­wal­ter hat auch an ihn te­le­fo­niert.«

Sie gin­gen den Gang ent­lang und er­reich­ten das Pri­vat­bü­ro von Mr. Ja­cob He­ra­path, das nur er selbst und sein Se­kre­tär be­nütz­ten. Nie­mand durf­te ihn dort stö­ren, wenn er es nicht aus­drück­lich wünsch­te. Aber nun wa­ren vie­le Frem­de hier ein­ge­drun­gen, und He­ra­path lag stumm in ih­rer Mit­te. Sie hat­ten ihn auf einen Di­wan ge­legt. Sein Ge­sichts­aus­druck war ru­hig. Sie konn­ten kei­ne Spur von plötz­li­cher Furcht oder Er­re­gung in sei­nen Zü­gen be­mer­ken.

»Wenn Sie ein­mal her­se­hen wol­len, mei­ne Her­ren«, sag­te der In­spek­tor und führ­te die bei­den zu dem Tep­pich. »Al­les ist noch so, wie wir es ge­fun­den ha­ben; es ist nichts ge­än­dert wor­den. Er lag an die­ser Stel­le, hier der Kopf und dort die Füße. Of­fen­bar war er seit­wärts vom Stuhl her­un­ter­ge­glit­ten und der Län­ge nach auf den Tep­pich ge­fal­len. Der Re­vol­ver lag dort – nur ei­ni­ge Zen­ti­me­ter von sei­ner rech­ten Hand ent­fernt. Hier ist die Waf­fe.«

Er zog eine Schub­la­de des Schreib­ti­sches auf und nahm eine Pis­to­le her­aus, mit der er sehr sorg­fäl­tig um­ging, als er sie Sel­wood und Ter­ti­us zeig­te.

»Ist sie Ih­nen be­kannt? Ich mei­ne, er­ken­nen Sie die Pis­to­le als Ei­gen­tum von Mr. He­ra­path wie­der? – Nein? – Nun, er konn­te sie ja auch in sei­nem Schreib­tisch oder Geld­schrank auf­be­wahrt ha­ben, ohne dass je­mand et­was da­von wuss­te. Wir wer­den den gan­zen Raum sorg­fäl­tig durch­su­chen, viel­leicht fin­den wir noch wei­te­re Pa­tro­nen oder Zu­be­hör­tei­le. Das wäre also der Tat­be­stand. Dem Au­gen­schein nach und nach Aus­sa­ge des Arz­tes ist der Schuss aus nächs­ter Nähe ab­ge­feu­ert wor­den.«

Mr. Ter­ti­us, der auf­merk­sam zu­ge­hört hat­te, wand­te sich an den Dok­tor.

»Glau­ben Sie denn, dass Mr. He­ra­path die Waf­fe ge­gen sich selbst ge­rich­tet hat?«

»Nach der Lage des Kör­pers und der Schuss­waf­fe ist das sehr wahr­schein­lich.«

»Es könn­te aber auch an­ders ge­we­sen sein«, mein­te Mr. Ter­ti­us lei­se.

Der Po­li­zei­arzt zuck­te die Schul­tern.

»Es wäre na­tür­lich auch mög­lich, dass ein kühl be­rech­nen­der Mör­der die Waf­fe ne­ben ihn ge­legt hat.«

»Ja, das ist auch mei­ne Mei­nung«, ver­si­cher­te Mr. Ter­ti­us. Er blieb einen Au­gen­blick schwei­gend dort ste­hen und starr­te auf den Tep­pich, dann wand­te er sich wie­der zur Tür. »Wie lan­ge war Mr. He­ra­path wohl schon tot, als Sie ka­men?«

»Seit acht Stun­den«, ent­geg­ne­te der Dok­tor prompt.

»Und wann sind Sie her­ge­kom­men?«

»Vier­tel nach acht. Ich möch­te sa­gen, dass er un­ge­fähr um Mit­ter­nacht starb.«

»Um Mit­ter­nacht!« wie­der­hol­te Ter­ti­us lei­se. »Also –«

Be­vor er wei­ter­spre­chen konn­te, öff­ne­te ein Po­li­zist, der in dem Gang Wa­che ge­hal­ten hat­te, die Tür und mel­de­te dem In­spek­tor, dass Mr. Bar­thor­pe He­ra­path ge­kom­men sei.

3. Kapitel

Barthorpe übernimmt die Leitung.

Der jun­ge Mann mach­te einen ge­fass­ten und ru­hi­gen Ein­druck, als er ein­trat. Es fiel al­len auf, dass er, ab­ge­se­hen von dem Al­ters­un­ter­schied, so­wohl in Ge­stalt als auch im Aus­se­hen dem To­ten auf­fal­lend glich. Bei­de wa­ren groß, schlank und wohl­pro­por­tio­niert. Ja­cob He­ra­path war al­ler­dings er­graut, wäh­rend sein Nef­fe, der drei­ßig bis fünf­und­drei­ßig Jah­re zäh­len moch­te, dunkles Haar hat­te.

