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In dieser Quellenstudie wird die schriftliche Überlieferung zur Ehefrau Martin Luthers ausgewertet mit dem Ziel, ein primär zeitgenössisches Bild der Lutherin zu erheben. Sowohl in ihrer Bedeutung für Luther als auch im Blick auf ihre Position innerhalb der Wittenberger Reformation ergeben sich für das Bild der Gattin des Reformators neue Aspekte: sie fungierte als bekannteste ehemalige Konventualin, als Ehefrau des prominentesten Wittenberger Professors, als Vertraute und Seelsorgerin Luthers, sie gehörte der führenden Schicht Wittenbergs an und gestaltete diese Rolle. Sie nahm an den Tischgesprächen teil und war über Luthers engeren Bekanntenkreis hinaus bekannt.Im Anhang sind erstmalig innerhalb der reformationsgeschichtlichen Forschung sämtliche auf Katharina von Bora bezogenen Briefe und Dokumente erfasst.
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Seitenzahl: 815
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie (LStRLO)
Herausgegeben von Irene Dingel, Armin Kohnle und Udo Sträter
Band 21
Sabine Kramer
Katharina von Bora in den schriftlichen Zeugnissen ihrer Zeit
Dr. Theol. Sabine Kramer wurde 1962 in Erfurt geboren. Sie studierte Evangelische Theologie an der Humboldt-Universität und dem Sprachenkonvikt zu Berlin 1985–1991. Nach Vikariat und Entsendungszeit in Schmon, Kirchenkreis Querfurt, war sie von 1997 bis 2002 als Studentenpfarrerin in Halle gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Pfarrer Johann Friedrich Kramer, tätig. Das Jubiläumsjahr anlässlich des 500. Geburtstags der Lutherin 1999 gestaltete die Autorin mit. Seit 2002 ist sie Pfarrerin an der Marktkirche Unser Lieben Frauen zu Halle und seit 2009 Geschäftsführende Pfarrerin der Evangelischen Marktkirchengemeinde.
Im Wintersemester 2010/11 wurde sie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig promoviert.
Sie ist Stellvertretende Vorsitzende des Vereins für Kirchengeschichte der KPS e.V. und Beauftragte für das Reformationsjubiläum 2017.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
2. Auflage 2017
© 2016 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Satz: Christian Buro, Halle/Saale
ISBN 978-3-374-03255-6
www.eva-leipzig.de
Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2010/11 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig im Rahmen eines Promotionsverfahrens als Dissertation angenommen.
Sie wurde angeregt von Herrn Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Günther Wartenberg, dem damaligen Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Reformationsgeschichte und territoriale Kirchengeschichte. Durch seine Unterstützung erwuchs aus meinem Interesse an Katharina von Bora das Forschungsprojekt. Es schließt eine Lücke, indem es eine bislang fehlende, umfassende Sammlung der in Frage kommenden schriftlichen Quellen und damit ein Bild dieser Adligen aus ihrer Zeit erhebt. Prof. Wartenberg beförderte die vorliegende Untersuchung bis kurz vor seinem plötzlichen Tod im Jahr 2007.
Mein Dank gilt dem Institut für Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, insbesondere Herrn Prof. Dr. Armin Kohnle, Lehrstuhlinhaber für Spätmittelalter und Reformation, der die Betreuung meiner Dissertation und das Erstgutachten übernahm, sowie dem Direktor des Instituts, Herrn Prof. Dr. Klaus Fitschen als Zweitgutachter.
Gedankt sei den Dozenten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät Leipzig sowie den Teilnehmenden des Oberseminars für Kirchengeschichte für ihr vielfältig anregendes Interesse an meiner Arbeit. Herrn Karsten Eisenmenger, Bibliothekar a. D. der Marienbibliothek zu Halle, danke ich für seine Unterstützung bei der Erschließung von Archivalien. Herrn Pfarrer Christian Buro bin ich zu großem Dank für die Erstellung der Druckvorlage verpflichtet.
Mein Dank gilt sodann der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands und der Evangelischen Kirche in Deutschland wie auch der Stiftung leucorea an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, welche die Drucklegung finanziell unterstützt haben. Letzterer danke ich zudem für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe der »Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie«.
Für die Druckfassung wurde der Text in geringem Umfang überarbeitet. Die nach Abschluss des Manuskripts erschienene Literatur konnte nur noch in einigen Fällen berücksichtigt werden.
Jede wissenschaftliche Arbeit hat ihre spezifischen Entstehungsbedingungen. Dass ich neben meiner beruflichen Tätigkeit als Pfarrerin der Marktkirchengemeinde zu Halle diese Dissertation verfassen konnte, verdanke ich zu allererst der Geduld und dem Verständnis meiner Familie. Meinem Mann, Akademiedirektor Johann Friedrich Kramer, meinen Töchtern Frederike und Brenda gilt mein inniger Dank.
Mit dieser Veröffentlichung im Vorfeld des 500. Reformationsjubiläums 2017 verbindet sich mein Wunsch, zur reformationsgeschichtlichen Frauen- und Lutherforschung eine quellenbezogene Grundlagenstudie beizutragen.
Halle (Saale), 29. Januar 2016
Sabine Kramer
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Themenstellung
1.2 Quellenlage und Methode
1.3 Zum Forschungsstand
1.3.1 Fragestellungen des 17. – 20. Jahrhunderts
1.3.2 Zum 500. Geburtstag der Lutherin
2 Die Lutherin im Briefwechsel
2.1 Quantitative Beobachtungen
2.1.1 Die Lutherin als Verfasserin und Adressatin von Briefen
2.1.2 Katharina in Luthers Korrespondenz
2.1.3 Weitere Absender und Adressaten
2.1.4 Die Zeiträume der Korrespondenz
2.2 Inhaltliche Aspekte: von der Lutherin verfasste Briefe
2.2.1 Vorbemerkungen
2.2.2 Zu den Briefen im Einzelnen
2.2.3 Ein neu aufgefundener Brief
2.3 Die Ehekorrespondenz der Lutherin
2.3.1 Katharinas verlorene Briefe an ihren Mann
2.3.2 Luthers Briefe an seine Frau
2.3.3 Funktion, Privatheit bzw. Öffentlichkeit der Ehebriefe
2.3.4 Die Ehebriefe in ersten Lutherbriefeditionen
2.4 Briefwechsel der Wittenberger Reformatoren
2.4.1 Philipp Melanchthon
2.4.2 Justus Jonas
2.4.3 Johannes Bugenhagen
2.4.4 Caspar Cruciger
2.5 Korrespondenz von Freunden Luthers außerhalb Wittenbergs
2.5.1 Georg Spalatin
2.5.2 Nikolaus Hausmann
2.5.3 Anton Lauterbach
2.5.4 Nikolaus von Amsdorf
2.5.5 Veit Dietrich
2.5.6 Johann Agricola
2.6 Briefwechsel des Kurfürsten Johann Friedrich
2.7 Katharina im übrigen Briefwechsel Luthers
2.7.1 Vorbemerkungen
2.7.2 Hochzeitsgäste und Paten ihrer Kinder
2.7.3 Weitere Hausgäste
2.7.4 Weitere Briefpartner, die in Wittenberg gewesen waren
2.7.5 Die übrigen Korrespondenten
2.8 Die Lutherin im Briefwechsel ihrer Verwandtschaft
2.9 Zur Funktion der auf Katharina bezogenen Briefe Luthers
2.10 Privatheit und Öffentlichkeit in Luthers Briefen
2.11 Katharina in ersten Lutherbriefeditionen
2.11.1 Erste Drucke einzelner Briefe
2.11.2 Obsopoeus’ Sendschreibensammlung
2.11.3 Crucigers Trostschriftensammlung
2.11.4 Aurifabers Lutherbriefsammlung
2.11.5 Die Wittenberger Lutherausgabe
2.11.6 Die Jenaer Lutherausgabe – lateinische Reihe
2.11.7 Die Jenaer Ausgabe – Aurifabers Ergänzungsbände
3 Katharina im Spiegel von Luthers Tischreden
3.1 Beobachtungen zum WA TR-Register
3.1.1 Abweichungen der Paralleltexte
3.1.2 Verallgemeinerung bzw. biographische Konkretion
3.1.3 Indirekte Folgerungen
3.2 Quantitative Beobachtungen
3.3 Die einzelnen Nachschriften bzw. Sammlungen
3.3.1 Vorbemerkungen
3.3.2 Die Sammlung des Conrad Cordatus
3.3.3 Die Nachschriften des Johannes Mathesius von 1540
3.3.4 Die Nachschriften Johann Schlaginhaufens
3.3.5 Veit Dietrichs Nachschriften
3.3.6 Kaspar Heydenreichs Nachschriften
3.3.7 Veit Dietrichs und Nikolaus Medlers Sammlung
3.3.8 Nachschriften Lauterbachs und Wellers
3.3.9 Weitere Nachschriften und Sammlungen
3.4 Funktion, Privatheit und Öffentlichkeit der Tischreden
3.5 Die Tischreden als historische Quelle zur Lutherin
3.6 Die Lutherin in Aurifabers Tischreden nach WA TR
3.6.1 Vorbemerkungen
3.6.2 Separate und Paralleltexte in WA TR
3.6.3 Beispiele für Aurifabers Bearbeitungen
3.6.4 Aurifabers Tischreden als historische Quelle
4 Die Lutherin in der Kontroversliteratur
4.1 Vorbemerkungen
4.1.1 Kontroverstheologischer Kontext
4.1.2 Quantitative Beobachtungen
4.1.3 Luther als Kontroversschriftsteller
4.2 Reaktionen auf Katharinas Klosterflucht (1523–1525)
4.2.1 Luther: ›Ursache und Antwort‹ (1523)
4.2.2 Johannes Dietenberger
4.3 Kontroverspublizistik auf die Hochzeit mit Luther (1525–1530)
4.3.1 Petrus Sylvius
4.3.2 König Heinrich VIII. von England
4.3.3 Thomas Morus
4.3.4 John Fisher
4.3.5 John Rightwise
4.3.6 Herzog Georg von Sachsen
4.3.7 Hieronymus Emser
4.3.8 Johannes Cochläus
4.3.9 Die Sendbriefe Hasenbergs und von der Heydens
4.3.10 Neue Zeitung von Leipzig
4.3.11 Polemik infolge der Doppelporträts des Lutherpaares
4.4 Kontroversschriften 1530 bis zu Luthers Tod
4.4.1 Der Streit um Katharina Hornung
4.4.2 Johannes Eck
4.4.3 Hasenberg: Ludus ludentem luderum ludens
4.4.4 Franz Arnoldi
4.4.5 Kontroversen des Jahres 1533
4.4.6 Simon Lemnius: ›Monachopornomachia‹
4.5 Kontroversliteratur nach Luthers Tod
4.5.1 Cochläus: Historia Martini Lutheri
