Karrierefrau mit Babybauch - Sophie Vanderbell - E-Book

Karrierefrau mit Babybauch E-Book

Sophie Vanderbell

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Beschreibung

Erlebe Ninas emotionale Achterbahnfahrt zwischen Karriere und Mutterschaft! Karrieretechnisch hat Nina alles im Griff. Sie ist organisiert, ehrgeizig und arbeitet eigentlich rund um die Uhr. Kein Wunder, dass ihre Beförderung zur Marketing-Leitung längst beschlossene Sache ist: Da wird Nina unerwartet schwanger. Was anfangs so klar erscheint – das Kind muss weg, denn es passt nicht in den Plan – sorgt bald schon dafür, dass Ninas Leben komplett auf den Kopf gestellt wird. Soll Nina das Kind etwa doch bekommen? Wie wird ihr Freund darauf reagieren, wie ihr Chef, wie ihre Kolleginnen und Kollegen? Was bedeutet die Entscheidung für die anstehende Beförderung? Nina steht auf einmal vor einem Parcours an Herausforderungen, und eins merkt sie schnell: Ihre bisherige Strategie als Alleinkämpferin hilft ihr in dieser Situation nicht weiter. Für Nina beginnt ein Lernprozess, dessen Ende ausgerechnet sie – Miss Planung – noch alles andere als voraussehen kann.

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Kapitel-Übersicht

1. Kapitel: Hamburg

2. Kapitel: Workshop

3. Kapitel: Retiro

4. Kapitel: Neuigkeiten

5. Kapitel: Überlegungen

6. Kapitel: Unwetter

7. Kapitel: Fruit Shake

8. Kapitel: Neue Perspektiven

9. Kapitel: Entscheidung

10. Kapitel: Ein Gespräch

11. Kapitel: Ein Angebot

12. Kapitel: Ein Geständnis

13. Kapitel: Neue Ufer

14. Kapitel: Herausforderungen

15. Kapitel: Arbeit

16. Kapitel: Ein Interview

Nachtrag: Rezept für Lillys Spezial-Shake

1. Kapitel: Hamburg

„Geht nicht ran“, zischte Nina, als das dritte Tuten ertönte, und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihr Knie, „na warte.“

Entschlossen legte sie auf, ließ das Handy in ihre Jackentasche gleiten und schwang sich durch die offene Hintertür des Taxis.

„Ich bin in einer Minute wieder da, ja?“

Der Taxifahrer, etwa fünfzig Jahre alt, mit grüner Cordhose und schwarzer Lederjacke bekleidet, der vorne geduldig auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, nickte nur kurz und vertiefte sich wieder in sein Handy.

Während Nina mit energischen Schritten auf die Haustür des Mehrfamilienhauses zulief, blickte sie zur Wohnung ihres Freundes hinauf. Ha, da! Deutlich war Torbens Kopf im Fenster seines Arbeitszimmers zu sehen. Für einen kurzen Moment drehte sich sein Gesicht in Richtung der Fensterscheibe. Dann verschwand es plötzlich sehr abrupt.

„Als ob dir das etwas bringt,“ murmelte Nina, als sie die Haustür aufsperrte und im Treppenhaus die exakt vierzehn Stufen in den ersten Stock hinauflief. Schon beim Öffnen der Wohnungstür hörte sie Torben auf seinem Laptop tippen. Tipp-tippedi-tipp-tipp. Als würden kleine Tauben einen wilden Stepptanz auf seiner Tastatur aufführen.

„Torben“, rief Nina mitten in den Tauben-Stepptanz hinein. Mit wenigen Schritten war sie an seinem Arbeitszimmer angelangt. “Wo bist du? Das Taxi wartet.“

Torben saß an seinem Schreibtisch am Fenster. Wie so oft in den letzten Wochen wippte er auf einem großen, dunkelblauen Gymnastikball. Eine Empfehlung seines Orthopäden, und nach anfänglicher und sehr vehementer Resistenz hatte Torben tatsächlich Gefallen an dem Ball gefunden. Zum einen wurden die Gänge zum Physiotherapeuten tatsächlich seltener. Zum anderen machte das Wippen auch irgendwie Spaß. Verschiedene Kollegen hatten ihn außerdem während Zoom-Meetings schon darauf angesprochen. Im weiteren Sinne förderte der Pezziball also auch den informellen Austausch und das Networking im Job.

Hinter Torbens hellbraunem Haarschopf sah Nina seinen Laptop-Screen hervorlugen und darauf eine gigantische Excel-Datei, in die Torben so vertieft starrte, dass sein Kopf fast im Bildschirm zu verschwinden schien. Gleichzeitig blinkte es wild auf zwei Bildschirmen links und rechts von ihm, wo sich mehrere Diagramme offenbar pausenlos aktualisierten.

„Kannst du nicht unterwegs weiterarbeiten?“

„Keine Bildschirme im Taxi“, sagte er abwesend und tippte erneut in die Tastatur. „Aber in einer Minute bin ich fertig, mein Schatz.“

„Sei mir nicht böse, aber das hast du vor einer Viertelstunde auch schon gesagt, Torbi-Torb.“ Nina sah auf ihre Uhr. „Wenn‘s nach mir ginge, wären wir längst auf der Autobahn. Freitags um die Uhrzeit ist immer Stau. Und wenn wir Pech haben, ist am Flughafen auch noch die Hölle los.“

Jetzt sah Torben auf und drehte sich zu ihr. Er blinzelte ein paar Mal kurz, als müssten sich seine Augen erst an die Realität gewöhnen. Dann seufzte er und nickte einmal kurz.

„Okay, du hast ja Recht. Mit einer routinierten Bewegung stöpselte er sein Laptop von allen Verbindungen ab, klappte es zu und rollte sich von seinem Pezziball.

„Und damit du dein Böse-Guck absetzt, würde ich sowieso fast alles tun.“ Charmant lächelte er und gab ihr, sein Laptop unter dem Arm, einen Kuss auf die Stirn.

Für einen Moment glättete sich Ninas Stirnfalte. Dann entwand sie sich seinem Griff und lief voraus zur Wohnungstür. Dabei fasste sie zusammen, und ihre Finger zählten mit: „Fenster sind zu, Mehrfachsteckdosen sind aus, Pflanze ist gegossen. Gepäck ist im Taxi, und das Taxameter läuft wahrscheinlich schon seit zwanzig Minuten heimlich mit. Fehlst nur noch du.“

Torben schnappte sich Schlüssel, Rucksack und Jacke, tastete nach seinem Handy in der Hosentasche und folgte Nina zur Tür hinaus. Während er an ihr vorbei die Stufen hinunterlief, hörte er Nina hinter sich zusperren. Amüsiert drehte er sich zu ihr um. „Nina, du siehst jedes Mal aus wie ein Käfer, wenn du so an der Tür hängst.“

„Ich will nur sicher gehen, dass die Tür wirklich zu ist.“ Mit aller Kraft und unter Einsatz ihres ganzen Körpers rüttelte Nina an der Türklinke. „Sicher ist sicher.“

„Sicher ist vor allem, dass die Tür irgendwann mal rausbricht, wenn du dich jedes Mal mit deinem ganzen Gewicht so dranhängst.“ Schnell fügte er hinzu: „Auch, wenn das nur knapp fünfzig Kilo sein dürften.“

Da war es wieder, sein charmantes Lächeln, das jedes Mal seine Augen blitzen und ein Paar Grübchen erscheinen ließ.

Im nächsten Moment fasste Torben sich an die Stirn. „Halt, ich muss nochmal rein. Mein Kontaktlinsenmittel. Ich glaub, ich hab’s im Bad liegen lassen.“ Zerknirscht sah er Nina an und wollte gerade an ihr vorbei und die Treppe nach oben spurten.

„Ich hab’s eingepackt.“

„Du hast es-? Muuuah, meine Prinzessin!“ Ein dickes Bussi landete auf Ninas Backe. „Wenn ich dich nicht hätte.“

„Dann wär dein Gedächtnis eindeutig besser trainiert. Du hättest mehr Freunde, weil du nicht dauernd ihre Geburtstage vergessen würdest. Im Job wärst du bestimmt schon zwei Karrierestufen weiter. Und-“

„Hey,“ er boxte sie in die Seite, „Schluss jetzt.“

Hintereinander traten sie aus der Haustür hinaus.

Unten an der Straße wartete der Taxifahrer immer noch geduldig. Er hob den Kopf und legte sein Handy beiseite, als er die beiden Personen sah, die auf das Taxi zuliefen. Die weibliche von ihnen noch etwas zielstrebiger als die männliche, die gerade noch verstohlen ihr Handy checkte.