Bar­thor­pe beug­te sich über den To­ten und be­trach­te­te ihn lan­ge. Sein Ge­sicht blieb aber un­durch­dring­lich und zeig­te kei­ne Er­grif­fen­heit, als er sich wie­der auf­rich­te­te. Er be­grüß­te Mr. Ter­ti­us und Sel­wood nur durch ein leich­tes Kopf­ni­cken und wand­te sich dann an die Po­li­zei­be­am­ten.

»Er­zäh­len Sie mir al­les, was Sie wis­sen.« Sein Ton klang bei­na­he be­feh­lend.

Nach­dem ihm der In­spek­tor al­les be­rich­tet hat­te, wand­te sich Bar­thor­pe an Sel­wood. Mr. Ter­ti­us schi­en er ab­sicht­lich zu über­se­hen.

»Was ist denn in der Woh­nung am Port­man Squa­re be­kannt? Sa­gen Sie mir das bit­te kurz.«

Sel­wood hat­te Bar­thor­pe erst zwei­mal ge­se­hen, emp­fand aber eine in­stink­ti­ve Ab­nei­gung ge­gen ihn. So knapp als mög­lich er­zähl­te er ihm, was vor­ge­gan­gen war.

»Dann ist also mei­ne Cou­si­ne hier im Hau­se?«

»Ja, Miss Wyn­ne be­fin­det sich in dem großen War­te­zim­mer am an­de­ren Ende des Gan­ges.«

»Ich wer­de gleich zu ihr ge­hen. Nun muss noch Ver­schie­de­nes an­ge­ord­net wer­den, In­spek­tor. Na­tür­lich wird eine To­ten­schau statt­fin­den, Sie müs­sen also so­fort den Vor­sit­zen­den der Mord­kom­mis­si­on be­nach­rich­ti­gen. Dann muss die Lei­che fort­ge­bracht wer­den – bit­te über­neh­men Sie das auch. Be­vor Sie aber ge­hen, wäre es mir lieb, wenn Sie alle An­halts­punk­te mit mir sam­meln wür­den, de­ren wir hab­haft wer­den kön­nen. Sind sei­ne Ta­schen schon durch­sucht?«

Der In­spek­tor zog eine Schub­la­de des Schreib­ti­sches auf und zeig­te auf ver­schie­de­ne Ge­gen­stän­de, die dar­in la­gen.

»Al­les, was wir ge­fun­den ha­ben, ist hier. Es ist nicht viel. Eine Ta­schen­uhr und Ket­te, ein Geld­beu­tel, lo­ses Geld, eine Brief­ta­sche, ein Zi­gar­re­ne­tui. Sei­ne Schlüs­sel ha­ben wir nicht ent­de­cken kön­nen. Er hat­te nicht ein­mal sei­nen Haus­schlüs­sel bei sich. Und doch muss er selbst die Haus­tür hier auf­ge­schlos­sen ha­ben, und er brauch­te doch auch einen Schlüs­sel, um hier her­ein­zu­kom­men.«

»Das ist merk­wür­dig«, sag­te Bar­thor­pe nach ei­ner Pau­se be­stürzt und neig­te sich über die of­fe­ne Schub­la­de. »Na­tür­lich müs­sen wir die­sem Um­stand ge­naue Be­ach­tung schen­ken. Schlie­ßen Sie jetzt das Fach ab, und neh­men Sie den Schlüs­sel selbst in Ver­wah­rung. Spä­ter wol­len wir die Ge­gen­stän­de noch ein­mal ge­nau­er be­trach­ten. Nun müs­sen wir aber wei­te­re Nach­for­schun­gen an­stel­len. Mr. Sel­wood, te­le­fo­nie­ren Sie doch bit­te ein­mal nach Port­man Squa­re, dass der Haus­meis­ter und der Chauf­feur so­fort her­kom­men sol­len. In­spek­tor, wol­len Sie in der Zwi­schen­zeit die An­ord­nun­gen tref­fen, über die wir eben spra­chen? Der Haus­ver­wal­ter muss auch ge­ru­fen wer­den. Ich will jetzt mei­ne Cou­si­ne be­grü­ßen.«

Mit die­sen Wor­ten ver­ließ er den Raum und ging mit ener­gi­schen Schrit­ten zu dem War­te­zim­mer hin­über. Sel­wood folg­te ihm den Gang ent­lang und sah, dass er hin­ein­ging und die Tür hin­ter sich schloss.

