Kettenwerk - Georgian J. Peters - E-Book

Kettenwerk E-Book

Georgian J. Peters

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Beschreibung

1968. Eine verschlafene Siedlung vor den Toren Hamburgs. Jenseits der Tarpenbek und der Bahngleise und jenseits der Fassade des Kettenwerks. Dort treibt die "Clique der Fünf" ihr Unwesen; Ulli, sein älterer Bruder Matjes, Holmi, Tommi und ihr Anführer Georgie. Später kommen Kahli und Georgies früherer Kumpel Kessie aus Hamburg dazu. Sie sind zwölf bis 13 Jahre alt und ihr Lieblingsspiel ist ihr Taschenlampenversteckspiel. Niemand ahnt, dass Georgie seit vier Jahren ein schreckliches Geheimnis verbirgt. Er und Kessie machten im Kettenwerk eine grauenhafte Entdeckung. Hoch und heilig schworen sie sich, niemals jemandem davon zu erzählen. Doch das Grauen will sie nun heimsuchen und deshalb braucht Georgie die Hilfe seiner Freunde.

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Seitenzahl: 1199

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Inhalt

Impressum 3

Zitate 4

Prolog 5

Bewegung 15

20. Geburtstag 19

Erscheinungen 28

Beschreibungen 34

Erscheinungen II. 39

Die neue Erscheinung 43

Im Arbeitszimmer 55

Tottäuschung 71

Ebling 83

Im Arbeitszimmer II. 91

Zwei Tage zuvor 99

Der Kinderhort 105

Die Ankunft 121

Das Schuldbekenntnis 130

Vorspiele 140

Einige Stunden zuvor 145

Das Taschenlampenversteck-Spiel 159

Hürden an der Mauer 167

Betty und Kessie 189

Weisende Schicksale 192

Die stabile Brücke 208

Die andere Seite 221

18. Luftangriff 225

Die Prüfung 230

Annäherungen 250

Die Gasschleuse + Irmi 253

Der Plan misslingt 257

Kahli 262

Das andere Gesicht 268

Kahlis Weg zurück 272

Der Kinderhort 282

18. Luftangriff II. 285

Der Abstieg 289

Paul Sandhoffs Ende 312

Der Kinderhort II. 315

Tante Irmtraut 320

Der Kinderhort III. 328

Der Kinderhort IV. 338

Tante Irmtraut II. 355

Der Schießstand 363

Matjes 380

Kessie 386

Betty 396

Verführungen 402

Der Boxring 420

Kurz zuvor. Tante Irmtraut trifft auf Ebling 436

Betty II. 452

Ebling II. 484

Kämpfer 511

Abrechnung 518

Ebling III. 564

Kämpfer II. 577

Betty trifft auf Anne-Marie 592

Kämpfer III. 602

Kämpfer IV. 667

Eliminierung 713

Kämpfer V. 718

Kämpfer VI. 746

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-539-4

ISBN e-book: 978-3-99107-540-0

Lektorat: Melanie Dutzler

Umschlagfoto: Ded Mityay, Mulderphoto, Bob Suir, Vaclav Mach | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Zitate

Wenn du einen Stein ins Wasser wirfst,

so eilt er auf dem schnellsten Wege

zum Grunde des Wassers.

So ist es, wenn man ein Ziel, einen

Vorsatz hat. Man tut nichts, man wartet,

man denkt, man fastet, aber man geht durch

die Dinge der Welt, ohne sich zu rühren;

man wird gezogen, man lässt sich fallen.

Das Ziel zieht dich an sich, denn du lässt

nichts in deine Seele ein, was dem Ziel

widerstreben könnte.

Siddharta

Hermann Hesse

Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln:

–erstens durch Nachdenken, das ist der edelste

–zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste

–und drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.

Konfuzius

Prolog

Flucht

23. Mai 1944

kurz vor Mitternacht

Wie er sich aus dem muffigen und von Bohnerwachs geschwängerten Verwaltungsgebäude befreien konnte, war ihm schleierhaft. Plötzlich sog er frische Luft ein. Er stolperte durch ein offenes Fenster ins Freie. Zuvor war er eine enge, rostige Eisenstiege hinaufgeklettert. Aber wie konnte …?

Jetzt zählte nur …er konnte dieser Hölle entkommen.

