Kankos Reise - Rin Usami - E-Book

Kankos Reise E-Book

Рин Усами

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Beschreibung

In ihrem neuen Roman gibt der japanische Shootingstar Rin Usami einen Einblick in die Psyche einer jungen Frau, die die Anforderungen der Gesellschaft und ihrer Familie bewältigen muss.  Die siebzehnjährige Kanko ist überfordert: Sowohl in der Schule als auch zu Hause kommt sie nicht hinterher und hat kaum Freunde. Sie leidet an Depressionen und muss sich zudem um ihre Mutter kümmern, die alkoholkrank ist und mit den Spätfolgen eines Schlaganfalls zu kämpfen hat. Ihre beiden Brüder sind von zu Hause ausgezogen und übrig bleibt nur der gewalttätige Vater, der ihr auch keine Hilfe bieten kann. Als seine Mutter verstirbt, unternimmt die Familie einen Roadtrip zur Beerdigung. Auf dieser Fahrt werden nicht nur die Familiendynamiken sichtbar, sondern auch die Tatsache, dass jedes Familienmitglied sein eigenes Päckchen zu tragen hat. Obwohl die Situation mehrmals zu eskalieren droht, kann sich die Familie zusammenreißen, und für Kanko besteht am Ende sogar die Aussicht auf Besserung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 177

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Rin Usami

Kankos Reise

Roman

Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Rin Usami

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Rin Usami

Rin Usami wurde 1999 in der Präfektur Shizuoka in Japan geboren. Schon in der Highschool begann sie mit dem Schreiben von Romanen. Ihr Debütroman wurde mit dem Yukio-Mishima-Preis ausgezeichnet, womit sie die jüngste Preisträgerin in der Geschichte dieses Preises ist. Im Jahr 2020, im Alter von 21 Jahren, gewann Usami den renommierten Akutagawa-Preis für »Idol in Flammen«. Sie lebt in Tokio. 

Der Übersetzer

Luise Steggewentz, geboren 1988, studierte Japanologie und Literarisches Übersetzen in München. Sie übertrug Werke von Durian Sukegawa, Emi Yagi und Seishū Hase ins Deutsche. Mittlerweile lebt sie in Japan.

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Über dieses Buch

Die siebzehnjährige Kanko ist überfordert: Sowohl in der Schule als auch zu Hause kommt sie nicht hinterher und hat kaum Freunde. Sie leidet an Depressionen und muss sich zudem um ihre Mutter kümmern, die alkoholkrank ist und mit den Spätfolgen eines Schlaganfalls zu kämpfen hat. Ihre beiden Brüder sind von zu Hause ausgezogen und übrig bleibt nur der gewalttätige Vater, der ihr auch keine Hilfe bieten kann. Als Kankos Großmutter stirbt, machen sich alle gemeinsam auf zur Beerdigung. Auf dieser Fahrt werden nicht nur die Familiendynamiken sichtbar, sondern auch die Tatsache, dass jedes Familienmitglied sein eigenes Päckchen zu tragen hat.

Inhaltsverzeichnis

»Kanko«, ruft eine Stimme …

Ein warmer Sonnenstrahl …

Kanko denkt, sie hat etwas gehört …

»Kanko«, ruft eine Stimme. Sie gehört der Mutter, die aus der Küche ins Wohnzimmer gekommen ist und die Treppe hinaufschreit. Kanko, Mittagessen. Kanko, Abendbrot. Eine Stimme, die eigentlich nicht hier sein sollte. Sie ist es aber, schlängelt sich zwischen Traum und Wirklichkeit hindurch. Früher hatte die Stimme noch »Nii, Kanko, Pon« gerufen. Als der große Bruder im letzten Jahr das Elternhaus verließ, wurde daraus »Kanko, Pon«. Und seit der kleine Bruder im Frühjahr zu den Großeltern gezogen war, rief diese Stimme nur noch »Kanko«. Die Mutter ruft von unten. Immer wieder ist ihre Stimme zu hören. Nii, Kanko, Pon. Nii, Kanko, Pon. Kanko, Pon. Kanko, Pon. Kanko. Kanko. – – –.

