Keltenring - Micha Krämer - E-Book + Hörbuch

Keltenring E-Book und Hörbuch

Krämer Micha

5,0

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Beschreibung

Bei Experimenten im Jahr 2007 an einer keltischen Kultstätte im Jonastal in Thüringen gerät Tom Berger, Schatzsucher und Erbe des gleichnamigen exzentrischen Milliardärs, in ein Energiefeld, bei dem es sich um ein Portal durch die Zeit handelt. Er erwacht im Jahr 1944 in einer Gefängniszelle der Nationalsozialisten. Doch wie kommt er wieder zurück in die Gegenwart? Zwar experimentieren die Nazis ebenfalls mit Zeitreisen. Sein Gewissen verbietet ihm jedoch einen Pakt mit dem NS-Regime. Aber hat Tom überhaupt eine andere Möglichkeit, um wieder durch das Portal zu gehen? Im Haus von Obersturmbannführer Maurer verliebt sich Tom in die hübsche Jüdin Anna, eine Liebe, die seine Lage nicht gerade vereinfacht. Als dann auch noch Himmler auftaucht und den „Mann aus der Zukunft“ mit nach Berlin nehmen will, überschlagen sich die Ereignisse. Ein spannungsgeladener Roman über Liebe, Hass und Verzweiflung, in dem zwei grundverschiedene Weltanschauungen aufeinanderprallen.

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Seitenzahl: 351

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Zeit:8 Std. 10 min

Sprecher:Micha Krämer
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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8441-2

Micha KrämerKeltenring

Prolog

22. Dezember 1944Bei Arnstadt / Thüringen

Dumpfe Stimmen drangen an sein Ohr. Wo war er? Sämtliche Glieder seines Körpers schmerzten. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren.

Nach mehreren Versuchen gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Doch nachdem er sich an das helle Licht gewöhnt hatte, überkam ihn eine noch größere Unruhe.

Was war passiert? In seinem Gedächtnis klaffte ein riesiges Loch. Er lag auf einer Pritsche aus Holz mit einer groben Stoffbespannung, an der seine Hände mit Gurten befestigt waren. Vorsichtig und trotz der brennenden Schmerzen hob er den Kopf und blickte an sich hinunter. Wie es schien, war er mit einer gestreiften Sträflingsmontur bekleidet. Sein Blick wanderte über die weiß verputzten Wände des Raumes, die so kahl und eisigkalt wirkten wie seine nackten Füße.

Von der weiß gekalkten Decke baumelte eine einfache Glühbirne in einer Fassung an zwei Drähten herab und verbreitete ein schwaches Licht. Der Boden bestand aus alten, abgenutzten Dielenbrettern. Außer der Pritsche, auf der er lag, befand sich nichts in dem Raum.

Er drehte den Kopf und sah zur gegenüberliegenden Wand, wo sich eine einzige, mit schweren eisernen Scharnieren beschlagene Holztür befand.

Die dumpfen Stimmen wurden lauter.

Vor der Tür hörte er nun schwere Schritte, die in diesem Moment innehielten. Dann das Knacken eines Schlosses. Die Tür wurde aufgerissen und drei Männer traten nacheinander ein.

Der Erste, ein großer, schlanker Blonder in einer mausgrauen Uniform, hielt eine Maschinenpistole im Anschlag. Auf der Seite seines Stahlhelms prangten Runen. Er erkannte die beiden markanten Buchstaben der SS.

Nach einem schnellen Blick durch den Raum trat der Soldat zur Seite und ließ die anderen an ihm vorbei.

„Guten Morgen, der Herr“, sagte der Zweite in einem heroischen Ton mit funkelnden Augen und einem falschen, süßen Lächeln auf dem Gesicht.

Auch er trug eine Uniform, aber im Gegensatz zu dem anderen war deren Farbe tiefschwarz. Unter seinem aufgeknöpften Ledermantel konnte man deutlich den Schaft einer Pistole des Typs Walther erkennen. Den Kragen seiner Uniformjacke sowie die Schirmmütze auf seinem Kopf zierte ein Totenkopf.

„Können Sie mich verstehen?“, fragte er in ruhigem, aber befehlsgewohntem Ton.

„Wie heißen Sie?“, fragte der Uniformierte weiter, ohne die Antwort auf seine erste Frage abzuwarten.

„Verstehen Sie mich?“

Er merkte, wie er nickte, natürlich verstand er den Mann.

„Dann sagen Sie mir Ihren Namen“, zischte der Totenkopfmann nun etwas gereizt.

Angst stieg in ihm auf. Er wusste nicht, wie er hieß. Wer war er überhaupt? Die Panik in seinem Inneren wuchs mit jeder Sekunde. Nichts wusste er. Sein Hirn schien vollkommen leer.

„Reden Sie, Mann, wie ist Ihr Name?“, brüllte der Totenkopf nun ungehalten.

„Ich weiß es nicht“, kam es gequält über seine Lippen.

„Herr Obersturmbannführer“, räusperte sich der Dritte, ein eher kleiner, untersetzter Mann um die Vierzig. Er trug keine Uniform, sondern einen viel zu engen Anzug unter einem offenen weißen Kittel.

„Was gibt es, Doktor?“, fauchte ihn der Totenkopf an, ohne seinen Blick von dem Liegenden abzuwenden.

„Vielleicht sollten wir die Sache eher wissenschaftlich angehen“, kam es von dem Kittelträger.

„Wissenschaftlich? Ich habe von Ihrer Wissenschaft langsam genug“, zischte der Totenkopf. „Ich muss wissen, wer der Kerl ist und woher er kommt und vor allen Dingen will ich wissen, was das hier ist.“

Ein Griff in seine Manteltasche beförderte einen kleinen, schwarzen Gegenstand zutage.

Der Mann mit dem Kittel versuchte erneut seine Bedenken zu äußern.

„Herr Obersturmbannführer, vielleicht hat er wirklich einen Teil seines Gedächtnisses verloren“, sagte er fast ängstlich.

„Doktor, Ihr ewiges ‚Vielleicht’ kotzt mich an. Ich verlange Antworten und kein Vielleicht. Oder wollen Sie Himmler und dem Führer etwa nur ein ‚Vielleicht’ und ‚Ich weiß nicht’ vorstammeln?“ Der Totenkopf ging neben der Liege in die Hocke.

„Was ist das?“, hörte er ihn nun dicht an seinem Ohr flüstern.

In der Hand, die er ihm vor das Gesicht hielt, befand sich ein Gegenstand. Obwohl ihm gerade nicht einfiel, wie es hieß, wusste er genau, was das schwarze Ding aus Kunststoff mit den silbernen Kanten war.

Über mehreren nummerierten, leuchtenden Tasten stand in Druckbuchstaben in einem Display: KEIN NETZ!

