Kerstin und ich - Astrid Lindgren - E-Book

Kerstin und ich E-Book

Astrid Lindgren

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Beschreibung

Überraschung im Doppelpack! Zwillinge machen (fast) alles gemeinsam Die 16-jährigen Schwestern Barbro und Kerstin gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Wenn Barbro nicht einen kleinen braunen Fleck auf der Wange hätte, würde kein Mensch wissen, wer Barbro und wer Kerstin ist. Und eigentlich spielt das auch keine Rolle, denn die beiden machen alles gemeinsam, haben die gleichen Ansichten, sind gleich gut in der Schule und tanzen mit denselben Jungen. Doch dann geschieht etwas, das das Leben der Zwillinge verändert … Mit "Kerstin und ich" liegt einer der frühen Romane Astrid Lindgrens in überarbeiteter Neuausgabe vor.

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Über dieses Buch

Die 16-jährigen Schwestern Barbro und Kerstin gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Wenn Barbro nicht einen kleinen braunen Fleck auf der linken Wange hätte, würde kein Mensch wissen, wer Barbro ist und wer Kerstin. Und eigentlich spielt das ja auch keine Rolle, denn sie machen alles gemeinsam, haben immer die gleichen Ansichten, sind gleich gut in der Schule und tanzen mit genau denselben Jungen. Doch dann geschieht etwas, das das Leben der Zwillinge verändert …

 

Mit »Kerstin und ich« liegt einer der frühen Romane Astrid Lindgrens in überarbeiteter Neuausgabe vor.

Erstes Kapitel

Es ist merkwürdig, wie rasch sich das Dasein eines Menschen verändern kann. Da waren wir beide nun unser ganzes sechzehnjähriges Leben lang auf demselben holprigen Kopfsteinpflaster in dieser verschlafenen kleinen Garnisonsstadt herumgelaufen, wo nichts geschah, rein gar nichts. Wenn man das Ereignis nicht mitzählt, wie wir damals als Kinder vom Spielplatz im Stadtpark nach Hause trabten und uns ein Schornsteinfeger fast auf den Kopf gefallen wäre, als wir in der Breiten Straße an einem dreistöckigen Haus vorbeigingen. Ja, und dann war die Buchhandlung von Strömberg ausgebrannt, gerade in dem Jahr, als wir konfirmiert worden waren. Aber sonst – überhaupt nichts!

Unser ganzes Leben war sorgfältig eingeteilt. Man musste Grammatik und Geschichte und Biologie und solche Sachen pauken, mit denen einige ehrgeizige Lehrer uns unschuldigen Menschenkindern, die nichts Böses getan hatten, das Leben schwer machten. Und dann musste man jeden Morgen in die liebe alte Schule gehen, wenn man nicht zufällig irgendein Zipperlein hatte, sodass man ausnahmsweise im Bett bleiben konnte.

Nachmittags gingen Kerstin und ich natürlich die Breite Straße auf und ab, bis wir Rückenschmerzen kriegten. Zweihundert Meter hin und ebenso viele Meter zurück. Wir kehrten immer bei der Motoraktiengesellschaft von Svenssons um, nachdem wir vorher einen Blick in das große Schaufenster geworfen hatten, um festzustellen, dass man jedenfalls schlechter hätte aussehen können.

Genau genommen brauchte ich in kein Schaufenster zu schauen, um mir über mein Aussehen klar zu werden. Ich brauchte nur Kerstin anzusehen, denn sie ist mir fast noch ähnlicher als ich mir selber. Wenn man seit sechzehn Jahren ein Zwillingspaar ist, macht sich das bemerkbar, das kann ich versichern. Und wenn ich nicht einen kleinen braunen Fleck auf der linken Wange hätte, könnte kein Mensch wissen, wer Barbro ist und wer Kerstin. Aber ich bin jedenfalls Barbro, das möchte ich ein für alle Mal festhalten. Eigentlich spielt es ja keine größere Rolle, da wir genau gleich aussehen und über alles genau die gleichen Ansichten haben und in der Schule beide immer so einigermaßen abschneiden oder, ich muss wohl sagen, abgeschnitten haben und genau dieselben Schülerbälle besuchten und mit genau denselben Jungen tanzten.