Ein warmer Sonnenstrahl brennt sich in Kankos Rücken. Sie spürt, wie es auf ihrer gekrümmten, sich abzeichnenden Wirbelsäule heiß wird. Das Licht hat die Farbe hellen Blutes. Es kriecht zwischen ihre geschlossenen Lider und in ihre Augenwinkel und verdunkelt sich mit jedem sanften Windhauch. Die Hitze verschmutzt beim Atmen ihre Lunge, sammelt sich auf ihrer Stirn und in ihrem Haar. Als eine sanfte Brise ihre Nase kitzelt und ihre linke Wange leicht abkühlt, fühlt sich Kanko, als würde sie jemanden auf den Schultern tragen. Sie glaubt, einen Atem in ihrem Nacken zu spüren.

Durch das Fenster hört sie in der Ferne die Bauarbeiten am neuen Schulgebäude und erst, als der Wind sie als Lärm zu ihr herüberträgt, wacht sie richtig auf. Unbekannte Gesichter in einem stillen Klassenzimmer. Sie hebt den Kopf und fasst sich an die rechte Wange, die vom Liegen auf dem Tisch einen Abdruck bekommen hat und ein wenig verschwitzt ist. Kanko weiß, dass sie wieder einmal eingeschlafen ist. Sie steckt mit einem Flattern in der Brust ihr Lehrbuch für klassisches Japanisch, das seit der vierten Stunde aufgeschlagen auf ihrem Tisch liegt, und ein Lexikon voller Eselsohren in ihre Schultasche. Ihr Mund schmeckt nach trockenem Speichel. »Wach, die Dame?«, fragt die Physiklehrerin ausdruckslos, während sie Kanko dabei beobachtet, wie sie beschämt ihre Bücher und Hefte vom Tisch räumt. Als Kanko aufblickt, wendet sich die Lehrerin von ihr ab und setzt den Unterricht fort.

»Kanko, du bist doch im geisteswissenschaftlichen Zweig, oder? Ihr seid jetzt in einem anderen Klassenzimmer«, flüstert ihr ein Mädchen zu, das schräg hinter ihr sitzt und bis vor einem Jahr mit ihr in einer Klasse war. In der fünften Stunde müssen die Schülerinnen und Schüler des geisteswissenschaftlichen Zweigs in einen kleineren Raum umziehen, weil hier der Physikunterricht stattfindet. Kanko bedankt sich murmelnd und steht auf. Es ist das erste Mal, dass sie in einer ganz anderen Klasse aufgewacht ist. Aber ähnliche Situationen erlebt sie ständig. Oft verschläft sie die Mittagspause und stellt dann panisch fest, dass die nächste Stunde schon begonnen hat, oder sie wacht beim Läuten der Schulglocke allein in einem dunklen Klassenzimmer auf, aus dem ihre Mitschüler längst in die Turnhalle verschwunden sind.

Kanko schlängelt sich zwischen den Tischen hindurch zur Tür und betritt den Flur mit der großen Fensterfront. Die Schule ist von sattgrünen Bäumen umgeben. Im Erdkundeunterricht haben sie gelernt, dass sie nachträglich gepflanzt wurden, nachdem der Berg für den Bau des Schulgebäudes abgetragen worden war. Diesen Bäumen fehlt der typische Geruch nach Wald und Erde. Und im Sommer liegt auch nicht der Duft von feuchtem, warmem Gras in der Luft.

Vom anderen Ende des Flurs kommt Kankos Sportlehrer auf sie zu. Als er sie unsicher in Richtung des kleinen Klassenzimmers tappen sieht, fragt er mit einem übertrieben lauten Lachen: »Alles in Ordnung, Akino?« Kanko gefällt sein trockenes Lachen. Es klingt nicht böse, sondern wie ein aufmunterndes Schulterklopfen.

