Kein Baron für Miss Louisa - Emily Alveston - E-Book

Kein Baron für Miss Louisa E-Book

Emily Alveston

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Beschreibung

Louisa Ashcroft ist entsetzt, als sie erfährt, wen sie heiraten soll - ausgerechnet Nicholas Blackmore, der sie bereits als Kind stets geärgert hat. Dabei schlägt ihr Herz doch für den attraktiven Mr. Markham! Als Nicholas sie jedoch bittet, Zeichnungen für ein Buch anzufertigen, das er veröffentlichen möchte, kann Louisa der Versuchung, ihre Zeichnungen in einem Buch abgedruckt zu sehen, nicht widerstehen - und willigt ein ... *** Ein missglückter Heiratsplan und eine unerwartete Liebe "Nicholas Blackmore? Den heirate ich auf gar keinen Fall!" England 1818. Die siebzehnjährige Louisa Ashcroft fällt aus allen Wolken, als ihre Mutter ihr eröffnet, eine Ehe für sie arrangiert zu haben - ausgerechnet mit Nicholas Blackmore. Louisa kann den überheblichen Kerl nicht ausstehen, daran ändert auch die Aussicht, eine Baroness zu werden, nichts. Denn ihr Herz schlägt heimlich für den attraktiven Mr. Markham. Also beschließt sie, den Heiratsplänen ihrer Mutter die Stirn zu bieten und Mr. Markham für sich zu gewinnen. Doch schon bald sieht Louisa sich gezwungen, ihren Plan zu ändern ... "Louisa Ashcroft? Die nennst du eine gute Partie?" Nicholas Blackmore ist von der Idee seiner Mutter, die unscheinbare Tochter ihrer besten Freundin zu ehelichen, alles andere als begeistert. Doch dann erfährt er von Louisas künstlerischem Talent und bittet sie, Illustrationen für ein Buch anzufertigen, das er veröffentlichen möchte. Hin- und hergerissen zwischen der verlockenden Vorstellung, ihre Zeichnungen in einem Buch abgedruckt zu sehen, und der alles andere als verlockenden Vorstellung, mit Nicholas an seinem Buch zu arbeiten, willigt Louisa letztendlich ein - und je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto mehr schließt Nicholas das liebenswerte, humorvolle und talentierte Mädchen in sein Herz. Plötzlich erscheint eine Ehe mit Louisa nicht mehr so unvorstellbar, wäre da nicht Louisas tiefe Abneigung gegen ihn - und Mr. Markham, dem Louisas Herz gehört ... Kann Louisa der arrangierten Ehe mit Nicholas entgehen und ihren umschwärmten Mr. Markham für sich gewinnen? Oder wird es Nicholas gelingen, ihr Herz zu erobern? *** Der historische Liebesroman "Kein Baron für Miss Louisa" ist eine traditionelle Regency Romance mit Romantik, Humor und Liebe zum historischen Detail. Genre: Historischer Liebesroman, Clean & Sweet Regency Romance (keine erotischen Szenen) *** In der Reihe bereits erschienen: Ein Viscount per Annonce Eine Braut für Admiral Worsley

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Die wichtigsten Personen

Familie Ashcroft

Louisa Ashcroft

Michael, Louisas älterer Bruder

Eleanor, Louisas Schwester

Hannah, Jane, Margaret, John, weitere Geschwister

Lady Mirabel Ashcroft, Louisas Mutter

Humphrey Ashcroft, Louisas Onkel

Gwendolyn, Priscilla und Lavinia, Louisas Cousinen

Familie Lynnville

Nicholas Blackmore

Lady Clementia Lynnville, Nicholas’ Mutter

Lord Ambrose Blackmore, sechster Baron Lynnville, Nicholas’ Vater

Familie Landon/Worsley

Alice Landon, Louisas Freundin

Commander Thomas Landon, Alices älterer Bruder

Melina Worsley, geborene Landon, Alices ältere Schwester

Konteradmiral Benjamin Worsley, Melinas Ehemann

Samuel und Paulina, Melinas Kinder

Cecil Markham, Louisas Schwarm

Miss Wright, Mr. Markhams Cousine

Captain Sir Matthew Ruthercombe, neunter Baronet Ruthercombe, Cousin von Alice, Thomas und Melina

Lady Isabella Chelton, geborene Ruthercombe, Matthews Schwester und Cousine von Alice, Thomas und Melina

Die wichtigsten Begriffe

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

EPILOG

PROLOG

1807

Mutter sagt, dass du meine Ehefrau wirst, wenn wir erwachsen sind.“ Nicholas lehnte am Stamm eines knorrigen Baumes, kaute auf einem Grashalm und grinste schief. „Und dann musst du alles tun, was ich sage.“

„Bestimmt nicht!“, fauchte Louisa und rümpfte die Nase. „Eher heirate ich einen Hobgoblin als dich!“

Nicholas nahm den Grashalm aus seinem Mund und blies eine haselnussbraune Haarsträhne aus seinem Gesicht.

„Ich werde ein reicher Baron.“ Er reckte sein Kinn hoch und sah sie mit seinen braunen Augen von oben herab an. „Ich werde der Herr auf Lynnville Hall sein, wie jetzt mein Vater. Mutter sagt, alle Mädchen werden mich heiraten wollen. Du auch.“

„Nie, nie, nie!“, schrie Louisa aufgebracht und ballte ihre Fäuste. „Ich kann dich nicht ausstehen!“

Nicholas lachte. „Dann musst du für den Rest deines Lebens in einem kleinen Kämmerlein wohnen. Denn Four Hills kriegt dein großer Bruder.“

„Das muss ich gar nicht!“, fuhr Louisa ihn an. „Ich heirate jemanden, der noch viel reicher ist und ein viel größeres Haus hat als du!“

Nicholas schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„Wenn du nicht hübscher wirst, wird dich niemand heiraten. Ich auch nicht. Sieh dich nur an, kleine Lulu. Du bist hässlich.“ Er zog an ihren blonden Locken. „Und deine Haare sind so struppig wie das Fell von einem räudigen Köter.“

„Au! Hör auf damit!“ Louisa schlug nach seiner Hand. Nicholas lachte spöttisch und ließ los.

„Ich bin nicht hässlich“, rief sie zornig, „und klein bin ich auch nicht mehr!“

Zum Beweis stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen und streckte sich, musste jedoch zu ihrem Leidwesen feststellen, dass sie dennoch kaum bis an sein Kinn reichte. Er war nun einmal älter und größer als sie. „Und nenn‘ mich nicht Lulu!“

Er grinste sie von oben herab an. „Lulu! Lulu!“

Louisa versuchte, gegen seine Brust zu boxen, doch Nicholas wich ihr lachend aus.

„Du musst mich heiraten, kleine Lulu“, feixte er.

„Niemals!“, schrie Louisa, drehte sich um und stapfte wutentbrannt davon.

EINS

Elf Jahre später März 1818

Nicholas Blackmore? Den heirate ich auf gar keinen Fall!“

Die siebzehnjährige Louisa Ashcroft legte Messer und Gabel vor sich auf den Tisch und warf ihrer Mutter einen trotzigen Blick zu.

Lady Ashcroft legte ihr Besteck ebenfalls beiseite, beugte sich zu ihrer ältesten Tochter und nahm unsanft ihr Kinn in die Hand.

„Und ob du das wirst, meine Gute“, zischte sie und funkelte ihre Tochter wütend an, während Louisa versuchte, sich mit einer Kopfbewegung aus dem Klammergriff ihrer Mutter zu befreien. „Lord Lynnville ist ebenso kränklich, wie dein Vater es war. Wie man hört, soll er bereits gar bitterlich dahinsiechen. Nicht mehr lange, und sein Sohn wird den Titel erben. Dann wirst du eine Baroness sein. Und natürlich wirst du damit auch deiner Familie zu höherem Ansehen verhelfen. Wenn du schon dickköpfig genug bist, diese Ehe nicht um deinetwillen eingehen zu wollen“, ihre Stimme nahm einen schneidenden Klang an, „dann wirst du es doch deiner Mutter und deinen Geschwistern zuliebe tun, nicht wahr?“

Sie löste den Griff um Louisas Kinn, richtete sich auf und wandte sich wieder der gebratenen Taube auf ihrem Teller zu.

Louisa öffnete den Mund, doch ihre Mutter schnitt ihr das Wort ab.

„Du wirst auf Lynnville Hall leben, einem der schönsten Landsitze in ganz Berkshire. Du wirst elegante Kleider und teuren Schmuck tragen, Kutschen und Pferde besitzen und eine der angesehensten Frauen der Grafschaft sein. Weiß der Himmel, weshalb du dich so dagegen wehrst! Was kann sich ein unansehnliches Mädchen wie du Besseres wünschen?“

Ein unansehnliches Mädchen wie du. Der verächtliche Tonfall, in dem ihre Mutter diese Worte ausstieß, schnitt Louisa ins Herz. Sie konnte doch nichts für ihr Aussehen! Sie hatte nun einmal Papas widerspenstige aschblonde Locken geerbt, die sich von keiner Frisur bändigen ließen und stets zerzaust aussahen, egal, wie viel Mühe sich Hester, Mamas Zofe, gab. Ihre blassblauen, beinahe grauen Augen waren auch nichts Besonderes. Und oh, diese schrecklichen Sommersprossen!

„Nicholas Blackmore ist eingebildet, unhöflich und boshaft“, entgegnete Louisa. „Er hat sich über mich lustig gemacht, mich beschimpft und allerlei Gemeinheiten ausgeheckt!“

Die Aussicht, eine Baroness zu werden, machte die Vorstellung, den zukünftigen Baron Lynnville heiraten zu müssen, um keinen Deut besser. Auch wenn Vernunftehen beileibe nichts Ungewöhnliches waren, sollten die zukünftigen Eheleute einander doch zumindest gewogen sein, fand Louisa. Was man von Nicholas und ihr nicht gerade behaupten konnte.