Kapitel 1

8. Mai 2007Ca. 2 Seemeilen westlich von Fedje / Norwegen60° 46 N – 04° 35 O

Tom betrachtete aufmerksam das Sonar auf der Brücke der ‚Lisa Marie‘. Das etwas in die Jahre gekommene Schiff der ‚Berger Fish and More Ltd.‘ wirkte auf den ersten Blick wie ein alter ausgedienter Hecktrawler, wie sie von Dutzenden Aussteigern und Weltenbummlern nach Außerdienststellung zur privaten Nutzung umgebaut wurden.

Doch dieser erste Blick täuschte. Unter der maroden und eher trostlosen Fassade verbarg sich modernste Technik, die es mit jedem anderen Forschungsschiff auf den Ozeanen aufnehmen konnte.

Langsam lief das monotone Bild des Meeresbodens über den Monitor des Sonars, welches nur gelegentlich von einigen kleinen Störungen unterbrochen wurde, die aber wohl mit dem starken Seegang zusammenhingen.

Er nippte ungeduldig an seinem Kaffee. Eigentlich müssten sie jeden Moment an ihrem Ziel sein. Es war jedes Mal das gleiche Gefühl, wenn er an eine neue Bergungsstelle fuhr. Sein Herz klopfte heftig und pumpte Unmengen Adrenalin in jeden Muskel. Tom brauchte die Schatzsuche zum Leben wie andere Menschen Brot und Wasser.

Langsam tauchten auf dem Monitor zwei Schatten auf. Wie kleine Berge hoben sie sich vom ansonsten flachen Grund des Hieltefjords ab. Ein Grinsen lief über sein gebräuntes Gesicht. Ein Blick auf das GPS. Die Koordinaten stimmten genau mit den Angaben, die er erhalten hatte, überein.

Er strich sich eine Strähne seines schulterlangen, blonden Haares aus dem Gesicht und wandte sich dem zweiten Mann in der geräumigen Kabine zu.

„Kurt, stoppen Sie die Maschinen, wir sind angekommen!“

Kurt Svenson, ein gut zwei Meter großes, blondes Kraftpaket Anfang Fünfzig und stolzer Kapitän der ‚Lisa Marie‘, zog die Gashebel der beiden großen Dieselturbinen in die Nullstellung.

Sie befanden sich genau über der Stelle, an der am 9. Februar 1945 das deutsche U-Boot U-864 von einem Torpedo des britischen U-Boots Venturer versenkt worden war. Der Treffer ging in die Geschichte ein. Die U-864 war das einzige getauchte U-Boot des Zweiten Weltkrieges, das von einem ebenfalls getauchten anderen U-Boot versenkt wurde. Entweder hatten die Briten viel Glück gehabt oder der Kommandant der Venturer hatte sein Handwerk wirklich verstanden.

Der Torpedo traf das Boot so unglücklich unterhalb des Turms, dass es in zwei Teile gerissen wurde und für die 73 Männer an Bord keine Chance mehr bestand, dem eisigen, nassen Grab zu entrinnen. Um das gesunkene Boot rankten sich viele Mythen, von denen aber die meisten als übelstes Seemannsgarn abgelegt werden konnten.

Bekannt war, dass U-864 im Januar 1945 Danzig verlassen und sich auf dem Weg über Kiel und Bergen nach Japan befunden hatte. Die Deutschen hatten gehofft, mit ihren geheimen Rüstungsgütern den Krieg im Pazifik beeinflussen zu können und Japan im Kampf gegen die Alliierten zu unterstützen.

Die Fracht war so geheim, dass bis dato niemand genau sagen konnte, was denn nun in Danzig oder auf geheimen Zwischenstopps bis Bergen an Bord gekommen war. Man munkelte von Plänen für die Wunderwaffen, wie für die Düsenjäger Me 163, Me 262 und V2/V4 Raketen. Ja, selbst Material für atomare Waffen sollte an Bord gewesen sein.

Das Wrack war erst vor einigen Jahren entdeckt, aber immer noch nicht komplett untersucht worden. Was man mittlerweile mit Sicherheit sagen konnte war, dass sich neben Unmengen scharfer Munition auch mindestens eine Tonne hochgiftigen Quecksilbers an Bord befand. Über die wertvollste Fracht jedoch wusste fast niemand etwas. Selbst die Mannschaft und der Kapitän des Bootes hatten keine Ahnung gehabt, was sie da mit sich in die Tiefe des Meeres genommen hatten.

Da im Umkreis des Wracks in den letzten Jahren bereits Fische mit sehr hohen Quecksilberwerten gefangen worden waren, gab es Überlegungen der norwegischen Regierung, das Fischen in den Gewässern um die Fundstelle zu verbieten. Die giftige Zeitbombe tickte. Würden die Behälter mit den Chemikalien bersten, wäre die Folge eine ökologische Katastrophe und deren Ausmaß für das empfindliche Ökosystem der Nordsee nicht absehbar.

Da es nicht möglich war, das zerbrochene Wrack zu heben und die vielen Behälter mit Gift zu bergen, plante man, das Boot mit einem riesigen Sarkophag aus Beton, ähnlich dem Katastrophenreaktor in Tschernobyl, zu überziehen um es für ewig zu verschließen.

Toms Großvater, ein Mann mit mächtigen Beziehungen weltweit, hatte es geschafft, sich in die Planung des Sarkophags mit einer seiner Firmen einzukaufen. Die Crew der ‚Lisa Marie‘ war beauftragt worden, unauffällig die Fundstelle zu vermessen und die Lage des Wracks noch einmal genau zu bestimmen. Zumindest sagten das die Papiere und Genehmigungen aus, die sie im Zweifelsfall der Küstenwache oder den in dieser Gegend öfter anzutreffenden Marineschiffen aushändigen würden.

Nur wenige Begleiter der Unternehmung wussten, dass der Grund ihrer Reise ein anderer war.

Tom schwang sich von seinem Hocker und ging zur Tür des Steuerhauses. Er hastete die Treppe hinunter und ging raschen Schrittes durch den engen Gang in Richtung Tauchraum.

Der Raum im Unterdeck war das wahre Herz der ‚Lisa Marie‘. In ihm befand sich neben einem Mini-U-Boot, einer Tauchglocke und dem Kommandoraum auch eine Dekompressionskammer, die von den Tauchern nach Freitauchgängen in großer Tiefe benutzt wurde. In dieser luftdichten Druckkammer zur kontrollierten Steigerung und Absenkung des Luftdrucks verbrachten die Taucher nicht selten mehrere Tage nach den Tauchgängen. Ohne sie wäre die Anpassung an den atmosphärischen Luftdruck, um Dekompressionsunfällen vorzubeugen, nicht möglich.