»Du schwänzt gerade den Unterricht?«

»Sieht so aus.« Das ist also Schwänzen, denkt Kanko. Sie hat immer angenommen, das sei etwas, was man aus Faulheit oder Rebellion tut, auf jeden Fall aber freiwillig. In Wirklichkeit scheint es keine bewusste Entscheidung zu sein, sondern etwas, das einfach passiert, wenn man den Dingen ihren Lauf lässt. Kanko geht weiter. Sie biegt um die Ecke mit der weißen Bank, läuft am Schulkiosk vorbei, der von einer eleganten grauhaarigen Dame geführt wird, und steigt die Treppe neben dem Lehrerzimmer hinauf, immer noch mit der Absicht, in den Unterricht zu gehen. Doch auf dem nächsten Treppenabsatz wollen ihre Füße plötzlich weiter nach oben. Sie nimmt die erste Stufe, dann die zweite. »Hey, hey«, flüstert sie zu sich selbst. »Hey, hey, hey.« Sie steigt die Treppe bis zum obersten Stockwerk hinauf. In letzter Zeit ergreift diese fixe Idee immer wieder Besitz von ihr. Sie muss daran denken, dass ihnen die Physiklehrerin, in deren Unterricht sie gerade aufgewacht ist, im Jahr zuvor das Trägheitsgesetz erklärt hat. Manchmal, wenn Kanko im Krankenhaus dem auf der Drehorgel gespielten Kanon von Pachelbel lauscht, der den Patienten zur Entspannung vorgespielt wird, oder auf dem Rückweg von der Schule in den klaren Himmel blickt oder im Klassenzimmer mit ihren Stäbchen die Cocktailtomaten in ihrer Lunchbox anstupst, verwandelt sie sich plötzlich in ein bloßes Objekt, das keine Veränderung seines Bewegungszustandes mehr zulässt. Entweder erstarrt sie oder sie wiederholt endlos irgendeinen Vorgang. Vor etwa eineinhalb Jahren fing das an. Eines Morgens wachte sie in beschwingter Stimmung auf. Ihre Füße trugen sie wie von selbst zu einem Baumarkt, wo sie einen Strick kaufte, mit dem sie zu einem kleinen städtischen Schrein lief und ihn dort an einem heiligen Baum befestigte. Als sie wieder zu Hause war, rief ihre Mutter den Klassenlehrer an. Kanko saß in der Badewanne und lauschte der Stimme der Mutter durch die Badezimmertür. Dabei starrte sie lange auf die Temperaturanzeige. Das Wasser war so heiß, dass es auf ihrem durchgefrorenen Körper brannte. Dann begannen die Gespräche. Gespräche mit ihrem Klassenlehrer, mit Therapeuten, mit Ärzten. Meine Mutter kämpft mit den Folgen eines Schlaganfalls und mein Vater schreit mich an, wenn ich nicht zur Schule gehe. Mein älterer Bruder ist ausgezogen, weil er es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat. Mein jüngerer Bruder hat sich für eine Schule in der Nähe unserer Großeltern beworben und wohnt ab nächstem Jahr bei ihnen. Ich habe keine richtigen Freunde in meiner Klasse und bin immer allein, aber ich werde auch nicht gemobbt. Bei Gruppenarbeiten tun sich ein paar Mitschülerinnen mit mir zusammen. Wir bekommen viele Hausaufgaben. Nachts gibt es bei uns zu Hause immer Streit, da kann ich kaum schlafen. Ich habe zu oft gefehlt und bin deshalb in meiner Schul-AG nicht mehr gern gesehen. Bald werde ich offiziell austreten. Mit meinem Klassenlehrer verstehe ich mich nicht gut. Von einer Mitschülerin habe ich gehört, dass er meine Eltern »Monster« genannt hat. Ich werde immer lustloser. Ich kann mich weder zum Aufräumen noch zum Lernen aufraffen. In den Unterricht schaffe ich es auch kaum.

