Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die ruhmreiche Zeit der Ritterschaft (vor allem der Kreuzzüge) ist vorbei. Die Ritter ergänzen ihre Einnahmen aus Lehen durch Raubzüge und Überfälle. Die vierzehnjährige Katharina soll mit dem viel älteren Witwer Wolf von Bassenheim verheiratet werden. Sie entzieht sich diesem Schicksal. Wie viele in ihrer Position zieht Katharina das Klosterleben der Ehe vor. Zeit ihres Lebens kann sie jedoch die Begegnung mit dem geheimnisvollen Schwarzen Ritter nicht vergessen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 287
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
© 2024 – e-book-AusgabeRHEIN-MOSEL-VERLAGBundesbahnhof 1, 56859 Bullay/MoselTel. 06542/5151Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-952-1Korrektorat: Melanie Oster-DaumAusstattung: Stefanie ThurTitelfoto erstellt mit PromeAIZitate aus dem Nibelungenlied, von Walther von der Vogelweide, von Mechthild von Magdeburg und von Johann Wolfgang von Goethe
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
Die Frauen der Burg
Die Autorin
Für Sabine
Im Dickicht das Haupt der Füchsin, verborgen im Laub, weiß sie, was zu tun ist.
(Nerval de Nette)
»In St. Petersburg überkam mich eines Tages die Vision einer großen heidnischen Feier: Alte angesehene Männer (»Die Weisen«) sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das zufällig ausgewählt wurde und geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.«
(Igor Strawinsky)
Als Katharina Lorette Lovisa von Hirschbach-Mayenfeld das Dunkel der mütterlichen Kemenate erblickte, ging ein Gewitter über die Burg. Es donnerte ungeheuerlich und Blitz auf Blitz fuhr am nördlichen Himmel nieder.
Die Wächter auf den Wehrgängen zuckten zurück als seien Feinde im Ansturm, die Mägde, vor allem die jungen, sanken auf die Knie und beteten laut heulend zum heiligen Chrysostomus, dem Schutzpatron gegen Brand, Eiterbeulen und faules Stroh. Der Wind spielte den Eichen am Burgberg übel mit, so dass sie sich mit ihren Wurzeln ächzend in die Hänge krallten. Und kein Tropfen Regen fiel.
Die ersten Schreie des Kindes gingen unter in Getöse und Durcheinander. Nach einer Phase unheilvoller Ruhe hatten Blitze die Szene grell erleuchtet, und einer von ihnen war im Ostteil der Burg eingeschlagen. Mit ohrenbetäubendem Krach ging der Donner über den Wehrturm hinweg, hallte im Burghof wider und grollte noch lange nach.
An allen Ecken und Enden setzte lautes Wehklagen ein: Der himmlische Feuerzacken hatte das Heu in Brand gesetzt, von dem das Vieh im Winter fressen sollte. Knechte, Wächter und Mägde liefen durcheinander und schleppten in Bottichen, Krügen, ja im Nachtgeschirr und in Helmen das Wasser heran, um dem gierig lodernden Feind Herr zu werden. Einige Männer versuchten es auf natürlichem Wege, indem sie sich vom hölzernen Boden hinab in die Flammen entleerten.
So ging es die halbe Nacht. Dann erbarmte sich der Himmel und schickte schwere Regengüsse, und gegen Morgen endlich konnte man mit vereinter Hilfe, den Heiligen Florian und Laurentius sei Dank, dem Feuer ein Ende bereiten.
Natürlich waren in diesen Stunden die Wöchnerin und das Kind Katharina vergessen. Die Wehfrau wartete vergeblich auf heißes Wasser. Für die erste Waschung stand nur das Regenwasser zur Verfügung, das zwei Mägde eilig holten, bevor andere es zur Brandstelle schleppten. Tagsüber hatte es gefroren und sie hatten es unter einer dünnen Eisdecke aus dem Bottich im Hof geschöpft.
Unten im Dorf witzelte man später, wenn Katharinas Rotschopf am Burgberg aufleuchtete, der gewaltige Blitz sei ihr bei der Geburt in die Haare gefahren.
»Dat Jöngste vom Jraaf, ne jlöhnije Fuss«, das jüngste Grafenkind ein glühender Fuchs, hieß es bei den Bauern. Oben auf der Burg erzählten sich die Kammerfrauen am Feuer, dass dieses Fanal der ersten Stunden das Mädchen gefeit hatte gegen Unwetter aller Art, gegen eiskaltes Wasser und beißenden Rauch. Denn Katharina wurde ein kräftiges Kind, zäh, geduldig und mit einem starken Willen versehen.
Der Vater des Mädchens, Hubertus von Hirschbach, kehrte erst Tage später in sein steinern-luftiges Heim zurück. Während der Niederkünfte seiner Gemahlin hielt er sich gewöhnlich bei einem seiner Brüder auf den Nachbarburgen auf. Nur die Geburt seines ersten Kindes hatte der Graf miterlebt. Die Gräfin hatte sehr gelitten und war gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen. Radegunds spitze Schreie, die, wenn sie verstummten, nur Schlimmeres ankündigten, ein dumpfes Grunzen, als säße der Teufel auf ihr, dieser Wechsel von hohen Tönen und solchen, die der Graf nur von der Hirschbrunft kannte, verfolgten ihn seitdem. Von da an ging er jedes Mal, wenn sich Radegunds Bauch wieder rundete, auf Reisen.