Erinnerungen an einen stupsnasigen, schlaksigen Jungen mit kurzen haselnussbraunen Haaren zogen unvermittelt an Louisas geistigem Auge vorbei. Wie er sie und die anderen Mädchen geschubst, in den Matsch gestoßen und mit Tannenzapfen beworfen hatte. Wie er unter herabgefallenem Laub Schlingen zur Hasenjagd ausgelegt und Louisa, als sie sich beim Herumtoben in einer davon verfing und der Länge nach hinschlug, ausgelacht hatte. Wie er sie, als sie sich mühselig aufrappelte, eine ‚Vogelscheuche‘ genannt hatte, weil sie von Kopf bis Fuß mit Blättern, Moos und Erde beschmutzt war. Wie er –

„Unsinn.“ Ihre Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin sicher, Clementias Sohn hat sich geändert. Schließlich ist er kein kleines Kind mehr. Er war beinahe drei Jahre auf seiner Grand Tour durch Europa und ist gewiss zu einem weltgewandten Gentleman herangereift.“

Louisa verzog das Gesicht. Nicholas Blackmore, ein weltgewandter Gentleman? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

„Sobald du eine zukünftige Baroness bist“, fuhr ihre Mutter fort und führte einen Bissen Taubenbraten an ihren rotbemalten Mund, „werden Eleanors Chancen bei ihrem Debüt auf dem Londoner Heiratsmarkt im nächsten Jahr ungleich höher sein, als ich es mir je zu erträumen hoffte. Wenn du es zu einer Baroness schaffst, dann kann Eleanor es wenigstens zur Viscountess schaffen, wenn nicht gar zur Countess. Und ich muss mir keine Sorgen mehr um meine Zukunft machen.“

Darum ging es ihrer Mutter also, dachte Louisa bitter. Ihre unscheinbare älteste Tochter möglichst rasch und möglichst gut zu verheiraten, doch nicht etwa um Louisas Willen, o nein! Es ging allein um Mamas Ehrgeiz und darum, über die Ehen ihrer Töchter ihre eigene Situation zu verbessern. Zwei reiche Schwiegersöhne – da würde für sie selbst gewiss ebenfalls einiges abfallen.

Wenn sie sich da nur nicht irrte! Papa war lediglich ein Knight gewesen. War es da nicht äußerst vermessen zu hoffen, einen Adeligen als Schwiegersohn zu gewinnen? Auch wenn Eleanor mit ihrer zarten Alabasterhaut, ihren faszinierenden Augen – eines grün, eines blau, beinahe, als hätte sie die Farbe je eines Auges von Papa und Mama geerbt – und Mamas mahagonibraunem, seidig glänzendem Haar zugegebenermaßen hübscher war als Louisa, würde es ihr in Anbetracht der geringen Mitgift, die jede der fünf Schwestern erwarten konnte, wohl kaum gelingen, die Aufmerksamkeit eines Viscounts oder gar Earls zu gewinnen.

„Außerdem hat euer Onkel Humphrey in seinem letzten Brief angedeutet, dass er in Erwägung zieht, seinen Wohnsitz nach Belcot zu verlegen“, fuhr ihre Mutter zwischen zwei Bissen Taubenbraten fort. „Wenn das geschieht, benötigen wir auf Four Hills freie Zimmer für diesen Nichtsnutz und seine Sippschaft. Du und Eleanor, ihr müsst so schnell wie möglich aus dem Haus.“

Louisa warf ihrer um ein Jahr jüngeren Schwester einen entsetzten Blick zu und sah, wie deren Augen sich ebenfalls weiteten. Aus dem Mund der eigenen Mutter zu hören, dass sie aus dem Haus geworfen wurden, weil Papas älterer Bruder als ihr Vormund möglicherweise Platz in ihrem Elternhaus beanspruchte!

„Michael, nun sag doch auch etwas!“ Louisa sah ihren älteren Bruder hilfesuchend an, doch dieser schüttelte lediglich seinen Kopf.

„Mama hat recht. Du solltest heiraten, bevor du zu alt wirst und niemand dich mehr haben will.“

„Ich bin erst siebzehn!“, protestierte Louisa. „Wäre Papa noch am Leben –“

„– dann hättest du dein letztjähriges Debüt in London nicht vorzeitig abbrechen müssen.“ Ihre Mutter griff nach der Sauciere und goss noch etwas Honigsauce über die letzten Bissen der Taube auf ihrem Teller. „Doch trotz unseres Trauerjahres weiterhin an der Saison teilzunehmen, wäre ganz und gar unmöglich gewesen, das weißt du genau.“

„Ja, Mama“, lenkte Louisa widerwillig ein, „ich weiß.“

„Darüber hinaus ist es äußerst ungewiss, ob du das Interesse eines Gentlemans hättest wecken können. Du bist ohnedies nicht hübsch genug, um wählerisch sein zu können. Warum könnt ihr Mädchen nicht etwas mehr nach mir kommen? Ich war in meiner Jugend eine –“

„– Schönheit“, fielen Louisa und Eleanor wie aus einem Munde ein und warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Mama betonte schließlich bei jeder Gelegenheit, wie schön sie als junges Mädchen gewesen war.

„Jawohl, eine Schönheit!“, rief ihre Mutter erbost. „Jeden Gentleman der Grafschaft hätte ich haben können, selbst wenn ich keine Mitgift gehabt hätte! Außer Lord Lynnville, den mir Clementia, dieses ausgefuchste Frauenzimmer, vor der Nase weggeschnappt hat.“ Sie seufzte inbrünstig. „Wenn ihr Mädchen wenigstens einige Tausend Pfund an Mitgift hättet! Doch bedauerlicherweise hat euer werter Vater es verabsäumt, uns eine ausreichende Summe Geldes zu hinterlassen. Ich werde mich demnächst genötigt sehen, einige antike Möbelstücke und einen Teil meiner exotischen Vogelpräparate zu verkaufen, damit wir nicht am Hungertuch nagen müssen!“

Louisa stieß ungehalten die Luft aus. Wer Taubenbraten in Honigsauce aß, würde wohl kaum in absehbarer Zeit am Hungertuch nagen müssen.

„Papa hat getan, was er konnte“, entgegnete sie mit fester Stimme. Mochte ihre Mutter über sie herziehen, so viel sie wollte, aber über Papa ließ Louisa kein schlechtes Wort kommen. Er war der liebste Mensch auf Erden gewesen, und er war nicht mehr hier, um sich verteidigen zu können. „Er hätte es niemals zugelassen, dass eine seiner Töchter zu einer Vernunftehe gezwungen wird!“

Wenn Papa wüsste, dass seiner Tochter das Schicksal drohte, Mrs. Blackmore werden zu müssen ... Nicht, dass er nicht stolz gewesen wäre, seine Tochter als zukünftige Baroness zu sehen. Aber nicht um diesen Preis!

„Euer Vater war ein Narr“, konterte ihre Mutter. „Wie hätte er die Nöte im Herzen einer sorgenden Mutter nachempfinden können, der die schwere Aufgabe zufällt, fünf Töchter unter die Haube zu bringen, mit wenig mehr als den Kleidern, die sie am Leibe tragen?“

Himmel, Mama gefiel sich wieder einmal in ihrer Rolle als arme Witwe, deren Ehemann die Rücksichtslosigkeit besessen hatte zu versterben, ohne ihr eine in ihren Augen angemessene Erbschaft zu hinterlassen. Louisa hielt es nicht länger aus. Sie sprang vom Tisch auf und rannte zur Tür.

„Louisa Cassandra Grace!“, rief ihre Mutter ihr empört nach. „Benimmt sich so etwa eine feine junge Dame?“

Ohne sich umzudrehen, lief Louisa aus dem Speisezimmer und die breite Treppe hinauf in ihr Zimmer. Aufgebracht warf sie die Tür hinter sich ins Schloss, entzündete die Kerze auf ihrem Nachttisch und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen.

Wenn Isabella doch nur hier wäre! Louisa vermisste ihre beste Freundin schrecklich, seit diese nach ihrer Eheschließung aus Belcot fortgezogen war. Sehnsüchtig dachte sie an die Zeit zurück, als Isabella noch mit ihren Geschwistern auf Belcot House gelebt hatte und sie gemeinsam über die Wiesen und durch die Wälder streiften oder Isabellas Cousine Alice und deren Bruder Thomas auf Landon Park besuchten. Und manchmal war auch ein gewisser Nicholas Blackmore mit von der Partie gewesen. Nicht im Traum wäre Louisa damals in den Sinn gekommen, diesen vorlauten, verzogenen Bengel heiraten zu müssen!

Sie nahm die Kerze, setzte sich an ihren Sekretär und griff nach Papier und Feder. Wenn Isabella nicht hier war, um mit ihr die niederschmetternden Neuigkeiten zu besprechen, musste sie ihr eben, wie so oft in den vergangenen eineinhalb Jahren, schreiben.

Liebste Isabella!

Ich danke Dir vielmals für Deinen letzten Brief und freue mich, dass es Dir, Lord Chelton und der kleinen Amanda gut geht. Wie gerne würde ich euch alle einmal wiedersehen! Kommt ihr nicht bald einmal nach Belcot? Der Frühling ist doch eine schöne Jahreszeit für einen Besuch, findest Du nicht?

Ich hätte so viele Dinge mit Dir zu besprechen! Ach, Isabella, Du wirst nicht glauben, was geschehen ist: Nicholas Blackmore ist wieder hier. Ja, Du hast richtig gelesen! Es ist bestimmt schon zehn Jahre her, dass er nach Eton gegangen ist, und ich kann mich nicht erinnern, ihm seither noch einmal begegnet zu sein.

Lügnerin, hörte sie umgehend ihre innere Stimme, denn einmal war sie Nicholas noch begegnet. Doch diese Erinnerung hätte sie am liebsten für immer aus ihrem Gedächtnis verbannt, und nicht einmal ihrer besten Freundin hatte sie davon erzählt.