Es laut auszusprechen entwertet die Bedeutung des Gesagten. Alles schien die Ursache ihres Problems zu sein, doch nichts erklärte es richtig. Kanko gibt oft anderen die Schuld dafür, dass sie ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle hat. Sie macht Ereignisse dafür verantwortlich. Wenn sie es jemandem erzählt, hat sie kurz das Gefühl, die Ursache für ihre Probleme gefunden zu haben, aber sobald sie sich bei ihrem Gesprächspartner bedankt, das Zimmer verlässt und einen Fuß auf das grüne Gras vor der Tür setzt, fühlt sich alles wieder falsch an. Dieser seltsame heiße Klumpen in ihrem Innern verändert seine Form, sobald er ihren Hals durchläuft und ihren Mund verlässt. Und wenn sie nach der Zeit vor zwei Jahren gefragt wird, als ihre Mutter mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wurde, weiß sie überhaupt nicht, was sie sagen soll. Die ersten Anzeichen traten auf, während ihre Mutter arbeitete, aber Kanko kann sich weder daran erinnern, wann sie benachrichtigt wurde, noch daran, wie sie sich fühlte, als sie ihre Mutter zum ersten Mal unter den Lähmungen und anderen Folgen des Schlaganfalls leiden sah. Einen Abend wird sie aber niemals vergessen.

Wind umspielte zitternd das Dach. Auf der abschüssigen Straße vor ihrem Haus fuhr eine Frau mit ihrem Kind auf dem Fahrrad vorbei. Wie immer klang das helle Stimmchen des Kindes wie eine Glocke nach. Die tiefere Stimme der Mutter, die auch da sein musste, wurde viel schneller von der Dunkelheit verschluckt.

Da im Fernsehen gesagt worden war, man solle Lebensmittel immer erst heiß abwaschen, füllte die Mutter eine Glasschüssel mit warmem Wasser und legte Geflügelfleisch hinein. Seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus erholte sie sich dank einer Reha langsam, doch ihre linke Körperhälfte war weiterhin teilweise gelähmt, weshalb sie beim Kochen sicherheitshalber eine Küchenschere statt eines Messers benutzte. Während Kanko in der Nähe ihrer Mutter für eine Prüfung lernte, unterhielten sie sich, wie so oft. Doch als das Gespräch auf einen Kinofilm kam, den sie sich in der Woche zuvor gemeinsam angesehen hatten, reagierte die Mutter auf einmal nicht mehr.

Kanko hob den Blick und sah das verstörte Gesicht ihrer Mutter, die sich mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte abstützte. Sie ahnte sofort, was los war, und stellte ihrer Mutter einige Fragen. Erinnerte sie sich noch an die Bäckerei, die vor Kurzem in der Nachbarschaft eröffnet wurde? An die Blumen, die Kanko ihr ins Krankenhaus mitgebracht hatte? Ihre Mutter sah sie verständnislos an, als hätte sie sie mit jemandem verwechselt. Kanko lächelte verlegen. Sie dachte an den Heimweg vom Kino, an ihr Gespräch über die Szenen, die ihnen gefallen hatten, und den Schauspieler, der die Rolle des Lehrers so hölzern gespielt hatte. Das Licht war wunderschön auf die Allee gefallen, aber auch das musste die Mutter vergessen haben.

Die Fleischstücke wurden weiß. Die Mutter meinte, sie seien zu heiß geworden, und hielt sie noch einmal unter kaltes Wasser. Ihr Gesicht war aschfahl, während sie sich mit der nassen Hand an der Wange kratzte und immer wieder verwundert den Kopf zur Seite legte. Als das lächerlich laute Piepen der Waschmaschine ertönte, versuchte Kanko, ihre Mutter davon abzuhalten, das Fleisch einfach liegen zu lassen, um ins Bad zu eilen und die Wäsche aufzuhängen. Während die Mutter noch in ihren Bewegungen eingeschränkt war, sollten die anderen Familienmitglieder alle Hausarbeiten außer dem Kochen erledigen. Doch sie wehrte sich mit aller Kraft gegen ihre Tochter, beugte sich tief über die Wäschetrommel des Topladers, holte die nassen Kleidungsstücke heraus und hängte sie auf.