Neben der Tauchglocke, die direkt an die Dekompressionskammer angedockt war, standen Olaf und Jan Jensen und bugsierten zahlreiche Pressluftflaschen in das Innere der Glocke. Die beiden Brüder aus Norddeutschland hatten Tom in den letzten fünf Jahren bei zahlreichen archäologischen Tauchfahrten auf dem gesamten Globus begleitet.

Olaf, der Ältere der beiden, war wie Tom sechsundzwanzig Jahre alt. Sie hatten beide zur gleichen Zeit ihr Studium in Cambridge aufgenommen und es auch beide gemeinsam nach zwei Jahren wieder geschmissen, um für eine Bergungsfirma, die Toms Großvater gehörte, um die Welt zu schippern.

Zuerst waren sie nur in den Semesterferien zur See gefahren, um nach versunkenen Schätzen zu tauchen. Doch schnell war das Schatztauchen zu einer Sucht geworden. Die Eltern von Olaf waren entsetzt gewesen, als ihr Sohn das Studium abbrach.

Und als Jan seinem Bruder und Tom folgte, war es mit dem Familienfrieden völlig vorbei.

Es hatte die beiden keine große Mühe gekostet, den immer fröhlichen Jan buchstäblich ‚mit ins Boot’ zu holen. Auch er tauchte aus Leidenschaft und zog, genau wie sein Bruder, das Vagabundenleben einem Hochschulabschluss vor.

„Wir sind da“, sagte Tom kurz.

Die beiden nickten.

Tom entledigte sich seiner Jeans und warf sie, genau wie sein T-Shirt und die Turnschuhe, auf eine Pritsche in der Ecke des Raumes. Olaf tat es ihm gleich. Schweigend zogen sie die Isolierkleidung an und schlüpften in die Trockentauchanzüge.

Tom kontrollierte nochmals die Elektronik und Mechanik der Taucherglocke. Dann folgte er dem Freund, der es sich bereits innen auf einer Bank bequem machte.

Jan würde gemeinsam mit dem Rest der Crew an Bord bleiben und ihren Tauchgang vom Kontrollraum aus verfolgen. Sollte es zu Komplikationen kommen, war es immer besser, ein erfahrener Taucher war zur Stelle, um den anderen zu Hilfe zu eilen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Hilfe rechtzeitig kam, betrug bei einer Tauchtiefe von rund einhundertvierzig Metern jedoch annähernd eins zu eintausend. Trotzdem beruhigte es und gab ein - wenn auch nur trügerisches - Gefühl von Sicherheit.

Als sich die Tür der Glocke schloss, wurde es schlagartig still. Die Kapsel besaß keine Fenster, man konnte also nur vermuten, was draußen vor sich ging.

Tom spürte, wie langsam der Druck auf seinen Ohren zunahm. Er hielt die Nase zu und presste Luft in seine Gehörgänge, bis der leichte Schmerz nachließ.

Nur zu gut wusste er, was nun passierte: Der Rumpf der ‚Lisa Marie‘ würde sich öffnen, das große Stahltor im Boden des Schiffes langsam zur Seite gleiten und die Tauchglocke sich an einem armdicken Kabel ins Wasser senken.

Während sich der Druck in der Glocke weiter erhöhte, sanken sie immer weiter in die Dunkelheit der See.

Routiniert zogen sie beide ihre Atemflaschen auf den Rücken und hielten sich immer wieder die Nase zu, um den ansteigenden Druck in ihren Ohren auszugleichen. In einhundertvierzig Meter Tiefe würde der Luftdruck in ihrer Glocke exakt vierzehn Bar betragen. Wäre der Druck im Inneren niedriger als außen, würde sich die Kammer beim Öffnen der Bodenluke sofort mit Wasser füllen.

Neben der Luke befanden sich der Tiefenmesser sowie zwei Leuchtanzeigen. Die eine der beiden leuchtete rot und signalisierte ihnen damit, dass Innen- und Außendruck noch nicht übereinstimmten.

Tom schaute auf das Messgerät. Es verharrte bei 135 Metern. Dann klackte der Sicherheitsverschluss an der Bodenluke, die rote Anzeige erlosch und die grüne leuchtete auf. Sie stülpten ihre Tauchmasken mit dem Sprechfunk und den seitlich angebrachten Scheinwerfern über und verriegelten sie. Wie immer überprüfte jeder der beiden die des anderen noch einmal.

„Tom?“, quakte Olafs Stimme über Funk.

„Ja?“

Tom schaute den Freund an.

„Denkst du, dass wir wirklich finden, wonach dein alter Herr sucht?“

„Wenn ich das nicht täte, wären wir nicht hier. Großvater war sich seiner Sache sehr sicher und bisher hat er immer den richtigen Riecher gehabt“, antwortete Tom.

„Ja, aber das waren völlig andere Unternehmungen“, flüsterte Olaf. „Das ist hier keine spanische Galeone oder ein Ostindiensegler. Tom, das ist ein U-Boot aus dem zweiten Weltkrieg, randvoll mit Munition und Gift.“

„Hast du etwa Schiss?“

„Nein, und das weißt du auch.“

„Was ist es dann?“

Tom schaute zu Olaf, der immer noch nachdenklich wirkte.

„Ich weiß auch nicht. Ist mehr so ein beschissenes Bauchgefühl.“

„Du hättest gestern weniger saufen sollen, dann ginge es den Gefühlen in deinem Bauch auch besser“, lästerte Tom.

„Idiot“, knurrte Olaf und richtete sich auf. „Komm, lass uns die verfluchten Dinger suchen.“

Er bückte sich, öffnete die Luke, schaltete die Beleuchtung der Maske ein und glitt ohne weitere Worte in das tiefschwarze Wasser hinab.

Die Glocke hing genau über der vorderen Bruchstelle von U-864. An dieser Stelle musste sich einmal der Turm des Bootes befunden haben.

Die Sicht war für die ansonsten so rauen Verhältnisse der Nordsee außerordentlich gut. Auch von Strömungen war im Moment nichts zu bemerken.

Schwerelos glitten die beiden Männer durch die Finsternis, während sich die Kegel ihrer Scheinwerfer über den langen, schwarzen Rumpf bewegten. Es sah aus, als sei das riesige Boot erst gestern gesunken. Die Sedimentschichten auf der glatten, schwarzgrau schimmernden Oberfläche waren hauchdünn.

„Hat sich gut gehalten, die alte Lady“, tönte Olafs Stimme durch das eingebaute Funkgerät in Toms Maske.

„Ja, wenn man von dem fehlenden Stück und dem großen Loch mal absieht“, schepperte es zurück.