Nein, es geschah niemals irgendetwas, und ich persönlich konnte mir nichts anderes vorstellen, als dass es im gleichen Trott weitergehen müsste, bis am Ende der Tod als Befreier käme.

Aber dann, eines Tages, geschah doch etwas. Der Anlass war ganz einfach der, dass Papa fünfzig Jahre alt wurde und als Major seinen Abschied bekam. Papa ist ein großer, starker, gesunder und kräftiger Mann, und kein Mensch kann glauben, dass er einen Tag älter ist als vierzig. Also, er konnte ja nicht gut die Hände in den Schoß legen und auf sein Ende warten. Er zerbrach sich den Kopf, was er tun könnte. Eine Lebensversicherungsgesellschaft wollte ihn gern als Agenten haben und versprach ihm bedeutende Einkünfte, wenn er diesen Posten übernehmen wollte. Aber Papa hatte keine besondere Lust dazu. Lange Zeit schien er so in Gedanken versunken und abwesend zu sein, dass wir ihn kaum anzusprechen wagten.

»Stört ihn nicht, er denkt nach«, sagte Mama mit einem anzüglichen Lächeln. Und damit überließ sie ihn seinen Grübeleien und kehrte zu ihren eigenen Beschäftigungen zurück, die für den oberflächlichen Betrachter hauptsächlich darin zu bestehen schienen, gut auszusehen und wie direkt einer Modezeitung entstiegen zu wirken, damit bloß niemand ahnen sollte, was für eine schrecklich tüchtige und energische Person sie im Grunde ist. Man kann nämlich tüchtig sein und doch wie ein englisches Vollblut aussehen, sagt Papa. Das tut Mama, und neben ihr komme ich mir immer wie ein belgisches Füllen vor.

Eines Abends war Papa mit dem Grübeln fertig und kam ins Schlafzimmer, wo Mama gerade vor dem Toilettenspiegel saß, während Kerstin und ich auf der Couch kauerten, und er entwickelte sein großartiges Projekt mit vielen eifrigen Gesten, während seine Augen vor Erregung leuchteten.

Papa ist auf dem Land geboren, auf einem alten Gut. Es heißt Lillhamra und ist seit endlosen Zeiten im Besitz seiner Familie. Aber Papa war der einzige Sohn, und er wurde Offizier. Großvater hatte nicht genügend Geld, und die Landwirtschaft brachte nichts ein. Großmutter starb und Großvater begann zu kränkeln. Schließlich hatte er alles satt, verpachtete das Gut und zog in die Stadt. Verkaufen wollte er nicht, denn er meinte, es wäre nicht im Sinne seiner Vorfahren, wenn das Gut der Familie verloren ginge. Nicht lange danach starb Großvater und war nun auch ein Vorfahr.

Weder Kerstin noch ich hatten Lillhamra je gesehen. Aber Papa hatte uns immer von seiner Kindheit erzählt. Dabei wurde er dann jedes Mal ganz poetisch, und wir wurden grün vor Neid bei seinen glühenden Schilderungen von Weihnachtsfesten auf dem Lande, Schlittenfahrten, Mittsommerfesten, Bootsfahrten und Spukgeschichten am lodernden Kaminfeuer und allem möglichen anderen, wogegen unsere eigenen Abwechslungen in der Stadt unerträglich zahm und langweilig wirkten. Und im Frühling, sobald die Birken einen violetten Schimmer hatten, begannen Papas Augen regelmäßig zu glänzen, und er deklamierte mit Pathos: »O Felder, o Wiesen, o kindliches Spiel, dort hat meine Sehnsucht ihr ewiges Ziel.«

Einmal im Jahr machte er die lange Reise nach Lillhamra, um dort nach dem Rechten zu sehen, und wenn er zurückkam, war er mindestens vierzehn Tage lang für die Umgebung lebensgefährlich. Es sei schrecklich, das Haus seiner Kindheit in Räuberhänden zu sehen, sagte er, und er knirschte mit den Zähnen, wenn er nur daran dachte, wie sein liebes Lillhamra mit jedem Jahr mehr verfiel.