Die Neonröhre leuchtete schwach. Weiße Lichtstreifen zogen sich wie Sehnen durch das Haar der Mutter, das ihr über die Schultern fiel. Sie trug einen ausgeblichenen rosa Pyjama aus Kunstfaser. Bei jeder Bewegung warf der Stoff weiche Falten auf ihrem Rücken. Ihre linke Hand griff nach einem Hemd und ließ es wieder fallen. Dann ließ sie die Waschmaschinenladung stehen, als hätte sie plötzlich das Interesse daran verloren, und ging stattdessen im Wohnzimmer auf und ab. Kanko bückte sich, um das nasse Hemd aufzuheben.

In diesem Moment hörte sie einen Schrei, der die Luft zu zerreißen schien. Sie sah den Rücken ihrer Mutter, als sie auf dem Boden zusammenbrach und sich wie ein kleines Kind mit beiden Händen an den Haaren zog. Sie schrie. Schrie etwas Unsichtbares an, während sie sich immer wieder verbeugte.

Kanko musste daran denken, wie geduldig ihre Mutter früher gewesen war. Seit dem Schlaganfall hatte sie sich verändert und Kanko fühlte sich verpflichtet, sie zu beruhigen, wenn sie wieder einmal in Tränen ausbrach. Ihre Mutter sah aus wie ein Kleinkind, das im Supermarkt auf dem Boden kauert und mit brüchiger Stimme weint, weil es nicht bekommt, was es will, aber Kanko ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Sie wollte unbeschwert lachen, um ihre Mutter zu beruhigen. Na komm, du bist doch kein kleines Kind, wollte sie sagen. Doch als sie auf sie zuging und eine Hand nach ihr ausstreckte, stockte sie schon beim »Na« und auf einmal liefen ihr Tränen über die Wangen. »Mama.«

Mama, Mama, flüsterte sie, ging in die Hocke und schmiegte ihr Gesicht an den Rücken ihrer Mutter, die nicht reagierte. Immer wieder hatte sie ihr an diesem Abend den Rücken gestreichelt.

Jetzt erklimmen Kankos Füße wie von selbst die Treppe. Zum Himmel, zum Himmel, so hoch wie möglich. Ihr Körper schwillt an und sie hält es kaum aus. An Depressionen zu leiden bedeutet, dass man sich in einen Wasserballon verwandelt, denkt sie. Jeder Tag wird so mühsam und schmerzhaft, als ob man einen Wasserballon über den Asphalt schleift, und schon die kleinste Kleinigkeit macht ihn rissig und lässt ihn platzen. Sie erreicht den obersten Treppenabsatz und wirft sich gegen die Tür. Erst jetzt kommt ihr Körper zum Stillstand. Sie drückt die Klinke herunter. Wie erwartet ist die Tür verschlossen. Das Dach der Schule bleibt versperrt, also legt sie ihre Wange an die Milchglasscheibe und denkt an den Himmel dahinter. Sie geht in die Hocke. Eigentlich hat sie gerade gar nicht vor, es zu tun, aber der Gedanke hat sich plötzlich verselbstständigt. Sie fragt sich, wie viele Fantasiegebilde von Schülern wohl schon hinter diesem Fenster in die Tiefe gestürzt sind.

Sie sitzt noch eine Weile da, bis der Schatten eines Vogels hinter dem Fenster vorbeifliegt und sie wieder zu sich kommt. Während sie das gleißende Sonnenlicht auf ihrem Gesicht spürt, denkt Kanko darüber nach, wie es sie manchmal einfach packt und von einem Moment auf den anderen mitreißt. Der Zustand ihrer Mutter hat sich seit jenem Abend langsam gebessert. Sie ist zwar immer noch teilweise gelähmt und hat Gedächtnisprobleme, aber man merkt es ihr nicht mehr sofort an.

Kanko hat Hunger. In ihrer Rocktasche befindet sich noch das Wechselgeld für den Tee, den sie sich am Morgen im Convenience-Store besorgt hat, und sie beschließt, sich am Schulkiosk etwas davon zu kaufen. Als sie endlich aufsteht, wird auf einmal ihr Name durch den Schullautsprecher ausgerufen. Kanko rennt nach unten ins Lehrerzimmer. Sie befürchtet, jemand könnte sie gesehen haben, doch es geht um etwas ganz anderes.