Sobald Nina und Torben hinten im Taxi Platz genommen und der Fahrer den Wagen gestartet hatte, sah Nina Torben mit geheimnisvollem Blick an. „Ich frag mich ja echt, was du in deinem Monsterkoffer drin hast. Bekommt er von dir einen Riesen-Teddy? Nein, halt, einen Outdoor-Sitzsack. Oder warte, eine Stoff-Giraffe in Lebensgröße!“

Torben schwieg. „Mach-dich-nur-lustig“, sagte sein Gesichtsausdruck.

Nina musste lachen. „Im Ernst, Torben, ich bin schon in zweiwöchige Urlaube geflogen mit weniger Gepäck. Es ist doch nur ein Wochenende. Und deine Eltern müssten doch eh noch zig Sachen von dir daheim haben, oder? In deinem alten Zimmer, meine ich.“

Torben verdrehte die Augen. „Bestimmt sogar. Aber was für welche? Ich glaube, das was noch in meinem Schrank ist, ist auf dem modischen Stand von Tokio Hotel.“

Ninas Augen begannen zu leuchten. Sie nahm seine Hand. „Also, das würde ich schon gerne sehen. Du, vielleicht geht dein Koffer verloren. Vielleicht purzelt er aus dem Gepäckteil des Fliegers. Wegen Übergewicht.“

„Gott bewahre“, murmelte Torben leise.

Nina schmunzelte. Torben und sein Aussehen. Achtundfünfzig Minuten brauchte er im Bad, und zwar exakt, und das jeden Morgen. Nina hatte es gestoppt.

„Wie bitte? Wieso stoppst du meine Badezimmer-Zeit?“, hatte er sie irritiert gefragt, als sie ihn das erste Mal mit der Zahl konfrontiert hatte.

„Ich hab mir Sorgen gemacht. Nach sechzig Minuten geh ich rein, hab ich gedacht. Zumal ich nach einer Weile nichts mehr gehört hab von dir.“

„Du sollst auch nichts hören von mir, wenn ich im Bad bin.“

„So wüsste ich aber, dass du noch lebst.“

„Ab jetzt weißt du, dass du erst ab Minute neunzig reingehen musst. Alles andere ist noch im Rahmen bei mir.“

„Torben, weißt du, dass ich überhaupt noch nie erlebt hab, dass ein Mann morgens im Bad länger braucht als ich?“

„Ich bin eben gepflegt. Ist das denn gar nichts, was du zu würdigen weißt? Willst du lieber einen unrasierten Typen, dem lange Nasenhaare aus der Nase wehen?“

„In wie vielen der achtundfünfzig Minuten schneidest du deine Nasenhaare? Nur, damit ich weiß, wie lange sowas dauert.“

Torben hatte das Gespräch mit einem „Über die Inhalte meiner morgendlichen Badaufenthalte gebe ich keine Detailauskunft“ beendet.

Das Taxi hatte jetzt Münchens Innenstadt verlassen und nahm Kurs auf die A9 in Richtung Flughafen. Nina, die bis hierhin noch im Minutentakt auf ihre Uhr gesehen hatte, lehnte sich zum ersten Mal seit Beginn der Fahrt zurück.

Torben blickte vom Nebensitz zu ihr hinüber und griff nach ihrer Hand. „Keine Sorge. Wir werden den Flieger schon erwischen. Und meine Eltern haben auch noch niemandem den Kopf abgerissen.“

Richtig. Torbens Eltern.

„Ich hab dich schließlich gebeten mitzukommen“, fügte Torben hinzu, „und ich freu mich, dass du dabei bist. Also kein Grund, nervös zu sein.“

Naja, so direkt gebeten hatte Torben sie in Ninas Erinnerung eigentlich nicht. Tatsächlich hatte er nur erzählt, dass sein alter Schulfreund seinen fünfunddreißigsten Geburtstag feiern würde, und dass die gesamte alte Gang nach Hamburg eingeladen war. Und dann war es irgendwie im Raum gestanden. Immerhin waren sie zusammen. Tauchte man da nicht gemeinsam auf bei so einer Feier?

So wirklich viele seiner Freunde kannte Nina noch nicht, obwohl sie jetzt fast ein Dreivierteljahr ein Paar waren. Das würde sich an diesem Wochenende wohl ändern.

Sie dachte daran, wie Torben sie angesprochen hatte, damals auf dem Münchner Frühlingsfest, angeheitert durch etwa drei Maß Bier und in Begleitung von ein paar Kollegen, die nicht weniger betrunken waren. Nina war mit Lilly unterwegs gewesen, ihrer besten Freundin, deren Eindruck von Torben nach zwei Minuten festgestanden hatte: viel zu ernst, viel zu bieder. Aber Nina hatte genau das gefallen. Er war belesen, er konnte zu jedem Thema inhaltlich etwas beisteuern, und beruflich wusste er, wo er hinwollte. Eigentlich war er der erste Mann, der auch ihr zuhörte, wenn sie von ihrem Job erzählte.

Und jetzt saß sie hier mit ihm im Taxi und sollte in wenigen Stunden seine Eltern treffen und die gesamte Horde seiner früheren Schulfreunde.

„Nervös?“, fragte sie. „Na gut. Was ist, wenn deine Eltern ganz fassungslos sind, wen du dir da in München angelacht hast? Am Ende muss ich ganz allein zurückfliegen.“

Torben lächelte. „Also, ich denke, erstmal werden sie mir zustimmen, dass München sehr hübsche junge Frauen beherbergt. Und dann, Nina - mach dir nicht zu viele Gedanken, okay?“

Bevor sie etwas erwidern konnte, hob er einen Zeigefinger. „Ich weiß, das machst du gern. Aber es ist nur ein Wochenende. Lass es auf dich zukommen, ja? Und freu dich mit mir auf die Party.“

Natürlich waren sie rechtzeitig am Flughafen. So, wie Nina Torben durch das Terminal jagte, waren sie sogar bei den ersten am Gate. Die Flugzeit nutzten beide, um still vor sich hin zu arbeiten.

Wenig später bog das Taxi in die Auffahrt von Torbens Elternhaus in Hamburg-Harvestude ein. Knirschend bewegte sich der Wagen auf dem Kiesweg vorwärts. Ein paar Zweige streiften die Fenster des Wagens. Neugierig sah Nina aus dem Fenster des Rücksitzes auf Bäume, Sträucher und Büsche, die die Auffahrt umsäumten.

Dann tat sich ihnen der Blick auf ein weißes Einfamilienhaus auf. Vor dem Haus lag ein kleiner Park. Nina verbog sich jetzt fast, um aus dem Auto heraus alles zu erfassen.

„Sag mal, ist das ein Swimmingpool da hinten? Ihr habt einen Pool im Garten? Mann, das sieht ja aus wie eine Filmkulisse! Und hier bist du aufgewachsen?“

Etwas verlegen lächelte Torben.

Das Taxi hielt neben dem Haus. Der Fahrer stieg aus und lief um das Taxi herum, um Nina die Tür zu öffnen. Dann ging er zum Kofferraum, öffnete ihn und hob die beiden Gepäckstücke heraus – eine kleine türkise Reisetasche und einen großen grauen Rollkoffer. Torben stand schon neben ihm, um beides entgegenzunehmen und drückte dem Fahrer einen Geldschein in die Hand. Der nickte dankend und murmelte etwas, bevor er wieder im Taxi verschwand.

Währenddessen sah Nina sich mit offenem Mund um. Sie wusste nicht, was sie mehr beeindruckte: der Park, das wunderschöne Haus oder die weißen Marmorstatuen, die die kleine Terrasse vor dem Haus säumten. Zwei kleine Steintreppen führten links und rechts zum Eingang hinauf.

Als das Taxi wendete, um sich zu entfernen, ging die Eingangstür des Hauses auf. Heraus trat eine zierliche Frau. Torbens Mutter. Nina hatte Fotos von ihr in seiner Wohnung gesehen. Sie musste mindestens sechzig sein, sah aber deutlich jünger aus. Dunkelhaarig, sonnengebräunt, in einem sportlichen weißen Polokleid mit Strickjacke darüber schwebte sie wie eine Gestalt aus einem Gemälde von Monet die Treppe hinunter.

„Torben. Da seid ihr ja. Ist das schön.“ Torben bekam eine Umarmung und ein Küsschen auf die Wange von ihr.

She’s a lady – whoa whoa who, she’s a lady, fing eine Stimme in Ninas Kopf an zu singen.

„Mama“, sagte Torben mitten in Tom Jones‘ Gesang hinein und legte einen Arm um Nina, „also, das hier ist Nina, meine Freundin. Nina, das ist meine Mutter.“

„Hallo Nina.“ Die Frau streckte ihr beide Hände hin, lächelte und zog sie leicht an sich, um ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Nina schnupperte. Das Parfum kannte sie nicht.