Als er jetzt auf der Burg eintraf, inspizierte er, kaum dass er abgesessen und die Zügel einem Knecht zugeworfen hatte, als Erstes die Brandstelle. Die neugeborene Katharina war das Letzte, was er sehen wollte. Sein Wunsch nach einem Stammhalter sollte sich erst zwei Jahre später erfüllen. Bisher hatte ihm Radegund sechs Töchter geboren und nun noch Katharina Lorette.
Am frühen Morgen erschien die mächtige Nähramme, die seit Tagen mit ihrem jüngsten Sohn in der Burgküche hauste, um dort auf die Niederkunft der hohen Frau zu warten. An ihr hatten schon die Vettern der Nachbarburg gesogen und auch Katharinas Schwestern Birgitta und Mechtildis hatte sie mit ihrer Milch ins Leben verholfen. Bei Katharina schien es zunächst, als habe das Kind es sich anders überlegt. Der heftige Regen, der kurz nach ihrer Geburt einsetzte, hatte so steil über der Esse gestanden, dass er beißende Rauchschwaden ins Zimmer trieb und Säugling und Mutter um den Atem brachte.
Nach anfänglichem Schreien war Katharina immer mehr verstummt. Nach einer Weile zeigte sie kaum noch Lebenszeichen, und plötzlich schien sie nicht mehr zu atmen. Man fürchtete, der Rauch habe ihr den Garaus gemacht. Die riesige Amme blieb gelassen. Sie besah sich den Säugling, packte ihn entschlossen an den Beinen und hielt ihn mit dem Kopf nach unten. Der Kopf wurde erst blau, dann rot, dann wieder weiß. Als er weiße Farbe annahm, hob die Amme das Kind hoch und es öffnete seine Augen, Augen von einem seltsamen Blau, wie man es auf der Burg bisher noch nicht gesehen hatte. Die älteren Schwestern hatten allesamt braune Augen, haselnussbraun, wie der Burgherr. Die alte Kammerfrau dachte für einen Augenblick an die Farbe, die Kornblumen annehmen, ein paar Tage, nachdem man sie gepflückt hat. (Meeresblau, an einem Frühsommermorgen, konnte sie nicht denken, denn das Meer hatte sie noch nicht gesehen). Ihr Gedanke wurde von einem leisen Fiepen unterbrochen, das sich bald zu einem hohen Krähen steigerte.
»Es atmet wieder«, dachte die Kammerfrau erleichtert. Das Köpfchen des Kindes mit den erstaunlichen Augen war bedeckt mit rostrotem Flaum. Wie manche Laubblätter, wenn der Herbst sich neigt, dachte die alte Kammerfrau. Dann raffte sie ihre Röcke und lief die steinerne Wendeltreppe hinunter, so schnell ihr vorgeschrittenes Alter es erlaubte, um der Herrin die frohe Kunde zu bringen.
Die Mutter, Gräfin Radegund, war nach der Geburt in eine Ohnmacht gefallen und man hatte ihren mageren Körper in eines der besser durchlüfteten Turmzimmer getragen. Dort lag sie apathisch auf dem großen Spannbett und wünschte sich weit weg. Es war bereits ihre siebte Niederkunft und sie war verständlicherweise nicht mehr so neugierig auf den Säugling wie bei den älteren Kindern. Beim Eintreten der Alten wandte sie den Kopf nur leicht nach links und schaute die Kammerfrau fragend an. Als diese die Augen zu Boden senkte, wusste Radegund, dass sich der ersehnte Stammhalter noch immer nicht eingestellt hatte und ihr Gatte sie folglich weiter belästigen würde. Einen Moment lang meinte sie den Geruch von Gebrautem zu riechen, den der Graf verströmte, wenn er ihr nahe kam. Augenblicklich musste sie sich übergeben. Die Kammerfrau kam noch rechtzeitig hinzu, um der Herrin die verschränkten Hände als Speikübel hinzuhalten. Auf der Burg gab man nicht viel auf Unpässlichkeit und die Alte erzählte ihrer würgenden Herrin ungerührt, dass das Neugeborene nun doch zum Atmen gekommen sei.
Als die Gräfin von der Haarfarbe hörte, merkte sie ein wenig auf, erhob sich, auf ihre Ellbogen gestützt, matt von der Bettstatt, um gleich wieder zurückzusinken. Kraftlos schlug sie ein Kreuz über der Brust und sprach, die vom Rauch entzündeten Augen zur Decke gerichtet, das Kind komme nach ihrer Großtante Ludovisa. Sie hoffe, es werde nicht ebenfalls so fuchsig rot. Dann fiel sie in einen dreitägigen Schlaf.