4.5.2 Thierry van Maelcote
4.6 Biographische Details und Argumente
4.7 Funktion, Privatheit und Öffentlichkeit
5 Katharina in weiteren schriftlichen Quellen
5.1 Quantitative Beobachtungen
5.2 Zwei Hauspredigten Luthers von 1532
5.2.1 Predigt am Sonntag Exaudi zu Joh 15, 26
5.2.2 Predigt am Pfingstsonntag zu Joh 14, 23
5.2.3 Funktion und Veröffentlichung der Hauspostille
5.3 Dritte Disputation gegen die Antinomer
5.4 Jonas’ und Bugenhagens Berichte von Luthers Erkrankung 1527
5.5 Bericht Bugenhagens von 1537
5.6 Jonas’ Bericht über Luthers Tod und Begräbnis
5.7 Nikolaus von Amsdorfs Bericht über Luthers Heirat
5.8 Paul Ebers Nachruf auf die Lutherin
5.9 Erste Historiographien und Biographien
5.9.1 Johannes Sleidanus
5.9.2 Johannes Mathesius
6 Ertrag – zum zeitgenössischen Bild der Lutherin
6.1 Bekannteste ehemalige Konventualin und entlaufene Nonne
6.2 Ehefrau des prominentesten Wittenberger Professors
6.3 Zugehörige zur führenden Schicht Wittenbergs
6.4 Über Luthers Bekanntenkreis hinaus erwähnt
6.5 Eigenständige Wirtschaftsführerin und Unternehmerin
6.6 Teilnehmende der hochrangig besetzten Tischgespräche
6.7 Partnerin im reformatorischen Diskurs
6.8 Gehilfin, Vertraute, Leib- und Seelsorgerin Luthers
6.9 In der Publizistik der Reformatoren kaum genannt
6.10 Katharina Luther – (k)eine evangelische Heilige
Anhang
I. Chronologische Übersicht der Briefe und Dokumente
II. Ein neu aufgefundener Brief
Literaturverzeichnis
1. Archivalien
2. Druckschriften bis 1600
3. Druckschriften ab 1600
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
1527 schrieb Luther an Justus Jonas, er freue sich, dass Jonas sein Urteil über Erasmus von Rotterdam1 geändert habe und ihn nun auch ablehne. Auf Jonas’ – nicht erhaltene – briefliche Äußerung antwortete Luther ihm: »Cumque ego hanc epistolae tuae partem legerem uxori, continuo illa inquit: Ist nicht der teur Manne2 zur Kröten worden? Sihe da! Gaudet et ipsa idem te nunc mecum sentire de Erasmo«.3
Die Briefpassage Luthers ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich, zugleich implizierten sie sowie die folgenden, mit ihr im Zusammenhang stehenden Tischreden bzw. weiteren Briefpassagen Fragen, denen in dieser Untersuchung nachgegangen werden soll. Zunächst ist die Briefpassage ein Beispiel dafür, dass Katharina von Bora in Briefen, vornehmlich in den Briefen ihres Ehemannes erwähnt ist und dass Luther aus einem aktuellen Anlass in seiner Korrespondenz auf seine Frau zu sprechen kam. Auch zeigt Luthers Brief, dass er seine Frau in den Diskurs über die Freiheit des Willens einbezog, indem er ihr Jonas’ Argumentation auf Erasmus’ ›Hyperaspistes‹ vorlas, wobei er bei Katharina Vorwissen sowie Interesse voraussetzen konnte. Dass Jonas in seiner Erfurter Universitätszeit zu den glühenden Verehrern des Erasmus gehört hatte, sich sogar mit einem Humanistenbrief von ihm schmückte und Erasmus 1519 in Leiden persönlich kennengelernt hatte, dürfte auch Katharina gewusst haben, was ihre Freude über Jonas’ Meinungsänderung erklärt.4 Die Lutherin beherrschte Latein in Grundzügen, denn sonst hätte sie die Passage über Erasmus nicht verstanden und sich nicht selbst dazu äußern können. Handelt es sich hierbei um eine singuläre Äußerung Katharinas zu einer theologischen Frage oder bei welchen Gelegenheiten, in welchem Umfang und mit welchen Inhalten war sie an dem Diskurs Luthers bzw. der Wittenberger Reformation beteiligt? Welche Beziehung pflegte die Lutherin zu Justus Jonas sowie zu den weiteren Wittenberger Mitarbeitern ihres Mannes? Welche Rolle nahm sie unter den führenden Wittenberger Reformatoren und deren Familien ein?
Bekanntlich gingen der Verteidungsschrift des Erasmus im Streit um die Freiheit des Willens dessen Schrift ›De libero arbitrio‹ und Luthers Antwort ›De servo arbitrio‹5 voraus. Über die Genese der Entgegnung Luthers ist in der Tischredennachschrift des Johannes Mathesius von 1540 zu lesen, dass sie im Jahr 1525 geschrieben wurde und als sie zufällig bei Tisch hervorgeholt wurde, Luther in ihr las und sagte: »Erasmus credidit neminem posse respondere ad suam diatriben, et ego volui tacere, sed Ioachimus persuasit meae Cathenae, ut instaret. Ipsa supplicante scripsi.«6 Der Impuls, auf die erste Erasmusschrift zu reagieren, ging folglich nicht von Luther selbst, sondern von Joachim Camerarius aus, der Katharina zu gewinnen wusste, um dieses Anliegen an ihren Mann zu vermitteln, welcher längere Zeit gezögert hatte.7 Warum wandte sich der damalige Wittenberger Griechischprofessor Camerarius an die Lutherin? Welchen Einfluss übte Katharina auf ihren Mann bzw. übten die Eheleute aufeinander aus? Welche Rolle spielte Katharina für Luther? Welcher Anteil ist der Lutherin am Werk ihres Mannes beizumessen? In welchem Umfang und in welcher Absicht notierten bzw. überlieferten Johannes Mathesius und weitere Tischredennachschreiber und -sammler Passagen, in denen die Lutherin erwähnt ist?
In dem eingangs zitierten Brief kam Luther nochmals auf seine Frau zu sprechen, er schrieb, sie grüße Jonas und bitte, dass dieser für sie bete, denn sie werde demnächst entbinden.8 In diesem Fall schrieb Luther an seinen Freund und engen Wittenberger Mitarbeiter Jonas9 als einen Adressaten, der Katharina persönlich kannte und über seine Familie mit Luthers Familie befreundet war.
Teilte Luther nur Adressaten aus seinem Mitarbeiterkreis Neuigkeiten von Katharina mit? War die Lutherin folglich nur unter Luthers Bekannten bekannt? Oder reicht Luthers Korrespondenz in Bezug auf seine Frau über diesen Rahmen hinaus?
Im weiteren Kontext ist zu fragen, was Luther von ihr wann und an wen schrieb. Wer schrieb außer Luther noch an bzw. über Katharina von Bora? Was und an wen schrieb sie selbst? Welche Inhalte weist ihre Ehekorrespondenz auf? Lassen sich neben den persönlichen Beziehungen von Korrespondenten auch formale Beziehungen zur Lutherin aufzeigen? Welcher Wert als historische Quelle für Luthers Ehefrau ist den Tischreden im Vergleich zu den Briefen beizumessen?
Ein erster Überblick über die Quellen zeigt: über Briefe und Tischreden hinaus finden sich Schriften der Kontroversliteratur, zumeist Flugschriften, Predigten, Berichte und einige weitere schriftliche zeitgenössische Zeugnisse zur Lutherin. Wie kommt Katharina in ihnen zur Sprache? Inwieweit kamen diese Quellen zu einer zeitgenössischen öffentlichen Wirkung?
In dieser Untersuchung kann die frühere Forschung zur Lutherin nicht außer Acht gelassen werden, die stärker einem Frauenbild des orthodoxen Protestantismus verpflichtet war, als den zeitgenössischen Quellen zu entsprechen. Den Perspektiven des 18. und 19. Jahrhunderts verhaftet, wurde eher die Pfarrfrau, Mutter und Hausfrau betont, als etwa – wie eingangs angedeutet – die am reformatorischen Diskurs Beteiligte.
In jüngster Zeit wurde die Lutherin mit zahlreichen Einzeluntersuchungen erneut in den Fokus der Forschung genommen. Diese stehen nicht zuletzt im Kontext neuer Perspektiven der historischen Frauenforschung, durch die in den letzten Jahren besonders Frauen des Mittelalters und der Reformationszeit »das Interesse der Forschung auf sich gezogen [haben]; nicht nur Katharina von Bora trat aus dem Schatten Martin Luthers heraus«.10
Insbesondere das infolge ihres 500. Geburtstages 1999 neuerwachte Interesse an der Lutherin steht in keinem Verhältnis zur bisherigen Forschung und eröffnet in einem bislang nicht gekannten Ausmaß Zugänge zu dieser ungewöhnlichen Frau des 16. Jahrhunderts.11 Es erscheint lohnend, einige dieser Zugänge zur Lutherin im Ergebnis der folgenden Darstellung zu diskutierten.
Die bisherige Forschung lässt ein Desiderat erkennen. Eine umfassende, quellenbezogene Sammlung und Bearbeitung der infrage kommenden schriftlichen Zeugnisse zu Katharina von Bora fehlt bislang. Dieser Aufgabe widmet sich die folgende Untersuchung mit der Absicht, ein Bild der Lutherin aus ihrer Zeit zu erheben und damit einen Beitrag zur Wittenberger Reformation, an der Katharina von Bora zwischen 1525 und 1552 beteiligt war, zu liefern.
Da eine quellenbezogene Darstellung gewählt wird, ist folglich nicht beabsichtigt, den Biographien bzw. den historischen Lebens- und Charakterbildern zur Lutherin eine weitere hinzuzufügen. Vor dem Hintergund der letztgenannten Werke erhob Martin H. Jung Tendenzen gegenwärtiger Forschung: die »neuere theologische Forschung schenkt der Rolle von Frauen im Reformationsgeschehen stärkere Beachtung … Die Kirchengeschichtsschreibung ist nicht mehr wie früher an unterhaltsamen und erbaulichen Lebensbeschreibungen angesehener Frauen der Reformationszeit interessiert, sondern an dem Selbstverständnis dieser Frauen, an den Erwartungen, die sie mit der Reformation verknüpften, und an ihrem Beitrag zu den reformatorischen Veränderungen.«12
Die folgende Untersuchung richtet ihr Interesse auf die Äußerungen, die die Zeitgenossen Katharinas, in erster Linie ihr Ehemann in seinen Briefen, jedoch auch dessen Korrespondenten und weitere Verfasser schriftlicher Quellen in Bezug auf Katharina niederschrieben.
