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Als der wohlhabende Jacob Herapath tot in seiner Wohnung aufgefunden wird, ein Revolver an seiner Seite liegend, wird der Todeszeitpunkt auf Mitternacht datiert. Aber sein Chauffeur schwört, dass er ihn erst um eins nach Hause gebracht hat. Als dann ein offensichtlich gefälschtes Testament, ein mysteriöser ehemaliger Sekretär und ein lange verheimlichter Familienskandal auftauchen wird alles nur noch geheimnisvoller ...
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Seitenzahl: 231
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Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher
Inhalt:
Kampf um das Erbe
1. Kapitel.
2. Kapitel.
3. Kapitel.
4. Kapitel.
5. Kapitel.
6. Kapitel.
7. Kapitel.
8. Kapitel.
9. Kapitel.
10. Kapitel.
11. Kapitel.
12. Kapitel.
13. Kapitel.
14. Kapitel.
15. Kapitel.
16. Kapitel.
17. Kapitel.
18. Kapitel.
19. Kapitel.
20. Kapitel.
21. Kapitel.
22. Kapitel.
23. Kapitel.
24. Kapitel.
25. Kapitel.
26. Kapitel.
27. Kapitel.
28. Kapitel.
29. Kapitel.
30. Kapitel.
31. Kapitel.
32. Kapitel.
33. Kapitel.
34. Kapitel.
35. Kapitel.
Kampf um das Erbe, J. S. Fletcher
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849629441
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Cover Design: © Eky Chan - Fotolia.com
Vermisst.
Mr. Selwood war nun seit drei Wochen Sekretär bei dem bekannten Parlamentarier Jacob Herapath, der als Junggeselle eins der vornehmsten Häuser am Portman Square bewohnte. Mr. Herapath war bekannt wegen seiner Arbeit in der sozialen Fürsorge. Er hatte eine große Zahl moderner Wohnhäuser erbaut, die in jeder Beziehung als Vorbild dienen konnten, was Lüftung, Heizung, Beleuchtung und alle sonstigen sanitären Einrichtungen betraf. Als Selwood seine Stellung antrat, erhielt er von seinem Chef die Anweisung, eine geeignete kleine Wohnung in der Upper Seymour Street zu beziehen, die in der Nähe lag, damit er auch in der Nacht leicht zu erreichen war. Jacob Herapath hatte manchmal gerade mitten in der Nacht geniale Einfälle, und er gehörte zu den aktiven, energischen Männern, die es lieben, solche Einfälle sofort in allen Details durchzuarbeiten. Selwood war jedoch während der vergangenen drei Wochen noch niemals aus seiner Nachtruhe gestört worden. Aber plötzlich klingelte eines Morgens um halb acht die Telefonglocke, als er gerade aufstehen wollte. Er nahm den Hörer vom Apparat, der direkt neben seinem Bett stand. Es meldete sich jedoch nicht Herapath, sondern der Hausmeister Kitteridge, dessen Stimme ängstlich klang.
Plötzlich wurde er unterbrochen; es schien jemand dicht neben ihm zu stehen. Der Anruf war etwas verwirrt, aber Selwood verstand doch soviel, daß er sofort zur Wohnung herüberkommen sollte. In größter Eile kleidete er sich an und eilte nach Portman Square. Als er dort ankam, fand er den Hausmeister und den Chauffeur Mountain, der sich in aller Eile angekleidet hatte, und den man allem Anschein nach auch eben aus dem Bett geholt hatte.
»Was ist denn los, Kitteridge?« fragte Selwood. »Ist Mr. Herapath krank geworden?«
Der Hausmeister schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Daumen nach der offenen Tür des Arbeitszimmers.
»Wir wissen überhaupt nicht, wo er ist. Er hat nicht hier geschlafen und ist auch nicht im Hause.«
»Vielleicht ist er gestern gar nicht heimgekommen«, meinte Selwood. »Er kann doch in seinem Klub oder auch in einem Hotel geschlafen haben.«
Der Chauffeur, ein kleiner Mann mit scharfem Blick, schüttelte den Kopf.