Inzwischen hatte die Amme ihr grob gewebtes Gewand geöffnet und den Säugling an eine der großen Brüste gelegt, aus denen hell und klar die Milch tropfte. Das Neugeborene schlug sekundenlang die blauen Augen auf, drehte den Kopf in Richtung des duftenden Zapfens, trank auf der Stelle und außerordentlich gierig. Die Amme, der die beiden oberen Schneidezähne fehlten, lächelte breit. Dann schnalzte sie vernehmlich durch die Lücke ihres Gebisses, das die Kammerfrau für einen Augenblick an einen schadhaften Lattenzaun im Burggarten erinnerte. Dann – so ging die spätere Rede – soll die Amme gesagt haben: »Das ist ungewöhnlich. Sie ist schneller als die jungen Grafen. Man braucht es ihr gar nicht zu zeigen. Das sind Kinder, die neugierig werden und sich einmal nehmen, was sie wollen!«
Katharina konnte, als sie älter wurde, diese Geschichte, die ihr wechselweise von der Mutter, den älteren Schwestern und der alten Kammerfrau erzählt wurde, nicht oft genug hören. Als sie heranwuchs, entwickelte sie jedoch Zweifel an der Geschichte, vor allem daran, dass die Amme so gesprochen hatte, denn sie wusste, dass sie diese Rede gar nicht hätte führen können. Eine Frau aus dem Volk sprach fast nie in ganzen Sätzen und sie benutzte auch andere Worte. Anderlin jedenfalls, der Sohn der Amme, sprach nicht so.
Die Amme hatte seinerzeit ihren zweijährigen Sohn mit auf die Burg gebracht. Anderlins anhaltender Durst brachte Katharina als Kleinkind in den Genuss stets voller Brüste, und mit den Jahren wurde der Sohn der Amme ihr Gefährte bei aufschlussreichen Entdeckungen außerhalb der Burgmauern und Vermittler einer notdürftigen Aufklärung über den Unterschied der Geschlechter. Bis dahin saß die kleine Katharina Lorette Lovisa, solange sie trank, und sie trank bis ins dritte Lebensjahr, in der Burgküche auf der Amme rechtem Bein, das so breit wie ein gefällter Baumstamm war. Auf dem anderen saß Anderlin, ihr Milchbruder, während die Frau, die außer diesen Beinen auch bemerkenswert starke Arme ihr Eigen nannte, Bohnen oder Erbsen pellte, Rüben, Äpfel oder Birnen schälte oder Kohl für den Winter kleinschnitt. Die Kinder krochen dann zu ihren Füßen, die im Sommer nackt und im Winter mit grobem Sackleinen umwickelt waren, auf dem Boden herum.
Als Katharina mehr und mehr den Apfelschalen den Vorzug vor der Brust gab, versiegte der Brunnen und Anderlin und sie bekamen Ziegenmilch, von der kleinen Herde, die in einem Pferch im Burggarten lebte. Und als die Amme keine Kinder mehr bekam und ihre Milch für das jüngste Grafenkind – zur Freude des Burggrafen waren Katharina noch zwei Brüder gefolgt – nicht mehr floss, musste sie die Burg verlassen. Sie packte ihr Bündel, warf es sich über die Schulter und schritt wie ein Mann durchs Tor. Anderlin und Katharina begleiteten sie bis zur Einfahrt und sahen der hohen Gestalt nach, wie sie auf dem gewundenen Weg den Burgberg hinunter schritt. Langsam und würdevoll, wobei ihre großen Brüste bei jedem Schritt sacht unter dem groben Gewand schaukelten. Sie würde von nun an bei den Hintersassen des Grafen am Fuß des Burgbergs leben. Anderlins Vater, ein wandernder Knecht aus dem Rheintal, war schon lange tot. Die Amme kam bei einem Bauern unter. Er wies ihr einen Platz bei den Kühen an, die sie von nun an zu füttern und zu melken hatte. Im Frühjahr half sie beim Pflügen. Die Kinder sahen von oben, wenn sie zwischen den Zinnen hockten, ihre weißen Arme in der Sonne leuchten.
Vier Jahre nach Katharinas Geburt kam Gebhard, ihr zweiter Bruder, zur Welt. Die Freude des Burggrafen war groß. Er ließ ein prächtiges Tauffest ausrichten, bei dem die Burg abends von Hunderten von Fackeln leuchtete. Im Burghof versammelten sich die Gäste und warteten Kopf an Kopf mit Musikanten, Fahnenträgern und Gauklern auf die Ansprache des Gastgebers. Schließlich blies ein Trompeter das Signal und Stille trat ein. Dann erschien der Graf von Hirschbach auf dem Wehrgang, hielt den Säugling, begleitet von einer Fanfare, triumphierend hoch, höher, dann so hoch, dass Katharina einen Augenblick lang glaubte, Vater und Kind fielen vornüber in den Burghof. Dabei stieß ihr Vater das Motto aus, das im Wappen der Hirschfelds stand: »Semper audax – Immer kühn!«
Dann reichte er das Kind einer Amme und hob Meinhard, seinen zweijährigen Sohn hoch. Und wieder rief er: »Semper audax!« und dankte Gott, dass er ihm mit den beiden Söhnen den Fortbestand der Burg unter seinem Namen gesichert hatte. Seine Töchter standen derweil daneben und schauten verlegen auf ihre Schuhspitzen, die nach der neuesten Mode nach oben gebogen waren. Die vierjährige Katharina sah dem Treiben verdrossen zu. Der Vater hatte bisher nur zweimal in ihrem jungen Leben das Wort an sie gerichtet, und auch nur, indem er in barschem Ton mehr Ruhe befohlen hatte, als sie mit ihrer Schwester Birgitta im großen Saal Fangen spielte. Das ganze Schauspiel mit den Brüdern war ihr ein Rätsel und den Wappenspruch, in dem ein Au-Dachs vorkam, verstand sie auch nicht. Was war das für ein Tier? Wer hatte ihm weh getan? Sie konnte Agnes, ihre älteste Schwester nicht fragen, denn nun sprach der Burggraf ein Dankgebet, und alle im Hof Versammelten stimmten beim Amen ein. Dann lud der Vater die Gäste ein, sich im Saal an der Festtafel gütlich zu tun, und weil er ein rauer Mann war, rief er: »Und nun fresset und sauft!«
Alles brach in lauten Jubel aus und drängte in die große Halle und von dort in den geschmückten Saal. Auch die jungen Burgfräulein, Katharina, die Jüngste, an der Hand ihrer ältesten Schwester Agnes, schlossen sich dem Festvolk an.