Sel­wood schalt sich selbst einen Nar­ren, weil er Un­wil­len dar­über emp­fand, dass Bar­thor­pe Peg­gie Wyn­nes Vet­ter war und nun wahr­schein­lich ih­ren Be­schüt­zer spie­len wür­de. In den ver­gan­ge­nen drei Wo­chen hat­te er Peg­gie oft ge­nug ge­se­hen und war im bes­ten Be­griff, sich in sie zu ver­lie­ben, ob­wohl er sich selbst sag­te, dass er nicht dar­an den­ken durf­te, eine der reichs­ten Er­bin­nen Lon­d­ons zu hei­ra­ten.

Als der Haus­meis­ter und der Chauf­feur nach kur­z­er Zeit an­ka­men, er­zähl­te ih­nen Sel­wood, was ge­sche­hen war. Gleich dar­auf trat auch Bar­thor­pe He­ra­path aus dem War­te­zim­mer und wink­te dem In­spek­tor, der sich lei­se mit dem De­tek­tiv un­ter­hielt.

»Kom­men Sie bit­te mit Ihrem As­sis­ten­ten her­ein. Dann brau­che ich noch den Haus­ver­wal­ter, Kit­te­ridge und Moun­tain. Darf ich Sie auch bit­ten, Mr. Sel­wood?«

Er blieb an der Tür ste­hen, wäh­rend die an­de­ren hin­ein­gin­gen. Peg­gie saß noch in ih­rem Ses­sel. Ter­ti­us woll­te Sel­wood fol­gen, aber Bar­thor­pe ver­trat ihm den Weg.

»Dies ist eine Pri­vat­un­ter­su­chung, die ich per­sön­lich an­stel­le, Mr. Ter­ti­us«, sag­te er mit ei­nem be­zeich­nen­den Blick.

Sel­wood wand­te sich er­staunt um. Er sah, wie Mr. Ter­ti­us er­rö­te­te, ste­hen­blieb und Bar­thor­pe ver­wirrt an­sah.

»Wün­schen Sie nicht, dass ich zu­ge­gen bin?« frag­te er sto­ckend.

»Of­fen ge­stan­den nicht«, ent­geg­ne­te Bar­thor­pe mit fast be­lei­di­gen­der Of­fen­heit. »Spä­ter wird noch eine To­ten­schau statt­fin­den, dort­hin kön­nen Sie ja ge­hen. Das kann ich Ih­nen nicht ver­bie­ten.«

Mr. Ter­ti­us mach­te eine kur­ze, förm­li­che Ver­beu­gung, wand­te sich um und ver­ließ das Ge­bäu­de.

Bar­thor­pe He­ra­path lach­te lei­se und ver­ächt­lich, dann ging er in das War­te­zim­mer und schloss die Tür. Er bat alle An­we­sen­den, Platz zu neh­men, und setz­te sich selbst in einen Ses­sel ne­ben Peg­gie.

»In­spek­tor Mil­ner«, be­gann er, »wir müs­sen jetzt se­hen, dass wir durch ein ers­tes Ver­hör die Sa­che mög­lichst klä­ren kön­nen, so­lan­ge noch alle Tat­sa­chen frisch im Ge­dächt­nis sind. So­viel ich ge­hört habe, neig­te der Po­li­zei­arzt zu der Mei­nung, dass mein On­kel Selbst­mord ver­übt hat. Es tut mir leid, dass er schon ge­gan­gen ist, denn mei­ner Mei­nung nach ist die­se An­sicht un­halt­bar. Mei­ne Cou­si­ne und ich kann­ten un­se­ren On­kel zu gut, und wir sind bei­de da­von über­zeugt, dass ein Selbst­mord bei Mr. Ja­cob He­ra­path nicht in Fra­ge kam. Wir sind auch fest ent­schlos­sen, die­se An­nah­me mit al­len uns zu Ge­bo­te ste­hen­den Mit­teln zu be­kämp­fen, wenn sie bei der To­ten­schau vor­ge­bracht wer­den soll­te. Mein On­kel ist si­cher er­mor­det wor­den. Vor al­lem müs­sen wir nun fest­stel­len, wo er ges­tern Abend ge­we­sen ist. Zu­erst wol­len wir den Haus­ver­wal­ter hier hö­ren. Han­cock«, wand­te er sich an einen äl­te­ren Mann, »Sie wa­ren doch der ers­te, der mei­nen On­kel hier auf­fand?«

Han­cock war sehr auf­ge­regt, aber er nahm sich zu­sam­men.