»Nein, ich habe ihn doch selbst um eins hierher gefahren, und ich habe gesehen, wie er die Tür aufschloß und hineinging. Sicher ist er nach Hause gekommen!«
»Das stimmt«, pflichtete Kitteridge bei. »Kommen Sie mit, Mr. Selwood.« Er führte den Sekretär in das Arbeitszimmer und zeigte auf einen kleinen Servierwagen, der neben dem großen Schreibtisch stand. »Sehen Sie das? Jeden Abend stelle ich ihm dort eine Flasche Whisky, einen Siphon mit Sodawasser und einige Butterbrote und Keks hin. Er hat aus dem Glase getrunken, und er hat auch von dem Butterbrot gegessen. Also muß er nach Hause gekommen sein. Aber er ist nicht mehr hier. Der Kammerdiener Charlesworth, der ihn jeden Morgen Viertel nach sieben weckt, hat ihn nicht im Schlafzimmer gefunden.«
Selwood sah sich in dem Raum um. Die Vorhänge waren noch nicht aufgezogen; die elektrische Krone brannte und ließ alles in ihrem kalten, klaren Licht hervortreten. Er schaute auf den Schreibtisch, ob Mr. Herapath nicht einen Brief zurückgelassen hatte, aber er fand nichts.
»Aber es liegt doch kein Grund vor, sich zu ängstigen, Kitteridge«, meinte er. »Mr. Herapath war vielleicht gezwungen, heute morgen ganz früh mit dem Zuge wegzufahren.«
»Entschuldigen Sie, Mr. Selwood, aber das ist wohl ziemlich ausgeschlossen. Ich hatte selbst schon daran gedacht, aber wenn er tatsächlich einen Nachtzug benützen wollte, hätte er seinen Reisemantel, seinen Koffer und auch eine Decke mitgenommen. Aber er hat nichts von alledem angerührt. Ich bin nun schon sieben Jahre hier im Hause und kenne seine Gewohnheiten genau. Er hätte mich und den Kammerdiener gerufen, damit wir für ihn gepackt hätten. Nein, er ist bestimmt nach Hause gekommen und wieder fortgegangen, das ist das Ungewöhnliche. Solange ich hier im Hause bin, ist das noch nicht passiert.«
»Sie haben also Mr. Herapath um ein Uhr nach Hause gefahren?« wandte sich Selwood an den Chauffeur. »War er allein?«
»Es war niemand bei ihm«, entgegnete Mountain. »Am besten erzähle ich Ihnen alles, was ich weiß. Gerade als Sie kamen, sprach ich mit dem Hausmeister darüber. Ich holte Mr. Herapath gestern abend um Viertel nach elf vom Parlament ab. Ich hielt an der gewöhnlichen Stelle, und er stieg gerade ein, als die Uhr schlug. ›Fahren Sie mich zu dem Büro in der Siedlung, ich habe dort zu tun‹, sagte er. Ich brachte ihn also nach Kensington, und beim Aussteigen meinte er, daß er wohl in einer Dreiviertelstunde fertig wäre. Ich wartete also auf meinem Sitz, aber es dauerte eine gute Stunde. Schließlich kam er wieder und sagte nur ›Nach Hause‹. Und dann habe ich ihn hierher gefahren. Als er ausstieg, schlug es ein Uhr. Ich sagte noch gute Nacht zu ihm und sah, wie er die Treppe hinaufstieg und aufschloß, bevor ich zur Garage fuhr. Das ist alles, was ich weiß.«
Selwood wandte sich an den Hausmeister.
»Zu der Zeit war wohl niemand mehr auf?«
»Nein, Mr. Herapath sieht strikt darauf, daß die Hausordnung eingehalten wird, und daß alle Leute um halb zwölf zur Ruhe gehen. Er duldet nicht, daß jemand von der Dienerschaft auf ihn wartet. Deshalb steht jeden Abend noch ein kleiner Imbiß im Arbeitszimmer für ihn bereit. Gewöhnlich kommt er gegen zwölf Uhr nach Hause.«
»Nun ja, vielleicht war aber doch noch jemand wach. Haben Sie schon gefragt, ob jemand gehört hat, daß Mr. Herapath in der Wohnung umherging und das Haus nachher wieder verließ?«
»Ich werde danach fragen«, entgegnete Kitteridge. »Aber bis jetzt hat mir noch niemand etwas gesagt, obwohl die Dienstboten schon wissen, daß Mr. Herapath nicht im Hause ist.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine junge Dame trat herein.
»Haben Sie Miß Wynne schon verständigt?« fragte Selwood den Hausmeister leise, als er sie sah.