„Ich bin Petra. Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen. So. Und jetzt rein mit euch ins Haus. Da ist es schön warm.“

Sie fröstelte und schwebte dann wie eine Fee voraus. Torben trug hinter ihr das Gepäck ins Haus, und Nina lief den beiden hinterher. Mit einem Koffer in der Hand hätte sie sich gerade deutlich nützlicher gefühlt.

Staunend sah Nina sich eine Minute später in Torbens Elternhaus um. Das hier war wohl das definierte Gegenteil von ihrem eigenen Zuhause früher. Ninas Mutter hatte sie allein erzogen, und die Wohnung war mehr als überschaubar gewesen. Wo immer man hinsah, hatten sich Alltagsgegenstände gestapelt. Sie hatten einmal wochenlang Ninas Reisepass gesucht, als Nina mit siebzehn auf Klassenfahrt gehen sollte. Gerade, als sie kurzfristig einen neuen Pass beantragen wollten, war er dann plötzlich aufgetaucht. In der Küche, zwischen Kassenzetteln, Rezepten und Stempelkarten.

„Na, wen haben wir denn da?“ Jetzt kam Torbens Vater aus einem Raum, der wie ein Arbeitszimmer aussah. Nina fühlte sich, als würde sie mit einem Mal schrumpfen. Er war nicht nur groß und stattlich, sondern sprach auch mit einem tiefen Bass. Um seine Augen herum tanzten Lachfalten. Ansonsten sah er eigentlich genau aus wie Torben, nur dreißig Jahre älter.

Hoffentlich würde das keine Fragerunde, dachte sie, während er die beiden Ankömmlinge begrüßte und etwas Smalltalk machte. Es störte sie jedes Mal, wenn Menschen, die sie gerade erst kennen gelernt hatte, ihr Fragen über ihr Elternhaus oder ihre Kindheit stellten. Was machten ihre Eltern beruflich? Wo war sie aufgewachsen? Hatte sie Geschwister? Als ob das alles wichtig war. Als ob es Menschen definierte, woher sie kamen und wer ihre Eltern waren. Als ob es eine Rolle spielte.

Während sich Torben und sein Vater ziemlich schnell in einer Ecke in ein Gespräch über Anlagestrategien und deren jeweilige Renditen verstrickten und sich über ihre letzten Aktionen miteinander austauschten, ging Torbens Mutter im Zimmer ein und aus und unterhielt sich dabei mit Nina. Jetzt brachte sie kleine Kuchenstücke in den Raum, die sie auf den Mahagoni-Tisch zwischen ihnen stellte. Tom Jones sang in Ninas Kopf, während sie sie dabei beobachtete.

„Kann ich helfen?“

„Danke, Nina, nicht notwendig. Ihr seid beide unsere Gäste.“

„Ich kann das nicht glauben, Torben“ grollte Torbens Vater gerade in lautem, scherzhaftem Ton. „In diese marode Firma hast du investiert? Hat dir dein alter Vater nichts über Aktien beigebracht?“

„Papa, abwarten. Es wird sich noch zeigen, ob meine Strategie aufgeht oder nicht.“ Nina meinte, eine leichte Schneidigkeit aus Torbens Stimme herauszuhören.

„Nina, investieren Sie Ihr Geld auch in Aktien?“, fragte Torbens Vater plötzlich und sah halb scherzend zu ihr hinüber.

„Ich? Nein, Aktien sind nicht-“, setzte Nina an, doch Torben kam ihr zuvor.

„Papa, welches Geld soll sie denn anlegen?“, fragte er amüsiert.

Hallo? Das klang, als wär sie arm wie eine Kirchenmaus.

Vielleicht hatte Torben ihren irritierten Blick bemerkt, denn er beeilte sich hinzuzufügen: „Aber das ändert sich bald, oder, Nina?“

Und zu seinem Vater gewandt sagte er: „Nina arbeitet im Marketing. Eigentlich schmeißt sie dort den Laden. Und bald wird sie befördert. Oder, Nina?“

Seine Mutter nickte mit dem Kopf. „Wie spannend.“

„Ja klasse, Nina“, meldete sich auch Torbens Vater fröhlich. „Was machen Sie denn da genau?“

„Also, es ist so“, erklärte Nina, „wir sind momentan vier Leute im Team, die zusammen Marketing und Vertrieb abdecken für unser Software-Unternehmen. Software und KI. Und unser Chef macht eigentlich viel lieber Vertrieb als Marketing. Und jetzt, wo wir weiter wachsen, soll er die Marketingrolle bald abgeben. Es entsteht also ein eigenes Marketing-Team, und … naja, wir sind uns soweit einig, dass ich das übernehmen darf.“

Torbens Vater lächelte. „Da sind Sie ja ganz schön ambitioniert. Finde ich gut. Oder, Petra?“ Er sah zu seiner Frau hinüber. „Meine Frau ist eigentlich Journalistin und hat in der Marketing- und Pressestelle von unserem Konzern gearbeitet, als ich sie damals kennengelernt hab. Das war Ihrem Job vielleicht gar nicht so unähnlich. Da hat sie auch viel an der Außenwirkung des Unternehmens gearbeitet.“

„Ach, wirklich?“ Interessiert hob Nina die Augenbrauen. „Das klingt super-spannend.“

Torbens Mutter nickte. „Das war es“, sagte sie. „Ist aber schon sehr lange her. Dann kam Robert auf die Welt, Torbens älterer Bruder, und zwei Jahre später kam Torben. Und da war dann keine Möglichkeit mehr, den Job auszuüben.“

„Schade. Haben Sie gar nicht mehr journalistisch gearbeitet seitdem?“

„Hin und wieder habe ich mit dem Gedanken gespielt. Es ist aber nicht so einfach, wenn man einmal Familie hat.“ Sie wischte ein paar Krümel vom Tisch auf einen Teller. „Als Ehefrau und Mutter ist man doch immer eingespannt. Und natürlich geht die Familie vor.“ Bei den letzten Worten ließ sie ihren Blick zu den beiden Männern schweifen.

„Da sind wir aber froh, Petra, dass du dich damals so entschieden hast“, rief ihr Mann vergnügt. Zu Nina gewandt sagte er in immer noch heiterem Tonfall: „Ich weiß, ihr jungen Frauen heutzutage, ihr wollt gerne beides. Ihr pausiert in eurem Job nur noch ganz kurz, um in den Kreißsaal zu fahren, und kaum ist die Nabelschnur durchgeschnitten, da erscheint ihr schon wieder am Arbeitsplatz.“

„Naja“, sagte Nina zögernd, „viele Frauen wollen den Job nicht mehr aufgeben, den sie mal gelernt haben. Immerhin hat man oft eine Menge investiert in die eigene Ausbildung. Ich denke“, sie warf einen respektvollen Blick zu Torbens Mutter hinüber, „das war vor einigen Jahren noch viel schwieriger. Da war es die Erwartung an jede Mutter, ihre eigene Karriere komplett zurückzustellen. Und nur noch für Mann und Kinder da zu sein.“

„Ich verstehe die jungen Frauen von heute“, erwiderte Torbens Mutter jetzt. „Sie wollen nicht verzichten für die Kinder, die auf der Welt sind. Sie wollen die gleichen Chancen wie die Männer im Job. Das einzige, was ich mich frage, ist“, lächelnd machte sie eine kurze Pause und sah Nina an, „wer ist derjenige, der dabei auf der Strecke bleibt? Die Kinder. Ein Kind braucht eine Mutter. Die Nestwärme, die ein Kind bekommt in den ersten Jahren, die ist entscheidend dafür, dass das Kind sich gut entwickelt. Dass es Vertrauen aufbauen kann in die Welt. Und da bin ich mir manchmal bei euch jungen Frauen nicht so sicher, ob ihr das bedacht habt.“

„Definitiv“, erwiderte Nina schnell, „ein Kind braucht bestimmt seine Bezugspersonen in den ersten Jahren. Schade finde ich es, wenn die Frau das ganz allein stemmen muss. Und wenn das dann das Ende der Karriere für diese Frau bedeutet. Zum Glück beteiligen sich ja heute immer mehr Männer an der Kinderbetreuung.“

Sie versuchte, die Blicke der anderen im Raum zu deuten. Wie waren sie eigentlich bei diesem Thema gelandet? Und wie kam sie hier wieder raus?