Als Katharina später das Nachtgebet gesprochen hatte, fragte sie die alte Kammerfrau, ob der Vater auch sie nach ihrer Taufe so hochgehoben und den Gästen gezeigt habe. Die Alte verneinte.
»Dein Vater war bei euch Mädchen meist auf Reisen!«
»Und warum ist er jetzt da? Was ist anders bei den Brüdern?«
Die alte Kammerfrau segnete sie und strich ihr eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Dann sagte sie leise, wobei sie die Augen nach oben richtete: »Gott, der Herr, hat es so gewollt! Es sind immer die Knaben, die auf den Burgherrn folgen. Die Töchter müssen einem Mann folgen. Es ist die Tradition!«
Katharina dachte nach und fragte die alte Kammerfrau: »Hat Gottderherr die Knaben denn lieber als die Mädchen? Und was ist die Tradition?«
Im Halbschlaf stellte sie sich die Tradition wie eine hagere Frau vor, dürr wie ihre Tante Gertrudis, eine Schwester ihrer Mutter, die selten froh und ausgesprochen geizig war. Die Kammerfrau segnete Katharina ein zweites Mal.
»Gott liebt alle Kreaturen, auch die Mädchen. Und später wirst du es ihm vielleicht danken, dass du eines braven Ritters Hausfrau sein darfst und nicht in die Schlacht ziehen musst!«
Ihre letzten Worte hatte Katharina schon nicht mehr gehört. Sie war eingeschlafen und in ihren süßen Träumen hob ein großer Mann sie hoch und höher und zeigte sie dem Volk. Und als sie herabschaute aus ihrer Höhe, standen dort unten im Burghof die beiden Brüder Meinhard und Gebhard und weinten.
Am anderen Morgen sann sie lange darüber nach, wie sie des Vaters Aufmerksamkeit erringen könnte. Sie hatte Agnes beim Frühstück nach dem Au-Dachs im Wappenspruch gefragt, und die Schwester hatte ihr erklärt, dass audax lateinisch sei und auf Deutsch kühn bedeute. Und da der Vater gerne zur Jagd ging, beschloss sie, wenn sie einmal groß wäre, das Reiten und Jagen zu lernen und immer kühn zu sein.
Anderlin, der Sohn der Amme, blieb auf der Burg. Er diente im Winter dem Kelterer als Gehilfe und im Sommer als Hütejunge für das Vieh. Katharina war in jungen Jahren, so oft es ging, mit ihm zusammen. Gräfin Radegund, Katharinas Mutter, war zu hinfällig, Hubertus, ihr Vater, meist in Geschäften unterwegs und die Kammerfrau, die den jungen Fräulein zugeteilt war, war zu alt, um diese Freundschaft zu unterbinden.
Katharina mochte den Milchbruder mehr als ihre beiden echten Brüder Meinhard und Gebhard, die zwei und vier Jahre nach ihr geboren waren. Im Gegensatz zu den jungen Grafen, die Katharina zimperlich fand, konnte sie mit Anderlin alles teilen, was sie liebte. Sie kletterte mit ihm am Burgberg um die Wette, mit ihm rannte sie den gewundenen Weg ins Dorf hinunter oder schwang sich in die Gestänge der Wachttürme.
Anderlin kannte die Burg und alle ihre Winkel wie kein zweiter. Er zeigte ihr, wie man sich aus dem Fenster der Sommerküche auf einen Felsvorsprung hinabließ, von dort, wenn man sich geschickt festzuhalten wusste, zu einer natürlichen Treppe im Felsen gelangte, und dann zu einer steilen Böschung, die man, auf dem Gesäß rutschend, überwinden konnte. Nach nur drei weiteren Sprüngen gelangte man ans Ufer der Nette.
Zurück wäre die Böschung, steil wie sie war, kaum zu erklettern gewesen, aber der Kelterer hatte Anderlin einen geheimen Weg gezeigt, den die Bauherren der Burg hatten anlegen lassen, um sich im Falle einer feindlichen Vereinnahmung einen Fluchtweg offen zu halten. So gab es weiter unten ein Schlupfloch im Felsen, ganz von Büschen verborgen, das über einen engen Gang nach oben in die hinterste Ecke des Weinkellers, und dort in ein riesiges leeres Fass aus Eichenholz mündete, in dem seitlich eine kleine Tür eingelassen war. Einem nichts ahnenden Betrachter blieb diese Tür verborgen.