Die zeitliche Eingrenzung orientiert sich dabei an den Lebensdaten der Lutherin (1499–1552) einschließlich der Nachrichten über ihren Tod, wobei der fließende Übergang zur frühen Rezeptionsgeschichte, vornehmlich in ersten Lutherbriefeditionen, Johannes Aurifabers Ausgabe von Luthers Tischreden, ersten Reformationshistoriographien und Lutherbiographien sowie Kontroversschriften zu Beginn der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts exemplarisch mit in den Blick genommen wird.
Da sich ein Großteil der Quellen in diversen Editionen seit dem 16. Jahrhundert findet, besteht die Aufgabe vorrangig darin, sie in einer umfassenden Sammlung darzustellen. Sofern es sich dabei um Luthers Korrespondenz handelt, gelingt dies unschwer, da sie in der Weimarer Lutherausgabe bzw. im Lutherjahrbuch veröffentlicht ist. Weitere Briefe mit Bezügen zur Lutherin sind in den Korrespondenzen Johannes Bugenhagens, Justus Jonas’ und anderweitig, jedoch nicht vollständig ediert. Archivalische Quellen zur Lutherin werden somit hinzugezogen. Im Spiegel von Luthers Tischreden wird Katharina nach der Weimarer Tischredenausgabe erschlossen. Eine vorausgehende kritische Betrachtung des Registers erörtert die Problematik der Parallelen. Die Kontroverspublizistik zur Lutherin wird anhand der Druckschriften des 16. Jahrhunderts erhoben. Insofern es sich um Flugschriften handelt, steht eine Bibliographie bzw. Edition ausgewählter Schriften zur Verfügung.13 Die zeitgenössischen schriftlichen Zeugnisse werden nach der Häufigkeit, in der sie Bezüge zur Lutherin aufweisen, nach Briefen, Tischreden, Kontroversschriften und weiteren schriftlichen Quellen geordnet14 untersucht. Jeweils leiten quantitative Beobachtungen die Teiluntersuchung ein. Von Katharina selbst verfasste Schreiben sowie Luthers Ehebriefe werden dem Material zur Lutherin im weiteren Briefwechsel aufgrund der Bedeutung dieser Quellen vorangestellt. Ein Exkurs zu dem im Rahmen dieser Untersuchung aufgefundenen Brief Katharinas beleuchtet ihren Gerichtsprozess 1549–1550. Fehlende Briefe werden für Katharinas Ehekorrespondenz exemplarisch benannt.
Die Teiluntersuchungen abschließend wird jeweils nach der Funktion der Quellen gefragt, um zu verorten, was in Bezug auf Katharina geschrieben wurde. Die Frage nach Privatheit bzw. Öffentlichkeit des Geschriebenen soll aufzeigen, inwieweit Katharina ihren Zeitgenossen anhand dieser Quellen bekannt wurde. Ferner wird erhoben, ob und wenn ja, welche der betreffenden Briefe, Tischreden, Kontroversschriften und weiteren Quellen zu Lebzeiten der Lutherin publiziert wurden, womit das öffentliche Bild Katharinas in ihrer Zeit in den Blick genommen wird. Da dieses sich nicht allein aus schriftlichen Zeugnissen, sondern zumindest auch aus Lukas Cranachs Gemälden speist, ist ihnen ein Exkurs gewidmet.
Als Ertrag werden aus den Teiluntersuchungen Elemente eines Bildes der Gattin Luthers in ihrer Zeit erhoben. Sie im Kontext der im einführenden Forschungsüberblicks erhobenen Perspektiven zu diskutieren, soll am Ende der Untersuchung stehen.
Für die Briefe als Hauptquelle zur Lutherin wird mit der Auflistung der entsprechenden Passagen zudem eine Übersicht gegeben, um einen in dieser Weise bislang nicht vorhanden gewesenen Zugang zu Katharina von Bora in den schriftlichen Zeugnissen ihrer Zeit zu eröffnen.
Nicht seit 500 Jahren, wie man vielleicht vermuten möchte, sondern erst seit etwa 300 Jahren befasst sich die evangelische Theologie mit Katharina von Bora. Ein Blick auf die Anfänge der historischen Forschung über die Lutherin zeigt, dass diese ihren Impuls nicht aus sich selbst heraus, sondern durch kontroverstheologische Publikationen erhielt. Die ersten Monographien wurden durch Veröffentlichungen von katholischer Seite ausgelöst, die Luthers Ehefrau bis in das 19. Jahrhundert hinein als eine Zielscheibe konfessioneller Polemik verstand. In Reaktion darauf setzten sich evangelische Autoren erstmals mit der Vita der Lutherin auseinander.15 Es galt, die Person Katharina von Bora zu würdigen und zugleich den evangelischen Glauben zu verteidigen. Bis zum 19. Jahrhundert spiegelt die Literatur über Katharina von Bora die seit der Reformationszeit fortgeschriebene kontroverstheologische Debatte wider. Erst in jüngster Zeit verließ die Forschung zur Lutherin diesen Referenzrahmen.
Der folgende Abriss skizziert Grundlinien der sich verändernden Fragestellungen und Bewertungen in Bezug auf Katharina von Bora durch die evangelische Theologie und die Geschichtswissenschaft.
In apologetischer Absicht publizierte 1698 der Hamburger Pfarrer und Vertreter der lutherischen Orthodoxie Johann Friedrich Mayer16 eine Monographie über Luthers Ehefrau.17 Den Vorwurf altgläubiger Polemik zu widerlegen, dass die evangelischen Theologen über Katharina schwiegen, weil sie sich ihrer und der Ehe Luthers schämten, bestimmte Mayers Interesse. Seine erfolgreiche Schrift erlebte 1698 und 1699 mehrere Auflagen und erschien 1724 auch auf Deutsch.18 Mayer stellte Nachrichten über Luther, Katharina und ihre Kinder aus Lutherschriften und -briefen sowie aus Aurifabers Tischredensammlung19 zusammen. Indem Mayer Katharinas Herkunft sowie ihre Lebensstationen umriss, zeichnete er erste biograpische Konturen, auf denen alle folgenden historiographischen Schriften über Katharina basierten. Ein in Mayers Schrift aufgenommenes Bildnis von Katharina nach einem Cranachporträt20 sowie die Abbildung ihrer Torgauer Grabplatte veranschaulichten Katharina als historische Person. Mayer beabsichtigte, mit seinen Ausführungen evangelischen Christen zur Erbauung zu dienen. Er widerlegte die Urteile römisch-katholischer Polemik gegen Luthers Ehestand, indem er diese zitierte und mit antipäpstlicher Polemik reagierte. Seine Apologie auf Katharina verfasste Mayer während seines Wirkens in Hamburg in der Phase seines Kampfes gegen den Pietismus. Im Duktus seiner polemischen streitenden Theologie richtete Mayer auch seine Schrift über Katharina von Bora gegen die römische Polemik. Damit nahm er Katharina von Bora erstmals als ein Thema der lutherischen Theologie auf. Das bis in die Gegenwart reichende lutherisch-orthodoxe Bild von ihr prägte Mayer grundlegend.
Mayers Darstellung diente bald darauf weiteren Werken über die Lutherin als Vorbild. Auf Mayers Dissertation bezog sich der Historiker und Lehrer Christian Juncker21 in seiner Lutherbiographie, in der er besonders seine numismatischen Kenntnisse verarbeitete.22 In einem eigenen Kapitel fügte Juncker einen biographischen Abriss über die Lutherin23 ein, was erstmalig in einer Lutherbiographie geschah. Nach einer Würdigung des Lebensweges Katharinas setzte sich Juncker mit einigen Äußerungen der katholischen Polemik auseinander. Des Weiteren stellte er fünf bildliche »Denkmale« der Lutherin in Abbildungen vor: einen medaillonförmigen Brettspielstein mit ihrem Bildnis, die Kopie des Cranach-Bildnisses von 1526, die auch Mayer seiner Dissertation voran gestellt hatte, Katharinas Torgauer Epitaph sowie zwei Schaumünzen.24
In Gestalt eines fiktives Gespräches zwischen der Lutherin und Leonhard Keyser,25 der wegen seines lutherischen Bekenntnisses 1527 verbrannt worden war, wurde der Stoff aus Mayers Schrift von dem Juristen Johannes Gleichmann26 literarisch verarbeitet. Seine ›Gespräche‹ erschienen 1732 als apologetische Schrift über die evangelischen Grundsätze Luthers. Sie trägt biographische sowie apologetische Züge über Katharinas Leben und Wesen.27 In Gleichmanns Werk nimmt die Lutherin die Rolle der Verteidigerin des evangelischen Glaubens ein. Bemerkenswert ist, dass Gleichmann neben bekannten Autoren des 16. Jahrhunderts wie Emser, Cochläus, Fisher und Agricola eine Reihe vorwiegend französischer Autoren des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts nannte, die polemische Schriften gegen Katharina und ihre Ehe verfassten, deren Namen bzw. Werke gegenwärtig nahezu unbekannt sind. Auf Leonhard Keysers Frage, wer diejenigen Papisten seien, die Schmäh- und Lästerschriften gegen die eheliche Verbindung edierten, antwortet Katharina von Bora: »Jetzo fallen mir nur folgende davon ein, nemlich Emserus, Cochlerus, Joh. Fischerus,28 Franciscus Agricola,29 Surius,30 Lindanus,31 Schoppius,32Raynandus, Carolus de Creutzen, Varillasius,33 Maimburgius,34 Bossvetus,35 Raimundus, Spondanus,36 Bezius, Andreas Forneus37 und Conradus Coellinus.38 « Über die Schriften dieser Autoren gegen Luthers Ehe urteilte die literarische Figur Katharina, dass diese nichts anders gewesen seien, als »schndliche pasqville, welche mein seeliger Gemahl nicht so viel wrdigte, daß er darauff geantwortet htte, solche generse Verachtung wrckete so viel, daß diese Pasquillanten sich selbst schmen, und verstummen musten«.39 Luther hätte auch nur auf seine Zeitgenossen Surius, Lindanus und Coellinus, nicht aber auf die übrigen Kontroversisten des späten 16. bzw. des 17. Jahrhunderts reagieren können.