Bevor Torbens Mutter reagieren konnte, polterte Torbens Vater aufs Neue los: „Wir werden das Thema wahrscheinlich nicht lösen können heute. Jeder so, wie er es braucht.“

Und mit einem Blick auf seine Armbanduhr sagte er: „Aber sagt mal, müsst ihr nicht langsam los? Es ist schon fast acht.“

„Ja“, sagte Torben und erhob sich, „da hat meine ganz persönlicher Ermahnerin mich noch gar nicht erinnert. Seltsam.“ Er lächelte zu Nina hinüber. „Aber du bist soweit, Nina, oder? Dann lass uns starten. Micha wartet bestimmt schon ganz sehnsüchtig auf seine Lieblingsgäste.“

„Was checkst du da so heimlich in deinem Handy?“, fragte Torben, als sie die letzten Meter zu Michas Haus entlangliefen. „Hast du einen Liebhaber, der dir schreibt?“

Ertappt steckte Nina ihr Handy wieder in die Tasche. „Ach, ich … hab mir doch vorhin am Flughafen die Namen von deinen engsten Freunden aufgeschrieben. Und ein paar Eckdaten, die du mir gegeben hast.“

Torben guckte zuerst ungläubig, dann lachte er und boxte sie in die Seite. „Das ist so – NINA von dir. Du bist so ein Streber, weißt du das?“

Die Tür zu Michas Haus öffnete sich, noch bevor die beiden geklingelt hatten.

„Alles okay bei dir?“, fragte Torben, als Nina und er am Sonntagabend wieder daheim in München nebeneinander in Torbens Bett lagen. „Du bist so still.“

Es war erst kurz nach neun, aber beide gähnten schon seit einer Stunde abwechselnd. So wirklich viel Schlaf hatten sie nicht abbekommen in den letzten zwei Nächten.

„Hm“, machte Nina. Sie sah Torben zu, wie er sich – wie jeden Sonntagabend, die Lesebrille auf der Nase – durch die Wochenend-Ausgabe des Handelsblatts schmökerte.

„Ich dachte nur gerade nochmal an das Gespräch mit deiner Mutter. Sie ist ja Hausfrau geworden, als ihr beide auf die Welt kamt, dein Bruder und du, und das, obwohl sie vorher einen super-spannenden Job hatte. Das Modell hat sie euch vorgelebt, dir und deinem Bruder. Insofern …“

„Insofern?“

„Naja, ich frag mich, ob du eigentlich das Gleiche denkst wie deine Mutter. Denkst du auch, dass eine Frau ihre Karriere auf Eis legen sollte, wenn sie ein Kind bekommt?“

Für einen Moment herrschte Stille. „Ach, das ist es, worüber du nachdenkst“, sagte er schließlich abwesend, vertieft in einen Artikel über die aktuelle Entwicklung des Deutschen Aktienindex.

Dann fügte er hinzu: „Naja, ich denke schon, dass es grundsätzlich gut ist, wenn ein Kind eine Mutter hat.“

Nina sah ihn an. „Klar. Aber ist diese Frau dann in Vollzeit Mutter, oder darf sie vielleicht auch noch ihrem Beruf und ihrer Karriere nachgehen?“

„Wieso fragst du das? Natürlich muss eine Frau nicht auf ihren Beruf verzichten. Es gibt doch genug Frauen, die auch mit Kind wieder arbeiten gehen.“

„Wenn der Mann sich auch einbringt in die Kinderbetreuung, dann geht das ja auch.“

Jetzt sah er auf, faltete sein Handelsblatt zusammen, nahm seine Brille ab und legte beides auf den Nachttisch.

„Okay“, Torben wählte seine Worte mit Bedacht, „also, ich denke, dass man über eine vernünftige Rollenaufteilung sprechen muss. Und naja-“, er zögerte mit dem nächsten Satz, „ich frag mich bei manchen Frauen, warum sie eigentlich ein Kind in die Welt setzen, wenn sie sich am Ende doch nicht darum kümmern wollen. Und es in eine Kita abschieben, kaum dass es auf der Welt ist.“

Nina hielt kurz den Atem an. „Wenn die FRAUEN sich nicht darum kümmern wollen? Und was ist mit den Männern?“

„Klar“, entgegnete Torben, „Männer sollten sich auch kümmern. Aber einer muss ja auch das Geld nach Hause bringen. Wieso soll man denn nicht die Rollen aufteilen? Es müssen ja nicht beide dauernd um das Kind herumhängen. Und ich glaube, die Natur hat sich was dabei gedacht, als sie die Frau so ausgestattet hat, dass die sich um ein Baby kümmern kann.“

Er sah, dass Ninas Augen immer größer wurden und ergänzte: „Weißt du, Kind und Karriere gleichzeitig … Wieso kann man denn nicht eins nach dem anderen machen? Für eine Frau muss das doch unglaublich cool sein. Schwanger zu sein, meine ich, ein Kind zu bekommen, ein Baby zu stillen. Kann man das denn nicht auch mal offen zugeben? Und dafür mal für ein paar Jahre den Job weiter nach hinten stellen? Die meisten Frauen, die ich kenne, wollen das auch, die wollen Kinder, und sie wollen die Mutterrolle. Meine Mutter wollte das auch. Und dass du sie kritisiert hast, obwohl du sie keine Stunde kanntest, fand ich, offen gesagt, nicht so cool.“

Jetzt erstarrte Nina. „Ich wollte sie nicht kritisieren“, sagte sie, und eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen, „ich fand es einfach nur schade in dem Moment, dass sie jetzt nur noch Mutter ist und Hausfrau.“

„NUR noch Mutter, sagst du? Das war ihre Entscheidung, und ich glaube nicht, dass sie das jemals bereut hat. Aber weißt du, keine Frau wird gezwungen dazu, ein Kind zu bekommen in unserer westlichen Welt. Wenn eine Frau das nicht möchte, wenn sie lieber Karriere machen will oder ihre Freiheit behalten, dann ist das doch okay heutzutage. Es gibt genug Beispiele für Karrierefrauen und auch immer mehr Paare, die einfach keine Kinder wollen.

Nimm mal unsere ehemalige Kanzlerin. Niemand kritisiert sie dafür, dass sie keine Kinder wollte oder aus anderen Gründen keine bekommen hat. Sie hat alles erreicht, was man erreichen kann in unserem Land. Für euch Frauen ist alles möglich heutzutage, ihr müsst euch nicht über Kinder definieren. Aber ein Kind zu bekommen, sich also bewusst dafür zu entscheiden und sich dann abzuwenden – das halte ich nicht für gut.“

„Aber warum müssen es denn immer die Frauen sein, die sich kümmern, wenn doch beide gemeinsam ein Kind wollen?“, fragte Nina, jetzt sichtlich irritiert.

„Weil, wie gesagt, nun mal einer auch noch das Geld nach Hause bringen muss. Und in dieser Hinsicht seid ihr Frauen irgendwie ja auch selbst schuld an eurer Situation.“

„Wie bitte?“

„Na, wollt ihr nicht immer die Männer, die Geld haben?“

Für einen Moment war Nina perplex. „So, tun wir das?“

„Na klar tut ihr das. Es gibt doch kaum eine Frau, die einen Mann anguckt, der weniger verdient als sie.“

Nina schnaufte. „Es gibt die These, dass Frauen sich“, sie betonte jede Silbe, „mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nach oben orientieren. Aber das hat weniger mit Geld zu tun als vielmehr mit Bildung und Status.“

„Bildung und Status, ja. Und was resultiert aus Bildung und Status? Das Einkommen.“

„Und selbst, wenn das häufig der Fall ist“, sagte Nina, nicht ohne eine gewisse Gereiztheit, „wenn beiden der Job Spaß macht und beide eine Perspektive haben, dann sollten doch auch beide ihre Karriere weiterverfolgen dürfen. Wieso können nicht beide einen Teil ihres Berufslebens opfern?“

Beschwichtigend hob Torben die Hände.

„Ich versteh nicht, warum das so ein Reizthema für dich ist. Ist denn eine kleine Pause wirklich das Ende der Karriere? Und du sprichst immer von opfern. Ich glaube, wenn ich als Mann Kinder bekommen könnte, dann wär ich total aus dem Häuschen. Das ist doch was Tolles, das die Natur euch da geschenkt hat.“

Versöhnlich lächelte er Nina an. „Ist das nicht mehr wert als ein paar Jahre Schuften und Arbeiten, so wie es der Mann in derselben Zeit tut? Und diese Typen, die neuerdings daheim bleiben… keine Ahnung, wer … Sozialpädagogen und Buchhalter - vielleicht haben die ja auch einfach keinen Bock mehr zu arbeiten. Und wenn ihre Partnerin stattdessen arbeiten will, dann warum nicht? Weißt du, suum cuique. Jedem das Seine.“

Torben streckte den Arm aus und löschte das Licht seiner Nachttischlampe. Jetzt war es ganz dunkel im Raum. „Lass uns schlafen, Nina, ich muss morgen früh raus. Gute Nacht.“

Dann beugte er sich zu ihr hinüber und gab ihr ein Küsschen auf die Wange. „Ich fand‘s übrigens schön, dass du dabei warst in Hamburg und meine Eltern kennenlernen konntest und meine Freunde. Ich glaube, sie fanden dich alle sehr nett.“

Nina starrte an die Decke, an der sich in der Dunkelheit Muster bildeten, die vor ihrem Auge tanzten. Ihr Atem ging immer noch schnell, und ihr Herz pochte.