»Sie hat es sicher von ihrem Mädchen gehört. Alle sprechen darüber. Ich wollte sie nicht stören, bevor sie aufgestanden war.«
Miß Wynne war die Nichte von Mr. Herapath, die Tochter seiner verstorbenen Schwester, die er sehr geliebt hatte. Er hatte das Mädchen in sein Haus genommen, als sie noch ein Kind war. Aber nun zählte sie schon zweiundzwanzig, war hübsch und hatte charaktervolle, schöne Züge und kluge Augen.
Selwood trat näher, um sie zu begrüßen.
»Was hat dies alles zu bedeuten?« fragte sie ruhig. »Soviel ich höre, ist mein Onkel nicht im Hause? Aber deshalb braucht man doch nicht den Kopf zu verlieren, Kitteridge. Er hatte sicher etwas vor, wenn er fortging. Vor allem möchte ich nicht haben, daß die Dienstboten weiter darüber sprechen. Weiß Mr. Tertius davon?«
»Der alte Herr ist noch nicht nach unten gekommen.«
Auf ihren Wink verließen der Hausmeister und der Chauffeur das Zimmer.
»Was halten Sie davon?« fragte sie Selwood. Ihre Stimme klang plötzlich ängstlich. »Sie können es mir auch nicht erklären?«
»Leider nicht. Ich kenne Mr. Herapath und seine Gewohnheiten noch nicht gut genug, um mir ein Urteil bilden zu können.«
»Er hat das früher nie getan. Ich weiß zwar, daß er manchmal mitten in der Nacht aufsteht und in sein Arbeitszimmer geht, aber niemals ist er zu so später Stunde ausgegangen.«
Selwood sah nach der Tür, und sie folgte seinen Blicken.
Ein älterer, schmächtiger Herr von kleiner Gestalt war ruhig ins Zimmer getreten. Er hatte einen grauen Bart und feine Gesichtszüge; seine Augen waren von einer dunklen Brille beschattet. Er bewegte sich nur leise und zurückhaltend und machte einen etwas scheuen Eindruck. Selwood bemerkte, daß Lippen und Hände des Mannes leicht zitterten, als er nähertrat.
»Mr. Tertius, wissen Sie etwas von Onkel Jacob?« fragte Peggie Wynne schnell. »Vorige Nacht ist er um ein Uhr nach Hause gekommen, und jetzt ist er verschwunden. Hat er Ihnen vielleicht etwas gesagt?«
Mr. Tertius schüttelte den Kopf.
»Nein, mir hat er nichts gesagt. Sie meinen, er ist verschwunden?!«
Er neigte sich über das Tablett, das er aufmerksam einige Zeit lang betrachtete.
»Das ist merkwürdig«, sagte er zu Selwood, als er wieder aufschaute. »Und doch tut er manchmal Dinge, ohne vorher jemand etwas zu sagen. Haben Sie schon an das Büro in der Siedlung telefoniert? Vielleicht ist er dorthin gegangen?«
Peggie, die sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, sprang sofort auf.
»Das hätten wir schon längst tun sollen! Telefonieren Sie doch bitte, Mr. Selwood. Wahrscheinlich erfahren wir dort etwas.«
Selwood und Miß Wynne verließen das Zimmer zusammen. Als sie gegangen waren, untersuchte Mr. Tertius das Tablett genau. Vorsichtig nahm er das Butterbrot zwischen die Spitzen seiner Finger und hielt es nahe ans Licht. Nachdem er es eingehend betrachtet hatte, nahm er ein Kuvert aus dem Papierhalter und legte das Brot vorsichtig hinein. Dann verließ er den Raum schnell und ging zu seinem eigenen Zimmer. Nach einigen Minuten kam er wieder herunter, und gleich nach ihm traten Miß Wynne und Selwood ein.
»Wir sollen sofort zur Siedlung hinauskommen«, sagte der Sekretär ernst. »Der Verwalter wollte uns eben anläuten, als ich ihn anrief. Es ist irgend etwas nicht in Ordnung.«
Mord?
Es fiel Selwood später auf, daß weder er noch Mr. Tertius sich zuerst zum Handeln aufrafften, sondern daß Peggie dem Hausmeister klare Anordnungen gab.
»Das Auto soll sofort vorfahren, Kitteridge. Bringen Sie rasch etwas Kaffee, frühstücken können wir erst später.«
»Sie wollen doch nicht etwa selbst hinfahren?« fragte Selwood.