»Ich habe dich in der Klasse gesucht, aber du warst nicht da«, sagt ihr Klassenlehrer, während er Papiere auf seinem Schreibtisch sortiert. Ihre Mutter komme sie abholen, weshalb sie auf dem Lehrerparkplatz warten solle.

Kanko geht durch den Hinterausgang neben der Turnhalle auf den Parkplatz und wartet im Schatten eines Wetterhäuschens auf ihre Mutter. Das Trillern einer Pfeife dringt gedämpft an ihre Ohren. Noch immer sind die Wolken schwanger vom hellen Sonnenlicht. Für einen Moment glaubt Kanko, es würde regnen, doch dann sieht sie, dass nur fünf oder sechs Wasserläufer über die Oberfläche des Teiches huschen. Die kleinen sich überlappenden Ringe, die dabei entstehen, erwecken den Anschein von Regen.

Kanko fröstelt und zieht sich die Schulsportjacke über, die sie sich um die Taille gebunden hat. Jedes einzelne Blatt in der Baumreihe vor ihr wird vom Wind bewegt. Sie starrt aufs Ende der Straße und wartet, bis das gelbgrüne Auto, das im gleißenden Sonnenlicht den Hang hinauffährt, bei ihr angekommen ist.

»Steig vorne ein«, sagt ihre Mutter, die das Fenster auf der Fahrerseite heruntergelassen hat. Der Blick des Fahrers im Auto hinter ihr lässt Kanko schnell einsteigen. Sie stellt ihre Schultasche in den Fußraum des Beifahrersitzes und achtet darauf, die Griffe nicht einzuklemmen, als sie die Tür zuschlägt. Auf einmal ist die Sonne verdeckt und im dunklen Wageninneren wird Kanko schwindelig.

Der Tee sei für sie, sagt ihre Mutter. Kanko schaut auf die zwei Pappbecher mit Strohhalmen. Durch beide Deckel kann sie eine braune Flüssigkeit sehen.

»Ist in beiden Tee?«

»Nein, in einem ist Cola«, antwortet die Mutter auf die Straße blickend.

Kanko fragt sich, was passiert ist, warum sie abgeholt wurde. Aus dem Tonfall ihrer Mutter schließt sie, dass es nichts Gutes sein kann. Irgendjemandem ist etwas zugestoßen, denkt sie, verbannt den unheilvollen Gedanken aber sofort wieder aus ihrem Kopf. Der Schweiß, der ihr beim Einsteigen in den Achselhöhlen ausgebrochen ist, kühlt schon wieder ab. Kanko nimmt sich einen der Pappbecher, an denen sich Kondenswasser gebildet hat, schließt mit der freien Hand den Gurt und wirft einen Blick nach hinten. Auf dem Rücksitz stapelt sich das Gepäck. Als sie fragt, wohin sie fahren, antwortet ihre Mutter: »Nach Katashina. Oma hat nicht mehr lange.«

Es wird zweimal laut gehupt, dann tritt die Mutter mit ausdruckslosem Gesicht auf die Bremse. Das Auto ruckelt. Als es mit der Schnauze weit über der Haltelinie an einer gerade rot gewordenen Ampel zum Stehen kommt, nimmt sich die Mutter den zweiten Becher und saugt am Strohhalm.

»Okay«, antwortet Kanko knapp. Es sieht nicht danach aus, als stünde ihre Mutter kurz vor einem Gefühlsausbruch, wie sonst so oft. Vielleicht sträubt sie sich, sich etwas zu Herzen zu nehmen, das ihre Schwiegermutter betrifft, eine Haltung, die sich auch Kanko angewöhnt hat. Nachdem sie einen Schluck getrunken hat, stellt ihre Mutter die Cola zurück in den Halter.