1751 veröffentlichte der evangelische Theologe Christian Wilhelm Franz Walch40 eine Biographie über Katharina von Bora. Ähnlich wie bei der Schrift Mayers hatte altgläubige Polemik den Anstoß gegeben.41 Walch reagierte damit auf ein Pamphlet gegen die Lutherin, das von Michael Kuen, Abt des Augustinerklosters in Ulm,42 veröffentlicht worden war und das bereits zwei Jahre später in zweiter Auflage erschien.43 Wiederum wurde der Vorwurf, dass sich die Protestanten um die Lebensgeschichte Katharina von Boras nicht kümmern würden, von Engelhard aufgegriffen. In seiner Vorrede erklärte er seine Absicht, die evangelischen Gläubigen anzugreifen. Katharina von Bora bot sich dafür als Folie an, ihre historische Person spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Polemik Engelhards gegen die Lutherin zielte darauf, zu beweisen, dass der evangelische Glaube falsch sei, wozu sich Luthers Ehe besonders eigne. An ihr seien Luthers Laster am ersichtlichsten, was beweise, dass, wenn bereits der Stifter der Religion lasterhaft sei, ihn dann der Geist Gottes nicht getrieben haben könne und folglich die ganze lutherische Religion falsch sei.44 Walch konterte, indem er Engelhards unseriöse Verarbeitung von Lutherzitaten bzw. Luther zugeschriebenen Äußerungen aufdeckte und ein den historischen Quellen verpflichtetes Lebensbild der Lutherin zeichnete. In seiner apologetisch ausgerichteten Monographie bezeichnete er die Lutherin als selige Jungfrau, die ein gottwohlgefälliges Leben geführt und damit den Erweis der Rechtmäßigkeit des evangelischen Glaubens erbracht habe. Walchs Werk hatte publizistischen Erfolg, denn es erschien bereits im folgenden Jahr in zweiter und vermehrter sowie 1752 und 1754 in zweiteiligen Auflagen.
Im 19. Jahrhundert erschienen auf evangelischer Seite vier Monographien über Katharina von Bora. Der Theologe und Philologe Wilhelm Beste45 beabsichtigte, die Geschichte Katharina von Boras allgemeinverständlich darzulegen, nachdem sie seit Walchs Biographie, die nur Gelehrten verständlich sei, für einhundert Jahre keine Bearbeitung erfahren habe.46 Mit Monographien wie ›Der Glaube macht selig‹47 und ›Luthers Glaubenslehre‹48 bemühte sich Beste um die populäre Vermittlung lutherischer Glaubensgrundsätze. In seiner Katharina-Biographie betonte er, die kontroverstheologische Haupttendenz Walchs nicht weiter zu verfolgen.49 Er versicherte, den historischen Quellen getreu nachgegangen zu sein.50 Katharina von Bora diente ihm als Thema, um seine lutherische Theologie breiteren Leserschichten zu vermitteln. An ihrer Biographie beabsichtigte Beste zu zeigen, wie sich die Gedanken Luthers in realen Lebensläufen verwirklichten. Die Vita der Lutherin stelle einen Beitrag zur Anschauung der Verwirklichung reformatorischer Ideen außerhalb der Reformatoren51 dar und habe »ihre selbstständige, von Luther’s Leben unabhängige … Bedeutung«.52
Der in reformationshistorischen Quellen belesene Leipziger Lehrer Friedrich Hofmann53 verfasste ein Lebensbild der Katharina von Bora,54 mit dem er beabsichtigte, einen allgemeinwissenschaftlichen Beitrag zur Geschichte der Reformation im 16. Jahrhundert zu liefern.
Der sächsische Pfarrer Moritz Meurer55 verfasste eine quellenreiche Biographie der Lutherin.56 Es entsprach seiner theologischen Prägung, dass er sich diesem Stoff zuwandte. Im Gegenzug zum vorherrschenden Rationalismus ihrer Zeit gehörten Meurer und Beste zur lutherischen Erneuerungsbewegung.57 Mit biographischen Schriften über Gestalten der Reformation wollte Meurer den christlichen Lesern Kenntnis über die Reformation vermitteln und ihre Vertreter als Glaubensvorbilder darstellen.58 Um den Lesern Martin Luther anschaulich und nicht nur anhand seiner weltgeschichtlichen Taten nahezubringen, sollte er im Kern seines Privatlebens, in seiner Ehe und aus der Perspektive der Biographie Katharinas gezeichnet werden.
Auch der Hallenser Pfarrer und Verfasser zahlreicher historischer Lebensbilder Herrmann Otto Nietschmann59 veröffentlichte ein Lebensbild Katharinas, welches von 1879 bis 1924 in nicht weniger als fünf Auflagen erschien.60 Nietschmann wählte die novellistische Form61 und leitete damit die im 20. Jahrhundert vielfältige belletristische und vorrangig für Leserinnen62 verfasste Literatur über Katharina von Bora ein.
Die Werke des 19. Jahrhunderts zeigen, dass im Unterschied zum 18. Jahrhundert nun nicht mehr Invektiven katholischer Autoren gegen Katharina den Anstoß zu apologetischen Gegenschriften gaben. Vielmehr wurde nach 100 Jahren, die seit Walchs Biographie vergangen waren, eine Lücke in der kirchengeschichtlichen Literatur empfunden, die den Anlass zu neuen Untersuchungen gab.63 Sie spiegeln die Entfaltung der Geschichtswissenschaft und die damit verbundene Verbesserung der Quellenlage wider, die ein detaillierteres Wissen um Katharina von Bora ermöglichte. Außerdem hatte sich die Stellung der bürgerlichen Frau im 19. Jahrhundert verändert. Die Aufspaltung der Lebensverhältnisse in die Arbeitswelt und Öffentlichkeit außerhalb des Hauses als Lebenswelt des Mannes und die häusliche Welt mit Kindererziehung als Lebensbereich der Frau verlangte nach neuen Identifikationsmustern für Frauen.64 Sie wurden im Frauenbild der lutherischen Orthodoxie gefunden, das auf die Lutherin übertragen wurde. Vergleicht man die Absichten der Autoren, so fällt auf, dass im Unterschied zu den Werken des 18. Jahrhunderts ein apologetisches Interesse zurücktritt zugunsten der Darstellung einer Identifikationsfigur, nämlich der »schlichten, deutschen Hausfrau, einer demütigen Katechismusschülerin, ohne hervorleuchtende Geistesgaben«.65 Durch das Aufgreifen der Bezeichnung Hausfrau, die Luther in mehreren Titularien seiner Ehebriefe für Katharina verwendet hatte66 und die im 16. Jahrhundert einen sehr viel weitergefassten Bedeutungsinhalt hatte als im 19. Jahrhundert, wurde eine scheinbar unmittelbare Identität der Hausfrau des 19. Jahrhunderts mit Katharina Luther konstatiert. Veränderte Bedeutungsinhalte des Begriffs und ihre dahinter stehende gewandelte Situation wurden nicht problematisiert. Es wurde nicht aufgezeigt, dass Katharina von Bora als eheliche Hausfrau des 16. Jahrhunderts die Hauptverantwortung für die Ökonomie ihres Hauses trug, bürgerliche Hausfrauen des 19. Jahrhunderts hingegen durch die veränderten Arbeitswelten von ökonomischer Verantwortung ausgeschlossen waren.
Luthers Ehe wurde als das Muster schlechthin gezeichnet, das allen evangelischen Christen zur Nachahmung dienen sollte. Katharina fungierte darin in den Rollen der »treuen Lebensgefährtin, zärtlichen Mutter, tätigen Hausfrau und glaubensvollen Dulderin«.67 Dabei wurden Eheideale, die von gefühlvoller Innerlichkeit bestimmt sind, auf Katharina übertragen. Entsprechend vollzog sich ein Wandel der Rezeption der Literatur über Katharina von Bora. Waren die Werke des 18. Jahrhunderts noch stärker ein Gegenstand des von Männern geführten kontrovers-theologisch-universitären Diskurses, so wurde Katharinas Leben nun auch in bürgerlichen Familien rezipiert. Der Schluss liegt nahe, dass dies zunehmend durch Frauen geschah.68 Das hatte auch zur Folge, dass in der evangelischen bürgerlichen Bevölkerung eine intime und detailreiche Kenntnis von Katharinas und Luthers Leben verbreitet und memoriert wurde.
Nachdem für mehrere Jahrzehnte keine neuen Titel über Katharina von Bora erschienen waren, bemerkte der Volksschriftsteller Albrecht Thoma69 diese Lücke an der Wende zum 20. Jahrhundert. Nachträglich veröffentlichte er anlässlich des 400. Geburtstags der Lutherin 1899 die bislang umfänglichste Biographie.70 Mit seiner quellenreichen Darstellung, die »mühsame Kleinarbeit«71 erfordert hatte, führte Thoma die Interpretationslinie des 19. Jahrhunderts weiter, indem er Katharina in der »Häuslichkeit als freundlicher Idylle«72 zeichnete, in der Luther sich von den »dramatischen Kämpfen und dem epischen Gange seiner reformatorischen Wirksamkeit«73 ausruhen konnte. Katharina von Boras historische Bedeutung sah Thoma darin, dass sie Luther »das schöne Heim geschaffen hat« sowie »gemütliche Beziehungen des Familienlebens«74 und damit seine Arbeitsfähigkeit lange erhalten habe. Die bereits im 19. Jahrhundert erfolgte Stilisierung der Lutherin prägte Thoma weiter aus und akzentuierte sie im Hinblick auf die Institution des evangelischen Pfarrhauses. Thoma verfasste sein Lebensbild in der Absicht, Katharina von Bora breiten Leserkreisen als christlich-sittliches Vorbild und damit als Identifikationsfigur vor Augen zu führen.
Sein Werk stellt insofern einen Neuansatz in der Forschung dar, als dass es in seiner Detailliertheit eine Quellenbasis schuf, auf der, gemeinsam mit dem Lebensbild von Ernst Kroker, die biographischen Kenntnisse über die Lutherin bis heute beruhen.