»Aber natürlich! Glauben Sie, ich würde hier warten, bis ich Nachricht bekomme? Wir fahren zusammen hin, und bis der Wagen kommt, wollen wir schnell noch eine Tasse Kaffee trinken.«
Sie folgten ihr ins Frühstückszimmer und tranken schweigsam. Als sie nachher in die Halle traten, um sich für die Fahrt anzuziehen, wandte sich Mr. Tertius an Selwood.
»Was haben Sie denn am Telefon gehört?«
»Nichts Bestimmtes. Ich habe nur so viel verstanden, daß sich irgend etwas Ernstes ereignet hat. Wir sollen sofort hinkommen.«
Mr. Tertius fragte nicht weiter und blieb nachdenklich und zerstreut, bis sie nach Kensington kamen. Auch Peggie sagte nichts während der Fahrt. Selwood grübelte nach, was wohl geschehen sein mochte, und wie sich dieses Geheimnis lösen würde. Mr. Tertius, der neben ihm saß, war ihm auch ein Rätsel. Während seiner kurzen Dienstzeit hatte er noch nicht erfahren, wer dieser Mann eigentlich war, und in welchen Beziehungen er zu dem Hausherrn stand. Er wußte nur, daß er ein Hausgenosse von Mr. Herapath war. In gewisser Weise schien er doch nicht ganz zur Familie zu gehören, denn er kam selten zu den Mahlzeiten, und man sah ihn auch sonst nicht häufig im Hause. Selwood hatte ihn nur gelegentlich im Arbeitszimmer von Mr. Herapath oder im Wohnzimmer von Miß Peggie Wynne getroffen. Mr. Tertius bewohnte einige Räume in dem oberen Stockwerk und einen Raum im Erdgeschoß. Nur einmal hatte Selwood einen Blick in dieses untere Zimmer tun können. Es war mit Bücherregalen gefüllt, und auf einem großen Tisch lagen viele Dokumente und Papiere herum. Er hatte damals den Eindruck gehabt, daß Mr. Tertius ein Sonderling sei, der Bücher liebte und Altertumskunde trieb. Aus der Art, wie Mr. Herapath und Miß Peggie Wynne ihn anredeten, schloß Selwood, daß er nicht mit den beiden verwandt war. Er wurde von allen, auch von den Dienstboten, Mr. Tertius genannt, und Selwood wußte nicht, ob das sein Vor- oder Familienname war.
Das Auto hielt nach einer schnellen Fahrt vor einem großen, nüchternen Häuserblock, dem nichts Geheimnisvolles anhaftete. Die großen Siedlungsbauten des Mr. Herapath waren in ganz London bekannt und hatten berechtigtes Aufsehen hervorgerufen, als ihr Gründer sie errichtete.
Jacob Herapath war ein Grundstücksmakler und hatte schon von jeher den Wunsch gehabt, moderne Wohnungen zu bauen, die in jeder Beziehung vorbildlich sein sollten. Er wollte den Fachleuten und Baumeistern zeigen, was man mit gutem Willen erreichen konnte. Als er schließlich ein großes Gelände in Kensington käuflich erwerben konnte, machte er sich sofort an die Ausführung seines Plans. So waren diese großen Häuserblöcke entstanden, die mit allem modernem Komfort versehen waren. Sie bedeuteten eine große Einnahmequelle für Mr. Herapath, und Selwood, der die Höhe der Mieteingänge kannte, dachte darüber nach, an wen dieses Vermögen wohl fallen würde, wenn Mr. Herapath wirklich etwas passiert sein sollte.
Als der Wagen anhielt, bemerkte Selwood einige Polizeibeamte in der offenen Tür. Ein Inspektor trat vor und sah unsicher auf Peggie Wynne. Selwood stieg schnell aus und ging auf ihn zu.
»Ich bin der Sekretär von Mr. Herapath. Mein Name ist Selwood«, stellte er sich vor und zog den Beamten etwas zur Seite, so daß die anderen ihre Unterhaltung nicht hören konnten. »Ist etwas Ernstes geschehen? Sagen Sie es mir bitte, bevor Miß Wynne davon erfährt. Mr. Herapath ist doch nicht etwa – tot?«
Der Inspektor sah ihn bedeutungsvoll an.
»Er wurde von dem Hausverwalter in seinem Privatbüro tot aufgefunden. Es ist entweder Mord oder Selbstmord – das ist klar!«
Selwood ging mit Mr. Tertius und Miß Wynne in den Warteraum.