„Es ist einfach so“, fing sie noch einmal an, „dass ich es so unfair finde. Dass Frauen sich von vornherein entscheiden müssen. Und ihr Männer nicht. Als Mann gewinnt man dazu, wenn man ein Kind kommt. Als Frau opfert man. Auch, wenn du das Wort nicht hören willst. Und … Ich hätte nicht gedacht, dass du in so traditionellen Rollenbildern denkst.“

„Wir Männer KÖNNEN uns nicht entscheiden. Ich kann nicht schwanger werden.“ Sie hörte seine Bettdecke rascheln. „Und denke ich wirklich traditionell? Ich sage ja nicht: Frauen an den Herd. Ich sage nur, jede Frau darf und sollte sich entscheiden, welche Rolle sie möchte. Schau, du zum Beispiel. Du arbeitest gerne, und du willst doch gar keine Kinder, wenn ich dich richtig verstanden hab. Zumindest hast du nie was in der Richtung gesagt.“

Sie hörte Torben gähnen. „Vielleicht denkst du auch einfach mal wieder viel zu viel nach. Lass die Dinge auf dich zukommen. Und wenn du partout nicht willst, dann bekommst du halt einfach keine Kinder. Auch gut.“

Langsam fielen Nina die Augen zu. Sie würde morgen weiter darüber nachdenken. Heute nicht mehr. Für heute war sie – Nina gähnte jetzt ebenfalls - einfach zu müde.

2. Kapitel: Workshop

„Noch einer, Lilly? Im Ernst jetzt? Ist das etwa wieder dein Frust darüber, dass morgen Montag ist?“

Irgendwie klang Ninas Tonfall spießiger als beabsichtigt. Naja, so ganz einhundertprozentig hatte sie sich vielleicht auch nicht mehr unter Kontrolle. Im Gegensatz zu Lilly fehlte ihr einfach die Übung beim Trinken.

„Ganz genau“, erwiderte Lilly ungerührt. „Das ist mein ganz persönlicher Protest gegen den Lauf der Woche. Sonntags brav sein und früh schlafen gehen, und dann montags als perfekter Mitarbeiter fit und motiviert am Arbeitsplatz erscheinen.“

„Und dagegen setzt du Alkoholfahne und Augenringe als Signature Look?“

„Exakt.“ Lilly wandte sich wieder Max zu, der in Anbetracht der Diskussion gewartet hatte und dessen Blick jetzt fragend von einem Mädchen zum anderen wanderte, um die Bestellung aufzunehmen.

„Also, noch einen Gin Tonic für mich. Für meine Freundin hier bitte nichts mehr. Sie muss morgen unfassbar früh in die Arbeit, und das ist ihr sehr wichtig.“

Max lächelte und steckte seinen Notizblock ein. „Das muss es auch geben.“ Er verschwand in Richtung Bar.

Nina saß mit Lilly im Retiro, ihrer persönlichen Lieblingsbar. Einer Mischung aus kitschiger Einrichtung, spanischen Tapas und einer sehr kreativen Cocktailkarte.

„Woher weißt du eigentlich, welcher Tag heute ist?“, fragte Lilly wie beiläufig, während sie ihr kurzes Kleid glattstrich, „du arbeitest doch eh an allen sieben Wochentagen.“

Nina lächelte nur und spießte mit ihrem Cocktail Stick eine alkoholgetränkte Himbeere auf, die in ihrem Mund verschwand.

„Hier mal ein Gedanke, Lilly: Wenn dir jedes Mal so vor dem Montag graust, ist es dann vielleicht einfach der falsche Job, hmmm?“

„Ach. Und hier mal ein Gedanke für dich: Wenn du dich jedes Mal so auf den Montag freust, bist du dann vielleicht einfach mit dem falschen Mann zusammen, hmmm?“

„Okay, Themawechsel. Torben kann bei dir nicht gewinnen.“

„Mach mich nicht zur Trauzeugin, wenn es mal so weit ist. Außer natürlich, der männliche Trauzeuge sieht Hammer aus. Apropos, weißt du, mit wem ich morgen Abend ein Date habe? Ich glaub, ich hab dir noch nicht von Piet erzählt, oder? Kollege aus dem holländischen Office. Also, es ist so …“ Lillys Stimme wurde leiser und verschwörerisch. „Eigentlich haben wir uns schon bei der Fünfzigjahrfeier der Firma kennen gelernt, aber leider war es damals so, d-“

„Stopp!“ Nina hob einen Zeigefinger. „Also warte, wenn das jetzt wieder losgeht – die endlosen Ausschmückungen der Dialoge, die ihr zwei geführt habt, und die detaillierte Beschreibung all seiner physischen Merkmale, und das, ohne dass ich auch nur ein einziges Mal zu Wort komme, … dann brauch ich bitte doch noch einen Drink!“

„Genau das könnte schon passieren.“ Lilly lachte fröhlich. „Und das wiederum heißt …“, sie drehte ihren Oberkörper und fing mit einem Arm Max ab, der ihr in der Sekunde den Gin Tonic vorsetzte, „doch noch einen Lillet Wild Berry bitte für meine strebsame Freundin hier.“

„Nein, stopp.“ Nina warf einen schnellen Blick in die Karte. „Ich nehme … ich nehme einen Schneebären, bitte.“

Als Max sich entfernte, nahm Lilly ein paar Schluck und sagte dann in ernsterem Ton: „So ganz Unrecht hast du nicht.“

„Damit, dass man eine Menge Alkohol braucht, um bei deinen Männergeschichten mitzukommen?“

„Auch. Aber ich meinte deine Aussage vorhin zum Thema Job. Ich meine, dass man sonntags merkt, ob es der falsche ist, wenn einem da schon vorm Montag graust.“

„Oha?“ Fragend hob Nina die Augenbrauen. „Und das aus deinem Mund? Ich dachte, für dich ist das der Normalzustand, dass man ungern arbeitet. Warte, wie waren deine Worte noch letztens zum Thema Überstunden?“ Nina streckte sich, um Lillys selbstbewusste Haltung nachzuahmen und sagte mit betont lässiger Stimme: „Nina, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich an keinem Arbeitstag meines Lebens auch nur eine Minute länger als acht Stunden gearbeitet hab. Eigentlich bin ich mir sogar sehr sicher, dass ich an fast jedem dieser Tage deutlich weniger als acht Stunden gearbeitet hab.“

Lilly sah Nina an und blinzelte ein paar Mal. „Und dein Punkt ist? Natürlich hab ich das gesagt. Arbeit ist Arbeit, und man braucht eine Balance dazu, auch, wenn der Job Spaß macht. Oder in meinem Fall … wenn der Job Spaß machen WÜRDE.“

„Oh?“

„Naja, die Trainings bei Gährmann, die ich gebe, ja? Das ist eigentlich schon mein Ding. Manchmal auf Dauer etwas eintönig, aber so im Grunde genommen liegt mir das schon.“

„Aber?“

„Aber diese ganzen Prozesse! Und das ganze Administrative. Ich verbringe mehr Zeit damit als mit den Kunden. Und dann diese Politik. Meine Güte, du musst so aufpassen, zu wem du was sagst, sonst ist gleich wieder irgendjemand beleidigt und macht Stunk.“

„Das hat dich doch noch nie gestört.“

„Da hast du Recht, aber auf Dauer ist es anstrengend. Sogar für mich.

Und gefühlt wird das immer schlimmer. Manchmal hab ich keine Lust mehr, da überhaupt noch einen Fuß reinzusetzen.“

„Au weia. So schlimm? Das wusste ich nicht“, sagte Nina betreten.

„Ist es denn dann noch die richtige Firma für dich?“

„Ganz so schnell gebe ich nicht auf. Ich will mich auch nicht rausekeln lassen.“ Plötzlich lachte Lilly. „Ist nur echt lustig. Worauf ich mich in letzter Zeit umso mehr freue-“

„Das sind die männlichen Kollegen aus dem holländischen Office?“

„Auch. Nein. Ich freu mich richtig auf die Fitnesskurse am Abend.“

„Die Fitness- Du gibst wieder Fitnesskurse? Oder meinst du dein eigenes Training?“

„Nein, ist schon richtig. Ich gebe tatsächlich wieder Kurse. Im Fitness Tank.“

„Cool, wusste ich gar nicht. War dir das nicht immer zu anstrengend nach der Arbeit?“

„Das ist ja das Interessante. Früher schien es mir nur noch mehr Arbeit zu sein. Also hatte ich zwar die Lizenz, aber so richtig Fahrt hat das Thema nie aufgenommen. Und ehrlich gesagt, ich mach auch lieber alleine Sport als zusammen mit einer Horde unsportlicher Menschen.“

Das Unverständnis für jenen Teil der Gesellschaft, der nicht mit ähnlicher Fitness, Ausdauer und Grazie gesegnet war wie sie selbst, war Lilly mehr als deutlich im Gesicht abzulesen.