1906 veröffentlichte der Reformationshistoriker Ernst Kroker eine Biographie,75 die bis zum Lutherjubiläum 1983 in nicht weniger als 16 Auflagen erschien!76 Obgleich vom Büchermarkt her gesehen kurz nach Thomas Werk kein Bedarf an einer weiteren Biographie bestanden hätte, erschien Krokers Lebensbild mit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Es erwuchs aus seiner Kenntnis von Luthers Tischreden, die er nahezu gleichzeitig in der Weimarer Lutherausgabe veröffentlichte. Diese ermöglichten ihm im Hinblick auf Katharina von Bora neue Zugänge. Dass die von Kroker aufgenommenen Tischredennachschriften und -sammlungen zahlreiche Texte enthalten, die es rechtfertigen, ein wesentlich facettenreicheres Bild von Katharina zu zeichnen, als es die bis dahin fast ausschließlich verbreitete Tischredenausgabe Aurifabers ermöglicht,77 veranlasste Kroker zu seiner Biographie. Im abschließenden Kapitel beabsichtigte Kroker »endlich ihr Charakterbild möglichst scharf und lebenswahr herauszuarbeiten«.78 Dabei sah er die Tischreden als die Quelle an, um Katharinas wenige »üble Charaktereigenschaften«79 mit ihren reichen Tugenden aufzuwiegen. Andererseits wollte Krokerauch die »ungünstigen Zeugnisse«80 über die Lutherin nicht verschweigen, wenn sie auf glaubwürdige Überlieferung zurückgehen und nicht nur altgläubige Polemik darstellen. Denn es zeige sich »bei den protestantischen Schriftstellern ein gewisses Bestreben, Käthes Vorzüge ins hellste Licht zu rücken, ihre Fehler aber abzuschwächen«.81 Damit beurteilte Kroker erstmals selbstkritisch die Rezeptionsgeschichte von lutherischer Seite und distanzierte sich davon, die Lutherin weiterhin unter apologetischem Interesse darzustellen. Dennoch haften Krokers Wertungen apologetische Züge an, er konstatierte: wir »wollen sie nicht zu einer Heiligen oder gar zu einem Engel erheben; sie war eine Frau mit starken Leidenschaften und wußte zu lieben und zu hassen. Aber wir wollen uns ihr Bild auch nicht verunstalten lassen und wollen nicht mäkeln und nörgeln, wo ihr eigener Gatte ihre Fehler entschuldigt und ihre Tugenden gepriesen hat«.82 Indem Kroker Katharina als rastlos tätige »makellose Hausfrau, Gattin und Mutter«83 interpretierte, modifizierte er das übliche Interpretationsmuster des 19. Jahrhunderts als »tugendsame Hausfrau« nur geringfügig. Kroker führte in seiner Katharina-Biographie das Frauenideal der lutherischen Orthodoxie weiter. Durch die Aufnahme dieser Biographie in die Reihe ›Biographien bedeutender Frauen‹ wurde zugleich die historische Bedeutung der Lutherin gewürdigt. Trotz der Fülle der verarbeiteten Quellen hatte Kroker keine Darstellung für den vornehmlich wissenschaftlichen Gebrauch zu schreiben beabsichtigt,84 sondern sein Buch auf »weitere Kreise«85 hin konzipiert. Krokers Katharina von Bora-Biographie diente im Raum evangelischer Familien und Gemeinden der Erbauung.
Kroker verarbeitete seine umfangreichen Quellenforschungen, die er über sein biographisches Werk hinaus verfolgte, auch in Einzeluntersuchungen. Die sehr wenigen Quellen, die Auskunft über die ersten Lebensjahre Katharinas, über ihre Geburt und ihre Kindheit bis zum Eintritt in das Kloster Nimbschen geben, verband Kroker zu einer schlüssigen Chronologie.86 Die Frage nach Katharinas Geburtsort, die die Forschung häufig beschäftigt, diskutierte Kroker ausgehend vom Funeralprogramm der Lutherin. Darin wird die Markgrafschaft Meißen im albertinischen Sachsen als der Landstrich genannt, aus dem Katharina stammte.87 Als mögliche Geburtsorte Katharinas kommen damit nur Lippendorf zwischen Pegau und Borna und das südöstlich davon gelegene Hirschfeld östlich von Nossen in Frage, da nur in ihnen an der Wende zum 16. Jahrhundert das ritterliche Geschlecht derer von Bora urkundlich nachweisbar ist. Dass Katharina zweifelsfrei aus diesem Geschlecht stammte, belegen nach Kroker zahlreiche Quellen. Er begründete seine Entscheidung für Lippendorf als Geburtsort Katharinas mit Urkunden über die beiden Leibgedingverschreibungen88 des Hans von Bora von 1482 und (als »Jan« von Bora) 1505 für seine erste und seine zweite Frau, die Mutter und die Stiefmutter der Lutherin.
Kroker argumentierte ferner damit, dass derselbe Hans von Bora 1482 mit dem Rittergut von Sale bei Schkortleben belehnt worden war. Dieses Gut, das bisher kaum beachtet wurde, sei den Kindern aus erster Ehe als Erbgut zugedacht gewesen. Entgegen Krokers Meinung und für den Ort Hirschfeld als Geburtsort Katharinas hatte man im 19. Jahrhundert aus den Verschreibungen für die beiden Ehefrauen gefolgert, dass es aus erster Ehe des Hans von Bora gar keine Kinder gegeben haben könne, da seine zweite Frau mit Lippendorf das gesamte Erbgut verschrieben bekommen habe, was als Benachteiligung von Kindern aus der ersten Ehe nicht zulässig gewesen wäre.89 Für Lippendorf führte Kroker als weiteren gewichtigen Grund an, dass Katharinas Bruder Hans von Bora 1533 das Familiengut Zölsdorf übernehmen musste; es lag in der Nachbarschaft von Lippendorf, und vermutlich hatte der Vater es nach dem Verlust von Lippendorf vom Rest seines Vermögens gekauft. Von Hirschfeld liegt es allerdings 60 km entfernt. Lippendorf lag auch im Einzugsgebiet der Geschlechter, deren Töchter Konventualinnen im Kloster Nimbschen wurden, die Töchter derer von Bora auf Hirschfeld hingegen wurden in die Klöster nahe Hirschfeld wie Döbeln oder Riesa gegeben. Landgraf Philipp von Hessen hatte, nachdem er in Bigamie Margarete von Sale geehelicht hatte, am 5. April 1540 Luther als seinen Schwager begrüßt,90 denn seine Frau sei (über ihren Vater) mit Katharina von Bora verwandt.
In Bezug auf die Frage, wann Katharina ins Kloster Nimbschen kam und wie lange sie davor in der Klosterschule des Augustinerchorfrauenstifts zu Brehna war, kombinierte Kroker die wenigen Anhaltspunkte zu der bis heute gängigen Auffassung, dass sie 1504 oder 1505 als verwaistes Mädchen nach Brehna gegeben worden sei. Ihr Vater habe zunächst nur die Absicht gehabt, seiner Tochter eine gute Erziehung zuteil werden zu lassen. Dass Katharina im Kloster geblieben war und später für den geistlichen Stand geweiht wurde, könnte auf den Einfluss der neuen Stiefmutter, die der Vater vermutlich kurz vor der Leibgedingverschreibung 1505 geheiratet hatte,91 zurückzuführen sein.
Die von Kroker veröffentlichte Handschrift über Luthers Brautwerbung um Katharina von Bora beinhaltet einen von Nikolaus von Amsdorf 1552 gegebenen Bericht.92 Kroker fand die Schrift, die bis dahin nur in einer abgeleiteten und stark gekürzten Fassung bekannt war, nachdem er seine Katharina-von-Bora-Biographie verfasst hatte.93
Luthers Heirat und Ehe stellten wiederholt ein Forschungsthema des 20. Jahrhunderts dar. Grundlegend hierfür wurde Heinrich Boehmers Aufsatz,94 der zum 400- jährigen Jubiläum der Eheschließung Luthers erschien. Unter der Voraussetzung, dass über keines der großen Ereignisse aus Luthers späteren Jahren so mangelhafte Quellen vorhanden sind wie über seine Heirat,95 arbeitete Boehmer die Umstände, den Vorgang der Eheschließung sowie Luthers und Katharinas Motive heraus. Boehmer beobachtete, dass in der altgläubigen Polemik erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Vorwurf auftauchte, »daß diese Ehe formal nicht rechtmäßig geschlossen worden sei, Luther folglich in der Unehe«96 gelebt habe. Ein Gutachten der Wittenberger Fakultät von 1630 besagt, dass Luther am 13. Juni 1525 zunächst nur als Brautwerber um Katharina aufgetreten sei, am nächsten Tag das Verlöbnis beging und erst am 27. Juni 1525 alle Etappen einer damaligen Hochzeit, d. h. die rechtskräftige Kopulation und das Beilager sowie den öffentlichen Kirchgang und die Wirtschaft vollzog.97 Diesem stünden die zeitgenössischen Überlieferungen entgegen, die besagen, dass Luther sich bereits am Abend des 13. Juni 1525 zunächst rechtskräftig, d. h. vor Zeugen, verlobt hatte und dann sofort trauen ließ und das Beilager hielt.98 Anhand dieser Differenz legte Boehmer dar, dass im 17. Jahrhundert das Eherecht und -brauchtum des frühen 16. Jahrhunderts nicht mehr gekannt und verstanden wurde. Sowohl die Polemik des 17. Jahrhunderts war von dem geltenden Eherecht ausgegangen und hatte diesem die Fakten der Eheschließung Luthers entgegen gestellt als auch die Wittenberger Fakultät, die ihrem Gutachten die Heiratsgewohnheiten eines Wittenberger Professors des 17. Jahrhunderts zugrunde gelegt hatte.
Um Luthers Ehe abschließend zu beurteilen, untersuchte Boehmer die Motive, die beide Eheleute zusammenführten. Luther habe nicht aus Liebe geheiratet oder um seine Vermögensverhältnisse zu verbessern bzw. um im Alter gepflegt zu werden, sondern weil sein Vater es wünschte und weil er mit der eigenen Tat habe bekräftigen wollen, was er über die Ehe gelehrt habe und weil er den Teufel und die Papisten habe ärgern wollen.99 Seine Entscheidung für Katharina von Bora habe er nicht aus Liebe gefällt, sondern aus einem Verantwortungsgefühl für die nach zwei Jahren vergeblicher Verheiratungsversuche noch immer ohne Mann gebliebene Katharina. Dass ihr, die ohne Vermögen war und auf keinen Schutz durch ihre Familie rechnen konnte, allein eine Heirat eine gesicherte Existenz eröffnete, sei Luther dabei bewusst gewesen. Katharina habe andererseits Luther, in dem sie ihren Erlöser »aus leiblicher und seelischer Knechtschaft«100 sah, aus tiefer Ehrfurcht gewählt.
In ähnlicher Perspektive ist in der Quellensammlung zu Luthers Heirat von Theodor Knolle zu lesen, dass Luthers Eheschließung keine persönlich motivierte Tat gewesen sei, hinter der man Luthers im Kloster hart empfundene »Not der Ehelosigkeit«101 zu vermuten habe. Nach seiner Selbstaussage habe Luther »als Mönch nicht viel Brunst verspürt«.102 Allein als Akt seines reformatorischen Wirkens sei Luthers Eheschließung zu verstehen. Der Autor resümierte, dass Luthers Heirat nicht persönlicher Neigung oder Notwendigkeit entsprungen sei, vielmehr sei sie ausschließlich »Gotteswerk, Glaubensentschluß, Reformationstat«103 gewesen. Trotzdem habe die Ehe Luther auch für sein persönliches Leben Segen gebracht, wie seine Äußerungen in den Tischreden zeigen, in denen er seine Frau und seine Ehe hochschätzte.104 Katharina von Bora komme im Hinblick auf Luthers Heirat nur eine Funktion als Ehefrau zu, als eigene Person spiele sie keine Rolle, denn Luther habe sie nur aus »Mitleid mit der unversorgten Nonne«105 geheiratet.