»Der Inspektor hat mit Ihnen gesprochen – Sie wissen alles – sagen Sie es mir gleich«, wandte sie sich an ihn. »Ich kann alles hören, ich habe starke Nerven. Ist er tot?«
»Ja.«
Miß Wynne senkte den Kopf. Als sie ihn wieder hob, war sie zwar blaß, zeigte aber keine Erregung. Auch Mr. Tertius war ruhig und gefaßt.
»Wie starb er?« fragte er. »War es ein Herzschlag?«
Selwood zögerte.
»Ich fürchte, es ist eine traurige Botschaft für Sie«, erwiderte er mit einem Blick auf den Inspektor, der eben eintrat. »Die Polizei ist der Meinung, daß entweder Mord oder Selbstmord vorliegt.«
Peggie wandte sich kurz an den Beamten. Eine plötzliche Röte stieg in ihre Wangen.
»Nein, nie und nimmer kann es Selbstmord gewesen sein! Mord – das wäre möglich. Verheimlichen Sie mir nichts – sagen Sie mir bitte alles, was Sie wissen.«
Der Inspektor schloß die Tür und kam näher.
»Unsere Station wurde fünf Minuten nach acht von dem Hausverwalter hier angerufen. Er sagte uns, daß Mr. Herapath tot in seinem Arbeitszimmer läge, und bat uns, sofort zu kommen. Ich machte mich gleich mit einem anderen Beamten auf, und der Polizeiarzt folgte einige Minuten später. Wir fanden Mr. Herapath tot auf dem Boden. Dicht neben ihm lag –«
Der Beamte brach ab und sah auf Peggie. »Die Details sind nicht sehr angenehm – soll ich nicht lieber darüber schweigen?«
»Nein«, erwiderte sie entschieden. »Sagen Sie nur ruhig alles, was Sie gefunden haben.«
»Ein Revolver lag neben seiner rechten Hand. Eine Patrone war abgefeuert, und Mr. Herapath hatte eine Schußwunde in der rechten Schläfe. Offensichtlich war der Schuß aus allernächster Nähe abgegeben worden. Der Arzt sagte, daß der Tod sofort eingetreten sei.«
Peggie hatte vollständig gefaßt zugehört und machte unwillkürlich einige Schritte nach der Tür zu.
»Wir wollen zu ihm gehen«, sagte sie. »Er liegt doch wahrscheinlich noch dort im Zimmer.«
Aber Selwood trat ihr entgegen.
»Nein, tun Sie das nicht«, bat er sie.
»Mr. Selwood hat recht«, pflichtete der Inspektor bei. »Der Arzt ist noch dort. Vielleicht geht es später, wenn die Untersuchung beendet ist. Warten Sie bitte solange hier. Die Herren können mich begleiten.«
Peggie zögerte einen Augenblick, dann wandte sie sich um und setzte sich in einen Sessel.
»Nun gut.«
Selwood drehte sich an der Tür noch einmal zu ihr um.
»Versprechen Sie, uns nicht zu folgen?«
»Ich bleibe hier. Aber einen Augenblick noch. Wir müßten doch eigentlich meinen Vetter Barthorpe –«
»Wir haben schon nach Mr. Herapath geschickt«, unterbrach sie der Inspektor. »Der Verwalter hat auch an ihn telefoniert.«
Sie gingen den Gang entlang und erreichten das Privatbüro von Mr. Jacob Herapath, das nur er selbst und sein Sekretär benützten. Niemand durfte ihn dort stören, wenn er es nicht ausdrücklich wünschte. Aber nun waren viele Fremde hier eingedrungen, und Herapath lag stumm in ihrer Mitte. Sie hatten ihn auf einen Diwan gelegt. Sein Gesichtsausdruck war ruhig. Sie konnten keine Spur von plötzlicher Furcht oder Erregung in seinen Zügen bemerken.
»Wenn Sie einmal hersehen wollen, meine Herren«, sagte der Inspektor und führte die beiden zu dem Teppich. »Alles ist noch so, wie wir es gefunden haben; es ist nichts geändert worden. Er lag an dieser Stelle, hier der Kopf und dort die Füße. Offenbar war er seitwärts vom Stuhl heruntergeglitten und der Länge nach auf den Teppich gefallen. Der Revolver lag dort – nur einige Zentimeter von seiner rechten Hand entfernt. Hier ist die Waffe.«
Er zog eine Schublade des Schreibtisches auf und nahm eine Pistole heraus, mit der er sehr sorgfältig umging, als er sie Selwood und Tertius zeigte.