Sie war neun Jahre alt gewesen, und Nicholas war soeben von seinem ersten Schuljahr in Eton zurückgekehrt, um den Sommer zu Hause zu verbringen, wie Thomas, der bereits seit zwei Jahren das Royal Naval College besuchte. Louisa und Eleanor hatten mit Isabella deren Cousine Alice auf Landon Park besucht, und wie es der Zufall wollte, war just an diesem Tag auch Nicholas vorbeigekommen, um seinen Freund Thomas wiederzusehen. Nicholas hatte natürlich nichts Besseres zu tun gehabt, als die Gelegenheit zu ergreifen, Louisa zu ärgern, wie üblich vorwiegend damit, dass sie ihn eines Tages heiraten und ihm dann gehorchen müsse.

Aber diesmal war er noch einen Schritt weiter gegangen. In einem unbeobachteten Moment hatte er sich zu ihr gedreht und ihr seine Lippen auf den Mund gedrückt. Nicht etwa als Zeichen seiner aus heiterem Himmel gefassten Zuneigung zu ihr, o nein, auf diese absurde Idee war sie keine Sekunde lang verfallen. Sondern vielmehr, weil er wusste, wie sehr sie sich darüber aufregen würde.

Und recht hatte er gehabt! Einen Augenblick lang war sie starr vor Schreck gewesen. Dann hatte sie sich angeekelt mit dem Handrücken den Mund abgewischt und eine Tirade an Schimpfwörtern auf ihn losgelassen, die sie von Thomas gelernt hatte – der diese wiederum bei den älteren Kadetten des Royal Naval College aufgeschnappt hatte –, während Nicholas dastand, den Kopf in den Nacken geworfen, und sie schallend auslachte. Als seine zukünftige Braut müsse sie sich das von ihm gefallen lassen, hatte er ihr erklärt, und sie hatte ihm, außer sich vor Wut, kurzum ins Gesicht gespuckt. Das war ihr sogar heute noch peinlich, aber verdient hatte er es.

Ihr erster Kuss, ausgerechnet von Nicholas Blackmore. Oh, wie sie ihn dafür hasste! Er hatte ihr den Traum geraubt, den jedes Mädchen hatte – dass ihr erster Kuss etwas Besonderes und Romantisches sein würde. Etwas Bedeutsames. Von jemandem, den man mochte.

Louisa seufzte. Wie gern hätte sie ihren ersten Kuss von Mr. Markham bekommen! Doch der erste Kuss, den sie von Mr. Markham erhalten würde, sollte es je so weit kommen, wäre nur der zweite Kuss ihres Lebens. Und schuld daran war Nicholas.

Entschlossen verscheuchte sie den Gedanken und versuchte, sich auf ihren Brief zu konzentrieren.

Vorige Woche ist Nicholas von seiner Grand Tour auf dem Kontinent zurückgekehrt und hat die Damenwelt von Reading ‚in Entzücken versetzt‘, wie Mama es ausdrückte. Wie man Nicholas Blackmore allerdings entzückend finden kann, erschließt sich mir nicht im Geringsten! Vermutlich malen sich die jungen Damen schon aus, die zukünftige Baroness Lynnville zu werden, denn man munkelt, dass Nicholas nun auf Brautschau gehen wird. Wenn sie wüssten! Stell Dir vor, Isabella: Mama hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich Nicholas heirate. Ist das nicht das Absurdeste, was Du je gehört hast? Dabei gibt es nur einen einzigen Gentleman, den ich heiraten möchte. Du weißt, wen ich meine!

Wie immer, wenn sie an jenen jungen Gentleman dachte, der mit seinen goldenen Locken und ebenmäßigen Gesichtszügen wie ein griechischer Gott aussah, schlug Louisas Herz höher. Niemand, absolut niemand reichte an ihren wundervollen Mr. Markham heran. Sie öffnete eine der Laden ihres Sekretärs und zog ein selbstgemaltes Aquarell hervor, auf dem vor einem blühenden Rosenstrauch der griechische Gott Apollon stand, der unverkennbar Mr. Markhams goldene Locken und weiche, feine Gesichtszüge besaß.

In Ermangelung einer Saison in London hatte Louisa über Belcot und dessen Nachbarstadt Reading hinaus natürlich keinen Vergleich, aber es war unwahrscheinlich, dass es in London – ach was, in ganz England! – einen Mann gab, der besser aussah als Mr. Markham. Groß, schlank, wohlgeformte Beine, deren Muskeln sich unter den enganliegenden Pantalons abzeichneten, strahlende Augen, deren außergewöhnliche blauviolette Farbe Louisa stets an ein Meer aus duftenden Vergissmeinnicht erinnerte, und das hinreißendste Lächeln von ganz Berkshire. Wenn er ihr doch nur einmal dieses Lächeln schenken würde! Oder wenigstens einen Blick!

Doch Mr. Markham schien sie nicht wahrzunehmen, gab es doch wesentlich hübschere Mädchen in Belcot und Reading. Vermutlich war ihm gar nicht bewusst, dass sie existierte. Nicht einmal auf ihrem Debütball, den Mama im Vorjahr für sie ausgerichtet hatte, hatte er mit ihr getanzt. Ihre Enttäuschung war unermesslich gewesen.

Seufzend legte Louisa das Bild von Apollon zurück in die Lade und fuhr mit dem Brief fort.

Du musst wissen, dass Mama mit Lady Clementia Lynnville in Kindertagen eng befreundet war. Angeblich haben sich die beiden als junge Mädchen das Versprechen gegeben, eines Tages die Tochter der einen mit dem Sohn der anderen zu verheiraten, um ihre Bande noch enger zu knüpfen und eine einzige große, glückliche Familie zu werden. Jedenfalls hat Mama mir das erzählt. Was für eine haarsträubende Abmachung! Eine solch dumme Vereinbarung hätten wir beide niemals getroffen, nicht wahr? Aber wie hätte Mama damals auch ahnen können, dass der zukünftige Sohn ihrer besten Freundin ein verwöhntes, ungezogenes Einzelkind sein würde?

Erneut hielt Louisa inne. Warum nur war Papa letztes Frühjahr von ihnen gegangen? Papa wäre auf ihrer Seite gewesen und hätte sie gegen Mamas Heiratspläne verteidigt. Und sie hätte ihre erste Saison nicht vorzeitig nach nur zwei Wochen abbrechen und nach Belcot zurückkehren müssen. Wer weiß – vielleicht hätte sie tatsächlich einen netten jungen Gentleman in London kennengelernt und wäre inzwischen glücklich verheiratet?

Ihr Blick schweifte zu dem großen Spiegel auf ihrem Frisiertisch, der ihr Ebenbild im Kerzenschein reflektierte. Nein, unansehnlich, wie Mama behauptete, fand Louisa sich nicht. ‚Unscheinbar‘ traf es schon eher. Die Augen blass, die Haare wirr, die Haut sonnengebräunt, die Nase mit Sommersprossen übersät. Von zarter Alabasterhaut und seidig glänzenden Haaren, wie Eleanor sie besaß, weit und breit keine Spur. Mama hatte wohl recht: Sofern sich überhaupt ein junger Gentleman während ihrer Saison für sie interessiert hätte, dann gewiss keiner der reichen, begehrten Junggesellen, sondern ein Mann, den kein anderes Mädchen haben wollte und der sie notgedrungen als Ehefrau akzeptiert hätte.

Zumindest gab es auch einige Dinge, die Louisa an sich selbst gefielen: Ihre herzförmige Gesichtsform, ihre dunklen, geschwungenen Wimpern und ihr Lächeln.

Probeweise lächelte sie ihr Spiegelbild an und betrachtete es kritisch. Es war nicht Mamas herablassendes Lächeln und nicht Papas schwermütiges Lächeln, das in den langen Monaten seiner fortschreitenden Krankheit einem leidvollen Lächeln gewichen war. Nein, es war ein offenes, herzliches Lächeln, das ihre hellen Augen strahlen ließ und ihre sorgsam gepflegten Zähne zum Vorschein brachte. Auf ihre makellosen Zähne war Louisa stolz. Keine Fehlstellung, keine Zahnlücke, keine Verfärbung oder gar Zahnfäule entstellte ihren Mund.

Mama mochte ihr an Schönheit weit überlegen sein, doch auf ihre Zähne hatte sie nie großen Wert gelegt, was sich in ihrem Alter inzwischen deutlich bemerkbar machte. Ihr Gebiss war nicht nur unansehnlich, sondern ermangelte bereits mehrerer Zähne, die ihr im Laufe der Jahre gezogen werden mussten. Ein Schicksal, das Louisa und Eleanor tunlichst zu vermeiden gedachten und ihre Zähne daher täglich penibel reinigten. Und in einem waren sich beide Schwestern einig: Für sie kam nur ein Ehemann mit gepflegten Zähnen in Betracht. Mr. Markham beispielsweise hatte bemerkenswert schöne Zähne. Mr. Markham war überhaupt ein bemerkenswert schöner Mann.

Oh, schon wieder dachte sie an Mr. Markham! Sie riss sich von dem Gedanken los und wandte sich erneut dem Brief zu.

Ich kann nur hoffen, dass Lady Lynnville von Mamas Ansinnen nichts wissen will. Sie hat für ihren einzigen Sohn gewiss große Pläne, da möchte sie doch bestimmt nicht, dass er die Tochter eines einfachen Knights heiratet. Denkst Du nicht auch? Ich habe jedenfalls nicht vor, diesen überheblichen Rüpel zu ehelichen, zukünftiger Baron hin oder her. Wenn Mama mich schon nicht verstehen kann, dann verstehst Du mich sicherlich. Immerhin hatte Dein Bruder ebenso vor, für Dich eine Vernunftehe zu arrangieren! Leider habe ich keine ältere Schwester wie Du, die mich aus meiner misslichen Lage befreit und selbst eine Vernunftehe eingeht, um mich davor zu bewahren. Denn ich glaube nicht, dass es mir so ginge wie Deiner Schwester und ich mich in meinen Gemahl verliebe. Du lieber Himmel, verliebt in Nicholas? Nie und nimmer. Diese Ehe wäre wohl eher eine Schauer- denn eine Liebesgeschichte! Wie in Glenarvon, Lady Caroline Lambs Skandalwerk. Hast Du es schon gelesen? Ungefähr so stelle ich mir das vor!