Draußen war es nicht kalt. Tiefe Dunkelheit packte ihnes warspäter Abend oder bereits tiefe Nacht. Er fror nicht. Im Gegenteil. Er schwitzte. Es fühlte sich lebendig an, wie sich der Schweiß auf der verdreckten und zerschundenen Haut ausbreiteteund sofort trocknete. Sein Kopf flog in alle Richtungen, verfolgt von höllischem Pochen in den Schläfen. In großem Aufruhr schoss sein Blut durch die Adern. Das war der Hunger, den er schon zu lange totgeschlagen hatte.

Es war geschafft. Er war frei.

Plötzlich erfasste ihn ein Orangelicht. Es zerrte reflexartig an seinen Blick, hinauf zum Dach der schlauchigen Baracke ihm gegenüber. Dahinter musste die Lichtquelle sein. Ohne zu überlegen rannte er los, taumelte, aber rannte, erreichte linkerhand die Ecke der Baracke, verschwand in einer schmalen Gasse. Eine Straße war es nicht, auch kein Weg, eher ein zugiger Durchgang, der sich entlang einer schlauchigen, hohen Halle zog.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er die riesigen Schiebetore, denen er jedoch keine Beachtung schenkte, auch nicht dem dritten Schiebetor, das zur Hälfte offen stand.

Wie ein Lemming rannte er dem Orangelicht entgegen, stolperte auf einen großen Platz hinaus, der ebenfalls nicht direkt von dem Orangelicht erfasst wurde, obwohl er bereits einen langen Schatten auf die groben Betonplatten warf.

„Hee! Halt! Stehen bleiben!“,hörte er eine bellende Stimme hinter sich. „Sofort stehen bleiben!“ Die Stimme riss eine breite Schneise in die zugige Gasse.

Natürlich blieb er nicht stehen. Er rannte weiter, stolperte auf das Orangelicht zu.

Noch mehr Schweiß schoss aus seinen Poren, kühlte seinen Kopf, da ihn jetzt heftige Windböen trafen. Die verdreckte Sträflingskleidung flatterte an ihm wie eine schwere, nasse Fahne im Sturm.

„Halt! Sag’ ich!“

Plötzlich krachten Schüsse. Er konnte aus dem Schussfeld seines Verfolgers springen, hatte das Ende der Halle erreicht. Auch jetzt drehte er sich nicht um. Er rannte, stolperte, taumelte, keuchte und hustete, spukte zähen Speichel.

Seine Lungen brannten wie Feuer, sein Schädel drohte zu zerplatzen, doch das alles war nichts gegen die Chance, wirklich bald in Freiheit zu sein. Es konnten nur noch ein, zwei Ecken bedeuten, bis er die Lichtquelle erreichte, und die würde ihm den Weg in die Freiheit weisen. Er musste nur die Mauer erreichen, wo er auf einen hohen Erdwall hinaufsteigen konnte.

Diesen Fluchtweg hatte er ausgemacht, als sie dort die langen Gruben ausheben mussten. Von den Gruben aus betrachtet …ist es ein Leichtes, von demErdwall, der ein Bunker zu sein scheint, auf die Mauer zu springen, sich hinaufzuhangeln, über die Stacheldrahtbespannung zu klettern und dann zu springen …hinüber …egal, wohin …aber rüber in die Freiheit.Nur dieser Gedanke trieb ihn an, während er rannte, stolperte, stöhnte und schrie, sich selbst anfeuerte.Um Gottes Willen auf den Beinen bleiben, bis ich diesen verdammten Erdwall erreiche.Von da an war es nur noch ein Katzensprung.

Mit jedem seiner staksigen Schritte ruderten seine Arme. Tatsächlich kam er schneller vorwärts, als es aussah. Unaufhörlich hustete er, doch es war, als hustete er sich frei. Allmählich pochte auch das Blut nicht mehr so schmerzhaft durch seine Adern, was die Stiche im Kopf mit jedem Schritt abklingen ließ. Immer ausladender ruderten seine Arme. Das schien ihn sicher auf den Beinen zu halten und er erreichte dadurch einen konstanten Laufrhythmus.

Das Schreien hinter ihm hörte nicht auf. Schallend verfolgte es ihn über den Platz und wie ein Adler im Angriffsflug wollte es ihn attackieren und doch …jetzt hörte es sich schon gedämpfteran.

Die Schüsse hatten aufgehört.