»Ist sie Ihnen bekannt? Ich meine, erkennen Sie die Pistole als Eigentum von Mr. Herapath wieder? – Nein? – Nun, er konnte sie ja auch in seinem Schreibtisch oder Geldschrank aufbewahrt haben, ohne daß jemand etwas davon wußte. Wir werden den ganzen Raum sorgfältig durchsuchen, vielleicht finden wir noch weitere Patronen oder Zubehörteile. Das wäre also der Tatbestand. Dem Augenschein nach und nach Aussage des Arztes ist der Schuß aus nächster Nähe abgefeuert worden.«
Mr. Tertius, der aufmerksam zugehört hatte, wandte sich an den Doktor.
»Glauben Sie denn, daß Mr. Herapath die Waffe gegen sich selbst gerichtet hat?«
»Nach der Lage des Körpers und der Schußwaffe ist das sehr wahrscheinlich.«
»Es könnte aber auch anders gewesen sein«, meinte Mr. Tertius leise.
Der Polizeiarzt zuckte die Schultern.
»Es wäre natürlich auch möglich, daß ein kühl berechnender Mörder die Waffe neben ihn gelegt hat.«
»Ja, das ist auch meine Meinung«, versicherte Mr. Tertius. Er blieb einen Augenblick schweigend dort stehen und starrte auf den Teppich, dann wandte er sich wieder zur Tür. »Wie lange war Mr. Herapath wohl schon tot, als Sie kamen?«
»Seit acht Stunden«, entgegnete der Doktor prompt.
»Und wann sind Sie hergekommen?«
»Viertel nach acht. Ich möchte sagen, daß er ungefähr um Mitternacht starb.«
»Um Mitternacht!« wiederholte Tertius leise. »Also –«
Bevor er weitersprechen konnte, öffnete ein Polizist, der in dem Gang Wache gehalten hatte, die Tür und meldete dem Inspektor, daß Mr. Barthorpe Herapath gekommen sei.
Barthorpe übernimmt die Leitung.
Der junge Mann machte einen gefaßten und ruhigen Eindruck, als er eintrat. Es fiel allen auf, daß er, abgesehen von dem Altersunterschied, sowohl in Gestalt als auch im Aussehen dem Toten auffallend glich. Beide waren groß, schlank und wohlproportioniert. Jacob Herapath war allerdings ergraut, während sein Neffe, der dreißig bis fünfunddreißig Jahre zählen mochte, dunkles Haar hatte.
Barthorpe beugte sich über den Toten und betrachtete ihn lange. Sein Gesicht blieb aber undurchdringlich und zeigte keine Ergriffenheit, als er sich wieder aufrichtete. Er begrüßte Mr. Tertius und Selwood nur durch ein leichtes Kopfnicken und wandte sich dann an die Polizeibeamten.
»Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.« Sein Ton klang beinahe befehlend.
Nachdem ihm der Inspektor alles berichtet hatte, wandte sich Barthorpe an Selwood. Mr. Tertius schien er absichtlich zu übersehen.
»Was ist denn in der Wohnung am Portman Square bekannt? Sagen Sie mir das bitte kurz.«
Selwood hatte Barthorpe erst zweimal gesehen, empfand aber eine instinktive Abneigung gegen ihn. So knapp als möglich erzählte er ihm, was vorgegangen war.
»Dann ist also meine Kusine hier im Hause?«
»Ja, Miß Wynne befindet sich in dem großen Wartezimmer am anderen Ende des Ganges.«
»Ich werde gleich zu ihr gehen. Nun muß noch Verschiedenes angeordnet werden, Inspektor. Natürlich wird eine Totenschau stattfinden, Sie müssen also sofort den Vorsitzenden der Mordkommission benachrichtigen. Dann muß die Leiche fortgebracht werden – bitte übernehmen Sie das auch. Bevor Sie aber gehen, wäre es mir lieb, wenn Sie alle Anhaltspunkte mit mir sammeln würden, deren wir habhaft werden können. Sind seine Taschen schon durchsucht?«
Der Inspektor zog eine Schublade des Schreibtisches auf und zeigte auf verschiedene Gegenstände, die darin lagen.