Und jetzt stand Papa mitten im Schlafzimmer, mit wirrem Haar und aufgeknöpftem Uniformrock, und die Worte strömten nur so aus seinem Mund. Er erinnerte Mama an das kleine Kapital, das er von seiner Tante geerbt hatte und das sein und Mamas Alter sichern sollte. Er betonte, wie völlig wahnsinnig es sein würde, es anders als in sicheren Wertpapieren anzulegen, er sagte, er sei wie geschaffen zum Lebensversicherungsagenten und würde sicherlich viele prächtige Versicherungen abschließen, er behauptete, er verstände keinen Deut von Landwirtschaft und es seien überhaupt schwierige Zeiten für die Landwirtschaft, er erklärte, dass es einem Menschen, der in der Stadt geboren ist, sicherlich fast unmöglich sein würde, in einem entlegenen Winkel auf dem Land zu leben, und plötzlich mittendrin begann er zu stottern, sah sich mit verzweifelten Blicken um und fragte, ob es wohl möglich wäre … ob Mama sich vorstellen könne … kurz, ob Mama irgendwie bereit sei, mit ihm nach Lillhamra zu gehen und sich dort niederzulassen.

Einen unerhört spannenden Augenblick lang war es ganz still. Dann hörten wir Mamas ruhige, etwas kühle Stimme. »Ja, lieber Nils«, sagte sie und tupfte sich etwas von ihrem feinen französischen Parfüm hinter das rechte Ohr. »Ja, lieber Nils, das will ich!«

Papa stand zuerst bewegungslos da. Dann traten ihm Tränen in die Augen. Das ist immer so bei ihm, denn er ist furchtbar leicht gerührt, der Arme. Und dann lief er auf Mama zu und küsste sie heftig. »Wie hab ich dich lieb«, sagte er. »Ich bin hoffnungslos und für ewig verliebt in dich.« Dann fügte er mit etwas leiserer Stimme hinzu: »Meine feine, schöne Prinzessin!«

Und Kerstin und ich saßen da!

»Kleine Mäuse haben auch Ohren«, sagte ich streng.

»Jawohl«, sagte Kerstin. »Ihr müsst bedenken: Hier sitzen zwei nüchterne und mit normalem Gehör ausgestattete Personen und hören, wie albern ihr euch benehmt.«

»Übrigens«, fügte ich hinzu, »wie wäre es, wenn du deine schöne Prinzessin bitten würdest, für uns etwas Blutwurst zu braten?«

»Schämt euch, ihr Spatzen«, sagte Papa. »Hat eine Königliche Hoheit es nötig, am Herd zu stehen, wenn sie zwei große Töchter hat?«

Worauf die Spatzen – das sind wir – sich in die Küche zurückzogen und sich eine Weile mit Kochen beschäftigten. Die ganze Zeit hörten wir Papas eifrige Erklärungen im Schlafzimmer, während Mama ab und zu eine beruhigende Bemerkung dazwischenwarf.

Endlich, nach vielen Wenn und Aber, kam Papa, den Arm um Mama gelegt. Er tanzte wie närrisch durch die ganze Küche mit ihr und sagte, es wäre nicht erlaubt, so hübsche Bauersfrauen zu haben. Und hinterher aßen wir unter allgemeiner Freude unsere Blutwurst. Plötzlich aber sagte Mama: »Ja, was wird denn mit der Schule?«

Daran hatte Papa nicht gedacht und wir auch nicht. Einen Augenblick sah es aus, als ob der ganze Plan an unserer unglückseligen Schule scheitern würde. Papa fuhr sich durch das Haar und sagte traurig, er könne es sich unmöglich leisten, uns in der Stadt in Pension zu geben. Aber da nahmen Kerstin und ich uns der Sache an und erklärten, dass wir, wie es ja auch der Wahrheit entsprach, unsere Erziehung praktisch für abgeschlossen hielten.