Das wird sich wieder ändern, spätestens, wenn der Verfolger die Ecke erreicht hatte.Dann aber konnte er bereits den engen Durchgang erreicht haben, der zum hinteren Teil des Geländes führte. Von da war es nicht mehr weit bis zu dem Erdwall. Auch jetzt drehte er sich nicht um, nicht einmal als er den Durchgang erreichte und hineinschlüpfte. Wäre sein Verfolger ein besserer Läufer gewesen, hätte er nicht die geringste Chance gehabt, doch der Verfolger zeigte eine deutliche Behinderung. Er humpelte, zog das rechte Bein nach. Deshalb schrie er dem Flüchtenden unentwegt hinterher…und an der Ecke würde er sofort wieder schießen!

Die Schüsse blieben aus, was er nebulös registrierte. Gerade hatte er den Erdwall erblickt. In Sekundenbruchteilen hatte er einen starren Tunnelblick. Wie ein erschöpfter Marathonläufer, keuchend, im Rhythmus seiner Schritte, den Blick auf das Ziel fixiert, stürmte er voran. Das Orangelicht strahlte jetzt seitlich von links über die Dächer der Hallen hinweg.

Rechterhand passierte er ein zwei dunkle Holzbaracken.

Dahinter befand sich der Erdwall.

Noch wenige Meter, hundert vielleicht, dann war der Weg in die Freiheit erreicht. Hatte er erst einmal die Mauer bezwungen, konnte er auf der anderen Seite im Dickicht des Moors abtauchen.

In der Dunkelheit würde ihn niemand finden.

Zwei weitere Verfolger hatten seine Fährte aufgenommen. Sie folgten den todbringenden Kommandos:„Fass’“und„Gib’ Laut.“

Die Beute stellen, aber nicht reißen …sich vielleicht ein bisschen in sie verbeißen, bis die Hunde schließlich vor ihr„Sitz“machten und bellten, damit ihr Führer sie fand und ihnen ein neues Kommando geben würde. Jetzt bellten sie nicht. Sie knurrten nicht einmal. Sie verfolgten ihrer Beute lediglich in einem sicheren Abstand von zirka zwanzig Metern, um im geeigneten Moment zur Stelle zu sein. Doch als könnte er sie riechen, fühlte er sie im Nacken. Das war nicht ungewöhnlich, immerhin hauste er mehrere Wochen ziemlich Tür an Tür –oder besser gesagt Zelle an Zelle– mit diesen Bestien.

Unten in den Gängen.

Ihr Geruch hatte sich auf ewig in seine Geruchsnerven eingebrannt. Doch auch jetzt drehte er sich nicht um.

Gerade hatte er das Ende der Halle erreicht, als er erneut auf einen großen Platz gelangte, wo ihn endlich das Orangelicht erfasste. Wie eine zweite Sonne strahlte es auf ihn nieder, blendete ihn, doch stoppte keineswegs seine Flucht.

Jetzt interessierte ihn das Licht nicht mehr.

Der Erdwall war keine zehn Meter entfernt und dahinter sah er die Mauer, aber er sah noch etwas:An einer bestimmten Stelle, zwischen zwei Betonpfeilern, fehlte ein Teil der Stacheldrahtbespannung. Und genau dieser Teil wurde von dem Orangelicht besonders erfasst. Das beschleunigte seine Schritte.

Er stolperte den Erdwall hinauf.

Er stürzte, stöhnte rau, rappelte sich auf, versuchte, auf die knochigen Beine zu kommen, als in diesem Augenblick die Hunde bei ihm waren. Gleichzeitig sprangen sie ihn an, rissen ihn zu Boden und wie abgesprochen verbissen sie sich in seine Beine. Wild rissen ihre Köpfe hin und her.

Von Panik, Angst und Verzweiflung getrieben, stieß er stoßartige Schreie aus. Er verspürte keine Schmerzen, da sein Adrenalinausstoß immens war. Seine Schreie kamen kurz und gewehrschussgleich.

In diesen grässlich, panischen Sekunden galt seine Aufmerksamkeit groteskerweise wieder dem gebündelten Orangelicht, das ihn blendete. Er spürte das Glühen von dem Licht und ihm war, als gehörte sein Körper nicht mehr zu ihm. Er war schmerzfrei. Er war frei!!! Noch bevor ihm das wirklich bewusst wurde, ließen die Bestien von ihm ab, nahmen Abstand, setzten sich und fingen zu bellen an, während sie ihn starr fixierten. Deutlich konnte er an ihren Schnauzen sein eigenes Blut erkennen, aber er war schmerzfrei.