Langsam ließen sie sich vor die Bruchstelle sinken. Die Wände des Bootes sahen hier aus wie zerrissene und zerdrückte Pappe. Kabel und verbogene Rohre wuchsen ihnen aus dem Inneren des toten Behälters wie Gedärme entgegen.

Noch vor einer Woche waren Tom und die beiden Brüder in den Vereinigten Staaten gewesen, um sich ein baugleiches Unterseeboot in Chicago anzuschauen. Das dort liegende Boot U-505 war das einzige erhaltene des Typs IX und nach Kriegsende den Amerikanern in die Hände gefallen.

Die Boote dieser Baureihe waren eher die Lastesel der Nazi-Marine und deshalb wesentlich größer als die Jagd-U-Boote gewesen, die man aus diversen Kriegsfilmen kannte. Ihre Einsatzorte waren damals hauptsächlich der Indische und Pazifische Ozean.

Tom tauchte langsam in die dunkle Hülle hinein. Olaf folgte ihm mit gut zwei Metern Abstand. Die Scheinwerfer streiften über unzählige Armaturen, Rohre und Hebel an den Wänden und unter der Decke. Am Ende des Raums befand sich eine offene Schottluke.

Langsam zog Tom die Tauchflasche von seinen Schultern und reichte sie Olaf. Sie hatten diesen Vorgang zigmal vorher geprobt. Schon bei der Besichtigung des Schwesterbootes in Chicago war klar geworden, dass ein Taucher mit Pressluftflaschen unmöglich durch die engen Öffnungen in den Schottwänden passen würde.

Nachdem Tom die Luke passiert hatte, reichte Olaf ihm sein Gerät. Tom zog es ruhig wieder auf seinen Rücken und nahm Olafs Flaschen entgegen, hielt sie in seinen Armen und wartete, bis dieser ebenfalls das Schott durchschwommen hatte. Sie befanden sich nun im Funkraum. Auch hier waren die Wände mit technischen Geräten und Rohren bedeckt.

Am Ende des langen Raumes befand sich ein weiteres Schott, das sie auf die gleiche Weise wie zuvor überwinden mussten. Dann folgte ein schmaler Gang, in dem sich rechts und links Türen zu kleinen Kabinen befanden.

Tom stieß die erste Tür zu seiner Rechten auf und tauchte in den engen Raum. Der Kegel seiner Lampe leuchtete über ein doppelstöckiges Bett oder das, was davon übrig war. Die Matratzen waren genau wie alles andere organische Material zur Gänze verschwunden. Nichts deutete mehr darauf hin, dass sie jemals existiert hatten. Lediglich das Gestell des Bettes und Fragmente der Gitterroste schienen dem salzigen Wasser widerstanden zu haben.

Der Boden der Kammer war mit undefinierbarem Unrat und Schlick bedeckt.

An der Wand gegenüber des Bettes standen die Reste eines Schrankes oder Spindes, in dem einst die meist hochrangigen Passagiere der Kabine ihre Habseligkeiten verstauten, während die einfachen Mannschaften auf engen Liegen zwischen den Armaturen und Rohren schliefen. Nicht selten teilten sich mehrere Männer eine Koje. Während der eine Dienst hatte, schlief der andere. Das Leben der U-Boot-Männer musste unvorstellbar hart gewesen sein.

Tom zog das Messer aus der Scheide an seiner Wade, steckte die Klinge in den Spalt des Schrankes und stemmte die rostige Tür ohne größere Probleme auf. Während er das Messer wieder zurücksteckte, beugte sich Olaf, der ihm in die Kammer gefolgt war, über die Überreste des Schrankinhaltes. Vorsichtig wühlte er im Schlick des Schrankbodens, bis er auf einen eckigen, etwa schuhkartongroßen Kasten stieß.

„Tom, ich glaube, wir haben es!“, tönte es aus dem Funkgerät.

Tom musste seine Augen anstrengen, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Der aufgewühlte Schlick hatte die Sicht in dem kleinen Raum so verschlechtert, dass man das Leuchten der Scheinwerfer nur noch als Glimmen wahrnahm.

„Olaf, bist du sicher, dass es das Richtige ist?“

„Denke schon, ist doch alles so, wie der Alte es vorausgesagt hat“, kam es zurück.

„Dann lass uns verschwinden.“

Tom tastete sich Richtung Tür. Als er den Raum verlassen hatte, besserte sich auch sogleich wieder die Sicht. Er drehte sich um und sah hinter sich Olaf mit dem Kasten in den Händen die Kabine verlassen.

Am ersten Schott nahmen sie, wie gehabt, die Flaschen von ihrem Rücken. Tom tauchte als erster. Olaf reichte ihm die Ausrüstung und ihren Fund.

Tom betrachtete das Kästchen kurz. Das Teil war schwerer, als man auf den ersten Blick meinen sollte. Es bestand wohl aus Metall. In den Deckel war ein Adler mit Hakenkreuz eingraviert.

Als sie am zweiten Schott ihre einstudierte Prozedur wiederholten, geschah es.

Der Kasten glitt durch Toms Hände, schlug auf den Boden und der Deckel klappte zur Seite. Tom starrte auf den Inhalt, der aus drei etwa fünfzehn Zentimeter langen und fünf Zentimeter dicken Kristallen bestand, die in genau auf ihre Form zugeschnittenen Fächern ruhten. Die Kristalle schienen wie von selbst zu leuchten, jeder in einer anderen strahlenden Farbe. Der eine rot, der zweite türkis und der dritte in einem tiefen Blau. Wie Sterne warfen sie ihr Licht an die rostigen Wände: Reflexionen, hervorgerufen vom Licht der Scheinwerfer.

Tom beugte sich vor, um den Kasten samt Inhalt wieder aufzuheben.

Olaf griff den roten Kristall, der bei dem Sturz aus seinem Fach gerollt war und nun vor ihm auf dem Boden lag. Aber anstatt ihn zu den anderen in den Kasten zu legen, nahm er ihn auf und hielt ihn vor seine Maske.

„Nun mach schon!“, kam es über Funk. „Du kannst ihn dir nachher noch genau ansehen.“

Aber von Olaf kam keinerlei Regung. Wie gebannt starrte er auf den Kristall in seinen Händen. Tom konnte das rote Leuchten des Kristalls in den unbeweglichen und weit geöffneten Augen des Freundes erkennen.

„Olaf, was ist los? Olaf!“, rief Tom nochmal.

Er packte ihn und rüttelte ihn an den Schultern. Keine Regung. Mit einem Ruck riss er ihm den Kristall aus den Händen. Augenblicklich erwachte Olaf aus seiner Erstarrung und schaute sich desorientiert um.

„Olaf, was ist los?“

„Geht wieder“, kam es gedämpft zurück.