„Und woher dann jetzt der Sinneswandel?“

„Naja, eigentlich war es Nele, die mich gebeten hat, ihr auszuhelfen.“

„Aha. Wer ist Nele?“

„Nele hab ich mal … naja, wir haben uns einfach kennen gelernt. So. Und sagen wir mal, sie hat was gut bei mir. Und gerade hat sie einen ziemlichen Engpass bei ihrem Personal. Unter anderem ist eine ihrer Haupt-Trainerinnen schwanger geworden, und der Arzt sagt, sie darf von jetzt auf gleich keinen Sport mehr machen.“

„Kann sie denn nicht einfach Kurse geben, ohne selbst dabei Sport zu machen? Nur Befehle geben, meine ich?“

„Nur Befehle geben? Na, du hast ja lustige Vorstellungen davon, wie so ein Kurs abläuft. Würde dir übrigens nicht schaden, selbst mal bei ein paar-“

„Ja, wie auch immer“, unterbrach Nina. „Du wolltest mir von Neles Engpass erzählen.“

„Okay. Aber ich komm nochmal drauf zurück. Sitzen ist das neue Rauchen, Nina, das weißt du.“

„Ist mir völlig bewusst. Ich liebe einfach das Leben am Limit.“

Dann hob Nina den Kopf und blickte freudig auf den Cocktail, den Max ihr gerade vorsetzte.

„Jedenfalls“, fuhr Lilly fort, „übernehm ich jetzt ein paar Abendkurse für diese schwangere Trainerin.“

„Und das schaffst du abends noch?“

„Das ist ja das Ding. Das ist sogar das, was mich über Wasser hält gerade. Wenn ich das nicht hätte, hätte ich gar keinen Spaß bei der Arbeit.“

„Äh- Moment. Wartet mal, Leute. Nöööööööt! Ich geb der ganzen Bar einen aus. Hat Lilly Römer gerade wirklich die Worte Spaß und Arbeit in ein- und demselben Satz verwendet?“

„Hätte ich auch nie gedacht. Aber stell dir vor, die Leute finden meine Kurse richtig gut.“

„Das wundert mich nicht.“

„Ja, die Kurse sind sogar voller geworden durch mich.

„Und wie kommst du so klar damit?“ Nina beugte sich zu Lilly vor und legte ihr mitfühlend eine Hand auf den Arm. „Ich meine, zusammen mit einer Horde unsportlicher Menschen trainieren zu müssen und dann auch noch Geld dafür zu bekommen?“ Unschuldig blinzelte sie Lilly an.

„Ach, die Unsportlichen bleiben eh nicht bei mir. Der eine oder andere verirrt sich mal, der eigentlich in ’nen Anfängerkurs gehört. Dann gibt’s genau zwei Möglichkeiten: Entweder er ist tough, was ich cool finde, und beißt die Zähne zusammen. Und ab da wird er von Mal zu Mal besser.“

„Oder der Leichenwagen fährt ihn raus?“

„Oder er bemerkt seinen Fehler und schleicht sich in den ersten zehn Minuten raus. Ich tu dann großzügig so, als würd ich’s nicht bemerken.“

„Und ich hätt dir zugetraut, dem armen Würstchen noch ’nen fiesen Spruch hinterherzuschleudern.“

„Hey, wofür hältst du mich?“

„Für einen ehrlichen Menschen, der mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält. Was meinst du, warum ich nicht zu dir in einen Kurs gehe. So viel Wahrheit vertrag ich nicht.“

„Nina, wir wissen beide, dass das NICHT der Grund ist, warum du nicht in meine Fitnesskurse gehst. Und darüber müssen wir dringend mal reden. Wirklich, wenn du weiter immer nur am Schreibtisch sitzt, hast du in ein paar Jahren nicht nur Rückenschmerzen, sondern du gefährdest-“

„Stopp, Lilly.“ Nina formte eine Auszeit mit ihren Händen. „Du wolltest mir gerade erzählen, wie gut die Kurse laufen, oder?“

„Wollte ich. Wir haben neulich sogar darüber gesprochen, ob ich mein Angebot ausweiten kann. Die Kursteilnehmer empfehlen mich weiter, das heißt, meine Kurse werden immer voller. Und schon jetzt gibt es ein paar Leute, die sich nur wegen mir im Studio angemeldet haben.“

„Ernsthaft?“

Lilly strahlte. „Ja, die sollten mich im Studio eigentlich am Erfolg beteiligen, oder? Und das Beste ist: All das fühlt sich noch nicht mal annähernd an wie Arbeit. Im Gegenteil. Das Auspowern, das Anleiten, die Chemie im Kurs, die Motivation der Leute, … Ich hab das Gefühl, das gibt mir Energie, als dass es mich Energie kostet.“

Nina hob ihr Cocktailglas und wartete, bis Lilly es ihr gleichgetan hatte. „Also dann, liebe Lilly - auf die Arbeit, die sich nicht wie Arbeit anfühlt!“

Es war exakt dieser Dialog, an den Nina am nächsten Morgen dachte, als sie sich, bei Recordance angekommen, wieder mal für den Aufzug entschied anstatt für die Treppe.

Ihre Schlüsselkarte in der Hand, erreichte Nina den dritten Stock und stieg aus. Der Firmenname stand in großen Lettern an der Tür. Sie öffnete.

Es war noch dunkel und still im Büro. Der Geruch nach Reinigungsmitteln und Teppich lag dumpf in der Luft, wie immer nach dem Wochenende. Wie immer schaltete Nina zuerst die Espressomaschine im Eingangsbereich ein.

Etwa eineinhalb Stunden und zwei Espressi mit Milch später tauchte der Kopf von Paula, Ninas neuer Kollegin, in der Tür des Vertriebsund Marketing-Büros auf.

„Hey, es ist also wirklich schon jemand da?“

Paulas Stimme klang müde. „Ich wollte früh hier sein wegen des Workshops nachher. Damit ich noch alles vorbereiten kann.“ Sie legte ihre Tasche ab. „Ich hab mich vorne schon gefragt, wer wohl die Espressomaschine eingeschaltet hat. Weil es schon so gut nach Kaffee duftet.“

Nina lächelte. „Das ist der Grund, warum ich schon hier bin. Hier gibt’s einfach besseren Kaffee als bei mir daheim. Du, was den Workshop nachher betrifft: Das ehrt dich, dass du früh hier bist. Aber ich glaube fast, es ist alles vorbereitet.“

„Wirklich? Alles schon erledigt? Brown Paper im Raum, Flipcharts vorgeschrieben, Moderationskarten, Getränke, …?“

„Alles da, das hab ich am Freitag noch gemacht.“

„Am Freitag? Aber da war doch bis spätabends der Raum belegt. Ich bin dann, ehrlich gesagt, irgendwann los ins Wochenende.“

„Äh- ja, ich war zufällig sowieso noch da, und als die Management-Truppe zu Ende gemeetet hatte, bin ich rein und hab schnell alles vorbereitet.

Präsentationen sind auch abgespeichert, Follow-up-Emails ebenfalls, in drei verschiedenen Varianten, je nachdem, wie der Workshop läuft.

Catering ist bestellt, Mappen sind vorbereitet, Moderationskoffer ebenfalls.

Maja am Empfang weiß Bescheid, und ein paar Leute sind gebrieft, um ein paar Worte zu sagen, wenn ich nachher meine Runde mit den Kunden mache.“

„Oh, cool. Ach, und die Runde durchs Unternehmen – die läuft gar nicht spontan ab?“

„Ich bin kein Fan von spontan. Manche Kollegen geben echt den größten Blödsinn von sich, wenn sie ad hoc mit Kunden Smalltalk halten sollen. Bei einigen fragst du dich direkt, ob sie für oder plötzlich gegen die Firma arbeiten.“

Nina hatte außerdem noch Martin gebeten, sich während des Termins bereit zu halten, falls es tiefergehende Fragen geben sollte zu den Features der Software. Martin Schneider und sein Team hatten die Software programmiert, und sie sorgten außerdem dafür, dass die Lösung auf jeden Kunden individuell zugeschnitten wurde.

Paula setzte sich. „Kennt ihr die beiden Leute schon, die heute zu uns kommen?“

„Nein, noch nicht. Einer unserer Kunden hat den Kontakt hergestellt, und Andreas hat wohl kurz telefoniert und den Termin für heute klar gemacht. Aber inhaltlich gesprochen haben wir noch gar nicht mit ihnen.“

„Ich hoffe, die sind nett.“

„Meistens haben unsere Kunden schon Respekt vor dem, was unsere Entwickler da gebaut haben. Willst du die zwei von heute mal sehen? Hier, ich hab sie mal gegoogelt.“

Paula rückte näher heran.