Nur bleierne Wut überkam ihn.

Wut über sich selbst, da er jetzt, gerade jetzt, kurz vor seinem Ziel aufzugeben schien.Willenlos in diesem Dreck zu verrecken?Nein, das konnte nicht das Ende sein.

Ich soll frei sein!

Ungeachtet der Folgen, rappelte er sich noch einmal auf, während er aus dem Augenwinkel den ersten Verfolger wahrnahm und auch merkte, dass dieser humpelte.

Ein lang gezogenes: „Hiiiiiieeeeeer!“ zerschnitt diesen Moment.

Und noch ehe der Schrei verhallte, sprangen die Hunde auf und hetzten jaulend davon.

Diesen Augenblick nutzte er.

Seine Beine waren taub, doch noch gehorchten sie seinen Befehlen, trugen ihn hinauf auf den Erdwall, wo er für eine Sekunde verharrte und sich den bevorstehenden Sprung verinnerlichte. Immerhin waren es ein, zwei Meter bis zur Mauer.

Dann stolperte er los.

Zeitgleich krachten in kurzer Folge Schüsse hinter ihm.

Er setzte zum Sprung an. Plötzlich verspürte er einen stechenden Druck im Rücken, der ihm nicht nur einen zusätzlichen Schub versetzte, sondern ihn jetzt doch vor Schmerzen aufschreien ließ.

Er prallte gegen die Mauer.

Seine Hände krallten sich am Mauersims fest, wo er ebenfalls sofort Schmerzen verspürte, doch er zog sich mit aller Kraft hinauf, während er weitere Schüsse hörte, links und rechts die Einschläge verspürte, wie sich die Kugeln vergebens in das Mauerwerk fressen wollten. Und wieder verspürte er stechende Schmerzen, die jetzt seinen linken Arm und seinen Steiß betrafen, ihn hart gegen die Mauer drückten, sodass er normalerweise reflexartig losgelassen hätte, doch auch das tat er jetzt nicht. Er zog sich weiter hinauf zum Mauersims underreichte den Betonpfeiler. Er umfasste diesen, als wollte er ihn in den Schwitzkasten nehmen, während sein linkes Bein den Mauersims erklomm, er sich fast seitlich weiter hinaufhangelte. Er stöhnte, schnaufte und schrie. Es waren keine Hilfeschreie und auch keine Schmerzensschreie. Diese Schreie feuerten ihn an, pressten die letzte Kraft aus seinem bereits erschossenen Körper. Sein Bewusstsein nahm die Schüsse längst nicht mehr wahr. Auch nicht die nächsten Treffer in seinen Körper. Weiter zog er sich hinauf, als würde er ein viel zu großes Pferd besteigen, das keinen Sattel trug, und der Betonpfeiler war der Hals des Tieres.

Dann saß er auf dem Sims.

Er schrie seinen Sieg heraus und er riss die Arme der orangegeschwängerten Luft entgegen, während ihn noch mehr Kugeln trafen.

Dann sackte er still in sich zusammen und ließ sich einfach auf die andere Seite fallen.

Er war verschwunden.

Er hatte es geschafft.

Er war frei.

23. Mai 1944

Ein anderes Zeitfenster

So einfach ließ sich das Fenster nicht öffnen.

Wahrscheinlich weil es nach außen aufging und die Fensterläden zugezogen waren. Außerdem befand es sich im Tiefparterre.

Nur in schmalen, langen Strichen drängte graues Tageslicht in den schlauchigen Raum.

Ein geradezu gespenstisches Licht umgab sie. Nur die winzige Belüftungsklappe oben hätte sie durch einen seitlichen Hebel kippen können, doch das tat sie nicht. Es hätte sie in ihrem Vorhaben keineswegs weitergebracht. Außerdem wollte sie das Verwaltungsgebäude nicht auf diesem Weg verlassen.

Jedenfalls jetzt noch nicht.

Aber sie wusste schon, als sie sich durch den engen Schacht hinaufzwängte, an welchenOrt sie zurückgekehrt war. Nämlich genau dorthin, wo der ganze Alptraum losgebrochen war. Dort, wo sich dieses widerlich stinkende Schwein mit runtergelassener Hose auf ihr herumgewälzt hatte, schmatzend schnaufte, grunzte und stöhnte, bis sie ihm die schwere Waschschüssel über den Schädel ziehen konnte.