Eigentlich möchte ich jetzt noch gar nicht heiraten (ausgenommen Mr. Markham, ihn würde ich jederzeit heiraten). Denn für eine Frau bedeutet die Ehe, Kinder zu bekommen und zu Hause zu bleiben. Verstehe mich nicht falsch, Isabella, das ist sicherlich schön, wenn man wie Du einen Ehemann hat, der einen liebt und den man ebenso liebt. Ich dagegen hätte Nicholas. Dabei würde ich viel lieber verreisen und mir fremde Länder und alte Kulturschätze ansehen!

Ihr Blick wanderte zu ihrem Nachttisch, auf dem sich mehrere Bücher über antike Sehenswürdigkeiten und Kunstwerke sowie Baroness Cravens Reisebriefsammlung A Journey through the Crimea to Constantinople stapelten, die Louisa aus der Bücherei von Belcot geliehen hatte. Wie beneidete sie Lady Elizabeth Craven! Sie stammte aus einer reichen Familie und hatte vor vielen Jahren Europa und Russland bereist. Nichts wünschte sich Louisa sehnlicher, als all die wundervollen, jahrtausendealten Sehenswürdigkeiten auf dem Kontinent zu besuchen, wie Lady Craven es getan hatte.

Wie es wohl ist, über das Forum Romanum zu schreiten, inmitten der Ausgrabungsarbeiten, die seit einigen Jahren dort im Gange sind? Mit eigenen Augen all die Entdeckungen zu sehen, die Tag für Tag dort gemacht werden? Von der Tribüne des Kolosseums in die Arena hinunterzublicken, in der die Gladiatoren kämpften? Oder unter der gewaltigen Kuppel der Sophienkirche zu stehen, im Herzen Konstantinopels, der Hauptstadt des sagenumwobenen Byzanz? All das wird mir verwehrt bleiben, es sei denn, ich heirate Mr. Markham, dann könnte ich ihn auf seinen Reisen begleiten.

Louisa lächelte verträumt. Ach, wie wundervoll wäre es, an Mr. Markhams Seite die Welt zu sehen! Schließlich reiste Mr. Markham als Geschäftsmann häufig im Auftrag seines Onkels und Geschäftspartners Mr. Wright in andere Länder, um Waren einzukaufen und neue Handelspartner zu finden. Als seine Gemahlin könnte sie mit ihm gewiss nach Italien, Griechenland und Ägypten segeln und, während Mr. Markham seinen Geschäften nachging, all die imposanten Ruinen besuchen, die sie bislang nur von Bildern kannte.

Sie tauchte die Federspitze erneut in die Tinte.

Ich fürchte allerdings, dass Mama und Onkel Humphrey mir wohl kaum die Einwilligung geben würden, die Ehefrau eines Geschäftsmannes zu werden, wenn ich stattdessen eine Baroness werden könnte. Vermutlich müsste ich mit Mr. Markham davonlaufen und mich heimlich in Gretna Green mit ihm vermählen. Das gäbe ein Gerede! Keine Sorge, Isabella, ich werde natürlich nicht mit Mr. Markham nach Gretna Green fahren. Es würde dem Ruf meiner Familie schaden und Eleanors Aussicht auf eine gute Partie ruinieren, und Mama würde gewiss nie wieder ein Wort mit mir sprechen. Außerdem hätte Papa ein solches Verhalten niemals gutgeheißen. Ach, Isabella, wenn ich nur wüsste, was ich tun soll! Wie gerne würde ich einfach nach Belcot House hinüberlaufen und alles mit Dir besprechen! So bleibt mir nur, Dir zu schreiben.

Tausend Küsse sendet Dir Deine Dich vermissende Louisa

Louisa streute etwas Schreibsand über die noch feuchte Tinte, ließ den überschüssigen Sand vorsichtig wieder in das Gefäß zurückrieseln, faltete den Brief zusammen und versiegelte und adressierte ihn sorgfältig.

Dann holte sie eines der Bücher von ihrem Nachttisch, zog einen weiteren Papierbogen aus ihrem Sekretär und legte ihre Aquarellfarben bereit. Sie hatte sich vorgenommen, vor dem Zubettgehen noch das Bild der ägyptischen Göttin Isis abzuzeichnen, das sie in dem Buch entdeckt hatte. Der Kupferstich war zwar nicht koloriert, im Text waren das rote Kleid, der goldene Kopfschmuck und die mehrreihige bunte Perlenkette jedoch so detailliert beschrieben, dass Louisa versuchen wollte, ein möglichst originalgetreues Abbild zu erschaffen.

***

„Niemals!“

Mit einem Aufschrei fuhr Louisa hoch und schnappte nach Luft. Schweißgebadet, mit schreckgeweiteten Augen, sah sie sich verdutzt im dunklen Zimmer um. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie im Bett saß.

Erleichtert lehnte sie sich in ihre Kissen zurück und atmete tief ein. Es war nur ein Traum, versuchte sie sich zu beruhigen und presste beide Hände gegen ihre Brust, in der ihr Herz wie wild schlug. Nur ein Traum.

Aber er hatte sich viel zu echt angefühlt.

Du musst mich heiraten, kleine Lulu, hallten Nicholas‘ Worte in ihren Ohren, und sie konnte sein herablassendes Grinsen noch vor sich sehen.

Louisa seufzte. Offensichtlich hatte sich die Erinnerung an Nicholas‘ endlose Sticheleien dank Mamas Heiratsplänen zurück in ihre Träume geschlichen. Wie sie es als Kind oft getan hatte, ballte Louisa ihre Hände zu Fäusten. Niemals würde sie Nicholas Blackmore heiraten. Niemals. Sollte sie eines Tages heiraten, dann selbstverständlich Mr. Markham. Ihren wunderbaren, wunderschönen Mr. Markham, der sie nur leider nicht bemerkte.

Andererseits – wenn nicht einmal Mr. Markham sie beachtete, der beileibe kein Titelerbe war, würde der künftige Lord Lynnville wohl erst recht nichts von ihr wissen wollen. Immerhin ein Hoffnungsschimmer!

Aber konnte sie sich darauf verlassen? Durfte sie das Risiko eingehen? Nein. Sie musste verhindern, dass Nicholas auch nur im Entferntesten daran dachte, ihr einen Heiratsantrag zu machen, denn dann war alles zu spät. Mama würde es niemals dulden, dass ihre Tochter den Antrag eines zukünftigen Barons ablehnte.

Aber wie nur, wie konnte sie das verhindern? Jedenfalls nicht, indem sie in ihrem Bett lag. Sie schlug das Federbett zurück, schlüpfte in die Hausschuhe und griff nach ihrem warmen Schultertuch. Mit wenigen Schritten war sie beim Fenster und zog die schweren Samtvorhänge beiseite, durch deren Spalt bereits die Morgenröte geleuchtet hatte. Dann setzte sie sich an den Sekretär und nahm das kleine Porträt ihres Vaters, das in einem der Fächer stand.

„Ach, Papa“, seufzte sie und betrachtete die Miniatur, „was soll ich nur tun?“

An Tagen wie diesen, nach einer Auseinandersetzung mit Mama, fehlte Louisa ihr Vater ganz besonders. Papa hatte sie stets in Schutz genommen. Er hatte stets tröstende Worte für sie gehabt, wenn sie unglücklich war, und einen guten Rat, wenn sie nicht weiterwusste. Und er hätte es niemals zugelassen, dass Mama sie zwang, jemanden zu heiraten, den sie zutiefst verabscheute.

Rasch blinzelte Louisa die aufsteigenden Tränen fort und stellte die Miniatur zurück an ihren Platz. Papa war nicht mehr hier, um ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, also musste sie selbst eine Lösung finden. Wenn Mama einen Heiratsplan für sie hatte, dann würde sie sich eben ihren eigenen Heiratsplan zurechtlegen.

Sie zog einen Bogen Papier aus der obersten Schublade, tauchte den Federkiel in das Tintenfass und schrieb in großen, geschwungenen Buchstaben die Worte:

Mein Heiratsplan

Und ihr Heiratsplan sah definitiv anders aus als der ihrer Mutter! In kleinerer Schrift fuhr sie fort:

Schritt 1: Einen Heiratsantrag von Nicholas Blackmore verhindern.

Sie stützte ihr Kinn auf die Hand und dachte nach. Der erste Schritt musste wohlüberlegt sein. Zunächst musste sie sich Nicholas gegenüber absolut unmöglich benehmen, denn eine Ehefrau, die sich nicht standesgemäß zu benehmen wusste, würde Nicholas gewiss nicht haben wollen. Natürlich musste sie dabei geschickt vorgehen, schließlich wollte sie nur Nicholas gegenüber einen schlechten Eindruck machen und nicht ihren Ruf riskieren! Denn dann hätte sie wohl auch bei Mr. Markham keine Chance mehr.

Darüber hinaus musste sie unbedingt darauf achten, nie allein mit Nicholas zu sein, denn zum einen durfte es keinesfalls zu einer kompromittierenden Situation zwischen ihnen kommen, sodass sie gezwungen wären zu heiraten, und zum anderen durfte sie ihm keine Gelegenheit geben, sie unter vier Augen zu sprechen und ihr einen Antrag zu machen.

Schritt Eins klang recht einfach. Wesentlich schwieriger würde sich der darauffolgende Schritt gestalten. Sie setzte ihre Feder erneut an.

Schritt 2: Einen Heiratsantrag von Mr. Markham erhalten.