Ein halbes Jahrhundert später untersuchte Walther von Loewenich Luthers Eheschließung,106 wobei er Katharinas Bedeutung darin erkannte, dass sie als »Luthers Frau in die Geschichte einging«.107 Für Luthers Heirat führte von Loewenich ähnliche Gründe wie Knolle auf: Luther sei nicht verliebt gewesen, habe sich aber nach familiärer Geborgenheit gesehnt, er wollte mit seiner Tat bekräftigen, was er über den Ehestand gelehrt hatte und noch kurz vor seinem erwarteten Tod den Heiratswunsch seines Vaters erfüllen: »Daß Luthers Wahl schließlich auf Käthe fiel, dafür dürfte in der Tat das Mitleid mit der Verlassenen das Motiv gewesen sein«.108 Luthers Heirat sei die »Geburtsstunde des deutschen evangelischen Pfarrhauses«,109 was bereits 1940 Jochen Klepper konstatiert hatte.110 Dessen hervorragende Bedeutung sah von Loewenich in kulturprotestantischer Geschichtsperspektive111 als Pflanzstätte der Frömmigkeit und Bildung, Stätte sozialer Fürsorge und sozialen Ausgleichs. Nicht zu entscheiden wagte der Autor, ob dieses deutsche evangelische Pfarrhaus noch existiere oder ob es bereits dem geistigen Umsturz zum Opfer gefallen sei.112 Das Jahr 1975 bot Anlass, sich der Heirat Luthers vor 450 Jahren zu erinnern und diesen Zeitpunkt als den »Beginn des deutschen evangelischen Pfarrhauses zu betrachten«113 . Obgleich Luther nicht als erster ehemalige Mönch und evangelischer Theologe heiratete,114 sei von Luthers Ehe und Haus trotz des turbulenten Hauswesens die größte Ausstrahlung ausgegangen, zum einen wegen Luthers grundsätzlicher Heiratsmotive, zum anderen, weil Luther »als der Typ des gemütvollen Hausvaters gegolten«115 habe und vor allem, weil er die ›Gehilfin‹, eine verlässliche Gefährtin, »einen Trost in seinen privaten und amtlichen Anfechtungen«116 gehabt habe.
Dass Luthers Motive zu heiraten die eine Sache, seine praktischen Erfahrungen in der Ehe mit Katharina jedoch eine andere Sache waren, die Luther zu liebevollen Urteilen über seine Frau bewog, zeigen seine Äußerungen in den 21 Ehejahren. Welches Bild sie von Katharina ergeben, untersuchte Ludolphy. In deutlicher Abgrenzung zum Hausfrauenideal des 19. Jahrhunderts sah sie in Katharina die »Gehilfin«117 ihres Mannes.118 Katharina habe sich als die Persönlichkeit an Luthers Seite auch in die Tischgespräche eingemischt119 und ihre Bibel- und kirchenpolitischen Kenntnisse im Lauf ihres Lebens erweitert. Vor allem habe sie Luther versorgt, während seiner häufigen Krankheiten gepflegt, ihn in Anfechtungen getröstet, und es sei ihr gelungen, den Riesenhaushalt selbständig und rentabel zu gestalten.120 Die Autorin kam, die bislang gültige Stilisierung verlassend, durch kritische Betrachtung der Quellen zu ihrer neuen Interpretation.
Luthers 21 erhaltene Briefe an seine Frau edierte der Lutherforscher Otto Clemen121 als Ausgabe »für den Hausgebrauch«.122
Im Lutherjahr 1983 wurden Luthers Ehebriefe als ein eigener Untersuchungsgegenstand unter inhaltlichen sowie briefrhetorischen Fragestellungen erstmals wissenschaftlich bearbeitet.123
Anlässlich des Katharina-von-Bora-Jubiläums 1999 wuchs die Literatur über die Lutherin um eine beachtliche Zahl neuer Publikationen an. Sie markieren das Interesse einer unerwartet breiten Öffentlichkeit an diesem Jubiläum.124
Martin Treu publizierte im Vorfeld des Jubiläums, von zahlreichen belletristischen Lebensbildern abgesehen, die einzige Biographie über Katharina von Bora.125 Der jeweilige historische Kontext, in dem sich Katharinas Lebensstationen vollzogen, wird in dieser biographischen Skizze beachtet sowie der Erkenntnis Rechnung getragen, dass es auf der Basis der zwar reichen, jedoch nicht alle Lebensphasen umfassenden Quellen nicht möglich ist, eine lückenlose Biographie der Lutherin zu verfassen. Biographische Skizzen des Autors über Katharina wurden in mehrere Sammelbände zum Bora-Jubiläum aufgenommen.126 In ihnen werden die Lebensstationen der Lutherin unter den Stichworten: Kindheit, Jugend, Kloster, Klosterflucht und Eheschließung, Kinder und Küche, Haus und Hof sowie Witwenzeit nachgezeichnet. Weniger durch neue Fakten zum Lebenslauf der Lutherin als durch veränderte Perspektiven setzte Treu neue Akzente. Entgegen früheren Verzeichnungen der Lutherin hob er ihre Eigenständigkeit und ihr Standesbewusstsein hervor, welches die Lutherin allerdings auch zu überzogenen Immobilienkäufen veranlasst habe. Ihre überdurchschnittliche Bildung und Wirtschaftskenntnis, ihr Selbstbewusstsein, das ihre Zeitgenossen jedoch als Stolz und Hoffart deuteten, sowie ihre Intelligenz haben sie befähigt, Luthers Partnerin zu sein. Die Beziehung zwischen den Ehepartnern beurteilte Treu als »enge Lebensund Arbeitsgemeinschaft«,127 wobei die eigenen Wirkungsbereiche beider Ehepartner jeweils klar umrissen gewesen seien.
Alle übrigen Publikationen anlässlich des Katharina-von-Bora-Jubiläums widmen sich verschiedenen Einzelaspekten. Dabei zeichnet sich die aktuelle Tendenz ab, die Lutherin als Aufgabe interdisziplinärer Forschung zu verstehen und sie in den Schnittpunkt von Kirchen-, Sozial-, Rechts- sowie Literatur- und Kunstgeschichte zu stellen und auch ihr Umfeld und ihre Rezeption in späteren Jahrhunderten zu beachten. Diesem Ansatz ist am stärksten der Begleitband zur Sonderausstellung anlässlich des 500. Geburtstags der Lutherin verpflichtet, der eine Sammlung von 19 Aufsätzen enthält. Das breite Themenspektrum, das der Band abdeckt, ist signifikant für die gegenwärtige Forschung zur Lutherin, daher sei es exemplarisch dargelegt.
Die Rechtsstellung Katharinas in den Umbrüchen der Reformation untersuchte eine Juristin.128 Luthers persönlich gehaltene, respekt- und humorvolle, variantenreiche sowie über die übliche Briefrhetorik seiner Zeit hinausgehende Sprache in seinen Briefen an Katharina bildet den Gegenstand einer germanistischen Untersuchung.129 Kunsthistorisch ausgewertet wurden die verschiedenen Fassungen der propagandistischen Doppelporträts aus der Werkstatt Lukas Cranachs d. Ä. von Katharina und Luther zwischen 1525 bis 1528 und deren zeitgenössische Abbilder.130 Um den Lebensweg und die Bedeutung Katharinas im Kontext der theologischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit sowie in ihrem frauen- und sozialhistorischen Umfeld erschließen zu können, wurden Luthers Eheanschauungen vor seiner Eheschließung und in den späteren Jahren erörtert.131 Dass gerade in der frühen Reformationszeit Eheschließungen von Geistlichen eine Signalfunktion hatten und als systemsprengende Bekenntnisakte zur Bewegung der Wittenberger Reformation zu werten sind und nicht selten von den Betreffenden in Flugschriften öffentlich gerechtfertigt wurden, zeigt eine Untersuchung der entsprechenden Publizistik.132 Ähnlich wie bei Katharina von Bora wurden Lebensvollzüge ihrer Zeitgenossinnen durch lebensgeschichtliche Umbrüche geprägt. Über das Schicksal von Ordensangehörigen, die entweder im Kloster bleiben mussten oder es nur unter Gefahr verlassen konnten oder aber ihren Nonnenstand gegen Säkularisierungsdruck zu verteidigen suchten, geben Untersuchungen aus Nürnberg und Augsburg Auskunft.133
Ehefrauen reformatorischer Theologen leisteten einen zu würdigenden Beitrag zur Ermöglichung des reformatorischen Wirkens ihrer Partner.134 Von der Geschichtsschreibung unbeachtet gerieten sie nahezu in Vergessenheit. Die erste Generation bildeten überwiegend ausgetretene ehemalige Nonnen. Deren Eheschließung war als Bekenntnisakt zur Reformation mit erheblichen Risiken verbunden, und ihre Versorgung als Ehefrauen und besonders als Witwen war ungesichert.
Unter dem Stichwort Nachwirkungen wurde die Entwicklung der evangelischen Ehe bis zur lutherischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert wiederum interdisziplinär untersucht. Der Prozess der Verrechtlichung der evangelischen Ehe habe in Wittenberg eingesetzt und sich ab 1538 mit der Herausbildung evangelischer Konsistorien vollzogen. Seine prägenden Fortwirkungen in die Gegenwart seien anhand diverser Vorschriften des geltenden Eherechts erkennbar.135 Wie sich eine Pfarrehe alltagsgeschichtlich in konkreten Lebensbedingungen vollzog, zeigen Sozialprofile von Pfarrfrauen auf dem Dorf im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert.136 Bestand die erste Generation von Pfarrfrauen ehemaliger Priester noch in hohem Maß aus Frauen bäuerlicher bzw. unterbäuerlicher Herkunft, die bis zur Reformation Wirtschafterinnen, Köchinnen und Mägde waren, im Konkubinat gelebt hatten und deren intime Beziehung zu ihrem Dienstgeber durch dessen Übertritt zur Reformation mit einer Eheschließung legalisiert wurde, so ergab sich nach Appold für die Durchsetzungsphase der Reformation ein veränderter Befund. Noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatten es Pfarrfrauen auf dem Land schwer, akzeptiert und nicht als »Pfaffenmetze« verschrien zu werden.137 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als der Stand der Pfarrfrau den Beiklang der Konkubine verlor, verheiratete das städtische Bürgertum zunehmend seine Töchter an Pfarrer. Diese Pfarrfrauen hatten auf dem Dorf mit Anpassungszwängen zurechtzukommen, da die Pfründenbesoldung bäuerliche Fähigkeiten erforderte, denen diese Pfarrfrauen nicht gewachsen waren. Da Pfarrfamilien auf dem Land mindestens ihre ersten Jahre häufig auf schlecht besoldeten, sogenannten »Hungerpfründen«138 verlebten, mussten sie in knapp bemessenen Verhältnissen zurechtkommen. Mit diesen Pfarrfrauen sei die Lutherin nicht vergleichbar.139
Einzelaspekten zur Rezeptionsgeschichte der Lutherin widmet sich der letzte Schwerpunkt des Sammelbandes. Joachim Kruse stellte fest, dass angesichts der oft allzu phantasievollen Belletristik die bildlichen Darstellungen, die das 18. und vermehrt das 19. Jahrhundert von der Lutherin hervorbrachten, fast als positive Verengung ihres Bildes sowie als Zeugnisse bemerkenswerter historischer Detailkenntnis über das Leben Katharinas und Luthers angesehen werden können.140 Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle Katharinas in der umfangreichen Belletristik des 19. und 20. Jahrhunderts und mit audiovisuellen Medien zur Lutherin beschließt den Band.141 Als inakzeptabel beurteilte Marita Rödszus-Hecker die von Jochen Klepper in seinem Romanfragment geschaffene überirdische Himmelsbraut,142 zu der sich der Dichter selbst als zu einem ihm »von Gott auferlegten Schicksal«143 verstand. Kleppers Freunde hätten sich von diesem Werk, in dem sie eine Mischung aus Kleppers enthusiastischem Luthertum und dem Bild seiner 15 Jahre älteren Ehefrau, die der Dichter selbst »Bore« nannte, gesehen hätten, distanziert144 und geurteilt: »Das Buch ist so sehr introvertiert, es kreist und kreist um das Klepperhaus, alles wird darauf bezogen, im pro und im contra«.145 Dass das Fragment, das erstmalig 1951 erschien, in jüngster Zeit wieder aufgelegt wurde,146 dürfte seiner tragischen Entstehungssituation 1935–1942 geschuldet sein,147 die Klepper, seine jüdische Frau und Tochter in den Freitod getrieben hatte. Nur in diesem Kontext erschließt sich Kleppers Werk, was Rödszus-Heckers Kritik zu entgegnen ist.