Schweigend tauchten sie zurück zur Glocke.

Als sie sich im Inneren der Glocke von ihren Masken und der Ausrüstung befreit hatten, sah Tom auf den gegenüber kauernden Olaf. Das Gesicht des sonst so lustigen und lebensfrohen Freundes war kreidebleich, seine Lippen zitterten, der Blick war zum Boden gerichtet.

„Mann, was war los mit dir?“

Olaf sah in Richtung des kleinen Kastens, der zwischen ihnen auf dem Boden stand.

„Die Dinger sind verhext. Als ich den Kristall ansah, ist was Merkwürdiges passiert.“

„Was ist passiert?“

Der Freund schüttelte den Kopf.

„Keine Ahnung, weiß auch nicht. Für einen Moment habe ich geglaubt, etwas zu sehen.“

Tom schaute auf.

„Was hast du gesehen?“

Olaf überlegte kurz und deutete dann auf die Atemluftflaschen, die vor ihnen auf dem Boden lagen.

„Ach nichts, muss an dem Gasgemisch liegen. Ich fang schon an Geister zu sehen.“

Tom musste grinsen.

„Tiefenkoller! Was gab’s denn? Kleine grüne Männer oder Meerjungfrauen?“

Todernst blickte Olaf ihn an und bewegte den Kopf langsam hin und her.

„U-Boot-Fahrer, sterbende Seeleute, die haben mich angestarrt und geschrien und wollten nach mir greifen. Ich war mittendrin, als das Boot sank.“

Obwohl Tom an solche Gruselmärchen nicht glaubte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

„Junge, du spinnst!“

Olaf hob den Kopf und schaute jetzt etwas ruhiger in Toms Augen.

„Tom, ich weiß, was ich gesehen habe, und es war verdammt real.“

Während des Auftauchens und auch beim anschließenden Aufenthalt in der Dekompressionskammer sprachen sie kein Wort mehr. Der Kasten mit den Kristallen blieb unberührt.

Als sie am Abend in der kleinen Kombüse der ‚Lisa Marie‘ zusammen aßen, schien sich Olafs Stimmung wieder gebessert zu haben. Jan drehte die Kristalle in seinen Händen und betrachtete jeden einzelnen von allen Seiten.

„Und wegen dieser Dinger der ganze Aufwand!“, spottete er. „Sehen aus wie aus einem dieser kitschigen Souvenirläden auf Bali.“

Tom nahm einen der Kristalle und betrachtete ihn ebenfalls. Hier bei Licht schien das Leuchten aus dem Stein gewichen zu sein. Auch die Farben waren bei weitem nicht mehr so intensiv wie noch vor einigen Stunden in einhundertvierzig Metern Tiefe.

„Fehlt da nicht einer?“

Jan sah in den Kasten, in dem Platz für vier dieser Steine war.

Tom schüttelte den Kopf.

„Nein, der Alte hat gesagt, es wären drei. Keine Ahnung, wofür das vierte Fach sein soll.“

„Was denkst du, was das für ein Material ist?“

Jan hielt seinem Bruder einen Kristall hin. Der wich abrupt zurück.

„Keine Ahnung, interessiert mich auch nicht. Wir sollten die Teile hochholen, der Rest ist mir egal. Soll der Alte mit seinen Steinchen glücklich werden.“

„Was ist denn mit dir los, Bruderherz“, frotzelte Jan.

Olaf schluckte den Bissen in seinem Mund runter und sah die beiden eindringlich an.

„Dieser ganze Nazischeiß geht mir auf den Sack. Ich denke, wir sollten die Steine bei Berger abliefern und uns wieder in die Karibik verziehen, um nach richtigen Schätzen zu suchen. Außerdem ist es da wesentlich wärmer.“

Kapitel 2

11. Mai 2007, 14:34 UhrErfurt / Deutschland

Mit einem leichten Holpern setzte die zweistrahlige Cessna der ‚BAI‘ auf der Betonpiste des Flughafens Erfurt auf. BAI, ‚Berger Archäologie International‘ war eine der vielen Firmen von Toms Großvater. Die Firma beschäftigte weltweit etwa 100 Mitarbeiter, die sich mit Ausgrabungen und archäologischen Studien rund um den Globus beschäftigten.

Bei den Unternehmungen stand im Gegensatz zu anderen Firmen der Branche aber nicht nur der Kommerz im Vordergrund. BAI unterhielt Kontakte zu vielen Universitäten und Museen in aller Welt. Die Förderung der Wissenschaft war dem alten Berger äußerst wichtig.

Als die Cessna vor einem der Privathangars am Ende des Rollfeldes zum Stillstand kam, löste Tom den Sicherheitsgurt und schwang sich aus seinem Pilotensitz. Er griff die Reisetasche, die er vor Flugbeginn auf einen der leeren Passagiersitze im Heck des Flugzeugs geworfen hatte, und verließ über die heruntergelassene Treppe die Maschine.

Eigentlich hätten Olaf und Jan ihn begleiten sollen. Aber Olaf hatte darauf bestanden, die nächste Maschine in Richtung Karibik zu besteigen und Jan war seinem Bruder wie so oft gefolgt. Tom hatte deshalb beschlossen, die Kristalle allein zu seinem Großvater zu bringen. Auf den Kurzurlaub bei den Großeltern freute er sich schon seit Tagen. Er würde den beiden anschließend immer noch in die Karibik folgen können.

Schnellen Schrittes ging er durch das geöffnete Hangartor. In der hellen, großen Halle schraubten zwei Mechaniker an einem von Großvaters Spielzeugen, einer amerikanischen P 51 Mustang. Einem original Jagdflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Fliegerei war, wie die Archäologie, ein weiteres kostspieliges Hobby des älteren Herrn.

Neben der P 51 standen eine Messerschmitt Bf 108 und eine Submarine Spitfire, bei denen es sich ebenfalls um ‚Originalrelikte‘ aus dem Krieg handelte. Allesamt flugfähig und im Topzustand. Die Messerschmitt war die Maschine gewesen, mit der Tom vor Jahren an der Seite seines Großvaters das Fliegen gelernt und die ihn mit dem ‚Virus Flugzeug‘ infiziert hatte. Genau wie bei seinem Großvater war die Fliegerei auch seine zweite große Leidenschaft nach dem Schatztauchen.

Er ging an den abgestellten Flugzeugen entlang zur Rückseite des Hangars. Dort zog er mit einem Ruck die Plane von seinem Porsche 911 Cabriolet, öffnete die Tür, warf seine Tasche auf den Beifahrersitz und glitt elegant in die schwarzen Ledersitze. Wie gewöhnlich steckte der Schlüssel. Tom drehte ihn und sofort heulte der Boxermotor im Heck auf. Ohne Verzögerung betätigte er die Kupplung, legte den ersten Gang ein und trat das Gaspedal voll durch. Der Porsche beschleunigte und raste durch das offene Tor nach draußen.