»Heißt das, wir fahren ins Krankenhaus?«

»Ja, Nii ist schon auf dem Weg dorthin. Und dein Vater ist in den Shinkansen gestiegen, gleich nachdem er auf der Arbeit die Nachricht bekommen hat.«

Kanko blickt auf das Ende der Straße, das aussieht, als hätte sich ein weißer Film darübergelegt. Dabei denkt sie daran, dass ihr Vater nie ein gutes Wort für seine eigene Mutter übrighatte. Seit mehreren Jahren besuchten sie die Großmutter nicht einmal mehr, aber selbst früher, als sie sich noch ab und zu auf den Weg zu ihr gemacht hatten, hatte er sie immer auf Abstand gehalten.

Es lärmt in Kankos Ohren. Aus dem Schatten der Bäume am Straßenrand dringt das dissonante Zirpen der Zikaden. Der Sonnenschirm einer Frau, die vor ihnen die Straße überquert, erstrahlt so hell, dass Kanko den Eindruck hat, darunter würde sich die Hitze noch mehr stauen. Kalte Luft bläst aus der Klimaanlage direkt auf ihre nackten Beine. Kanko spürt die Falten ihres Schuluniformrocks an der Rückseite ihrer verschwitzten Oberschenkel und öffnet sie ein wenig, um Luft durchzulassen.

Nii wird auch da sein, wird ihr mit einiger Verspätung bewusst. Ihr großer Bruder hat eine Arbeitskollegin geheiratet und lebt nun mit ihr in Tochigi. Seitdem ist der Kontakt zu ihm fast vollständig abgebrochen, doch die Nachricht vom kritischen Zustand seiner Großmutter scheint ihn irgendwie erreicht zu haben, wahrscheinlich über seine Frau Natsu. Kankos Mutter meint, Nii werde das Krankenhaus als Erster erreichen.

Und tatsächlich schafft er es gerade noch rechtzeitig, obwohl die Großmutter bei seiner Ankunft schon im Koma liegt. Kankos Vater, der geschäftlich in der Region Kansai zu tun hat, ist noch unterwegs, als seine Mutter um kurz nach drei Uhr am Nachmittag stirbt. Um den Rest des Weges gemeinsam zurückzulegen, holen Kanko und ihre Mutter ihn vor einer Bahnstation in Saitama ab. Sie halten am Straßenrand. Durch das Fenster des Beifahrersitzes sieht Kanko ihren Vater im Anzug auf einer Bank sitzen. Wie immer macht er einen Buckel. Das trillernde Warnsignal beim Anfahren des Zuges und die laute Stimme des Schaffners sind bis ins Innere des Wagens zu hören. Als der Zug abgefahren ist, bahnt sich das Sonnenlicht seinen Weg durch den Bahnhof und strahlt verschwenderisch auf den Blindenleitstreifen und das silberne Geländer.

Kankos Vater hebt die Hand zum Gruß und steht auf, als er seine Frau sieht, die ausgestiegen ist und auf ihn zukommt. Im Stehen fällt sein Buckel noch mehr auf. Er nickt zweimal kurz, während die Mutter etwas zu ihm sagt. Kanko steigt aus und quetscht sich neben das Gepäck auf dem Rücksitz, wo sie auf ihre Eltern wartet. Die Blätter rascheln im Wind und es sieht aus, als würde die klare Luft im Innern der Baumkronen kochen. Als Kankos Vater auf das Auto zugeht, kreuzt eine Taube seinen Weg. Kanko hat das Gefühl, ihn zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig anzusehen, obwohl sie sich doch eigentlich jeden Tag gegenüberstehen.

Auf der Bahnhofstreppe sei ihm ein Junge entgegengekommen, der wie Dai-chan ausgesehen habe, erzählt Kankos Vater, während er sein Gepäck auf den Rücksitz stellt und die Tür schließt. Kanko ist überrascht, denn mit einer solchen Begrüßung hat sie nicht gerechnet. Ihr erschöpft wirkender Vater setzt sich anstelle ihrer Mutter hinters Steuer. »Wahrscheinlich war er es gar nicht, aber ich habe ihn richtig angestarrt«, fügt er aufgeregt hinzu.