»Ja, ich habe ihn zu­erst hier ge­fun­den.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Punkt acht. Um die­se Zeit öff­ne ich ge­wöhn­lich die Bü­ro­räu­me.«

»Sa­gen Sie uns ge­nau, wie Sie ihn fan­den.«

»Ich mach­te die Tür zum Pri­vat­bü­ro auf, um die Vor­hän­ge auf­zu­zie­hen und die Fens­ter zu öff­nen. Als ich durchs Zim­mer ging, sah ich ihn auf dem Tep­pich lie­gen. Gleich dar­auf ent­deck­te ich den Re­vol­ver.«

»Na­tür­lich wa­ren Sie sehr er­schro­cken. Was ha­ben Sie denn dann ge­macht?«

»Ich ver­ließ das Zim­mer, schloss die Tür ab und ging zum Te­le­fon, um die Po­li­zei zu be­nach­rich­ti­gen. Dann war­te­te ich drau­ßen, bis In­spek­tor Mil­ner kam.«

»War die Haus­tür wie ge­wöhn­lich ge­schlos­sen, als Sie heu­te Mor­gen her­un­ter­ka­men?«

»Ja. Sie war ein­ge­klinkt. Mr. He­ra­path pfleg­te das so zu hal­ten, weil er häu­fig spät abends hier­her­kam, um zu ar­bei­ten.«

»Gut. Die­se Bü­ro­räu­me lie­gen nun weit ab von den be­wohn­ten Tei­len des Ge­bäu­des, be­ach­ten Sie das bit­te be­son­ders, In­spek­tor Mil­ner. Man kann von den Bü­ro­räu­men nicht di­rekt in an­de­re Tei­le des Hau­ses kom­men. Es gibt auch nur einen Ein­gang zu den Bü­ros, und zwar durch die Haus­tür. Das stimmt doch, Han­cock?«

»Ja, das ist rich­tig.«

»Und die ein­zi­gen, die wäh­rend der Nacht Zu­tritt zu die­sen Räu­men ha­ben, sind Sie und Ihre Frau, Han­cock?«

»Ja.«

»Wo liegt denn Ihre Woh­nung?«

»Im Keller­ge­schoss ha­ben wir Wohn­zim­mer und Kü­che, und im Dach­ge­schoss schla­fen wir.«

»Wie viel Stock­wer­ke hat denn die­ses Haus?«

»Da ist das Keller­ge­schoss, das Erd­ge­schoss, dann zwei Stock­wer­ke, in de­nen die An­ge­stell­ten ar­bei­ten, und das Dach­ge­schoss.«

»Wann sind Sie und Ihre Frau ges­tern Abend zu Bett ge­gan­gen?«

»Um elf Uhr, et­was spä­ter als sonst.«

»Ha­ben Sie vor­her eine Run­de im Hau­se ge­macht?«

»Ja, das tue ich je­den Abend.«

»Ha­ben Sie und Ihre Frau einen ge­sun­den, fes­ten Schlaf?«

»Ja.«

»Sie ha­ben nichts ge­hört, nach­dem Sie zu Bett ge­gan­gen wa­ren?«

»Nein.«

»Ha­ben Sie kei­nen Re­vol­ver­schuss ge­hört?«

»Nein.«

»Auch nicht das An­fah­ren ei­nes Au­tos, das Öff­nen und Schlie­ßen von Tü­ren?«

»Nein.«

»Sie ha­ben sich doch si­cher in dem Raum um­ge­se­hen, nach­dem Sie Mr. He­ra­path fan­den? Ha­ben Sie An­zei­chen da­für ent­deckt, dass ein Hand­ge­men­ge statt­ge­fun­den hat?«

»Nein, da­von habe ich nichts ge­se­hen. Nur der Arm­ses­sel, in dem Mr. He­ra­path ge­wöhn­lich saß, war ein we­nig zu­rück­ge­scho­ben. Das war al­les.«

»Brann­te das elek­tri­sche Licht noch?«

»Nein.«

»Wenn ich also Ihre Aus­sa­gen zu­sam­men­fas­se, so ha­ben Sie we­der et­was ge­hört, noch ist Ih­nen et­was auf­ge­fal­len, bis Sie heu­te Mor­gen her­un­ter­ka­men?«

»Ja, so war es.«

Bar­thor­pe nick­te und wand­te sich an den Chauf­feur.

»Moun­tain, nun er­zäh­len Sie, was Sie wis­sen. Sei­en Sie aber sehr sorg­fäl­tig, denn Ihre An­ga­ben sind von der größ­ten Wich­tig­keit.«

4. Kapitel

Der Berichterstatter.

Der Chauf­feur rück­te un­will­kür­lich ein we­nig nä­her an den Tisch her­an und sah ängst­lich und ge­spannt auf He­ra­path.

»So­viel ich weiß, ha­ben Sie mei­nen On­kel ges­tern Abend vom Par­la­ment ab­ge­holt?« be­gann Bar­thor­pe.

»Ja­wohl.«

»Wo ist er ein­ge­stie­gen?«

»Wie ge­wöhn­lich in Palace Yard, di­rekt vor der Ein­gangs­hal­le.«

»Um wie viel Uhr war das?«