„Schau, hier. Das hier ist Britta Allweg, die Personalleiterin von Sportshields. Sieht ein bisschen bieder und ernst aus. Um die vierzig müsste sie sein. Hat zwei Kinder. Ich glaube, ihr Sohn Felix spielt Hockey, zumindest bin ich da zufällig auf die Seite von einem Sportverein gestoßen. Und das hier ist Jan Lechermayer, der IT-Projektleiter. Der dürfte etwas jünger sein. Stellt interessante Fotos auf Instagram. Geht ganz gerne weg, würde ich sagen.“

Paula stand auf und ging zur Tür. „Okay. Also, ich hol mir jetzt erstmal einen Kaffee. Sieht ja so aus, als würde der Morgen doch viel entspannter ablaufen als gedacht.“

Dann blieb sie stehen und drehte sich um. „Ich frag mich nur, warum ich heute überhaupt so früh aufgestanden bin.“

Der Workshop lief fast schon ungewöhnlich glatt. Am Nachmittag brachte Nina die beiden Gäste wieder zum Empfang, um sie zu verabschieden. Gerade, als sie wieder in den Meetingraum laufen wollte, hörte sie hinter sich eine Stimme.

„Und, Ninalinda? Haben wir einen neuen Kunden?“

„Hey, Martin.“

Der Chefentwickler lehnte an der kleinen Bar neben dem Empfangsbereich mit einer Espressotasse in der Hand, neben ihm Dominik, seine rechte Hand, mit einer Basilikum-Limonade vor sich auf dem Tresen.

„Um ehrlich zu sein … Ich weiß es noch nicht. Sie haben uns ziemlich gegrillt. Kann unsere Lösung dies, kann unsere Lösung das. Aber mal positiv gesehen, sie wissen schon sehr genau, was sie wollen. Es steckt eine klare Strategie dahinter inklusive Budget. Ich hab ihnen offen gesagt, was wir ihnen bieten können und was nicht. Wir können nicht zaubern. Also mal gucken. Sie wollen sich im Lauf der Woche rückmelden.“

„Sehr gut. Hat Andreas wieder seine stinklangweilige Präsentation gehalten?“

„Ähm … es war seine Standardpräsentation.“

„Also ja. Die stinklangweilige. In den gleichen Worten wie immer?“

„Ich glaube, ja.“

„Mit den gleichen schlechten Gags an den immer gleichen Stellen?“

„Selbstverständlich.“

Die Wahrheit war, dass Nina jedes Wort auswendig kannte in Andreas‘ Vortrag. Naja, es war eben sein Unternehmen. Er hatte es gegründet, gemeinsam mit den anderen zwei Geschäftsführern Klaus und Jonas. Zusammen hatten sie es aufgebaut, jeder von ihnen mit anderen Schwerpunkten. Bis vor kurzem war die Firma noch klein gewesen und überschaubar. Sie waren sich noch nicht ganz einig gewesen über die Richtung, über die Zielgruppe, über den Schwerpunkt des Unternehmens. Ziemlich opportunistisch hatten sie einfach jeden Auftrag angenommen, den sie kriegen konnten, egal woher er kam. Vor ein paar Monaten dann hatten sie einen gigantischen Neukunden gewonnen, eigentlich völlig überraschend, und damit war die Firma rasant gewachsen.

Es war genau dieses Wachstum, aus dem sich auch Ninas Perspektive ergab. Sie konnte es kaum erwarten, dass es endlich ein eigenes kleines Marketing-Team geben und sie den Lead übernehmen würde.

„Es ist sowas von Zeit, dass Marketing seine eigene Bühne bekommt“, hatte sie schon oft zu Andreas gesagt. „Da sind so viele Dinge, die wir in die Hand nehmen können und auch müssen, sodass wir Recordance noch weiter nach vorne bringen können. Die Konkurrenz tut es schließlich auch.“

Klar, Vertriebsmaterial war wichtig. Klar brauchten sie Use Cases, Broschüren, Vorlagen, Präsentationen und all das. Aber wie spannend würde es erst sein, wenn sie Marketing als etwas Strategisches begreifen würden, anstatt nur reaktiv Material zu liefern, das dann im Vertrieb auf die Kunden losgefeuert wurde.

Dass Andreas‘ Präsentation langweilig war, war übrigens nicht nur Martins Meinung.

„Stell dir vor, du sitzt auf der anderen Seite, auf der Kundenseite“, hatte Nina schon oft an Andreas appelliert. „Was willst du wirklich wissen? Stabilität, Internationalität, agile Arbeitsweise. Dazu im Vorbeigehen, wie nebenbei, die Referenzkunden und ein paar Zitate der Kunden zum Nachlesen. Alles andere in den Anhang.“

Vergebene Liebesmüh. Wenigstens hatte Andreas diesmal am Schluss das neueste Vertriebsvideo gezeigt, das Nina zusammengestellt und auf Andreas‘ letzter Slide platziert hatte. Es war der Versuch gewesen, seine Präsentation mit Emotionen abzuschließen und mit einem Gefühl für die gewaltige Macht des Veränderungspotenzials, das durch die Einführung ihrer Software ausgelöst werden könnte.

„Und war Hubert auch dabei?“ Martin war noch nicht fertig mit seinem Verhör. Er hatte eine Augenbraue hochgezogen, und seine Stimme triefte vor Süffisanz.

„Ja, wie immer.“

„Hat er diesmal ein Wort gesagt?“

„Ich … bin mir nicht sicher.“

„Also nein.“

Nicht nur Nina hatte sich des Öfteren gefragt, warum Hubert eigentlich dabei war in den Kundenterminen. Okay, so wusste er im Anschluss immer gleich, was besprochen worden war und konnte sofort das Follow-up übernehmen. Das aus mehr oder weniger standardisierten Emails und Präsentations-Bausteinen bestand, die meistens Nina zusammenstellte. Aber es war schon gut, dass jemand darüber den Überblick behielt. Naja, ein oder zwei Mal hatte sich Hubert auch schon geirrt. Die Diskussionen gingen aber auch manchmal hin und her in den Workshops, da war es nicht immer so leicht, bis zum Schluss die Schwerpunkte in Erinnerung zu behalten.

„Es ist trotzdem schön, dass wir Hubert haben“, nahm Nina ihn in Schutz. „Ein sauberer Vertriebsinnendienst und eine gründliche Vorbereitung, das ist schon der halbe Erfolg, wenn du mich fragst.“

„Apropos Vertriebserfolg …“, Martin machte eine Pause. „Morgen Mittagessen? Zwölf Uhr? Ich hol dich ab?“

Für einen kurzen Moment zögerte Nina. „Okay“, sagte sie dann.

„Siehst du?“ Martin wandte sich an Dominik, der die ganze Zeit ruhig zugehört und ab und zu an seiner Limonade genippt hatte. „DAS ist wahre Vertriebskunst. Ein Date mit Nina zu ergattern.“

„Hey, congrats, Bro.“ Übertrieben prostete Dominik Martin zu und lächelte Nina dabei an.

Die musste ebenfalls lächeln. Sie schnappte sich ihre Unterlagen und lief hinüber in den Meetingraum für das Debriefing nach dem Kundentermin.

Natürlich hatte Martin maßlos übertrieben. Es war mitnichten so, dass Nina mittags nicht gern Zeit mit ihren Kolleginnen und Kollegen verbrachte. Außer, die Mittagspausen kamen zeitlich ungünstig daher.

„Geht ihr mal vor. Ich mach noch kurz was fertig“, war Ninas Standard-Antwort, wenn jemand aus dem Kollegenkreis fragte, ob sie mitgehen würde zum Essen. In der Regel gefolgt von einem „Seid ihr schon zurück?“ eine Dreiviertelstunde später. Wobei man auch sagen musste, dass Einladungen zum Mittagessen eigentlich nicht so häufig kamen mittlerweile. Naja … Vielleicht war sie ab und zu nicht die allergeselligste Begleitung. Es sei denn, man würde Auf-die-Uhr-Gucken im Fünfminutenabstand und heimliches Email-Checken als gesellig bezeichnen.

Aber Mittag mit Martin war eigentlich immer drin. Vielleicht hatte er einfach ein gutes Timing. Und irgendwie vertraute sie ihm. Viele im Unternehmen fürchteten seine scharfe Zunge und die Tatsache, dass er keinen Hehl daraus machte, wenn er jemanden nicht mochte.