»Alles, was wir gefunden haben, ist hier. Es ist nicht viel. Eine Taschenuhr und Kette, ein Geldbeutel, loses Geld, eine Brieftasche, ein Zigarrenetui. Seine Schlüssel haben wir nicht entdecken können. Er hatte nicht einmal seinen Hausschlüssel bei sich. Und doch muß er selbst die Haustür hier aufgeschlossen haben, und er brauchte doch auch einen Schlüssel, um hier hereinzukommen.«
»Das ist merkwürdig«, sagte Barthorpe nach einer Pause bestürzt und neigte sich über die offene Schublade. »Natürlich müssen wir diesem Umstand genaue Beachtung schenken. Schließen Sie jetzt das Fach ab, und nehmen Sie den Schlüssel selbst in Verwahrung. Später wollen wir die Gegenstände noch einmal genauer betrachten. Nun müssen wir aber weitere Nachforschungen anstellen. Mr. Selwood, telefonieren Sie doch bitte einmal nach Portman Square, daß der Hausmeister und der Chauffeur sofort herkommen sollen. Inspektor, wollen Sie in der Zwischenzeit die Anordnungen treffen, über die wir eben sprachen? Der Hausverwalter muß auch gerufen werden. Ich will jetzt meine Kusine begrüßen.«
Mit diesen Worten verließ er den Raum und ging mit energischen Schritten zu dem Wartezimmer hinüber. Selwood folgte ihm den Gang entlang und sah, daß er hineinging und die Tür hinter sich schloß.
Selwood schalt sich selbst einen Narren, weil er Unwillen darüber empfand, daß Barthorpe Peggie Wynnes Vetter war und nun wahrscheinlich ihren Beschützer spielen würde. In den vergangenen drei Wochen hatte er Peggie oft genug gesehen und war im besten Begriff, sich in sie zu verlieben, obwohl er sich selbst sagte, daß er nicht daran denken durfte, eine der reichsten Erbinnen Londons zu heiraten.
Als der Hausmeister und der Chauffeur nach kurzer Zeit ankamen, erzählte ihnen Selwood, was geschehen war. Gleich darauf trat auch Barthorpe Herapath aus dem Wartezimmer und winkte dem Inspektor, der sich leise mit dem Detektiv unterhielt.
»Kommen Sie bitte mit Ihrem Assistenten herein. Dann brauche ich noch den Hausverwalter, Kitteridge und Mountain. Darf ich Sie auch bitten, Mr. Selwood?«
Er blieb an der Tür stehen, während die anderen hineingingen. Peggie saß noch in ihrem Sessel. Tertius wollte Selwood folgen, aber Barthorpe vertrat ihm den Weg.
»Dies ist eine Privatuntersuchung, die ich persönlich anstelle, Mr. Tertius«, sagte er mit einem bezeichnenden Blick.
Selwood wandte sich erstaunt um. Er sah, wie Mr. Tertius errötete, stehenblieb und Barthorpe verwirrt ansah.
»Wünschen Sie nicht, daß ich zugegen bin?« fragte er stockend.
»Offen gestanden nicht«, entgegnete Barthorpe mit fast beleidigender Offenheit. »Später wird noch eine Totenschau stattfinden, dorthin können Sie ja gehen. Das kann ich Ihnen nicht verbieten.«
Mr. Tertius machte eine kurze, förmliche Verbeugung, wandte sich um und verließ das Gebäude.
Barthorpe Herapath lachte leise und verächtlich, dann ging er in das Wartezimmer und schloß die Tür. Er bat alle Anwesenden, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst in einen Sessel neben Peggie.
»Inspektor Milner«, begann er, »wir müssen jetzt sehen, daß wir durch ein erstes Verhör die Sache möglichst klären können, solange noch alle Tatsachen frisch im Gedächtnis sind. Soviel ich gehört habe, neigte der Polizeiarzt zu der Meinung, daß mein Onkel Selbstmord verübt hat. Es tut mir leid, daß er schon gegangen ist, denn meiner Meinung nach ist diese Ansicht unhaltbar. Meine Kusine und ich kannten unseren Onkel zu gut, und wir sind beide davon überzeugt, daß ein Selbstmord bei Mr. Jacob Herapath nicht in Frage kam. Wir sind auch fest entschlossen, diese Annahme mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen, wenn sie bei der Totenschau vorgebracht werden sollte. Mein Onkel ist sicher ermordet worden. Vor allem müssen wir nun feststellen, wo er gestern abend gewesen ist. Zuerst wollen wir den Hausverwalter hier hören. Hancock«, wandte er sich an einen älteren Mann, »Sie waren doch der erste, der meinen Onkel hier auffand?«
Hancock war sehr aufgeregt, aber er nahm sich zusammen.