Im Licht einer brennenden Fackel musste man in diesem Keller Acht geben, nicht über die Unebenheiten des gestampften Lehms oder eine der vielen Ratten, die hier umher huschten, zu stolpern. Vor jedem ihrer gemeinsamen Ausflüge wachte Anderlin darüber, dass der Riegel der kleinen Pforte im Weinfass zur Seite geschoben war, damit sie über diesen Weg zurückkehren konnten.
Die Kammerfrau, die Kinderfrauen und die Beschließerin durften von Katharinas Aufenthalten außerhalb der Burgmauern nichts wissen, denn Anderlin war ein Knabe und dazu nicht von Geblüt. Katharina kümmerte das nicht. Anderlin war ihr Gefährte durch alle Jahreszeiten. An warmen Tagen sprang sie mit ihm, nur im Unterkleid, in den kühlen Fluss, der unterhalb der Burg einem breiten Bach ähnelte, etwas weiter jedoch an Tiefe gewann. Der Burgberg wurde nämlich links und rechts von zwei Flüssen umspült, deren Lauf sich zu einem einzigen Fluss verband, sobald sie den Fels umrundet hatten. Der eine hieß Nette, der andere Nitz, und wenn sie eins wurden, hieß der Fluss Nettenitz. Nach der Vereinigung machte das Gewässer eine große Biegung und danach wurde der Fluss breiter und tiefer. Hier hatten die Kinder eine Badestelle, die, verborgen vom Wald, von der Burg aus nicht zu sehen war.
In Katharinas neuntem und zehntem Sommer badeten die beiden fast täglich in der Nettenitz. Danach lagen sie im Gras und trockneten ihre Kleider: die leinenen Kleider Katharinas und Anderlins löchrige Beinkleider. Dann studierten sie ihre Körper und Katharina entdeckte auf Anderlins nackter Schulter ein seltsames Mal, das die Form eines Vogels hatte.
»Von mein Vatter, sagt die Ama.« So nannte Anderlin seine Mutter, die Amme. Um die Familie zu ernähren, ging Anderlins Vater mit zwei anderen aus dem Weiler als Kran-Knecht in eine Tretmühle am Rhein und kam bei dieser Tätigkeit ums Leben. Einer der Heimkehrenden berichtete, dass beim Abladen der schweren Fracht der Teufel das Tretrad plötzlich so in Schwung gebracht habe, dass Anderlins Vater und ein zweiter Aufläder herausgeschleudert wurden und sich das Genick brachen.
»Er kam von weit her, jenseits des Rheins, und ist weitergewandert, als ich noch im Bauch der Ama war. Er hatte auch dieses Mal auf der Schulter. Die Ama sagt, es ist vom Satan und ich soll es keinem zeigen!«
Katharina, die von der Kammerfrau erfahren hatte, dass die kleinen Kinder aus Binsenkörbchen im Teich gesammelt wurden, dachte an die beiden Jüngsten der Ama und machte ein sorgenvolles Gesicht.
»Da müssen die beiden Kleinen aber sehr traurig gewesen sein, dass ihr Vater schon tot war, als man sie im Teich gefunden hat!«
Anderlin schaute sie verständnislos an und warf einen Stein in den Fluss. Dann murmelte er mürrisch: »Die beiden Kleinen sind vom Bauer!« Hierbei zog er seine Stirn zusammen, so dass die beiden Falten über den Brauen, die vom Schmutz sehr dunkel waren, sich noch tiefer eingruben. Dann klatschte er sich ärgerlich mit der Hand auf die Schulter, um eine Mücke zu verscheuchen. Katharina verstand nicht, warum Anderlin auf den Bauer, der die Kleinen aus dem Teich geholt hatte, wütend war. Sie betrachtete voller Bewunderung das Teufelsmal, aus dem Anderlin sich nichts machte, das sie aber gerne gehabt hätte.
Ihr wiederum waren in der Mitte jeden Fußes zwei Zehen so zusammengewachsen als hätte sie Schwimmhäute dazwischen. Wenn Anderlin sie ärgern wollte, schrie er »Hexenhaut, Hexenhaut!« Dann lief er lachend weg, während Katharina ihn wütend mit Erdklumpen bewarf.
Als das Mädchen zehn Jahre alt wurde, konnte sie sich immer mehr in den Tiefen des Baches halten und sie schwamm bald wie ein Fisch. Anderlin war zu ängstlich, ihr zu folgen, da konnte sie noch so sehr rufen. Wütend darüber, dass Katharina an einer Stelle unter- und woanders wieder auftauchte, rächte er sich, stieß sie, wenn sie zum Ausruhen neben ihm lag, grob in die Seite oder bewarf sie mit Kletten. Katharina konnte umgekehrt nicht alles, was Anderlin konnte, z. B. vom Steilufer aus im Stehen Wasser lassen und dabei in die Nette zielen. Anderlin tat es mit Wonne, seit er wusste, dass es sie kränkte. Dann stellte er sich breitbeinig hin, pinkelte in hohem Bogen in den Fluss und schrie: »Das kannst du nie und nimmer!«
Er versuchte sich sogar in wechselnden Bögen, nicht ohne Katharina einen triumphierenden Blick zuzuwerfen, weil es sonst nicht viel gab, worin er ihr überlegen war. Katharina schaute bei seiner Kunst wütend weg. Oder sie warf sich mit aller Kraft auf ihn, zerrte ihn an Ohren und Haaren, so lange, bis er sie lachend und prustend um Gnade bat. In vielem anderen war sie geschickter als er: Sie konnte Forellen mit der Hand fangen, sie konnte ihre Steine beim Werfen genauer platzieren, besser schwimmen und reiten als er und, als sie älter wurde, mit einem Falken hantieren. Anderlin tat so, als ob er es nicht bemerkte. Heimlich jedoch bewunderte er seine Milchschwester.