Sofort drang ein grober Würgereiz hoch. Und dieser Würgereiz trieb sie an, diesen Ort schnellstens zu verlassen. Wieder stand sie vor dieser gähnenden Lukenöffnung. Nur flutete ihr jetzt nicht das bläulich, rötliche Licht entgegen, sondern ein gelblicher Schimmer, fade und schwach. Es war das Licht aus dem Hauptgang. Und es verlieh dem vorherrschenden Lichterspiel ein noch viel dämonischeres Antlitz. Hätte das Licht jetzt einen rötlichen Farbton erhalten, dieser Schacht hätte auch das Tor zur Hölle bedeuten können, was es im übertragenen Sinne ja tatsächlich war. Im Grunde genommen war sie soeben der Hölle entstiegen.

Entgegen der vorangegangenen Absprache mit Georgie hatte sie sich an der Gabelung von der Gruppe getrennt, die sie eigentlich hätte in Sicherheit bringen sollen …nämlich erst hinüber zum Kinderhort und dann im Morgengrauen zur Fritz-Schumacher-Siedlung.

So lautete der Plan.

Verließe sie diesen Ort gerade jetzt, würde sie verlieren …und schon gar nicht durch dieses Fenster.

Wo sie doch ihrem Ziel so nahe war.

Endlich konnte sie die Chance ergreifen, ihren Peiniger zur Strecke zu bringen. Sie durfte sich nicht darauf verlassen, dass Georgie es schaffen würde. Auch wenn er die bedingungslose Deckung seiner Freunde im Rücken wähnte.

In ihr keimte das unbestimmte Gefühl, dass nur sie gemeinsam, sie und Georgie, imstande waren, dieses Ziel zu erreichen …Stand doch wohl einzig und allein nur für sie beide so unermesslich viel auf dem Spiel.

Was hätte sie in diesem Moment nicht alles darum gegeben, wäre sie nicht die erwachsene, viel zu übergewichtigeTante Irmtraut, wie sie jeder nannte, sondern die etwas dickliche, sechzehnjährige Irmi, die gerade an diesem scheußlichen Ort ihre einzige Liebe getroffen hatte. Der gutaussehende Junge, der plötzlich zur richtigen Zeit zur Stelle war, ihr half, sie rettete, sie vor diesem stinkenden Schwein beschützte, das auch einen Namen hatte.

Walter Ebling.

Der Wachmann vomKettenwerkam Weg Nr.4.

Nein! Sie musste bleiben.

Sie musste Georgie davon überzeugen, dass es wirklich nur diesen einen Weg gab, um die Sache zu beenden …wenn sie gemeinsam zurück zu der Gasschleuse gingen. Und während sie so dastand, die Hände auf die breiten Hüften gestemmt, den Blick starr in den Schacht gerichtet, hörte sie von der Halle her Stimmen und knallende Schritte.

Plötzlich waren sie da.

Oder sie hatte sie zuvor nicht wahrgenommen.

Deutlich waren zwei Stimmen zu hören.

Eine davon war eine Frauenstimme.

Ihr Kopf flog herum und ihr Blick schoss zur Tür. Bedrohlich zuckte ihr Zeigefinger am Abzug der kleinenSchmeisser-MP 40. Blitzschnell hatte sie das kleine Schnellfeuergewehr in Anschlag gebracht, ohne sich jedoch ganz in Richtung Tür zu drehen.

Der kurze Blick verriet ihr, dass die Tür geschlossen war. Durch das schmale Fenster in der Tür hätte man sie sofort gesehen, also machte sie reflexartig drei, vier Schritte rückwärts hinaus aus dem Blickfeld und in die Ecke links neben die Tür.

Rechterhand befand sich der Schreibtisch.

Ihr Blick schlich zurück in den Raum hinüber zu der schäbigen Holzpritsche, die natürlich nicht an ihrem Platz stand.

Wenn jemand die Tür öffnete oder auch nur einen Blick durch das Türfenster warf, wäre er sofort gewarnt und würde die Situation sofort erfassen.

Nur hatte sie keine Zeit mehr, die Situation zu ändern.

Dafür waren die Stimmen bereits viel zu nah.

Riss also jemand die Tür auf und käme hereingestürmt, würde sie handeln müssen.

Keine Sekunde würde sie zögern und schießen.Hoffentlich wäre es das widerliche Schwein Ebling.Einen riesigen Gefallen würde er ihr tun. Er würde ihr wertvolle Zeit schenken.