Dazu gehörte zum Beispiel das gesamte Vertriebsteam, das er komplett für unehrlich hielt. „Nina, du bist die einzige aus dem Vertrieb, die erstens einen Funken Anstand hat, und die zweitens dem Kunden unsere Lösungen erklären kann“, hatte er schon ein paar Mal gesagt, wenn es um die natürlichen Konflikte zwischen Entwicklung und Vertrieb ging. Die meistens daraus resultierten, dass ein Vertriebler einem Kunden Features zugesagt hatte, die die Entwicklung nicht umsetzen konnte. Oder einen Zeitplan versprochen hatte, der selbst mit wochenlangem Durcharbeiten an den Wochenenden kaum einzuhalten war. Sowieso reagierte Martin extrem empfindlich darauf, wenn jemand versuchte, das Entwickler-Team unter Zeitdruck zu setzen. Seine Leute schützte er wie ein Löwen-Papa.

„Der Kunde erwartet aber eine schnellere Umsetzung. Die Konkurrenz schafft das auch. Wir müssen mit dem Markt Schritt halten“, hatte Nina Andreas schon oft zu Martin sagen hören, wenn es um die Festlegung des Zeitplans bei der Konfiguration und Einführung der Software bei einem Kunden ging.

„Dann müsst ihr bitte im Vertriebsprozess von vornherein klar machen, wie ein realistischer Zeitplan aussieht. Klar erwartet der Kunde die Dinge, mit denen ihr ihm vorher den Mund wässerig gemacht habt. Aber ich werde nicht die Motivation und die Gesundheit meiner Mitarbeiter riskieren, um Zeitpläne einzuhalten, die so gar nicht notwendig sind. Und ich werde nicht auf notwendiges Testen verzichten, sodass die Qualität, für die mein Team steht, am Schluss nicht eingehalten werden kann.“

Für Andreas hatte Martin entsprechend ebenfalls wenig Wertschätzung übrig. „Completely useless“, war seine Einschätzung, und Nina hatte es aufgegeben, Andreas in Schutz zu nehmen. Schlimmer war allein Martins Meinung über Hubert.

„Wer?“, fragte er jedes Mal, wenn jemand Huberts Namen in den Mund nahm – was, zugegeben, nicht so häufig vorkam. Hubert war für Martin ein Geist. Jemand, der auf der Payroll stand, dessen Wirkung im Unternehmen aber, gelinde gesagt, überschaubar war.

Ein leises Lächeln überflog Ninas Gesicht, als sie sich zum Debriefing an den Tisch setzte, an dem sich Andreas und Hubert gerade ebenfalls einfanden. Sie freute sich auf die Pause mit Martin morgen.

Es war halb zehn, als Nina an diesem Abend an Torbens Wohnung ankam. Ihre eigene kleine Mietwohnung lag in Schwabing, und sie liebte sie über alles. Aber Torbens Wohnung war deutlich größer, sodass meistens sie bei ihm übernachtete, selten er bei ihr.

Sie schloss die Wohnungstür auf. Als Torben ihr vor einigen Monaten einen eigenen Schlüssel zu seiner Wohnung überreicht hatte, hatte ein kleiner Faultier-Anhänger daran gebaumelt. „Weil es so offensichtlich NICHT du bist“, hatte er lächelnd gesagt. „Oder aber als Inspiration für dich. Entdecke die Faultier-Nina in dir.“

Ob Torben schon zu Hause war oder ob er, wie so oft, auch noch bis spät arbeitete? Als Senior Manager im Private Banking leitete Torben ein achtköpfiges Team in einer Bank, die seit Jahren gerne mal in der Presse auftauchte, und die sich – quasi als Regelzustand - in der Umstrukturierung befand.

Das Licht im Wohnzimmer brannte, und Nina hörte den Fernseher laufen. Torben saß auf der Couch und sah eine Talkshow. Eine Diskussion zum Grundeinkommen, soweit Nina es erkennen konnte, mit Vertretern unterschiedlicher Parteien.

„Gibt’s was zu essen?“, rief Nina und schnupperte.

„Noch nicht“, rief er zurück aus dem Wohnzimmer, „soll ich uns an der Ecke was holen? Chinesisch?“

„Weißt du was?“ Nina legte ihre Tasche ab und zog ihre Schuhe aus. „Ich mach uns schnell eine Pasta. Wir haben noch Schinken und Sahne … und etwas Rucola, glaube ich. Hast du Lust?“

„Hmmmm“, machte Torben. Er kam zu ihr ins Bad, in dem sie jetzt ihre Hände wusch, legte von hinten beide Arme um ihre Schultern und gab ihr ein Bussi auf die Wange, „eine sehr gute Idee.“

Nina erwiderte seinen Kuss. „Wie war denn dein Wochenstart?“, fragte sie dann, während sie in die Küche vorausging.

„Puuuuh“, machte Torben, der ihr folgte und sich auf einen der Hocker in der Küche setzte, „anstrengend, sag ich dir.“

Den leidenden Tonfall und den Dackelblick, den er dabei aufsetzte, kannte Nina schon gut. Torben hatte viele Challenges in seinem Job: aufmüpfige, verwöhnte Mitarbeiter. Kollegen, die an seinem Stuhl kratzten. Viel Druck aus der Unternehmensleitung. Eine Assistenz, die nicht die hellste Kerze auf dem Leuchter war – dafür sah sie fast schon überirdisch gut aus. Aber die mit Abstand größte Herausforderung war Torbens Chefin Kathrin.

Kathrin, zumindest Torbens Beschreibung nach, war der Inbegriff der fiesen Karrierefrau. Selbst sehr ambitioniert und ehrgeizig, war sie anscheinend unehrlich und jederzeit bereit, fremde Erfolge als ihre eigenen auszugeben. Dazu ließ sie ihre Mitarbeiter immer gerne spüren, dass die ihre Erwartungen nicht im Mindesten erfüllt hatten. Sie liebte überraschende Wie-weit-sind-Sie-eigentlich-mit-Emails, in denen sie Rapport innerhalb der nächsten Stunde zu einem beliebigen, offenbar willkürlich ausgesuchten Projekt verlangte. Die Uhrzeit ihrer eigenen Nachricht interessierte sie dabei wenig. Torbens Verdacht nach ging sie oft selbst zum Spinning, um sich um dreiundzwanzig Uhr daheim nochmal einzuloggen und üble Bitte-schicken-Sie-mir-Ihre-Zusammenfassung-heute-noch-Nachrichten rauszuschicken. Pure Bösartigkeit, dessen war sich Torben sicher.

Es verging kaum ein Tag, an dem Torben nicht eine neue Kathrin-Geschichte parat hatte. Torbens größte Hoffnung war es, dass Kathrin ihren Job kündigen und Platz machen würde auf ihrer Position – am liebsten natürlich für ihn selbst, aber gerne auch für jede andere Person auf dieser Welt, denn es konnte aus seiner Sicht nicht schlimmer kommen. „Selbst Putin wäre eine Verbesserung.“ Die Entgleisungen aus Kathrins Mund waren zahlreich, Respekt war für sie ein Fremdwort, und gepaart mit der Inkompetenz, die sie laut Torben besaß, war für ihn die größte Frage, wie sie überhaupt auf ihren Posten gekommen war.

„Wenn sie so schlecht ist, wieso kündigt ihr ihr denn nicht?“

„Wahrscheinlich will sie keiner zum Feind haben.“

„Ich hätte schon eine Idee, wie ihr sie loswerden könntet, ohne sie zum Feind zu haben“, sagte Nina, während sie den Kochtopf aus dem Schrank nahm.

„Im Ernst? Du hast ein Gift, das unauffällig wirkt?“

„Okay, sagen wir, Mord ist nur Option zwei. Meine Option eins ist besser, pass auf.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Es ist eigentlich ganz einfach. Es braucht nur ein anderes Unternehmen – ein großes, renommiertes oder aber ein cooles Start-Up. Irgendwas mit Sog-Wirkung. Naja, und das war‘s schon. Dieses andere Unternehmen wirbt dann Kathrin ab. Fertig.“

„Äh - was? Und inwieweit ist das ein Plan?“

„Na, ist doch ganz klar. Das ist natürlich ein abgekartetes Spiel. Du hast das vereinbart mit jemandem in dem anderen Unternehmen. Ach ja, und es muss jemand sein, den du kennst und dem du vertraust. Wenn das nämlich rauskommt, macht sich das wahrscheinlich nicht so gut in der Öffentlichkeit.“

„Äääääh - und wie bring ich das andere Unternehmen dazu, sie zu nehmen? Da müsst ich ja lügen. Aber so oder so – der andere, wer auch immer es ist, spricht mit mir kein einziges Wort mehr danach.“

„Klar spricht er mit dir. Und lügen musst du auch nicht. Du sagst ganz offen, wie sie ist.“

„Aber wieso sollte er sie denn dann abwerben?“