Wenn man bis zur zweitobersten Klasse gekommen ist, weiß man ungefähr alles, was man über die Fürwörter en und y im Französischen wissen muss, und warum man das Zeitwort »folgen« nicht ins Passiv setzen darf, was leider auch berühmte Schriftsteller immer wieder tun, und wie es kam, dass die griechische Kultur so traurig unterging, und was es solcher Dinge mehr gibt.

»Ist ja alles Katzendreck«, sagte Kerstin mit einer souveränen Handbewegung, die das ganze Schulwesen mit einem Ruck an seinen richtigen Platz verwies.

»Und«, warf ich ein, »wenn auch nie eine Studentenmütze unsere Locken zieren wird, kann eine kleine nette Baskenmütze ja auch ganz kleidsam sein.«

Mama schüttelte bedenklich den Kopf, aber bei genauer Überlegung fand sie wohl auch, dass es, da wir doch nie ein besseres Zeugnis als »im Ganzen gut« nach Hause gebracht hatten, vielleicht ebenso gut wäre, wenn wir mit der Schule aufhörten. Ein unersetzlicher Verlust für das Vaterland war das bestimmt nicht.

»Hurra«, riefen Kerstin und ich, und Papa strahlte wieder wie eine Sonne, und erst jetzt wurde uns klar, was tatsächlich geschehen sollte: Wir würden nach Lillhamra kommen, dem unerreichbaren, heiß ersehnten, unvergleichlichen Traumschloss unserer Kindheit. Vor meinem inneren Auge sah ich mich bereits als charmante Gutstochter auf edlen Reitpferden durch die Gegend sprengen und mich auf eleganten Gutsbällen im Tanz drehen. Aber Papa entriss mich schnell diesem Irrtum.

»Es wird viel Arbeit geben, meine lieben Spatzen«, sagte er. »Wir werden verflixt sparsam sein müssen. Und dem rauschenden Leben der Stadt müsst ihr entsagen. Aber ihr sollt meine alten Walderdbeerstellen erben«, sagte Papa mit einer Miene, als verschenkte er eine Million. Und er verbreitete sich des Längeren und so beredt über seine Walderdbeerstellen, dass ich bald einsah: Wenn mein Leben schief geht, so kommt es ausschließlich daher, dass ich keine eigenen Walderdbeerstellen hatte, als ich klein war. Es ist das heiligste und unveräußerliche Recht eines jeden Kindes, solche Erdbeerstellen zu haben, versicherte Papa, und es machte tatsächlich den Eindruck, als ob die Erdbeerstellen auf Lillhamra wichtiger wären als Ackerbau und Viehzucht.

Der Abend verging unter heiterem Geplauder und lieblichen Zukunftsträumen, und Papa musste uns wieder einmal von seinen Kindheitserinnerungen erzählen. Es war immer gleich neu und wunderbar, und da wir jetzt wussten, dass wir bald alles in Wirklichkeit sehen würden, wurde es uns noch viel lebendiger.

»Barbro«, sagte Kerstin plötzlich, »dies müssen wir der erstaunten Welt verkünden! Das gibt ja eine Bombensensation! Komm sofort mit!«

»O ja«, sagte ich. »Die werden Augen machen, wenn sie erfahren, dass wir unsere Tage von jetzt an auf einem großen Gut verbringen werden.«

»Sagtest du groß?«, fragte Papa. »Nein, mein Kind, Lillhamra ist nicht groß. Es kann mit Mühe und Not fünfzehn Kühe, vier Pferde, zwanzig Schafe, ein paar Schweine und Hühner, eine Prinzessin und zwei Spatzen ernähren. Und einen abgedankten Major!«

Zweites Kapitel

Ich werde nie den Augenblick vergessen, als ich Lillhamra zum ersten Mal sah. Es war ein Märztag mit lauen Winden, in den Gräben stand Tauwasser und in der Luft war etwas wie früher Frühling. Wir kamen im Auto von dem kleinen Ort, der einige Kilometer von Lillhamra entfernt liegt. Dieser Ort stellt für uns den äußersten Vorposten der Zivilisation dar. Dort kaufen wir unseren Kaffee und unsere Seidenstrümpfe, und dorthin fahren wir, wenn unsere Sehnsucht nach Windbeuteln mit Schlagsahne überhand nimmt.