In den letzten Stunden war sie ihm mehrmals sehr nahe gekommen. Ein Dutzend Mal hätte sie ihn töten können, doch immer wieder entwischte er ihr, auch unmittelbar vor ihren Augen, so alskann er mich überhaupt nicht wahrnehmen…und ich kann ihn nicht erreichen …ihn nicht anfassen …ihm nichts anhaben?

In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass er sie gar nicht suchte, sondern ausschließlich die junge Irmi.Nur sie will er haben.Und aus keinem anderen Grund, als das mit allen Mitteln und mit all ihrer Kraft zu verhindern, war sie an diesen scheußlichen Ort zurückgekehrt.

In diesem Moment erkannte sie eine der beiden Stimmen.

Es war tatsächlichEbling.

Die Frauenstimme war ihr nicht bekannt.

Sie verstand kein Wort, obwohl die Stimmen sich anschrien. Es hallte zu sehr, als dass klare Worte zu ihr durchdrangen. Einige Wortfetzen schnappte sie dennoch auf: „Ich sehe mich o …um! Geh’ Du …ter!“

„Was willst du denn da oben?“,entgegnete die Frauenstimme schrill. Es klang, als wären sie jetzt in unmittelbarer Nähe der Tür.

„Das ist meine Sache! Du gehst runter!“

Niemand sah durch das Türfenster. Die Tür wurde nicht aufgerissen.

Stattdessen entfernten sich die Stimmen. Auch die knallenden Stiefeltritte verhallten schnell und hinterließen eine gespenstische Stille. Es war, als hörte sie dicht an ihren Ohren ein gewaltiges Atmen, so als würde der Schacht sämtliche Luft aus diesem schmalen Raum ein- und wieder ausatmen.

Sie musste hier raus.

Sie mussteEblinghinterher.

Sie ahnte wohin er wollte …an das Fenster!

Für eine Sekunde überlegte sie, ob sie die Luke lieber schließen und die Holzpritsche wieder darüber schieben sollte, doch sie öffnete stattdessen die Tür.

Im nächsten Moment stand sie wie aufgepumpt in der Halle und lauschte in die Dunkelheit, dieSchmeisserim Anschlag.

Dumpfe Geräusche drangen zur ihr durch. Geräusche, wie man sie nur in derartigen Gebäuden erwartete. Es konnte alles sein und es konnte alles bedeuten. Eine Tür, die irgendwo weiter oben oder weiter hinten ins Schloss fiel, oder es schlug etwas oder jemand polternd zu Boden. Auch nahm sie Stimmen wahr, die aber keine Bedrohung für sie darstellten, da sie zu weit entfernt schienen.

Als kämen sie sogar aus einem anderen Gebäude.

Waren es überhaupt Stimmen?

Auf keinen Fall durfte sie ihre Sinne auf diese unklaren Geräusche einschärfen. Sie durfte sie aber auch nicht außer Acht lassen.

Sie musste in die erste Etage.

Das erwies sich als schwierig, da sie sich in dem Gebäude nicht auskannte. Damals war sie mehr oder weniger blindlings neben Ebling hergelaufen, hatte nicht nach rechts oder links gesehen. Sie hätte heute nicht mehr sagen können, warum sie überhaupt von derGasschleusewusste. Damals wusste man es halt.

Derartige Gebäude hatten eben Gasschleusen, andere nicht. Schließlich war es das Verwaltungshaus vom Kettenwerk. Solche Gebäude waren viel besser ausgestattet und geschützt!

Während sie noch in ihren Erinnerungen wühlte, wie sie am schnellsten in die oberen Stockwerke kam, setzte sie sich in Bewegung, dieSchmeisservoran. Sie durchquertedie Halle nach links, dann den Durchgang, der sie zum hinteren Treppenhaus brachte. Wenig später stand sie unschlüssig vor den Holzstufen.

Die Nachmittagssonne warf gespenstische Strahlen auf die Treppenstufen, tauchte sie in eine diffuse Farbenflut. Tausende kleinste Staubpartikel wirbelten umher, als wäre hier gerade jemand vor ihr die Stufen hinaufgehetzt. Und richtig. Sie hörte erneut Geräusche, die eindeutig von oben kamen, ihren Blick anzogen wie ein riesiger Magnet.

Das konnte nur …und gleich wird er …!