Dazu musste sie selbstverständlich zunächst Mr. Markhams Aufmerksamkeit erregen. Wenn ihr dies gelungen war, er die Unterhaltung mit ihr als angenehm empfand und sie nett genug fand, um darüber hinwegsehen zu können, dass sie nicht besonders hübsch war, dann würde er vielleicht, vielleicht um ihre Hand anhalten.

Aber wie sollte sie das anstellen? Nachdenklich klopfte Louisa mit dem Zeigefinger gegen ihre Unterlippe. Sie könnte versuchen, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, wenn sie ihm das nächste Mal begegnete, und herausfinden, was ihm gefiel und worüber er sich gerne unterhielt. Vielleicht hatte sie Glück, und er interessierte sich für Geschichte und alte Kulturen, wie sie selbst. Oder sie könnte sich mit ihm über seine Geschäftsreisen unterhalten. Er wusste bestimmt zahlreiche Erlebnisse und Anekdoten zu berichten.

Sie könnte natürlich auch einfach im geeigneten Moment ‚stolpern‘ und ihm vor die Füße fallen oder, wenn sie ihn das nächste Mal auf der Straße sah, laut um Hilfe rufen, und vorgeben, beinahe ausgeraubt worden zu sein, um sich von ihm ‚retten‘ oder zumindest trösten zu lassen. Doch diesen Gedanken verwarf sie umgehend wieder. Auf derartige Tricks würde vermutlich Mama zurückgreifen, aber noch war Louisa nicht verzweifelt genug, um sich wie ihre Mutter zu benehmen.

An ihrer Stelle würde Mama wohl nicht einmal davor zurückschrecken, den Gentleman ihrer Wahl in eine kompromittierende Situation zu bringen, um ihn zur Ehe zu nötigen, aber das kam für Louisa keinesfalls in Frage. Wenn Mr. Markham um ihre Hand anhielt, dann, weil er sie wirklich zur Frau haben wollte, und nicht, weil er dazu gezwungen war. Es musste einen anderen, redlicheren Weg geben, und dann ... ja, dann würde ihr Traum in Erfüllung gehen. Louisa seufzte und notierte:

Schritt 3: Mr. Markham heiraten.

Sie stützte den Kopf in ihre Hände und ließ den Blick verträumt aus dem Fenster schweifen. Wie oft hatte sie sich bereits ausgemalt, einen Heiratsantrag von Mr. Markham zu erhalten! Gewiss würde er ihr einen Strauß frisch gepflückter Wiesenblumen überreichen. Dann würde er ihre Hand nehmen und ihr tief in die Augen sehen – vielleicht würde er sich gar vor ihr niederknien! – und ihr seine Liebe gestehen. Sie würde in seinen vergissmeinnichtblauen Augen versinken und ein überwältigtes ‚Ich will!‘ hauchen, und dann würde er sie in seine Arme ziehen und zärtlich küssen ...

Ach, es würde wundervoll sein! Louisa unterstrich den letzten Satz auf ihrer Liste und malte ein kleines Herz daneben.

ZWEI

In zügigem Tempo rollte eine schwarze Kutsche, an deren Wagenschlag das rotgoldene Wappen der Familie Ashcroft prangte, die Straße Richtung Reading entlang. Links und rechts am Wegesrand begannen bereits die Sträucher zu knospen, Primeln und Stiefmütterchen sprießten im frischen Gras, und da und dort öffneten Narzissen ihre Kelche.

Doch Lady Mirabel Ashcroft stand der Sinn nicht danach, die im Erblühen begriffene Natur zu bewundern. Ihre Gedanken kreisten um ihr bevorstehendes Gespräch mit Lady Lynnville, und nicht zum ersten Mal ärgerte sich Mirabel darüber, dass Clementia ihr damals Lord Lynnville vor der Nase weggeschnappt hatte.

Was hätte sie darum gegeben, selbst Baroness zu werden! Dummerweise war sie zwei Jahre jünger als Clementia und hatte ihr Debüt noch nicht gehabt, als Lord Lynnville, seines Zeichens eingefleischter Junggeselle, sich überraschend dazu entschied, sich endlich zu vermählen. Clementia hatte ihre Reize zu nutzen gewusst, und der Baron hatte sich nicht lange bitten lassen. Selbst mehr als doppelt so alt wie Clementia und bereits damals gesundheitlich angeschlagen, hatte er sein Glück gewiss kaum fassen können, ein so junges, hübsches Mädchen zum Traualtar zu führen.

Bei Lord Lynnvilles Gesundheitszustand war es allerdings kein Wunder gewesen, dass es einige Jahre gedauert hatte, bis der ersehnte Nachwuchs sich einstellte, und dass es bei diesem einen Kind geblieben war, weshalb der Knabe auch von klein auf umhegt und gehätschelt wurde, als sei er der Königssohn höchstpersönlich.

Mirabel konnte sich noch gut daran erinnern, wie erstaunt sie gewesen war, als sie erfahren hatte, dass Clementia ihrem Sohn den Besuch der Privatschule in Eton und danach eine Grand Tour quer durch den Kontinent gestattet hatte. Immerhin konnte sie in dieser langen Zeit nicht Tag und Nacht über ihn wachen, obwohl ihre größte Angst doch war, dass ihrem Augenstern etwas zustoßen könnte. Aber auf Status und Prestige hatte Clementia, die wie Mirabel selbst aus bürgerlichen Verhältnissen stammte, als Baroness stets großen Wert gelegt, und der Besuch einer Privatschule sowie eine Grand Tour wurden von den Söhnen adeliger Familien eben erwartet, wollte man den Ansprüchen der Gesellschaft Genüge tun.

Und nun, da besagter Sohn nach England zurückgekehrt war, würde Mirabel alles daransetzen, ihre einstige Abmachung mit Clementia in die Tat umzusetzen. Ob Clementia sich überhaupt noch daran erinnerte? Einerlei, versprochen war versprochen, und in Anbetracht der Umstände war es den Versuch allemal wert, fand Mirabel, hatte es Sir Henry, ihr zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt verblichener Gatte, doch verabsäumt, seiner Familie ein anständiges Auskommen zu sichern. Eine Londoner Saison für Louisa zu bezahlen, war schlicht unmöglich. Allein die Miete für ein Stadthaus oder zumindest ein anständiges Apartment, der Lohn für die Dienstboten, die Eintritte für Theater, Konzerte und Opern ... und, wie nicht anders zu erwarten, hatte Humphrey, dieser Geizhals, sich geweigert, für Louisa eine Saison zu bezahlen, obwohl dies als ihr Vormund selbstredend seine Aufgabe gewesen wäre.

Mirabel hatte sich bereits den Kopf darüber zerbrochen, wie sie es anstellen sollte, Louisa zu verheiraten. Im nächsten, spätestens übernächsten Jahr war bereits Eleanor an der Reihe, danach Hannah. Jane und Margaret waren noch Kinder, aber auch für ihr Debüt musste Geld beiseitegelegt werden. Nicht zu vergessen John, der mit seinen sechs Jahren bald einen Tutor benötigen und in einigen Jahren nach Eton gehen würde, wofür eine erkleckliche Summe Schulgeldes zu bezahlen war.

Die Vereinbarung mit Clementia löste daher zwei Probleme auf einen Schlag: Nicht nur, dass Louisa möglichst rasch aus dem Haus war, wäre sie obendrein bald eine Baroness, was Eleanor gute Chancen einräumte, eine noch bessere Partie zu machen. Mit zwei reichen und angesehenen Schwiegersöhnen würde Mirabel sich um ihre eigene Zukunft und die ihrer übrigen Kinder jedenfalls keine Sorgen mehr machen müssen.

Sehnsüchtig dachte Mirabel an den schmackhaften Taubenbraten in Honigsauce und leckte sich gedankenverloren die Lippen. Derlei Köstlichkeiten würden wohl in den nächsten Jahren die Ausnahme bleiben, sollte Humphrey der Familie weiterhin seine Unterstützung versagen, wovon bei diesem Geizhals leider auszugehen war. Wenigstens hatte er sie bislang mit seiner Anwesenheit verschont!

Kaum zu glauben, dass Sir Henry und Humphrey Brüder gewesen waren – ein unterschiedlicheres Geschwisterpaar gab es wohl selten. Der untersetzte, bereits in frühen Jahren ergraute und zur Glatze neigende Humphrey, dessen buschige Augenbrauen wettmachten, was ihm am Kopf an Haaren fehlte, hatte neben seinem jüngeren hochgewachsenen, schlanken Bruder mit dem blonden, stets etwas struppig wirkenden Lockenkopf beinahe lächerlich gewirkt. Und erst der Charakter! Der kultivierte, galante Sir Henry war das glatte Gegenteil seines dreisten Bruders gewesen, dem es an jeglichem Benehmen mangelte.

Welch Unglück, dass ausgerechnet dieser Kerl nun der Vormund ihrer Kinder war. Wenn er ihnen nur vom Leibe blieb! Das fehlte noch, dass Humphrey sich mitsamt seiner Sippschaft auf Four Hills breit machte. War es im Übrigen nicht unfassbar, dass dieser Kerl tatsächlich eine Ehefrau gefunden hatte? Ganz und gar nicht verwunderlich war es hingegen, dass seine bemitleidenswerte Gemahlin nach der Geburt von drei Töchtern und zwei Söhnen die Gelegenheit ergriffen hatte, an Masern zu sterben und damit endlich ihre ewige Ruhe zu finden.

Angeblich war Humphrey Rechtsanwalt. Mirabel schnaubte verächtlich. Rechtsverdreher, allerhöchstens! Niemand konnte ihr weismachen, dass dieser Nichtsnutz bislang auch nur einen Penny mit redlicher Arbeit verdient hatte. Viel eher mit windigen Geschäften, Bestechungsgeldern und Betrügereien.

