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Eigentlich ist Lena glücklich mit Robert verlobt. Doch kurz vor Weihnachten will er plötzlich mit "Ärzte ohne Grenzen" nach Afrika fliegen. Ausgerechnet jetzt kehrt Lenas erste Liebe Andy nach Hause zurück und Lena ist völlig verwirrt. Andy ist zielstrebig, sexy und weiß, was er will. Und er will Lena.
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Seitenzahl: 28
Kein Kuss zu Weihnachten
Es war der erste Schnee in diesem Jahr, obwohl schon drei Kerzen auf dem Adventskranz brannten, und Lena streifte die neuen Handschuhe über und floh ins Freie. Mein Gott, wie satt sie alles hatte!
Die ewig gleichen Gesänge aus dem Radio, Mamas feuchte Augen, die aus jeder Ecke grinsenden Holzengelchen und die überzuckerten Plätzchen zu Tante Dorothees Fragen nach der Hochzeit. Nicht zu sprechen von Roberts traurigen Augen, die sie überallhin verfolgten. Es war so lästig, dass er pausenlos bei ihr herumhing, seit der Termin für seine Abreise feststand. Ja, sie liebte ihn, aber musste er mehr oder weniger bei ihnen einziehen, nur weil er demnächst für ein halbes Jahr ins Ausland ging? Es war schließlich seine Idee gewesen, sich bei "Ärzte ohne Grenzen" zu bewerben, ohne das mit ihr abzuklären.
"Ich dachte nicht, dass sie mich nehmen!", hatte er erklärt, und dass es eine einmalige Chance sei, die er einfach ergreifen musste. Ob sie auf ihn warten würde? Ja, natürlich, es waren schließlich nur sechs Monate, die würden schnell vorbeigehen. Insgeheim freute Lena sich sogar ein wenig auf seine Abwesenheit. Ihr Beziehung war seit der Verlobung immer enger geworden, bis sie sich kontrolliert und eingeengt fühlte, obwohl er sie nur aus Liebe täglich anrief oder nun eben auch besuchte.
"Komm, Teddy", lockte sie den schlammfarbenen Mischlingswelpen, der ihr hinterher gestolpert war und in der weißen Pracht die Orientierung verloren hatte.
"Es ist ja dein erster Winter, mein Liebling", lachte Lena und hob das feuchte Knäuel auf ihre Arme. "Und jetzt machst du meinen neuen Mantel schmutzig", tadelte sie den Kleinen in gespieltem Ernst. Der Schnee auf den Bäumen hatte das Viertel in eine glitzernde Märchenwelt verwandelt, und das Mädchen folgte seinem Hündchen lachend über den gefrorenen Boden, der bei jedem Schritt knirschte.
So übermütig war sie zuletzt als Kind gewesen, als kleines Mädchen mit geröteten Wangen und dicken Fäustlingen, ängstlich beäugt von Tante Dorothee, die in jeder Pfütze eine Gefahr witterte! Und mit Andy hatte sie gespielt, der mindestens drei Jahre älter war, und den sie gnadenlos bewundert hatte. Er hatte sie aber nur in seinem Garten geduldet, wenn seine Freunde außer Sichtweite waren. Himbeeren hatten sie gepflückt und falsche Margeriten, und im Frühling servierte Tante Lilo ihnen Holunderküchlein mit Streuselzucker unter den blühenden Apfelbäumen. Genauso hatte er ausgesehen, wie er jetzt über die Straße gestapft kam. Der gleiche Gang, der gleiche Blick, sogar die Frisur war wie immer. Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus, bis sie begriff, dass ihr Gegenüber keine vage Erinnerung, sondern eine höchst lebendige Erscheinung war.
"Lena", sagte Andy atemlos und klopfte den Schnee aus seinen Handschuhen.
"Seit wann bist du hier?" fragte sie verlegen und ärgerte sich, dass ihr Stimmchen so rau und dünn aus ihrer Kehle kam.
Wie lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen? Es musste zehn Jahre her sein, seit er mit seiner Mutter fortgezogen war, nach der hässlichen Scheidung, die wochenlang von den Nachbarn diskutiert worden war. Nur Mama hatte so etwas wie ein triumphierendes Glänzen in den Augen gehabt, als Andys Vater Herbert zusammengesunken in ihrem Wintergarten saß und an seinen Selbstvorwürfen beinahe erstickte.
Erst Jahre später hatte Lena es verstanden, nachdem Tante Dorothee ihr heimlich Mamas Tanzstundenfotos gezeigt hatte. Ein anderer, gutaussehender Herbert hielt eine junge, schlanke Mama mit langen Haaren im Arm, die auf jedem Bild in die Kamera strahlte. "Ihre erste Liebe, das war der Herbert" flüsterte die Tante verschwörerisch und lauschte nach den Schritten der Schwester. "Sie ist nie ganz darüber hinweggekommen, dass er die Lilo geheiratet hat. Zumindest nicht, bis sie deinen Vater getroffen hat", setzte sie hastig hinzu, als sie Lenas Stirnrunzeln sah.
Wieso hatten sie ihr das nie erzählt? Mama war immer so freundlich zu Lilo gewesen, und die Familien hatten jahrelang, wenn auch nicht in engem, so doch zweifellos in freundschaftlichem Verhältnis gestanden, außerdem hatte Herberts Firma alle Malerarbeiten für die Müllers erledigt. Andreas war ihr so erwachsen vorgekommen, als er schon mit neun Jahren einen eigenen Hausschlüssel bekommen hatte und auf die Straße gehen durfte, wann er wollte. Lena dagegen war wie unter einer Glasglocke aufgezogen worden, behütet von zwei überängstlichen Frauen, die beide viel zu früh den Ehemann verloren hatten.
Und nun war er wieder da und sah haargenau wie damals aus, sogar das Größenverhältnis zwischen ihnen hatte die Zeit unverändert überdauert.
"Lena", sagte ihr Kinderfreund noch einmal, und dann sahen sich bloß noch in die Augen, während ihre Lippen höflichen Smalltalk von sich gaben.
"Habt ihr schon einen Baum?", fragte er schließlich, und sie vergaß Robert und alles andere und nickte.
"Aber er ist noch nicht geschmückt."
"Möchtest du mal unseren Baum sehen?", fragte Andy. Ihr Herz klopfte, als er nach ihrer Hand griff.
"Moment, ich muss Teddy zurückbringen", fiel ihr ein und sie ließ zögernd seine Hand los.
Er nickte, als wäre vollkommen klar, dass sie nicht nur für die fünf kurzen Minuten zu ihm kam, in denen ihr Hund vor der Tür hätte warten können.