„Neeiiiin!“

Und siehe, es kamen sechs Männer auf dem Wege

vomObertor her, das gegen Mitternacht steht;

undein jeglicher hatte eine schädliche Waffe

inseiner Hand. Aber es war einer unter ihnen,

derhatte Leinwand an und ein Schreibzeug an seiner Seite.

„Gehet diesen nach durch die Stadt und schlaget drein;

eure Augen sollen nicht schonen noch übersehen.“

„Verunreinigt das Haus und macht die Vorhöfe

vollErschlagener; gehet heraus!“

Und sie gingen heraus und schlugen in der Stadt.

Altes Testament, Hesekiel Kapitel 9, Vers 2/5/7

Bewegung

19. Mai 1976

– 21:30 Uhr –

Kapitel 1

Langsam drückte sein Zeigefinger die Telefongabel nieder. Dann legte er auf. Er starrte nach unten auf die Gleise.

Mittlerweile war das Zimmer dunkel, dennoch kämpften sich aufdringliche Lichtfetzen von der Straße herauf.

Georgie stand blicklos am Fenster, obwohl er hinuntersah. Längst hatte die Dämmerung ihren feuchten, schwarzen Mantel über den Stadtteil Eppendorf geworfen, während hinter ihm im Zimmer blasse Lichtfetzen verreckten.

Eine befremdliche Stille kroch umher und wie gewöhnlich war der Himmel über Hamburg grau und wolkenverhangen. Oft stand er beobachtend am Fenster, wenn sich alle fünf Minuten eine U-Bahn von links oder rechts heranquälte und dieses metallische Grollen ausspie.

Nun aber beschäftigte ihn das gerade geführte Telefongespräch, während sein Unterbewusstsein die nächste U-Bahn erwartete.

Hoch über der Isestraße schieben sich die Züge auf einer endlos erscheinenden Stahlbetonbrücke vorbei. Vom Bahnhof Eppendorfer Baum hinüber zur Hoheluftchaussee. Während der Woche parken hier Autos. Dienstags und freitags nicht …dann beherrscht hier der „Isemarkt“ das morgendliche Leben und Treiben.

Georgie liebt den Stadtteil. Und er liebt die Isestraße. Seit zwei Jahren kann er sich einen „Eppendorfer“ nennen. Er wohnt in einem dieser prachtvollen Altbauhäuser, zahlt eine lächerliche Miete für eine Sieben-Zimmer-Wohnung, hat vier Freundinnen, die nichts voneinander wissen, und als bald Zwanzigjähriger verdient er als Disc-Jockey bereits unverschämt viel Geld. In drei Tagen wird er zwanzig.

Schrilles Läuten zerfraß die Stille ein weiteres Mal. Er ließ es klingeln…ein-, zwei-, dreimal. Ohne den Blick von den Schienen zu nehmen, riss er schließlich den Hörer von der Gabel: „Was noch!“,die Schienen ließen ihn los. „Oh …hey, …Kessie? Was …was geht ab …?“ Instinktiv schloss er die Augen. Er atmete tief durch: „Beruhig’ dich, Kess’. He, he …langsam, was is’denn …?“

„Ichhab’ihn gesehn’, Mann! Er ist zurück…Hörst du? Und die…die Hunde auch! Hee …, Georgie?“ Die sekundenlange Stille machte ihn nicht sicherer. „Bist du …bist du noch da?“

Vom Fenster abgewandt, hielt Georgie die Augen geschlossen.

Endlich gibt das alte Ventil nach!

Eine gewaltige Erinnerungsflut brach über ihn herein. Schreckliche Visionen waren endlich bestätigt. Zerrbilder, die tagelang seine Aufmerksamkeit strapazierten.

Langsam öffnete er die Augen.

Er starrte ins Dunkel. „Ach, ja wirklich?“,entgegnete er tonlos. „Das ist’n Ding.“ Er drehte sich zum Fenster, wollte teilnahmslos wirken. Sein Blick wanderte zurück zu den Schienen. Eine U-Bahn kroch aus dem „Eppendorfer-Baum“ heraus, während aufdringliche Stille ihn anschrie.

„He …Georgie …? Was denkst du?“,bohrte sich Kessie durch das gekringelte Kabel.