Wenn sie nur daran dachte, dass Humphrey auch die Einkünfte aus Four Hills verwaltete! Im besten Fall bereicherte er sich nur daran. Vermutlich hatte er sich von dem Geld, das er für sich selbst beiseiteschaffte, bereits ein schönes Haus in London gekauft. Im schlimmsten Fall blieb ihnen selbst von dem Geld nichts übrig. Zum Glück war Michael bereits neunzehn Jahre alt und damit in zwei Jahren volljährig, dann konnte er selbst das Erbe seines Vaters antreten sowie die Vormundschaft über seine jüngeren Geschwister beantragen, und Humphrey war aus dem Spiel. Aber bis dahin konnte noch viel geschehen ...

Und daher musste sie mit allen Mitteln versuchen, Nicholas als Gemahl für ihre Tochter zu sichern. Eine gute Partie war schließlich nicht nur für Louisa selbst, sondern für die gesamte Familie von Bedeutung. Bedauerlicherweise war Clementias Sohn kein Viscount oder Earl, aber ein zukünftiger Baron war für ein unscheinbares Ding wie Louisa allemal mehr, als Mirabel sich unter normalen Umständen erhoffen konnte.

In diesem Moment bog die Kutsche von der Straße nach Reading in eine lange Erlenallee ab und hielt auf Lynnville Hall zu. Mirabel beugte sich zum Fenster und hielt nach der klassizistischen Fassade des großen Herrenhauses Ausschau, dessen vorspringendes Eingangsportal als Vorhalle im palladianischen Stil gestaltet war und mit seinen sechs schlanken Säulen an eine griechische Tempelfront erinnerte.

Louisa mit ihrem unverständlichen Faible für alles Antike hatte sich auf Anhieb in dieses Portal verliebt und es sogar gezeichnet, nachdem Mirabel sie im vorigen Jahr anlässlich ihrer Einführung in die Gesellschaft auf einen Morgenbesuch bei Clementia mitgenommen hatte. Mirabel hatte ihrer Tochter allerdings untersagt, das Bild im Salon aufzuhängen. Sollte sie etwa jedes Mal, wenn ihr Blick darauf fiel, daran erinnert werden, dass Clementia ihr Lord Lynnville weggeschnappt hatte?

Mirabels Mundwinkel kräuselten sich. Nun ja, Louisa würde das Portal, wenn alles nach Plan ging, bald jeden Tag en nature bestaunen können. Da tauchte es auch schon am Ende der langen Allee auf. In wenigen Minuten würde Mirabel ihrer Freundin im Salon bei einer duftenden Tasse Tee gegenübersitzen und ihr Anliegen möglichst überzeugend vortragen.

Seufzend ließ sie sich zurück in den Wagensitz fallen. Sie musste Clementia unbedingt dazu bringen, sich an ihr damaliges Versprechen zu halten. Vermutlich wäre dies einfacher, würde sie Clementia nicht ihre älteste, sondern ihre zweitälteste Tochter als Schwiegertochter anbieten, die zweifellos die hübschere von beiden war. Doch genau aus diesem Grund würde Eleanor auch wesentlich leichter zu verheiraten sein als Louisa, und Mirabel wollte ihren Trumpf – die Vereinbarung mit Clementia – daher nicht an Eleanor verschwenden.

Zu dumm, dass ihr eigener Plan, einen gewissen gutsituierten Gentleman zu einer Eheschließung zu bewegen, bislang nicht gelungen war. Mr. Allen war zwar bereits zu Sir Henrys Lebzeiten ihrer Schönheit erlegen und ihr heimlicher Verehrer gewesen, verspürte zu Mirabels Leidwesen jedoch bislang keinerlei Lust, sich zu binden und darüber hinaus sieben minderjährige Stiefkinder durchzufüttern. Sie musste ihre Kinder also möglichst rasch aus dem Haus bekommen.

In wenigen Jahren, wenn Michael volljährig, Louisa, Eleanor und Hannah verheiratet und John in Eton waren, bestand eventuell eine Chance, Mr. Allen zur Ehe zu bewegen, doch bis dahin brauchte Mirabel eine andere Lösung, und die lautete: wohlhabende Schwiegersöhne.

DREI

Louisa Ashcroft? Die nennst du eine gute Partie?“

Ihr Sohn wandte sich von dem Glasschrank im Salon ab, auf dessen oberstes Regal er soeben eine weitere der aus Griechenland mitgebrachten antiken Götterstatuetten gestellt hatte, und sah Clementia verwundert an. „Die Tochter eines einfachen Knights? Wirklich, Mutter, ich dachte, du hättest mehr Ehrgeiz! Wenigstens eine Herzogstochter sollte es für deinen einzigen Sohn schon sein, findest du nicht?“

Der Sarkasmus in Nicholas‘ Stimme war nicht zu überhören, und Clementia konnte es ihm nicht verdenken. Immerhin hatte sie ihm seine Grand Tour lediglich unter der Bedingung zugestanden, dass er sich nach seiner Rückkehr eine passende Braut suchte, und mit ‚passend‘ hatte sie damals selbstverständlich nicht Louisa Ashcroft gemeint, was Nicholas nur zu gut wusste. Tatsächlich schien es geradezu absurd, einen gutaussehenden jungen Gentleman mit Aussicht auf Titel und Vermögen an ein in Abstammung und Aussehen dermaßen gewöhnliches Mädchen zu vergeuden.

Stolz betrachtete Clementia ihren Sohn. Er war wirklich ein Bild von einem Mann, eine gelungene Mischung aus ihren und Ambroses Vorzügen. Haselnussbraune Haare und Augen, eine wohl nicht zuletzt den Anstrengungen der Reise geschuldete schlanke, athletische Figur und eine Körpergröße, die zwar nicht ganz an Ambroses hohen Wuchs heranreichte, aber dennoch stattlich wirkte. Die jungenhaften Gesichtszüge waren markanten, beinahe herben Zügen gewichen, die ihm zusammen mit seinem von der südlichen Sonne gebräunten Teint ein ungewohnt männliches Aussehen gaben.

Clementia konnte immer noch nicht fassen, wie wenig der stupsnasige Junge von einst dem eleganten Gentleman ähnelte, der nun vor ihr stand und mit vorsichtigen Handgriffen das nächste Fundstück aus seiner ledernen Reisetasche holte. Behutsam entfernte Nicholas den Stofflappen, in den der Gegenstand eingewickelt war, und zum Vorschein kam ein kleines Öllämpchen aus Terrakotta.

„Hübsch, nicht wahr?“

Nicholas streckte ihr das Lämpchen auf der flachen Hand entgegen, sodass sie es aus der Nähe betrachten konnte, und Clementia warf höflich einen Blick auf das in die Oberseite des Lämpchens eingeprägte geflügelte Pferd.

„Sehr hübsch“, erwiderte sie geistesabwesend. In ihren Augen gab es keine bessere Partie für sämtliche jungen Damen Englands als ihren Sohn, und er würde selbstverständlich jede von ihnen haben können, wenn er es darauf anlegte.

„Es stammt aus Konstantinopel.“ Nicholas wandte sich zum Glasschrank und stellte das Öllämpchen auf das zweite, bislang leere Regal.

„Leider haben die Herzöge Englands derzeit allesamt keine Tochter, deren Debüt dieses Jahr ansteht“, bemerkte Clementia, um auf das eigentliche Gesprächsthema zurückzukommen.

„Zwischen Louisa Ashcroft und einer Herzogstochter liegen noch etliche andere Möglichkeiten“, wandte Nicholas ein und nahm das nächste Fundstück aus der Tasche, ein weiteres Öllämpchen, das sich sogleich zu seinem Gegenstück in den Schaukasten gesellte. „Irgendein Viscount, Earl oder Marquess wird wohl eine geeignete Tochter haben. Und wenn es in der diesjährigen Saison keine passende Debütantin gibt, warte ich eben auf die nächste. Ich habe es nicht eilig.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass du so titelversessen bist“, bemerkte Clementia spitz, wohl wissend, dass ihr Sohn lediglich eine Ausrede suchte, sein Junggesellenleben noch nicht aufgeben zu müssen. „Vergiss nicht, dass meine Familie ebenfalls nicht aus dem Adel stammt und dein Vater dennoch um meine Hand angehalten hat.“

„Ich bin nicht titelversessen“, widersprach Nicholas, während er das nächste Öllämpchen aus seinem schützenden Stoff wickelte. „Aber Louisa Ashcroft muss es nun wahrlich nicht sein! Und was meinen Vater betrifft, hattest du leichtes Spiel. Mir ist durchaus bekannt, dass er eine Schwäche für schöne Frauen hatte.“

„Daraus kannst du ihm keinen Vorwurf machen, die haben viele Männer. Du doch auch.“

„Eben.“ Nicholas stellte das dritte Öllämpchen zu den ersten beiden. „Daher frage ich mich, wie du auf die Idee kommst, ich würde deiner mehr als eigenartigen Abmachung mit Lady Ashcroft Folge leisten und ihre Tochter ehelichen! Höchstens Eleanor. Soweit ich mich erinnere, ist sie ein recht hübsches Mädchen, wenn auch auf eine spezielle Art und Weise.“

„Miss Eleanor steht nicht zur Diskussion“, erwiderte Clementia rasch.

Obwohl sie die Abmachung mit Mirabel bereits längst vergessen hatte und Mirabels Ansinnen ihr zunächst anmaßend, ja geradezu grotesk erschienen war, hatte sie nach reiflicher Überlegung ihre Meinung geändert. Denn die Sache war doch so: In Anbetracht von Ambroses Alter und fortschreitender Krankheit würde sie in absehbarer Zeit Witwe sein. Möglicherweise im nächsten Monat, möglicherweise im nächsten Jahr, wer wusste das schon so genau. Und als Witwe blieb sie nur so lange Herrin über Haus und Hof, bis ihr Sohn heiratete. Früher oder später würde gewiss irgendein hübsches Gesicht ihrem Sohn den Kopf verdrehen, und dann war es mit ihrem Einfluss auf Nicholas und ihrer Herrschaft über Lynnville Hall vorbei. Sie würde aus dem großen Herrenhaus ausziehen und auf den wesentlich kleineren und weniger repräsentablen Witwensitz umziehen müssen. Wäre es da nicht besser, ihr Sohn heiratete ein gewöhnliches, dummes Landei, für das er sich nicht interessierte und das ihr ihre Position nicht streitig machte?