1986 hatte Erwin Mülhaupt sich bemüht, anhand der von Klepper hinterlassenen »Andeutungen und Bibelworte über die geplante Fortsetzung«148 des Romans, eine »leise Ahnung«149 von dem zu vermitteln, »was unter den Händen Jochen Kleppers aus seinem Lebensbuch über Katharina von Bora hätte werden können.«150 Entstanden ist eine Mischung aus biographischer Skizze über den Reformator und seine Frau, Bibelzitaten, die als Motto wie als Deutung den jeweiligen Lebensabschnitten der Lutherin zugeordnet sind, Versen aus Gesangbuchliedern Gottfried Arnolds und Paul Gerhardts und Reimen Wilhelm Buschs.
Im Hinblick auf die Romane und Erzählungen zur Lutherin, die außer den biographischen Skizzen und historischen Lebensbildern ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vermehrt anlässlich des 500. Geburtstags Katharinas erschienen151 , beobachtete Rödszus-Hecker, dass Käthe von Autorin zu Autorin ihren Charakter wechselte, was ihrem Bild nicht zu bekommen schien,152 und urteilte über den literarischen Wert dieser Werke: »Kurz vor ihrem 500. Geburtstag erscheint Katharina aufgeschwemmt von allem, was auf sie zutreffen soll wie auf andere Frauen auch … Das könnte … daran liegen, daß sie einen wirklichen Roman noch nicht von innen gesehen hat. Allzu oft plazierte man sie in die einem Roman ›fast bis zur Verwechslung gleichende Karikatur‹«.153
Ebenfalls mit einem interdisziplinären Ansatz beleuchtete die vom Evangelischen Predigerseminar in Wittenberg veröffentlichte Vorlesungsreihe zentrale Gesichtspunkte des Lebens der Lutherin.154 In Funktionen, die ihr Leben entscheidend prägten, wurde Katharina als Nonne,155 als Frau von adliger Herkunft,156 als Ehefrau und Mutter157 sowie als Wirtschafterin158 und schließlich als Witwe dargestellt.159
Hervorzuheben ist an dieser Stelle Siegfried Bräuers Beitrag. Er untersuchte die Geschichte der Urteilsbildung über Katharina von Bora160 und griff damit ein bisher nahezu unbehandeltes Thema auf. Dass Katharina nach ihrem Tod von evangelischer Seite zunächst keine Beachtung fand, was den Spott altgläubiger Theologen hervorrief, veranlasste Bräuer zu der Frage, seit wann sich die evangelische Geschichtsschreibung mit der Lutherin beschäftigte. Die Anwürfe der konfessionellen Polemik des 16.–18. Jahrhunderts gegen Katharina lösten erst 200 Jahre nach ihrem Tod erste Reaktionen evangelischer Autoren aus. Mit ihnen begann die seriöse Beschäftigung mit der Biographie der Lutherin.
Neben der interdisziplinären Forschung sowie dem verstärkten Wahrnehmen der Rezeptionsgeschichte der Lutherin wurden vor allem Einzelaspekte zur Biographie Katharinas untersucht. Einen neuen Ansatz bei der Frage nach der bisher ungeklärten Abstammung der Lutherin verfolgte Wolfgang Liebehenschel.161 Aufgrund genealogischer Forschungen über die Adelsgeschlechter von Pflugk / Strehla und von Haugwitz / Hirschfeld gelangte Liebehenschel zu dem Ergebnis, dass Katharina nicht, wie noch in der jüngsten Literatur angenommen wurde, von Hans und Katharina von Bora auf Lippendorf südlich von Leipzig abstamme,162 sondern Katharina sei als Tochter der Anna von Haugwitz, der Frau des Hans von Bora zu Hirschfeld in der Nähe von Deutschenbora östlich von Nossen geboren worden. 163
Anlässlich des Jubiläums wurden regionalgeschichtliche Fragestellungen neu untersucht. Detlef Bergholtz skizzierte die Geschichte zweier verlorener Lebensorte der Lutherin im Bornaer Land bis in die Gegenwart: das Gut Zölsdorf bei Kieritzsch, eine wichtige Wirkungsstätte der Lutherin ab 1540, das sich dort befand, wo man heute in eine Tagebaugrube blickt, und das als Katharinas Geburtshaus vermutete Gut Lippendorf, welches mit einem Kraftwerk industriell überbaut ist.164 Bergholtz unterstrich, dass das Gut Zölsdorf für Katharina weniger als Wirtschaftsfaktor als vielmehr als Familienbesitz bedeutsam war. Auf die beiden einzigen erhaltenen Denkmale in der Region wird vom Autor verwiesen: auf die beiden Reliefs mit Köpfen des Lutherpaares in der Kieritzscher Kirche sowie auf den Obelisk mit Reliefs Katharinas und Luthers, der ursprünglich in Zölsdorf aufgestellt war und der seinen endgültigen Platz auf dem Neukieritzscher Markt gefunden hat.
Die Geschichte des bis dahin wenig beachteten und relativ unbekannten Reliefs von Katharina Luther in der Kirche zu Kieritzsch untersuchte Günter Herrmann.165 Das Relief gilt als lebensnahe Darstellung Katharinas, nach der Meinung Krokers ist es das beste Bildnis, das wir von der Lutherin haben, »das ihr allerdings nicht schmeichelt, das aber ihr innerstes Wesen, wenn auch etwas derb, so doch treu wiedergibt«.166 Ikonographisch bestehe keine Abhängigkeit von den typisierten Serienbildern von der Lutherin aus der Werkstatt Lukas Cranachs d. Ä. Über die fragliche Beziehung des Reliefs zu dem Porträt auf der Grabplatte der Lutherin in der Torgauer Marienkirche,167 das Ähnlichkeit mit dem Kieritzscher Medaillon aufweist, urteilte Herrmann, das Epitaph sei nach dem Kieritzscher Medaillon gefertigt worden, welches eine deutlich höhere künstlerische Qualität aufweise.168 Da das Relief erst mit dem Verfall des Gutes Zölsdorf (von dem ab 1753 berichtet wird) öffentlich bekannt wurde, liegen die Umstände seiner Entstehung und die Bestimmung der Stelle, an der es auf dem Gut angebracht war, im Dunkeln. Offen bleibt auch, ob die eingravierte Jahreszahl 1540 wirklich das Entstehungsjahr wiedergibt, oder, wenn das Relief später gefertigt wurde, an die Übernahme des Gutes durch die Lutherin erinnern sollte.169
Im Nachgang zum Katharina von Bora-Jubiläum untersuchte Angelika Dörfler-Dierken Katharina-von-Bora-Darstellungen des 19. wie des 20. Jahrhunderts.170 Ernst Krokers Biographie und einige Werke seiner Vorläufer und Nachfolger unterzog Dörfler-Dierken einer kritischen Betrachtung.171 Wie die Autorin ihre Auswahl von Titeln traf, wird nicht erläutert. Sie kam vor dem Hintergrund der Monographie Krokers zu dem Urteil, »daß der Unterschied zwischen Untersuchungen mit wissenschaftlichem Anspruch und populären Darstellungen nicht allzu groß ist. Das gilt zumindest für die vor 1995 veröffentlichten Arbeiten«.172 Ihre Meinung wäre nachvollziehbar als Hinweis auf die zahlreichen populären und häufig belletristisch verfassten Veröffentlichungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Autorin meinte jedoch etwas anderes, als sie konstatierte: »Krokers Lebensbild zeichnet sich durch eine grundlegende Gemeinsamkeit mit seinen Vorläufern und Nachfolgern aus: Sämtliche Autoren betrachten Katharina mit den Augen ihres Ehemannes … Im Mittelpunkt der Darstellung steht Luther, nicht Katharina«.173 Entsprechend beobachtete Dörfler-Dierken einen Neuansatz, den sie in den Werken ab 1995 sah und der sich sowohl in Martin Treus Katharina-Biographie wie auch in den populären Lebensbildern wie z. B. dem Roman Eva Zellers174 zeige: sie unterschieden sich »von den älteren wie der Tag von der Nacht … Sie halten Katharina für eine ›großartige Frauengestalt, die uns überraschend nahe ist‹«.175 Doch war Katharina das den bürgerlichen Frauen des 19. Jahrhunderts nicht auch schon?
Das stellte die Autorin schließlich auch zutreffend fest, indem sie resümierte, dass die Werke vom 19. Jahrhundert an bis 1995 sowie die Veröffentlichungen der letzten Jahre wiederum eine grundlegende Gemeinsamkeit176 aufwiesen: sie stellten die Lutherin als Vorbild dar und »spiegeln auf je ihre Weise das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Entwicklungen, Überzeugungen der Autoren und Bedürfnissen der Leserschaft«.177 Offen bleibt, worin der Neuansatz dann letztlich zu sehen ist.