So tobten die beiden froh durchs Jahr, bewarfen sich im Frühjahr mit Kletten, im Herbst mit Eicheln, im Winter mit Schnee und fochten lachend ihre kleinen Kämpfe aus.
Im Winter folgte Katharina, in einen Wolfspelz gehüllt, Anderlin ins Dorf hinunter und sie schlitterten über den gefrorenen Teich.
Das Mädchen hatte dem Schmied der Burg einen alten Schild abgeschwatzt, mit dem sie sich gegenseitig, einer darauf sitzend, der andere angespannt, über die eisige Fläche zogen. Auch die Dorfkinder ließ Katharina auf den Schild. Anderlin sah es nicht gerne. Er war in Bezug auf Katharina eifersüchtig und dünkte sich als Burgbewohner den Hintersassen überlegen. Seine jüngeren Brüder, die teilweise mit der Amme bei den Kühen hausten, kommandierte er herum oder verteilte Kopfnüsse. Von den kleinen Dorfmädchen verlangte er getrocknete Apfelschnitze, wenn sie auf den Schild wollten. Am frühen Nachmittag, wenn es dämmerte, ging er mit Katharina zur Ama, ihrer Mutter und Amme, in den Stall. Sie aßen Rüben- oder Gerstenbrei, den diese in einem Tiegel im Stroh für sie warmgehalten hatte. Oder sie ruhten an ihren großen Brüsten, die ihnen schon auf der Burg Wärme und Trost gespendet hatten und lauschten den Geschichten von der Kornmuhme, die alle Kinder holte, die nicht beten wollten.
Nach diesen Ausflügen an bitterkalten Tagen kehrten sie über den geheimen Weg in den Weinkeller zurück, denn das Burgtor wurde im Winter schon mittags geschlossen. Im Keller trennten sich ihre Wege. Katharina, nachdem sie sich versichert hatte, dass niemand von der Familie im Burghof war, schlich in die Küche und säuberte sich. Die Mägde mochten das Mädchen und brachten ihm Leintücher und heißes Wasser. Sie tuschelten und kicherten, wagten aber nie zu fragen, woher das Fräulein käme, wenn es sommers mit zerschundenen Beinen, im Winter blau vom Frost, plötzlich neben der Esse auftauchte und gebieterisch in die Hände klatschte. Anderlin hingegen holte sich wegen der langen Abwesenheit Flüche und Schläge beim Kelterer ab.
Er, der Katharina zwei Jahre voraushatte und nicht, wie das Mädchen, mit der Familie, sondern beim Gesinde lebte, wusste viele Dinge, die Katharina nicht wusste. Des Nachts schlief er nicht wie sie auf einem Spannbett im Schlafsaal, sondern in einer Stallecke bei den Knechten. Eingerollt auf einem Haufen Stroh und einer Handvoll Lumpen, hörte er so manches, was für Kinderohren nicht bestimmt war. Während Katharina bei den Kammerfrauen das Säumen lernte, wurde seine Bildung durch Knüffe und Tritte von den Schlafgenossen vervollständigt. Er fürchtete sich auch nicht wie Katharina vor den dunklen Kellergewölben, denn er hatte schon eine Nacht im Kerker verbracht, als die betrunkenen Knechte sich einen Jux machen wollten und ihn dort einschlossen. Morgens und abends hörte er statt Gebete wüste Flüche, und er wusste Katharina einzuweihen in das, was er bei seinen Lehrmeistern gelernt hatte. Über die Verstrickungen der Mägde zum Beispiel. Immer wenn eine blass wurde und plötzlich aus der Sommerküche in den Hof rannte, um sich zu übergeben, prophezeite Anderlin, dass ihr nun der Bauch anschwellen werde und ihre Tage auf der Burg gezählt seien. Die Magd wurde dorthin zurückgeschickt, wo sie hergekommen war, meist in den Weiler am Fuß des Burgbergs. Dort unten fügte sie den hungrigen Mäulern der Geschwister ein weiteres hinzu, um dann, ein paar Wochen nach der Geburt, wieder auf die Burg zurückzukehren.
»Und warum kommen einige erst nach Monaten und andere schon bald zurück?«
Katharina hatte inzwischen ihre Theorie der Binsenkörbchen dahingehend abgewandelt, dass die kleinen Kinder zuerst im Bauch waren, dann aber von den Frauen zum Teich gebracht wurden und in den Körbchen nachreiften. Anderlin sah in die blauen Augen der Gefährtin. Sie saßen auf dem heimlichen Weg unter dem Fenster der Sommerküche. Seine Antwort wurde verzögert, weil sich gerade ein Bottich voll mit Essensresten und stinkendem Wasser aus dem Abfluss den Hang herab ergoss. Die Kinder wichen eilig auf einen seitlich gelegenen Felsvorsprung aus.