Der schmale, gewundene Weg führte durch einen Wald, der direkt aus einem Märchenbuch zu stammen schien. Und die ganze Zeit ging es bergauf. Es türmte sich ein Hügel nach dem anderen vor uns auf, und einer war immer noch höher als der andere, und schließlich musste ich Papa wirklich fragen, ob Lillhamra oberhalb oder unterhalb der Baumgrenze läge. Aber mit Papa war nicht zu reden. Er saß vorgebeugt im Auto und starrte auf ein fernes Ziel. Nur dann und wann warf er eine kurze Bemerkung hin: »In diesem Tümpel wäre ich beinahe einmal ertrunken, als ich klein war.« Oder: »Diesen Berghang bin ich einmal runtergerutscht. Dabei habe ich mir die Hosen zerrissen.« Und: »Von dieser Esche habe ich die Rinde abgeschält, als ich zehn Jahre alt war. Da habe ich von Großvater Prügel bekommen.«

Ich versuchte, mir vorzustellen, wie Papa ausgesehen hatte, als er dies alles tat; aber es ging nicht. Ich sah ihn zwar vor mir, wie er in der Esche herumkletterte und den Berg hinunterrutschte, aber der da kletterte und rutschte, war allemal ein ziemlich dicker Major mit einer Andeutung von grauen Schläfen, und das sah sehr komisch aus. Auf jeden Fall war es aber nett zu wissen, dass der eigene Vater hier einmal herumgelaufen war, und ich empfand etwas wie Zärtlichkeit für die Esche, von der er die Rinde geschält hatte.

Allmählich wich der Wald zurück, und zu beiden Seiten des Weges waren Laubbäume und Felder, auf denen gerade der letzte Schnee schmolz. Schließlich fuhren wir durch eine Allee hochstämmiger Pappeln, und ich sah, wie Papa vor Spannung förmlich erstarrte. Dann hielt das Auto mit einem Ruck an, und hier lag nun sein fernes Ziel. Hier lag Lillhamra. Ich nahm das Bild mit allen Sinnen in mich auf. Ein niedriges, weißes, einstöckiges Gebäude mit kaputtem Dach. Viele kleine Fensterscheiben, die im Schein der sinkenden Sonne wie Feuer flammten. Zwei Flügelgebäude. Und hoch über dem Dach des Hauses reckten zwei mächtige Linden ihre kahlen Kronen in den Frühlingshimmel.

Ich wagte nicht, Papa anzusehen, denn ich wusste, dass er Tränen in den Augen hatte, und das ist für mich das Schlimmste. Aber merkwürdigerweise war ich tatsächlich auch etwas gerührt, und mir war irgendwie, als wäre ich heimgekommen. Ich glaube, Kerstin empfand ungefähr das Gleiche, denn sie zwinkerte so merkwürdig mit den Lidern.

Was Mama fühlte, zeigte sie nicht. »Wir sind am Ziel«, sagte sie nur und stieg aus dem Auto.

»Ja«, sagte Papa, »hier bleiben wir, bis wir auf den Friedhof umziehen.«

Am Tor stand ein kleiner, dicker Mann von etwa fünfzig Jahren mit flachsgelbem Haar und freundlichen hellblauen Augen. Papa stellte ihn uns vor, und er gab uns allen die Hand. Er hieß Johan Rosenkvist und war eine Art Großknecht auf dem Hof. Ich wusste damals noch nicht, dass er einer meiner allerbesten Freunde werden würde. Wir begrüßten auch die übrigen Leute, einen Stallknecht von bescheidenem Aussehen – er hieß Ferm –, seine Frau, die viel energischer aussah, und die Kinder, von denen es etwa ein Dutzend zu geben schien. Außerdem war ein Jungknecht da, der vergnügt und rotbackig aussah und Olle hieß. Vater hatte alle Leute vom Pächter übernommen. Außerdem hatte er »eine der prächtigen Jungfrauen des Dorfes«, wie er sagte, als Hausmädchen angestellt. Sie hieß Edith und war am selben Morgen angekommen, um die Öfen zu heizen und bei unserer Ankunft den Kaffee bereitzuhaben.