Er war bereits seit einigen Minuten auf der Autobahn Richtung Süden unterwegs, als er erstmals im Rückspiegel die schwarze Mercedes S Klasse bemerkte. Der Wagen fuhr im Abstand von etwa 100 Metern konstant hinter ihm. Zog Tom seinen Porsche zum Überholen nach links, folgte der Mercedes ebenfalls. Tom beschleunigte den Porsche auf 240 Stundenkilometer, worauf er im Rückspiegel beobachten konnte, wie der Mercedes zurückfiel und zwischen zwei Autos einfädelte. „Mann, Tom, du siehst auch schon Gespenster“, sagte er laut zu sich selbst und musste bei dem Gedanken an den bei seiner Abreise noch immer verstört wirkenden Olaf grinsen. Der Gute nahm sich vieles einfach zu sehr zu Herzen.

Nach nicht einmal zwei Minuten war von dem Mercedes im Rückspiegel nichts mehr zu sehen. Dafür meldete sich jetzt sein Magen. Die letzte Mahlzeit war vor fast zehn Stunden das Frühstück in Bergen gewesen. Rechts vor ihm tauchte in einiger Entfernung das große, gelbe M eines amerikanischen Fast-Food-Restaurants auf.

Er setzte den Blinker nach rechts, bog von der Autobahn und folgte den Hinweisschildern. Nach anfänglichen Überlegungen, den Drive-In-Schalter zu nehmen, entschied er sich jedoch, bei der Gelegenheit die sanitären Anlagen des Restaurants zu benutzen.

Im Anschluss bestellte er zwei Burger und eine Coke zum Mitnehmen. Die junge hübsche Bedienung packte die Burger in eine Tüte und lächelte ihn freundlich an. Er bezahlte und verließ mit einem gut gelaunten „Auf Wiedersehen“ das Restaurant.

Die gute Stimmung sollte nicht von langer Dauer sein. Kurz vor seinem Porsche hielt er inne, da ihm im hinteren Teil des Parkplatzes ein parkender Wagen auffiel. Der schwarze Mercedes. Das konnte auch Zufall sein. Oder?

Er stieg in seinen Porsche, startete den Motor und fuhr langsam über den Parkplatz. Als er auf gleicher Höhe mit dem Daimler war, schwenkte sein Blick langsam zur Seite. Auf den vorderen Sitzen des Wagens saßen zwei kahlköpfige Typen und starrten ihn an. Der eine sackte leicht in seinen Sitz, als wollte er darin verschwinden. Also doch! Das Verhalten der beiden erinnerte ihn an das eines Kindes, das von seiner Mutter beim heimlichen Griff in die Keksdose ertappt wurde. Tom grüßte die beiden mit einem Kopfnicken. Schlagartig verdüsterten sich die Gesichter der beiden. Dann trat er das Gas durch. Der Porsche schleuderte mit qualmenden Reifen aus der Parkplatzauffahrt und schoss Richtung Autobahn.

Beim Blick in den Rückspiegel sah er den Mercedes, der gerade auf die Fahrbahn schlingerte. Keine Ahnung, was die Glatzen von ihm wollten, aber gegen seinen 911er würden sie noch blasser aussehen, als sie es bisher bereits taten. Er war noch nie verfolgt worden und fand diese neue Erfahrung fast ein wenig belustigend.

Kurz vor der Autobahnauffahrt erschien es ihm mit einem Mal ratsamer, den Rest der Strecke bis zum Jonastal doch über die Landstraße zu fahren. In den engen Kurven würde er den Verfolgern in der schweren Limousine haushoch überlegen sein.

Er beschleunigte den Porsche weiter, doch der andere hing wie eine Klette an ihm. Nach einem Kilometer wurde die Straße dann endlich enger und kurviger. In leichten Serpentinen ging es einen bewaldeten Berg hinauf. Hier konnte Tom alle Vorteile des wendigen Sportwagens ausspielen. Er driftete durch die Kehren und beschleunigte den Wagen bereits aus den Kurven heraus.

Als er wieder in den Spiegel blickte, konnte er gerade noch sehen, wie der Mercedes in der Schleife hinter ihm mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit die Leitplanken durchbrach und in der Tiefe verschwand.

Ohne zu zögern trat er auf die Bremse, wendete den Porsche und fuhr langsam zu der Unfallstelle zurück. Dort stieg er aus dem Wagen, ging zu der steil abfallenden Böschung und schaute hinunter.

Der Mercedes, oder das, was davon übrig war, lag etwa achtzig Meter unter ihm total zerstört in einem Bachbett. Der schwere Wagen hatte eine Schneise der Verwüstung in den Wald geschlagen. Die Bäume waren wie Streichhölzer zerbrochen, einige sogar entwurzelt.

Nach kurzer Überlegung lief er los und rutschte, auf seine rechte Hand gestützt, die Böschung hinunter. Mitgefühl und Panik stiegen in ihm auf. Das hatte er nicht gewollt. Als er die Hälfte der Böschung hinter sich hatte, erblickte er vor sich einen reglosen Körper.

Der Mann hing in etwa drei Metern Höhe in einer Astgabel. Der kahl geschorene Kopf war unnatürlich nach hinten geknickt. Der Körper blutüberströmt. Die leeren Augen spiegelten noch immer die Angst, die der Mann in seinen letzten Sekunden gehabt haben musste, bevor er aus dem Wagen geschleudert wurde.

Tom rutschte weiter die Böschung hinab, bis er schließlich in der Talsenke angekommen war. Er lief durch das knietiefe Wasser zum Wrack des Wagens. Benzindunst schlug ihm entgegen. Auf dem Wasser trieben bläuliche Ölschlieren.

Er blickte durch die zerborstenen Seitenscheiben und erstarrte. Aus dem Lenkrad hing der erschlaffte Airbag heraus. Der Fahrer des Wagens saß immer noch hinter dem Steuer. In seinem Kopf steckte ein etwa armdicker abgebrochener Ast. Auch dieser Mann musste sofort tot gewesen sein.

Tom begann zu würgen. Sein Hals schnürte sich zu. Sein Puls raste. Er stolperte zurück und landete auf dem Hosenboden. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte.

Was hatten die beiden bloß von ihm gewollt? Eines stand fest: Niemand hatte ein solches Ende verdient. Vielleicht hatten sie ihn ausrauben wollen? Unsinn, Räuber kamen nicht mit einem so teuren Wagen.