Im Unterschied zur älteren Forschung trat Katharina in jüngsten Untersuchungen als eigenständige Persönlichkeit an Luthers Seite hervor. Dass ihre Bedeutung größer ist als bislang angenommen, ist unbestritten. Zu der Frage, worin die spezifische Lebensleistung und die historische Bedeutung der Gattin an Luthers Seite zu bestimmen sind, wurden zum Jubliäum und in dessen Nachgang verschiedene Positionen diskutiert, die im Folgenden vorgestellt und abschließend zu dieser Untersuchung diskutiert werden sollen.
Welchen Einfluß Katharina auf Luthers Denken und Arbeiten ausübte, untersuchte Dick Akerboom.178 Eine biographische Skizze diente als Hintergrund für die folgende Sondierung. Dieser voran wurde festgestellt, dass die Informationen zum Leben Katharinas überwiegend in den Briefen und Tischgesprächen Luthers zu finden und entsprechend »durch dessen Sichtweise seiner Gemahlin«179 gefärbt sind. Zutreffend wurde gefolgert, dass die bereits vorhandenen Biographien mehr oder weniger wiedergeben, »wie eine bestimmte Zeit oder ein bestimmter Autor das Idealbild des Lebens Katharina von Boras sah«.180 Der Autor folgerte, in welchen Bereichen und auf welche Weise Katharina Einfluss auf ihren Mann ausübte. Akerboom begründete sein Urteil mit Beobachtungen, die zwar nicht neu, jedoch als Diskussionsimpuls zu würdigen sind: dass Katharinas adlige Herkunft mit als Ursache dafür zu sehen sei, dass sie ihren Mann dazu bewog, ihren Grundbesitz auszuweiten, dass ihre klösterliche Bildung ihr ermöglichte, den lateinischdeutsch geführten Tischgesprächen nicht nur zu folgen, sondern auch selbst das Wort in Deutsch oder Latein zu ergreifen und dass Luther seine Frau für sein theologisches Werk interessierte, denn ihr Anteil daran »ist größer als bisher angenommen«.181
Spielte Katharina von Bora eine Rolle für die Reformation selbst? Oder erfüllte sie nur eine Funktion als Luthers Ehefrau, wie es Søren Kierkegaard mit seinem Ausspruch, Martin Luther hätte auch ein Bügelbrett heiraten können,182 formulierte? Die Frage nach der Bedeutung der Lutherin für die Reformation bleibt strittig. Hellmut Zschoch maß der Lutherin eine eigene historisch-theologische Bedeutung als Frau der Reformation zu, indem er fragte, welche Bedeutung beide Eheleute füreinander gewannen und wer die Lutherin durch ihre Ehe für die Reformation wurde. Katharinas Bezogenheit auf Luther bestimmte Zschoch als Luthers Schülerin, Luthers Sorgerin und Luthers Partnerin (nicht im modernen Verständnis des Begriffes, sondern), »indem sie ihm zu der Erfahrung des Ehemannes und Vaters verhalf«.183 Darin kam ihr zudem eine Funktion als Lehrerin Luthers in dem Sinn zu, dass er durch Katharina praktische Erfahrungen der Ehe gewinnen konnte, die in sein theologisches Denken einflossen.
Katharinas Bedeutung für die Reformation selbst sah Zschoch in ihrer großen Wirkung, die sie in ihrer symbolischen Bedeutung für die Reformation als Luthers Ehefrau bereits zu ihren Lebzeiten erlangte.184
Helmar Junghans widmete sich in seiner biographischen Skizze den Jugend-, Ehe- und Witwenjahren Katharinas.185 Seine Darstellung nahm die neuesten Untersuchungen, wie z. B. Köhlers Geschichte des Klosters Nimbschen, in der auch die Zeit des Ausbaus und der Erneuerung von Klostergebäuden ab 1515/1516 erforscht wurde,186 auf. Da Katharina als damalige Konventualin des Zisterzienserinnenklosters Marienthron diese Bauphase miterlebt haben musste, konnte sie daraus Anregungen für spätere, unter ihrer eigenen Regie laufende Baumaßnahmen am Gebäude des Schwarzen Klosters in Wittenberg gewinnen. Im Anschluss an den biographischen Bogen regte Junghans zur Diskussion über die Bedeutung Katharinas an. Von Luthers Eheverständnis ausgehend, wertete der Autor Katharinas Wirtschaften in der Großfamilie des Lutherhauses als einen Teil des von Gott gestifteten vornehmsten Standes der Ehe, die jedem Familienmitglied seine Aufgaben sowie Fürsorge und Liebe zuweise. Beide Eheleute strebten danach, ihrem jeweiligen Bereich gerecht zu werden, nicht aber, wie in gegenwärtigen Überzeichnungen die Lutherin mitunter gesehen wird, etwa über Selbstverwirklichung zu reflektieren.187 Ausgehend vom evangelischen Verständnis der Heiligen sei es daher angebracht, der Lutherin als einer Heiligen zu gedenken.188
1 Bezogen auf Erasmus’ Verteidigungsschrift ›Hyperaspistes‹, die 1527 erschienen war.
2 Gemeint ist Erasmus.
3 [Wittenberg], 19. Oktober 1527: Luther an Jonas in Nordhausen: WA Br 4, 269, 5–8, Nr. 1160 & Br JJ 1, 110, Nr. 108.
4 Vgl. WALTER DELIUS: Justus Jonas: 1495–1555. Berlin 1952, 14–18; Hans-Günter Leder: Vom Humanismus zur Reformation – Der Weg Justus Jonas’ auf die Seite Luthers und der Reformation. In: Justus Jonas 1493–1555, Beiträge zur 500. Wiederkehr seines Geburtstages/ hrsg. vom Stadtarchiv Nordhausen sowie dem Nordhäuser Geschichts- und Altertumsverein. Nordhausen 1993, 39–54.
5 ›De servo arbitrio.‹ 1525: WA 18 (551) 600–787. 793f.
6 WA TR 4, 641, 10–12, Nr. 5069.
7 Vgl. Hermann Wendorf: Joachim Camerarius (1500–1574). HCh 1 (1957), 39; Günther Wartenberg: Joachim Camerarius – Mitgestalter der Kultur- und Bildungslandschaft Mitteldeutschlands. In: Joachim Camerarius/ hrsg. von Rainer Kößling und Günther Wartenberg. Tübingen 2003, 14.
8 [Wittenberg], 19. Oktober 1527: Luther an Jonas in Nordhausen: WA Br 4, 269, 30, Nr. 1160 & Br JJ 1, 110, Nr. 108.
9 Um der Pestepidemie auszuweichen, hielt sich Jonas für fünf Monate in seiner Heimatstadt Nordhausen auf. Vgl. Peter Kuhlbrodt: Justus Jonas und Nordhausen, 33.
10 Klaus Fitschen: Aktuelle Methodendebatten in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung. In: Historiographie und Theologie: Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch/ hrsg. von Wolfram Kinzing, Volker Leppin und Günther Wartenberg. Leipzig 2004, 51.
11 In ähnlicher Weise bewertet Martin H. Jung das Jubiläum: »1999 wurde in Deutschland von Boras 500. Geburtstag gefeiert, und zum ersten Mal in der Geschichte wurde eine große Frau der Reformation auf eine Weise geehrt, die bisher den großen Männern der Reformation vorbehalten war.« Martin H. Jung: Nonne, Ehefrau, Witwe: die Geschichte Katharina von Boras. In: ders.: Nonnen, Prophetinnen, Kirchenmütter: Kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zu Frauen der Reformationszeit. Leipzig 2002, 33.
12 Martin H. Jung: Katharina Zell geb. Schütz (1497/98–1562): eine »Laientheologin« der Reformationszeit? ZKG 107 (1996), 146.
13 Hans-Joachim Köhler: Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. Teil 1: Das frühe 16. Jahrhundert (1501–1530). 3 Bde. Tübingen 1991–1996; Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530)/ hrsg. und bearb. von Adolf Laube unter Mitarbeit von Ulman Weiß. 2 Bde. Berlin 2000..
14 In Briefen ca. 500 Belege, in Tischreden ca. 160 Belege, in Kontroversschriften ca. 20 Belege und weitere Quellen.
15 Vgl. Siegfried Bräuer: Katharina von Bora, die Lutherin – im Urteil der Zeit. In: Mönchshure und Morgenstern: »Katharina von Bora, die Lutherin« – im Urteil der Zeit, als Nonne, eine Frau von Adel, als Ehefrau und Mutter, eine Wirtschafterin und Saumärkterin, als Witwe/ hrsg. vom Evangelischen Predigerseminar Wittenberg, Peter Freybe. Wittenberg 1999, 10–13.
16 Mayer, Johann Friedrich: geb. 6. Dezember 1650 in Leipzig, gest. 30. Mai 1712 in Stettin, Sohn des Thomaskirchenpredigers Johann Ulrich Mayer, Theologiestudium, Studium in Straßburg, 1673 Superintendent in Leisnig, 1674 promoviert, 1679 Superintendent in Grimma, entwickelte sich 1684–1686 als Theologieprofessor und Schlosskirchenprediger in Wittenberg zum Gegner der Pietisten, 1686 Hauptpastor St. Jacobi Hamburg, zugleich ab 1687 Professor in Kiel, seine polemische Schrift (›Abgenötigte Schutzschrift‹ 1691) gegen den Pietismus löste Schriftenkontroverse mit Spener aus, 1701 Generalsuperintendent zu Greifswald für Pommern und Rügen, Konsistorialpräsident und Stadtsuperintendent zu Greifswald, ging wegen Kriegsunruhen nach Stettin. Vgl. Die hamburgische Kirche und ihre Geistlichen seit der Reformation/ hrsg. von Wilhelm Jensen im Auftrag des Landeskirchenrats. Hamburg 1958, 133f.; Bernhard Lohse: Hamburg. TRE 14 (1985), 408f.; Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert/ hrsg. von Martin Brecht. Göttingen 1993, 344–352.
17 [Johann Friedrich Mayer]: De Catharina Lutheri Conjuge, Dissertatio. [Hamburg: Nikolaus Spiering; Leipzig: Thomas Fritsch 1698].
18 [Johann Friedrich Mayer]: Unsterbliches Ehren=Gedchtnis Frauen Catharinen Lutherin einer gebohrnen von Bora, Und des unsterblichen Mannes GOttes Herrn D. Martin Luthers Ehe=Frauen. Darinnen nicht nur ihr Wandel und Tugenden ausfhrlich beschrieben / sondern auch ihr Ehestand wider alte und neue Feinde gerettet wird / nebst einem accuraten Geschlechts=Register der in solcher Ehe erzeugten Kinder und ihren Nachkommen. Nunmehro auch in Teutscher Sprache auffgerichtet / und mit einer weitluffigen Vorrede / und verschiedenen Anmerckungen / darinnen die Myerische Schrifft erl