Mir gefiel Lillhamra von Anfang an ohne jede Einschränkung. Und mir gefiel Johan, weil er so freundliche Augen hatte, und Ferm gefiel mir, weil er so bescheiden war, und Olle, weil er so vergnügt aussah. Ich zögerte einen Moment, ehe ich mich entschloss, auch Frau Ferm nett zu finden, aber schließlich kann ja ein Mensch ein richtiger kleiner Sonnenschein sein, wenn er auch eine etwas spitze Nase hat.

Staunend und zitternd überschritt ich die Schwelle von Lillhamra. Man konnte ja nicht wissen, wie das Haus innen aussah. Aber das wurde uns bald mit erschreckender Deutlichkeit klar. Es sah, gelinde gesagt, grauenhaft aus. Der Pächter hatte seit mehreren Jahren keine Pacht mehr gezahlt, und Papa hatte daher auch keine Reparaturen ausführen lassen, und es war der Pächterfamilie nicht eingefallen, beim Auszug sauber zu machen.

»Gott behüte«, war das Erste, was Mama sagte. Papa war furchtbar nervös, das merkte man gleich. Wenn man mit seiner feinen, schönen Prinzessin in ein Traumschloss zieht, dann ist es ja etwas peinlich, wenn die Tapeten in Fetzen herunterhängen und in allen Ecken große Mäuselöcher sind.

»Wir lassen alles instand setzen, liebe Maud, wir lassen alles instand setzen«, beteuerte Papa ängstlich.

»Ja natürlich, das nehme ich an«, sagte Mama mit großem Nachdruck.

In der Küche stand Edith und begrüßte uns mit einem vergnügten Grinsen, bei dem sie ihr ganzes Zahnfleisch zeigte. Sie hatte wirklich den Kaffee fertig, und er schmeckte wunderbar, denn wenn auch die Märzwinde lau sind, so war man doch auf jeden Fall ziemlich steif gefroren. Mama ging umher und musterte alles mit strengen Hausfrauenblicken, und Papa sah aus wie ein geängstigtes Tier.

»Es ist ein ausgesprochen schlechter Herd«, sagte sie und klopfte gegen das Schornsteinrohr, dass der Ruß wirbelte. »Und unpraktische Schränke«, fügte sie hinzu. Dann blickte sie zur Decke hinauf und sagte: »Es ist ja ganz schön mit einem kaputten Dach, aber so kaputt braucht es nicht zu sein, dass es durchregnet, finde ich.«

Kerstin und ich waren jetzt schon genauso unruhig wie Papa. Wenn nun Lillhamra so schlecht war, dass wir dort nicht wohnen konnten! Und wenn es Mama nicht gefiel! Wegen Papa war ich am traurigsten, denn ich wusste ja, wie er sich darauf gefreut hatte, und das hatten wir auch getan. Aber Papa kann sich über gar nichts freuen, was Mama nicht gefällt, und er sah sehr bedrückt aus, als er den Arm um ihre Schulter legte und sagte: »Was meinst du, sollen wir alles aufgeben und versuchen, zu verkaufen oder einen neuen Pächter zu finden?«

»Aufgeben?«, sagte Mama verwundert. »Aufgeben? Bist du verrückt?« Dann rieb sie sich die Hände und rief: »Das wird aber eine Freude, hier aufzuräumen!« – Da seufzten Papa, Kerstin und ich so erleichtert auf, dass man es sicher in der ganzen Gegend gehört hat.

»Aber es wird viel Geld kosten, bis wir es so haben, wie wir es haben wollen. Darauf möchte ich dich vorbereiten«, fügte sie hinzu. Das war Papa wenigstens damals einerlei. Er wurde plötzlich ganz ausgelassen, redete von seinem »weißen Kindheitsheim« und deklamierte einige Verse.

Und dann gingen wir in den so genannten Saal, der sich fast über die ganze Rückseite des Hauses erstreckte.

»Dies ist der schönste Raum, den ich je gesehen habe«, sagte Mama.