Sein Blick fiel auf den Oberarm des Toten. Unter dem zerrissenen T-Shirt schaute eine Tätowierung hervor. Vorsichtig ging er erneut zu dem Wagen. Es kostete ihn eine Menge Überwindung, den Ärmel weiter hochzuschieben, um die Zeichen besser erkennen zu können. Auf der blutverschmierten Haut konnte er nun deutlich einen Totenkopf mit SS-Runen erkennen. Die Steine! schoss es ihm durch den Kopf. Die wollten die Steine aus dem U-Boot!

Er rannte los. Er hatte die Kristalle in seine Reisetasche gesteckt und die lag jetzt für jeden sichtbar in seinem offenen Porsche.

Auf allen Vieren kroch er den Hang hinauf. Seine Hände schmerzten. Immer wieder rutschte er aus.

Als er fast oben angekommen war, erkannte er mehrere Personen an der zerborstenen Leitplanke. Ein Polizist streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn die letzten Meter zur Straße hinauf.

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“, fragte der Beamte mit ruhiger, fester Stimme.

Tom nickte, taumelte zu seinem Wagen und ließ sich völlig außer Atem auf den Kotflügel des Porsches sinken. Sein Blick wanderte dabei über den Beifahrersitz. Als er die geschlossene Reisetasche erblickte, beruhigte er sich ein wenig.

„Sie sind beide tot“, stammelte er und rang noch immer nach Atem. „Ich konnte nicht mehr helfen.“

„Beruhigen Sie sich erst einmal, der Notarzt muss jeden Moment hier sein.“

Der Polizist drehte sich um und ging zu seinem Kollegen, der etwas abseits stand und mit einem Handy telefonierte.

Auf der Straße staute sich mittlerweile der Verkehr. Immer mehr Schaulustige stiegen aus ihren Wagen und gafften in den Abgrund.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis ein Krankenwagen und vier Fahrzeuge der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr anrückten. Tom lehnte noch immer an seinem Porsche und musste den Sanitätern mehrfach beteuern, dass ihm nichts fehlte und mit ihm wirklich alles in Ordnung war.

Als Polizei und Feuerwehr die Gaffer erfolgreich vertrieben und den Unfallort weiträumig abgesperrt hatten, kam einer der Polizisten zu Tom.

„Kannten Sie die Unfallopfer?“, fragte er.

Tom verneinte.

„Können Sie mir etwas über den Unfallhergang sagen?“

Wieder Kopfschütteln.

„Warum sind Sie zu dem Wagen hinuntergestiegen?“

Tom schaute den Polizisten jetzt ungläubig an.

„Weil ich helfen wollte. Ich habe gedacht, ich könnte helfen. Hätten Sie das nicht getan?“

Der Polizist schaute verlegen und sah dann zu dem Porsche.

„Konnten Sie den Unfallhergang eigentlich beobachten oder woher wussten Sie, dass der Wagen am Fuße des Abhangs lag?“

Tom überlegte kurz. Würde er den Bullen die Wahrheit sagen, müsste er ihnen das mit der Verfolgung und am Ende auch noch die Herkunft der Steine erklären. Die würden nicht lockerlassen.

„Der Mercedes hat mich auf der letzten Geraden überholt“, log er. „Ich war bereits ein gutes Stück hinter ihnen, als es passierte. Gesehen habe ich nur noch die Staubwolke.“

Der Polizist sah ihn weiter fragend an und ging dann noch einmal stumm um den Porsche. Vermutlich suchte er nach Zeichen einer Kollision mit dem Mercedes.

„Und Sie sind sich da sicher?“

Tom schluckte. Log er wirklich so schlecht?

„Klar bin ich mir sicher“, bestätigte er entschlossen.

Kapitel 3

11. Mai 2007, 20:45 UhrBei Arnstadt / Thüringen

Tom fuhr durch die weitläufige Allee zu dem alten Herrenhaus hinauf. Rechts und links säumten alte Weidenbäume den Weg, deren Äste wie schlappe Arme bis zum Boden hingen und gelegentlich von dem leichten Wind hin und her bewegt wurden.

Das Anwesen von Thomas Berger, Toms Großvater, umfasste über 100 Hektar und war im Umkreis von mehreren Kilometern das einzige Haus. Der ältere Herr hatte das Hofgut mit dem schlossartigen Herrenhaus direkt nach dem Fall der Mauer zu einem Spottpreis gekauft und über ein Jahr lang aufwendig restaurieren und modernisieren lassen.

Nach Hoftieren, wie in den guten alten Zeiten, suchte man hier vergebens. Die einzigen Tiere auf dem ehemaligen Gut waren die fünf Schäferhunde des Wachdienstes, die in einem Zwinger hinter dem ehemaligen Gesindehaus kläfften, und die wilden Enten auf dem künstlichen See, den der alte Herr im vergangenen Jahr hat anlegen lassen. Der Unfall und die Geschehnisse der letzten Stunden beschäftigten ihn noch immer. Nachdem die Polizisten seine Personalien aufgenommen und ihn noch mehrmals befragt hatten, durfte er endlich fahren. Scheinbar waren sie von der Glaubwürdigkeit seiner Aussage, er habe nichts mit dem Unfall zu tun, nicht sehr überzeugt gewesen. Da sie ihm jedoch nichts nachweisen konnten, hatten sie ihn wohl oder übel gehen lassen müssen.

Er lenkte den Porsche am Haupthaus vorbei und betätigte einen Schalter in der Mittelkonsole, um das automatische Tor an einem der ehemaligen Stallgebäude zu öffnen, die nun als Garagen dienten. Dort parkte er den Wagen in einer freien Parklücke zwischen einem Ferrari Testarossa und einem alten Bugatti.

Nachdem er den Motor abgestellt hatte, nahm er seine Tasche, die er bereits auf ihren Inhalt überprüft hatte, und warf sie sich über die Schulter.

Beim Verlassen des Stallgebäudes betätigte er einen Taster rechts neben dem Tor, worauf sich dieses wie von Geisterhand mit einem leisen Summen schloss.

Schnellen Schrittes ging er quer über den mit Natursteinen gepflasterten Hof und stieg, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend, die große Treppe zum Hauptgebäude empor.

Oben öffnete sich, ohne dass er klingeln oder klopfen musste, sofort die schwere Haustür und Philip, Großvaters Butler und die gute Seele des Hauses, strahlte ihm freudig entgegen.

„Junger Herr, Ihr Großvater erwartet Sie bereits.“

„Danke, Philip.“

Tom drückte die Hand des alten Butlers, der sich, obwohl sonst so förmlich, sichtlich über den späten Besuch freute.

Zügig durchschritt er die Eingangshalle und steuerte geradewegs in Richtung der großen Marmortreppe, die sich in einem weiten Bogen an einer Seite des Raumes mit ihrem steinernen Geländer in die Höhe wand.