»Der Kelterer sagt, wenn sie früher zurückkommen, ist eines abgegangen. Sie gehen zur alten Griet unter der Burgküche und trinken was dagegen, oder sie beten es ab. Man muss zwei Tage und zwei Nächte dauernd dasselbe beten. Die anderen tun gar nichts, lassen es kommen und dann bleibt das Balg unten bei der Mutter.«
Katharina verstand ihn nicht ganz, aber Anderlin kletterte schon weiter, weil er ein Vogelnest entdeckt hatte und es ausheben wollte. Katharina, die sah, wie die Elsternmutter aufgeregt von Ast zu Ast hüpfte, versuchte zwei der vier Eier zu retten, indem sie auf ihren Anteil verzichtete. Vergeblich. Ihr Gefährte reckte sich noch einmal in die Höhe.
»Dann nehm’ ich die halt auch noch! Der Kelterer sagt, die Herrschaft frisst jeden Tag Hühnereier, Knecht und Bauer müssen darben!«
Anderlin wollte noch einmal zwischen die Zweige langen, aber Katharina versprach ihm schnell ihr abendliches Hühnerei, wenn er das Nest in Ruhe ließe. Er ließ sich überreden und kletterte höher auf dem Pfad, den seine Füße durch die häufigen Streifzüge am Burgberg gebildet hatten. Ein Stück weiter gelangten sie zum Abort unter dem Schlafsaal, der wie ein Schwalbennest an der Burgmauer klebte. Anderlin zeigte Katharina, wie man das stinkende Rinnsal vermied, das nun ihren Weg kreuzte und behauptete, die Wächter kämen an manchen Sommerabenden an diese Stelle, um die hohen Fräulein von unten zu besehen.
Katharina sah ihn ungläubig an. »Es ist den Wächtern verboten, den Wehrgang zu verlassen«, wandte sie ein.
»Ich verstehe es ja auch nicht. Ich würde deswegen nicht hierherkommen«, lachte Anderlin, »auf dem Abtritt sehen doch von unten alle gleich aus!«
Dann wies er zum wiederholten Mal mit seiner schmutzigen Hand in Richtung des Felsenzackens, der hinter der Burg hochragte und rief: »Ich war da!«
Im Dorf unten nannte man diesen Felsen die Blutley, andere sprachen von der Teufelsley oder vom Roten Stein. Allen Bewohnern der Burg, den Kindern, Knechten und Mägden war es strengstens untersagt, über den schmalen Grat hinüber zu klettern, weil vor Jahren zwei vom Gesinde dort abgerutscht und in die Schlucht gestürzt waren. Aber Anderlin hatte es einmal gewagt, war aus Neugier über den Felsenkamm gekrochen und hatte Katharina von der anderen Seite im Tausch gegen zwei gebratene Hühnerbeine ein Stück des rotgeäderten Steins mitgebracht. Katharina, voller Bewunderung für seine Tat, wollte genau wissen, wie der Ort aussah, von dem man auf der Burg nur leise und mit Grauen sprach.
Die jungen Mägde und die Burgfräulein hatten abends am Feuer oft mit vor Angst geweiteten Augen und offenem Mund der Geschichte von der Blutley gelauscht. Katharina war stolz, dass sie in Anderlin jemanden kannte, der sich wahrhaftig bis zu dem Stein getraut hatte. Anderlins Schilderungen blieben undeutlich und sie variierten, aber so viel war ihnen zu entnehmen: Um die Blutley herum gäbe es viel Unheil. Böse Geister in Nebelgestalt wateten dort knietief im Blut. Sie hätten Flüche ausgestoßen, ihre dürren Fäuste geschüttelt und Anderlin gedroht. Er sei jedoch unbeirrt auf den Stein zugegangen, und das Blut sei vor ihm zurückgewichen. Ein anderes Mal erzählte er von einem Reigen, den Frauen, deren Häupter mit Schlangen bekränzt waren, um den Stein getanzt hätten. Als sie ihn bemerkten, seien sie laut schreiend geflohen, nicht ohne mit den Schlangen nach ihm zu werfen. Zum Beweis hatte er eine tote Blindschleiche aus seiner Tasche gezogen. Dann wieder hatte ihn aus einem Gebüsch eine Fratze angesehen, das müsse der Teufel selbst gewesen sein. Und immer, wenn der rote Stein bei ihren Ausflügen in Sichtweite kam, zeigte Anderlin in seine Richtung, klopfte mit der Faust gegen seine magere Brust und rief: »Mir ist’s gelungen. Ich war da!«
Abends, auf dem Spannbett, lag Katharina lange wach und dachte nach. Der Vater war seit einiger Zeit auf Reisen und je länger er fort war, desto mehr sehnte sich Katharina danach, von ihm bei seiner Rückkehr beachtet zu werden. Wieder vertraute sie sich der alten Kammerfrau an und beklagte sich, dass der Vater, wenn er auf der Burg war, nur mit den Brüdern sprach. Was umso schmerzhafter für Katharina war, da die Brüder in hohem Maße einfältig waren. Die alte Kammerfrau hörte ihr zu und empfahl dem Mädchen für den Vater zu beten. Aber Katharina warf stattdessen ihre Arme in die Luft und rief voller Leidenschaft aus, der Vater möge sie lieben wie ein Hirte das Kälbchen, wie eine Katze ihr Junges oder wie die Stute ihr Fohlen. Die Alte sah sie lange an.