Ganz fraglos war Mirabels Älteste das geeignete Mittel zum Zweck, nicht deren jüngere Schwester, die zweifellos die hübschere von beiden war.

„Miss Eleanor hat frühestens nächstes Jahr ihr Debüt, und du solltest möglichst rasch heiraten“, setzte sie daher hinzu.

Nicholas verdrehte ungeduldig die Augen und griff erneut in die Reisetasche. Ein Lederbeutel kam zum Vorschein, aus dem Nicholas klimpernd einige antike Münzen, zwei goldene Armreifen, mehrere Ringe sowie drei silberne Gürtelschnallen auf den Tisch gleiten ließ. „Ich bin einundzwanzig Jahre alt und kerngesund, Mutter. Ich sorge vor meinem Ableben schon noch rechtzeitig für einen Erben!“

„Sprich nicht so respektlos vom Tod“, ermahnte Clementia ihn und bekreuzigte sich vorsorglich. „In deinem Alter war dein Vater ebenfalls noch kerngesund, und dennoch sah die Sache bereits wenige Jahre später anders aus. Von einem Unfall, der – Gott möge es verhüten! – jederzeit geschehen kann, spreche ich da noch gar nicht.“

Nicholas wandte sich zu ihr um. „Mach dir keine Sorgen, Mutter. Die Erbfolge ist gesichert. Im schlimmsten Fall wird Peter der nächste Baron Lynnville. Das würdest du deinem entzückenden Neffen doch gönnen, nicht wahr?“

Damit traf ihr Sohn Clementias wunden Punkt. Nicholas wusste nur zu gut, was sie von ihrem ‚entzückenden‘ Neffen hielt, der seine Familie mit seinem ausschweifenden Londoner Gesellschaftsleben in den Ruin trieb, von den zahlreichen Skandalen um seine anrüchigen Liebesaffären ganz zu schweigen. Sollte Peter erben, wäre dies noch schlimmer, als würde Nicholas die falsche Frau heiraten. Peter würde Clementia gewiss nicht auf dem Landsitz dulden, nicht einmal auf ihrem Witwensitz. Chalbrook Manor stand ihr zwar testamentarisch zu, doch ihr Neffe würde gewiss Mittel und Wege finden, sie von dort zu vertreiben, und sei es nur, indem er ihr das Leben zur Hölle machte. Sie würde sich eine andere Bleibe suchen müssen, und das kam nicht in Frage.

„Denk doch an die Vorteile, die eine Ehe mit Miss Ashcroft für dich hätte“, setzte Clementia daher zu einem neuerlichen Versuch an, während Nicholas das nächste Glasregal mit den Münzen, Armreifen, Ringen und Gürtelschnallen bestückte.

„Und welche Vorteile sollten das sein?“

Nicholas holte zwei Leinensäckchen aus der Ledertasche, die je einen mit Prägemuster verzierten Trinkbecher aus hellem Ton enthielten, von denen einer allerdings zerbrochen war. Er gab einen ungehaltenen Laut von sich und legte die Scherben beiseite.

„Nun, du bist die mit Abstand beste Partie in weitem Umkreis“, erwiderte Clementia, eine Gelegenheit witternd, ihre sorgfältig vorbereiteten Argumente vorzubringen. „Sämtliche unverheirateten Mädchen der Grafschaft werden sich dir bei jeder erdenklichen Gelegenheit an den Hals werfen. Denk nur an die gestrige Soirée bei Lord und Lady Carlisle und die Schar an heiratswütigen jungen Damen, die sich an deine Fersen geheftet hat. Wärst du vergeben, könntest du die kommenden Bälle und Konzerte in Ruhe genießen.“

„Dazu reicht die Verlobung mit jedem beliebigen anderen Mädchen ebenfalls“, tat Nicholas den Einwand seiner Mutter ab. Aus einem weiteren Leinenbeutel kam ein rundlicher, blauweiß gemusterter Glasbecher zum Vorschein, der zusammen mit dem unbeschädigten Tonbecher in das Regal mit den Münzen und Ringen wanderte. „Das ist kein Grund, ausgerechnet Louisa Ashcroft zu heiraten. Unter sämtlichen ledigen jungen Damen der Grafschaft werden sich doch sicherlich auch ein paar hübsche finden lassen, nicht wahr?“

Nicholas griff erneut in die Tasche und begann, aus mehreren Stofflappen große, mit schwarzen und roten Figuren und Mustern bemalte Tonscherben auszuwickeln, die offenbar von größeren Gefäßen zu stammen schienen.

„Ein unansehnliches Ding wie Miss Ashcroft kann im höchsten Maße dankbar dafür sein, eine derart gute Partie gemacht zu haben“, wandte Clementia ein und setzte zu ihrem zweiten und, wie sie fand, noch schlagkräftigeren Argument an. „Sie wird keinerlei Ansprüche an dich stellen und tun, was du von ihr verlangst. Du könntest dein bisheriges freies Leben fortführen und würdest gar nicht merken, dass du verheiratet bist.“ Und sie selbst hoffentlich ebenfalls nicht, setzte Clementia im Stillen hinzu. „Du könntest, wie es für Männer deines Standes üblich ist, eine oder gar mehrere Geliebte haben. Die kleine Ashcroft ist bestimmt so naiv, dass sie deine Liebesaffären nicht einmal bemerken würde, selbst wenn du dir keine allzu große Mühe gäbest, diskret vorzugehen.“ Sie verzog geringschätzig den Mund. „Und sollte sie es wider Erwarten doch bemerken, muss sie die Dinge eben hinnehmen. Immerhin wird sie im Gegenzug schon bald eine Baroness sein. Dagegen würde die Tochter eines Viscounts, Earls oder gar Marquess eine derartige Kränkung ihrer Würde gewiss nicht widerspruchslos dulden.“

„Vermutlich nicht.“ Nicholas legte die Scherben in das unterste Regal des Schaukastens und schloss seine Reisetasche sodann. Offenbar hatte er den gesamten Inhalt nun im Glasschrank untergebracht. Die schier unüberschaubare Menge an Truhen und weiteren Gepäckstücken, die sich nach Nicholas‘ Rückkehr in der Eingangshalle von Lynnville Hall gestapelt hatten, ließ Clementia jedoch vermuten, dass er wesentlich mehr Fundstücke erworben hatte als jene, die sich nun im Glasschrank befanden. Möglicherweise würde er einen Teil davon in der Bibliothek oder im Arbeitszimmer aufstellen, einen weiteren Teil an seine Freunde verschenken.

Nicholas trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk zufrieden. „Was sagst du dazu? Gefällt dir der Schaukasten?“

Anscheinend hatte ihr Sohn beschlossen, nicht weiter über Louisa Ashcroft sprechen zu wollen, und Clementia beließ es fürs Erste dabei. Sie würde bei anderer Gelegenheit darauf zurückkommen. Vorsorglich hatte sie ihren und Mirabels Plan bereits in die Wege geleitet, indem sie eine Dinnergesellschaft für nächsten Samstag angesetzt und eine Einladung nach Four Hills gesandt hatte.

„Der Schaukasten ist sehr hübsch geworden“, stimmte Clementia ihrem Sohn zu. „Unsere Gäste werden ihn gewiss gebührend bewundern. Ich bin allerdings nicht sicher“, sie deutete auf die Bronzestatuetten im obersten Regal, „ob es sich ziemt, nackte Figuren im Salon auszustellen.“

Nicholas lachte. „Das ist doch eine gute Gelegenheit, mögliche Heiratskandidatinnen zu prüfen. Verschämte Mädchen, die beim Anblick einer harmlosen nackten Götterfigur bereits vor Verlegenheit erröten, scheiden aus!“

***

Nicholas stellte die leere Reisetasche auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer ab und legte die Scherben des zerbrochenen Trinkbechers daneben. Selbstverständlich war es viel zu schade um das gute Stück, um es einfach wegzuwerfen, daher hatte er einen der Lakaien angewiesen, ihm Leim und Pinsel zu bringen.

Er setzte sich an den Schreibtisch und blickte nachdenklich auf die Scherben, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Seine Gedanken kreisten um die Worte seiner Mutter. Zwar hatte er ihr vor seiner Abreise versprochen, sich nach seiner Rückkehr eine Braut zu suchen, aber doch nicht innerhalb weniger Wochen! Und schon gar nicht Louisa Ashcroft. Was hatte sich seine Mutter nur dabei gedacht?

Für Louisa war diese Abmachung natürlich eine vorteilhafte Sache. Ein Mädchen ohne Rang und Namen oder nennenswertes Vermögen hätte unter normalen Umständen keinerlei Aussicht auf einen Titelerben.

Das Bild eines Mädchens mit Sommersprossen und wirrem blondem Haar tauchte vor ihm auf. Louisa war eines der wenigen Mädchen gewesen, das man gut ärgern konnte. Sie war nicht einfach in Tränen ausgebrochen und weggelaufen, sondern hatte sich zur Wehr gesetzt, was die Sache wesentlich amüsanter machte. Und war es nicht ausgerechnet Louisa gewesen, die ihm einst an den Kopf geworfen hatte, ihn ganz gewiss nicht heiraten zu wollen? Welch Ironie des Schicksals! Ein spöttisches Lächeln stahl sich in sein Gesicht. Wäre es nicht unterhaltsam, ein wenig mit ihr zu flirten und sie vom Gegenteil zu überzeugen?

Außerdem konnte er auf diese Weise zum Schein auf Mutters Ansinnen eingehen, sodass sie ihm nicht länger damit in den Ohren lag. Und in einem musste er seiner Mutter recht geben: Es würde die anderen jungen Damen davon abhalten, sich ihm auf Schritt und Tritt aufzudrängen, wenn es schien, als habe er seine Wahl bereits getroffen. Dann hatte er wenigstens seine Ruhe vor all den schnatternden Gänsen und deren Anstandsdamen, die ihm ihre Schützlinge vor die Füße schoben.