Die Wände der Halle hingen voller Gemälde. Bei den meisten Bildern handelte es sich um Porträts aus längst vergangenen Zeiten oder um Landschaften. Alle Bilder hatten jedoch eins gemeinsam: Sie wirkten alt, vergilbt und verstaubt.

Er rannte die Treppe hinauf, bog nach rechts in einen langen Korridor und blieb an dessen Ende vor einer hohen, zweiflügeligen Tür stehen.

Er klopfte. Keine Antwort. Dann drückte er die Türklinke hinunter, stieß die Tür langsam auf und betrat den Raum. Die einzige Lichtquelle, die das Zimmer in warme gelbliche Farbtöne tauchte, war ein prasselndes Feuer in einem riesigen offenen Kamin.

„Mein Junge!“, tönte es freudig aus einem Ledersessel rechts neben dem Kamin. „Seit wann klopfst du an?“

„Seit wann antwortest du nicht auf das Klopfen an der Tür?“, erwiderte Tom mit einem frechen Grinsen.

„Hätte es etwas geändert, wenn ich dich hereingebeten hätte? Nein, gewiss nicht, also warum sollte ich es tun?“, stellte der ältere Herr fest.

Tom lächelte. Das war typisch für Großvater. Immer noch sportlich und elegant wie ein Vierzigjähriger erhob sich der mittlerweile 89 Jahre alte Mann aus dem Sessel und schloss ihn in seine Arme.

Wie Tom trug auch der alte Mann schulterlanges Haar, das jedoch im Laufe der Jahre silbrig weiß geworden war.

„Tom, hast du sie gefunden?“

Er nickte.

„Zeig sie mir!“

Die Stimme des Alten zitterte plötzlich vor Aufregung. Behutsam nahm Tom den kleinen Kasten aus seiner Reisetasche und reichte ihn seinem Großvater, der ihn vorsichtig an sich nahm.

Langsam öffnete der Alte den Kasten und sofort spiegelte sich das Leuchten der Kristalle in seinen Augen. Vorsichtig strichen seine Finger über die Steine.

„All die Jahre musste ich warten“, flüsterte er. „All die Jahre. Aber ich wusste immer, dass dieser Tag irgendwann kommen würde.“

Tom überkam ein merkwürdiges Gefühl. Der alte Mann wirkte so befremdlich, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte.

„Sag mir die Wahrheit, was hat es mit den Steinen auf sich?“

Zwei glänzende Augen starrten ihn an.

„Macht, mein Junge! Diese Steine besitzen Kräfte, von denen du nie zu träumen wagen würdest. Sie wurden von Menschen geschaffen, die Kräfte besaßen, von denen keiner von uns auch nur eine Vorstellung hat.“

Tom überlegte kurz.

„Du meinst die Nazis?“

Der Alte lachte auf und das Prickeln in der Luft, das Magische des Moments, verschwand augenblicklich.

„Nein Junge, diese Ignoranten wussten nie, was sie da in den Händen hielten. Die Steine sind sehr viel älter, als du denkst.“

Tom schaute fragend auf die Steine in dem Kasten.

„Wie kann man solche Kristalle herstellen? Ich dachte immer, Kristalle findet man irgendwo und stellt sie nicht her?“

Der Alte lächelte.

„Na, ich denke, das ist ein wenig komplizierter als es aussieht. Und so genau kann ich es dir selbst nicht sagen. Fakt ist, dass dies keine gewöhnlichen Steine von Mutter Erde sind, sondern Steine mit einer, nun sagen wir, einer etwas anderen Vergangenheit. Aber ich denke, ich kann es dir morgen in meinem neuen Labor besser erklären. Du wirst staunen, was sich in deiner Abwesenheit getan hat.“

Er klappte den Kasten zu und stellte ihn auf den überdimensionalen alten Schreibtisch vor der großen Fensterfront.

Tom überlegte kurz:

„Großvater, kann es sein, dass sich noch andere für die Steine interessieren?“

Der Alte hielt inne und sah ihn an.

„Du meinst die beiden, die dich verfolgt haben?“

Tom schaute verblüfft drein.

„Woher weißt du davon?“

Der alte Mann lächelte erneut.

„Ich weiß es eben. Mein Junge, auch ich habe meine Quellen, oder denkst du, ich würde dich mit so einer wertvollen Fracht ohne Schutz in der Gegend herumfahren lassen?“

Tom merkte, wie sich sein Hals erneut zuschnürte.

„Waren das etwa deine Leute?“

„Nein, nein, Gott bewahre. Das waren keine von meinen. Glaubst du, ich würde solche Dilettanten anheuern?“

Tom war entsetzt.

„Großvater, die beiden sind tot.“

„Auch das weiß ich und wir können es nicht ändern. Sie sind nicht die Ersten, die für die Kristalle gestorben sind und ich glaube, sie werden auch nicht die Letzten sein. Und nun, mein Junge, denke ich, ist es an der Zeit ins Bett zu gehen. Morgen werde ich dir alles erzählen, was du wissen musst.“

Langsam und mit aufgerichtetem Oberkörper ging der Alte zur Tür und trat ohne zu zögern auf den Gang.

Tom schaute zu dem Kasten auf dem Schreibtisch. Was um alles in der Welt hatte es damit auf sich? Und warum ließ sein Großvater diese angeblich so wertvollen Stücke einfach unbewacht auf dem Schreibtisch und verstaute sie nicht im Tresor, der, wie Tom wusste, hinter dem Porträt einer alten Dame in der gegenüberliegenden Wand versteckt war?

Er verließ ebenfalls den Raum, um in sein Zimmer im Dachgeschoss des Hauses zu gehen.

In dieser Nacht schlief er sehr unruhig. Mehrmals wachte er schweißgebadet auf.

Die Ereignisse des Tages ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. In seinen Träumen sah er immer wieder die drei Kristalle, die beiden Toten, die ihn anstarrten, und auch sich selbst in einem Meer von Licht, das versuchte, ihn einfach zu verschlucken.

Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war es bereits kurz nach neun Uhr.

Er zog seine Trainingsschuhe, ein frisches T-Shirt und eine Jogginghose an, um, wie jeden Morgen, sein fünf bis sechs Kilometer langes Lauftraining zu absolvieren. Er lief die Allee hinunter, bog dann nach rechts in einen Feldweg ein, der ihn auf einer großen Schleife um den künstlichen See zurück zum Haupthaus führen würde.

Der See war auch eines jener Projekte, die so typisch für Thomas Berger waren. Als Tom vor fünf Monaten das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich an der Stelle noch eine Wiese befunden. Viele Menschen legen künstliche Teiche an, aber bei Thomas Berger musste es sofort ein See sein, auf dem selbst die Titanic Platz gehabt hätte.