»Mein liebes Kind, das Wichtigste ist das Gottvertrauen. Danach, und nun höre gut zu, kommt jedoch das Vertrauen in dich selbst. Nie sollst du um die Liebe anderer buhlen. Was zu dir gehört, kommt zu dir, auch die Liebe. Und nun lass uns beten, dass der Graf gesund nach Hause findet.«
Katharina, für die der Burggraf, wie für alle, die auf der Burg lebten, der große Mann schlechthin war, grübelte vor dem Einschlafen weiter, wie sie die Aufmerksamkeit des Vaters erringen könnte. Sie müsste wohl wie die Brüder sein, nur besser. Dann hatte sie einen Einfall, der sie die halbe Nacht wachhielt.
Wie würde der Graf nach seiner Heimkehr staunen, ihr zuhören, seine Augen nur auf ihr ruhen und sich von ihr berichten lassen, wenn sie den Weg zur Blutley schaffte? Der Vater würde sie bewundern, mehr vielleicht als die beiden Brüder, die nur selten und dann sehr ungern die Fenstersitze der Burg verließen. In ihr reifte mehr und mehr der Plan, dass sie allein oder mit Anderlins Hilfe den Felsenkamm bezwingen musste, der zwischen ihr und der Teufelsley lag.
Am anderen Tag saß sie im Mairegen mit Anderlin unter dem Laubdach einer großen Buche und lauschte den Tropfen, die sanft in die Blätter der Krone fielen. Wegen der großen Schwüle wurden die Kinder müde, lehnten aneinander und schliefen ein. Anderlin war oft müde. Tagsüber half er bei den Pferden und abends dem Kelterer, wenn die Herrschaft zur Tafel ging. Dann schleppte er die Krüge mit Wein in den Saal und Katharina, die mit den Schwestern in einer Reihe zu Tisch saß, blinzelte ihm zu. Anderlin, der mit dem vollen Krug am Saaleingang stand, blinzelte nicht zurück. Ihm fielen die Augen oft zu, bis ihn ein heftiger Stoß in den Rücken, ausgeteilt von einem aus dem Saalgesinde, wieder weckte.
Noch vor Katharina war er eingeschlafen und schnarchte leise mit offenem Mund. Katharina fiel auch in einen leichten Schlaf, schreckte jedoch vom Donner eines kräftigen Gewitters auf und wäre fast aus der Astgabel gefallen. Sie weckte Anderlin und erzählte ihm von ihrem Plan, die Blutley zu besuchen. Anderlin schüttelte nur störrisch den Kopf.
»Nie und nimmer! Ein Mädchen kann das nicht – und mitgehen tu ich auch nicht. Wenn dir etwas geschieht, schlägt der Graf mich tot!«
Alle ihre bisherigen Überredungskünste, Schmeicheleien und Bestechungsversuche fruchteten nicht. Anderlin weigerte sich standhaft, ihrer Bitte nachzukommen. Katharina war daraufhin zweimal in aller Frühe zum Ziegenpferch spaziert, der dem unheimlichen Felsen gegenüber lag. Beim zweiten Mal hatte sie in der morgendlichen Dämmerung den Einstieg gewagt. Sie schürzte ihr Kleid, band es in der Taille fest und zog die Schnabelschuhe aus.
Die Sonne beschien den Pfad und von den Feldern unter der Burg ertönte das Jubeln der Lerchen. Vorsichtig und mit Gottvertrauen, wie die alte Kammerfrau sie es gelehrt hatte, setzte sie einen nackten Fuß vor den anderen. Es ging auch ein paar Meter gut, obwohl das Gras vom Tau noch feucht war. Dann jedoch kam sie an eine Stelle, an der der Fels spitz wie ein Dachfirst in die Höhe ragte. Um dorthin zu gelangen, musste man sich auf ein kleines Plateau herablassen.
Katharina nahm all ihren Mut zusammen und rutschte auf den tieferen Absatz des Felskamms. Von dort würde sie nur noch kriechend weiterkommen. Links und rechts stürzten die Felsen steil in die Tiefe und Katharina erinnerte sich an sämtliche Schauergeschichten, die sie am abendlichen Feuer gehört hatte, vor allem daran, wie viele hier schon den Tod gefunden hatten. Sie gab auf und wollte den Rückweg antreten. Dies misslang, denn das glatte Stück Fels, an dem sie hinuntergerutscht war, bot keine Möglichkeit, sich festzuhalten. Ihre Finger fanden zwar in den Spalten Halt, ihre Füße rutschten jedoch wieder und wieder ab. Katharina setzte sich hin und dachte nach.
Darüber schlief sie ein und als sie erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Es musste Mittag sein, in der Burg würde man sie vermissen. Ihre Versuche, das Stück Wand hochzukommen, scheiterten erneut. Sie musste den Nachmittag abwarten, bis eine Magd die Ziegen füttern kam.
Als sie die Ziegen aufgeregt meckern hörte, schrie sie aus voller Kehle »Hilfe, Hilfe, hier bin ich, holt mich hoch!«