»Ja, ich habe ihn zuerst hier gefunden.«
»Um wieviel Uhr war das?«
»Punkt acht. Um diese Zeit öffne ich gewöhnlich die Büroräume.«
»Sagen Sie uns genau, wie Sie ihn fanden.«
»Ich machte die Tür zum Privatbüro auf, um die Vorhänge aufzuziehen und die Fenster zu öffnen. Als ich durchs Zimmer ging, sah ich ihn auf dem Teppich liegen. Gleich darauf entdeckte ich den Revolver.«
»Natürlich waren Sie sehr erschrocken. Was haben Sie denn dann gemacht?«
»Ich verließ das Zimmer, schloß die Tür ab und ging zum Telefon, um die Polizei zu benachrichtigen. Dann wartete ich draußen, bis Inspektor Milner kam.«
»War die Haustür wie gewöhnlich geschlossen, als Sie heute morgen herunterkamen?«
»Ja. Sie war eingeklinkt. Mr. Herapath pflegte das so zu halten, weil er häufig spät abends hierherkam, um zu arbeiten.«
»Gut. Diese Büroräume liegen nun weit ab von den bewohnten Teilen des Gebäudes, beachten Sie das bitte besonders, Inspektor Milner. Man kann von den Büroräumen nicht direkt in andere Teile des Hauses kommen. Es gibt auch nur einen Eingang zu den Büros, und zwar durch die Haustür. Das stimmt doch, Hancock?«
»Ja, das ist richtig.«
»Und die einzigen, die während der Nacht Zutritt zu diesen Räumen haben, sind Sie und Ihre Frau, Hancock?«
»Ja.«
»Wo liegt denn Ihre Wohnung?«
»Im Kellergeschoß haben wir Wohnzimmer und Küche, und im Dachgeschoß schlafen wir.«
»Wieviel Stockwerke hat denn dieses Haus?«
»Da ist das Kellergeschoß, das Erdgeschoß, dann zwei Stockwerke, in denen die Angestellten arbeiten, und das Dachgeschoß.«
»Wann sind Sie und Ihre Frau gestern abend zu Bett gegangen?«
»Um elf Uhr, etwas später als sonst.«
»Haben Sie vorher eine Runde im Hause gemacht?«
»Ja, das tue ich jeden Abend.«
»Haben Sie und Ihre Frau einen gesunden, festen Schlaf?«
»Ja.«
»Sie haben nichts gehört, nachdem Sie zu Bett gegangen waren?«
»Nein.«
»Haben Sie keinen Revolverschuß gehört?«
»Nein.«
»Auch nicht das Anfahren eines Autos, das Öffnen und Schließen von Türen?«
»Nein.«
»Sie haben sich doch sicher in dem Raum umgesehen, nachdem Sie Mr. Herapath fanden? Haben Sie Anzeichen dafür entdeckt, daß ein Handgemenge stattgefunden hat?«
»Nein, davon habe ich nichts gesehen. Nur der Armsessel, in dem Mr. Herapath gewöhnlich saß, war ein wenig zurückgeschoben. Das war alles.«
»Brannte das elektrische Licht noch?«
»Nein.«
»Wenn ich also Ihre Aussagen zusammenfasse, so haben Sie weder etwas gehört, noch ist Ihnen etwas aufgefallen, bis Sie heute morgen herunterkamen?«
»Ja, so war es.«
Barthorpe nickte und wandte sich an den Chauffeur.
»Mountain, nun erzählen Sie, was Sie wissen. Seien Sie aber sehr sorgfältig, denn Ihre Angaben sind von der größten Wichtigkeit.«
Der Berichterstatter.
Der Chauffeur rückte unwillkürlich ein wenig näher an den Tisch heran und sah ängstlich und gespannt auf Herapath.
»Soviel ich weiß, haben Sie meinen Onkel gestern abend vom Parlament abgeholt?« begann Barthorpe.
»Jawohl.«
»Wo ist er eingestiegen?«
»Wie gewöhnlich in Palace Yard, direkt vor der Eingangshalle.«
»Um wieviel Uhr war das?«
»Viertel nach elf. Die große Turmuhr schlug gerade.«
»War Mr. Herapath allein, als er aus dem Gebäude herauskam?«