In diesem Moment klopfte der Lakai an die Tür und brachte die georderten Dinge. Da Nicholas den unangenehmen Geruch des Leims nicht im Arbeitszimmer verbreiten wollte, begab er sich mit Scherben, Leim und Pinsel in den Garten, wo er auf seinen Vater traf, der mit einer Wollmütze auf dem schütteren Haar, einer Decke über den mageren Beinen, einem Schal um den Hals und einem Buch vor sich auf dem Tisch in der Frühlingssonne saß und den Kopf hob, als Nicholas zu ihm trat.

„Leistest du mir etwas Gesellschaft, mein Sohn?“, erkundigte er sich mit der ihm seit vielen Jahren eigenen leisen, heiseren Stimme.

„Gerne.“ Nicholas legte die Tonscherben auf den Tisch, stellte die Dose Leim daneben und setzte sich zu seinem Vater.

„Ein schönes Stück“, bemerkte sein Vater. „Schade, dass es zerbrochen ist. Eine griechische Vase?“

„Ein römischer Trinkbecher“, entgegnete Nicholas, während er die Einzelteile in der Abfolge und Position auflegte, in der sie zusammengefügt werden mussten. Dann öffnete er die Dose und tauchte den Pinsel ein. Der Geruch des Leims ließ ihn unwillkürlich die Nase rümpfen.

„Wie war die Soirée bei den Carlisles gestern Abend?“, fragte sein Vater und beobachtete aufmerksam, wie Nicholas die Bruchstellen zweier Scherben mit etwas Leim bestrich und die Stücke aneinanderpresste.

Nicholas seufzte. „Ach, herrje.“

„So unerträglich?“

„Sagen wir so: Hätten die jungen Damen und ihre Chaperons mich nicht buchstäblich belagert, wäre der Abend wohl ganz angenehm gewesen.“

Sein Vater lächelte schwach. „Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Du bist ein gutaussehender junger Mann, und in absehbarer Zeit wirst du Baron sein. Allerdings hätte ich es gerne noch erlebt, dass du ein nettes Mädchen findest, heiratest und glücklich wirst.“

Nicholas bestrich die Kante der nächsten Scherbe mit Leim und presste sie an die beiden anderen Stücke. „Wenn es nach Mutter ginge, würde ich eher heute als morgen Louisa Ashcroft heiraten.“

Sein Vater hob überrascht die Augenbrauen. „Louisa Ashcroft?” Er schien kurz nachzudenken und fuhr dann fort: „Lady Ashcrofts Älteste, wenn ich mich recht entsinne – die blonde?“

Nicholas nickte und setzte das nächste Bruchstück an den bereits zusammengeleimten Teil des Bechers. „Was hältst du davon?“

Bedächtig wiegte sein Vater den Kopf hin und her. „Es gibt gewiss Schlimmeres.“

Nicholas grinste. „Eine diplomatische Antwort, wenn auch nicht sehr hilfreich.“

„Die wichtigere Frage lautet doch“, sein Vater hob eine zitternde Hand und zeigte mit dem Finger auf Nicholas, „was hältst du davon?“

„Nichts“, erwiderte Nicholas und verzog das Gesicht.

„Nun“, sein Vater hüstelte heiser, „über deine Zukunft musst du selbst entscheiden, mein Sohn. Ich kann dir nur einen wohlmeinenden Rat geben.“

Nicholas griff nach der nächsten Scherbe. „Und der wäre?“

„Heirate das netteste Mädchen, das du finden kannst, nicht das hübscheste, wie ich es getan habe. Wenn beides zutrifft, umso besser. Aber Schönheit allein macht nicht glücklich.“

Nicholas sah seinen Vater forschend an. „Dann war Mutter die falsche Wahl?“

„So kann man das nicht sagen. Immerhin hat sie mir dich geschenkt.“ Er legte seine hagere Hand auf Nicholas‘ Arm. „Aber ich müsste lügen, würde ich unsere Ehe als glücklich bezeichnen. Sie ist bestenfalls passabel. Aber das weißt du selbst.“

Nicholas nickte. Nicht, dass seine Eltern je gestritten hätten, sie hatten lediglich nichts gemeinsam und gingen sich, seitdem er denken konnte, geflissentlich aus dem Weg. Eine Ehe, in der sich die Ehegatten jahrzehntelang nichts zu sagen hatten, als ‚passabel‘ zu bezeichnen, war wohl sehr beschönigend ausgedrückt. Diese gegenseitige Gleichgültigkeit entsprach nicht im Entferntesten dem, was Nicholas sich erwartete, sollte er eines Tages heiraten.

„Eine junge Dame, die eine gute Ehefrau abgibt, muss nicht hübsch sein.“ Sein Vater hob belehrend einen gekrümmten Zeigefinger, zwinkerte ihm dabei jedoch zu. „Sie soll häuslich, fromm, bescheiden und gehorsam sein. Sie soll sticken und nähen können, das Pianoforte spielen, Gäste mit höflicher Konversation unterhalten und ihrem Gemahl zahlreiche Kinder schenken.“

Nicholas rümpfte seine Nase. „Das klingt grauenhaft langweilig.“

„Dann weißt du immerhin, was du nicht willst“, entgegnete sein Vater schmunzelnd. „Das ist doch schon ein Anfang.“

Nicholas grinste. „Du hast recht, Vater. Das ist ein Anfang.“

Er genoss die Gespräche mit seinem Vater – nicht nur, weil er mit diesem einen ähnlichen Sinn für Humor teilte, sondern, weil er mit ihm über alles reden konnte. Nicholas schätzte das enge, freundschaftliche Verhältnis zwischen ihnen, so ungewöhnlich es auch sein mochte, pflegte der Ton doch im Allgemeinen wesentlich distanziertere familiäre Beziehungen.

Möglicherweise lag es daran, dass die Ehe seiner Eltern jahrelang kinderlos blieb und er das sehnlichst gewünschte Kind war, oder daran, dass er als einziges Kind zugleich der Titelerbe war. Möglicherweise aber auch einfach daran, dass sein Vater keinen Wert auf steife Umgangsformen legte. Sein Vater war ein herzlicher Mensch und hatte dem reservierten Gehabe des Ton nie viel abgewinnen können.

Nicholas setzte die letzte Scherbe ein, drehte den zusammengeleimten Becher in alle Richtungen und betrachtete das Resultat kritisch. Natürlich blieben die Bruchlinien sichtbar, doch im hinteren Bereich des Glasschranks würden sie nicht zu sehr auffallen.

„Ich hätte gute Lust“, fuhr Nicholas fort, „Mutters Heiratsplänen einen Strich durch die Rechnung zu machen und mich erneut auf Reisen zu begeben.“

Sein Vater machte ein erstauntes Gesicht. „Du warst doch soeben jahrelang auf dem Kontinent unterwegs. Da musst du doch gewiss schon jeden Winkel Europas kennen?“

„Jeden wohl nicht, wenn auch viele“, erwiderte Nicholas. „Aber ich möchte auch den Alten Orient sehen. Babylonien, Ägypten, Phönizien. Kulturen, in denen einst die menschliche Zivilisation begann.“ Er seufzte sehnsüchtig. „Bonapartes Beschreibung des Alten Ägyptens ist atemberaubend. Ich habe in Paris alle drei Bände erworben, darunter einen herrlichen Tafelband. Angeblich sollen weitere Bände folgen. Und ich kann es kaum erwarten, bis Mr. Richs Buch über die Ruinen von Babylon erscheint. Noch in diesem Jahr, wie man hört! Ich hoffe, es beinhaltet ähnlich gute Tafelbilder wie Napoleons Werk.“

Sein Vater warf ihm einen fragenden Blick zu. „Was hält dich dann von einer neuerlichen Reise ab? An Geld mangelt es dir jedenfalls nicht.“

„Nein, daran liegt es nicht.“ Jener Gedanke, der Nicholas bereits auf seiner letzten Reise beschäftigt hatte, drängte sich ihm erneut auf. „Was, wenn du von uns gehst, während ich fort bin?“

Sein Vater hob abwehrend seine zitternde Hand. „Dann war es Gottes Wille, mein Sohn. Wenn du dir diese Reise wünschst, dann mache sie, denn es wird möglicherweise für lange Zeit deine letzte sein. Wenn ich nicht mehr bin, ist dein Platz hier auf Lynnville Hall, und du wirst an den Parlamentssitzungen in London teilnehmen müssen – eine Aufgabe, die ich bedauerlicherweise nicht mehr erfüllen kann.“ Er wandte seinen hageren Oberkörper mühevoll zu Nicholas und sah ihn ungewohnt eindringlich an. „Verschwende die kostbare Zeit deiner jungen Jahre nicht damit, einem alten Mann beim Sterben zuzusehen, dem du ohnedies nicht helfen kannst.“

„Ich kann dir wenigstens zur Seite stehen“, widersprach Nicholas.

Wer würde seinem Vater Gesellschaft leisten und etwas Zerstreuung bieten, wenn sein Gesundheitszustand es ihm eines Tages nicht mehr erlaubte, sein Bett zu verlassen? Mutter gewiss nicht. Über Wochen oder gar Monate hinweg im Bett liegen zu müssen und nichts anderes tun zu können, als auf das nahende Ende zu warten, musste unfassbar trostlos sein. Nicholas seufzte und verscheuchte die trüben Gedanken. Noch war es zum Glück nicht so weit.

„Außerdem möchte ich vor meiner nächsten Reise meine Aufzeichnungen über die antiken Stätten Italiens und Griechenlands veröffentlichen“, fuhr er fort, „als Reisebericht mit Tafelbildern. Ich habe genügend Fundstücke mitgebracht, die es zu zeigen lohnt.“

„Ich sage es nur ungern, Sohn, aber du kannst nicht besonders gut zeichnen“, neckte sein Vater ihn.