Sekunden vergingen, bis er Georgies dunkle, jetzt monotone Stimme hörte. „Gut. Ja, gut. Gut, dass du dich gleich gemeldet hast …Aber, wieso bist du da überhaupt wieder hin?“

„Ich hab’das Scheißbellen gehört und …und ichhab’seit Tagen so’n Scheißgefühl …Weißt du? So wie damals!“

„Komm’ vorbei“,erwiderte Georgie knapp, „wir müssen reden. Ich sag’ den anderen Bescheid und …Kess’ …mach’ dir keine Gedanken!“

„Ja ja, schon okay …Ich bin okay …Wann soll ich kommen?“

„Nicht jetzt. Komm’ am Wochenende …am 22. So gegen sechs.“

Kessie stutzte. Er überlegte. Dann fiel der Groschen: „Aahhh, schon klar …Das ist doch“,sein Mundwinkel formte ein schmales Lächeln, „hmm, okay, dann bis Samstag!“

Er legte auf.

Das Gespräch half ihm nicht gerade weiter. Zwar war die Panik verschwunden, stattdessen warEblingzurückgekehrt und der hatte die Leere in seinem Kopfvollgemacht. Unzählige Male hatte Kessie das Wiedersehen in den verschiedenstenVariationen durchgespielt.

Jedenfalls in den vergangenen Wochen.

Und jetzt, da es passiert war, fühlte er sich dermaßen angezählt, dass es einem schweren Kinnhaken gleichkam.

Längst hatte er eine Entscheidung gefällt.

Seither waren vier Jahre vergangen.

Vier gute Jahre. Vier erfolgreiche und abwechslungsreiche Jahre.

Damals jedoch nahm die Sache einen grauenvollen Verlauf. Alle Beteiligten wussten, dass es noch lange nicht vorbei war. Ein neuer Plan musste her. Ein Plan, der Kahli rächen sollte.

Ebling musste dafür bluten.

Dieses miese Schwein!

Doch irgendetwas hinderte sie daran, ihren Rachefeldzug zu starten. Plötzlich brachten sie keinerlei Details mehr zusammen. Alles, was mit dem Werk zu tun hatte, warvollständig aus ihrem Gedächtnis verschwunden.Sie konnten sich an nichts erinnern.Als wäre das alles nie geschehen?

Kahli blieb für nimmer verschwunden.

Vier wunderbare Jahre. Vier erfolgreiche, abwechslungsreiche Jahre.

Aber keine Chance der Erinnerung. Wie, wann und wo war Kahli verschwunden? Und vor allem: Warum war er plötzlich nicht mehr bei ihnen? An der quälenden Ungewissheit drohten Kahlis Eltern zu verzweifeln, doch die wirkliche Trauer brach an dem Tag durch, als man Kahli offiziell für vermisst erklärte und weitere Nachforschungen eingestellte.

Die Erinnerung an das Grauen kam nicht zurück.

Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden

ihn sehen alle Augen und die ihn zerstochen haben;

und werden heulen alle Geschlechter der Erde.

Das Neue Testament

Die Offenbarung des Johannes

Kapitel 1, Vers 7.

20. Geburtstag

22. Mai 1976

– 18:10 Uhr –

Kapitel 2

Träge quietschend schwang die massive Wohnungstür auf. Georgies weißes Lächeln blitzte ihm so entgegen, dass er fast erschrak.

Nie war sich Kessie sicher, ob dieses Lächeln nur gespielt war und ob Georgie es nur als Mittel zum Zweck einsetzte. Aber es gehörte zu seinem Charisma wie der gelbe Filzball zu Björn Borg.

„Hi, Kess’, komm’ rein“,empfing er ihn. Und leiser sagte er: „Wir reden nachher. Jetzt wird erst mal ’n bisschen geschwitzt!“

Bevor die Gäste eintrafen, mussten noch ein paar Vorbereitungen getroffen werden. Zwei Zimmer wurden leergeräumt, während beflissene Helferinnen in der Küche verschiedenste Salate und kalte Platten zubereiteten.

Kessie wagte einen verstohlenen Blick in die Küche, um sich spontan für das Möbelschleppen zu entscheiden. So viel geballte Weiblichkeit in einem Raum machte ihn unsicher. Im Gegensatz zu Georgie wohnte er nämlich noch bei seiner Mutter.

Gegenüber vomKettenwerk.

Er und Georgie telefonierten mindestens einmal die Woche oder er besuchte ihn. Freunde waren sie schon seit dem Kinderhort. So ziemlich alles vertraute er ihm an. Dinge, die ihn bewegten und was eben alles so ging.

Das zumindest dachte Georgie bis zu diesem Abend. Das mit dem Artikel imGarstedterWochenblattverschwieg Kessie ihm allerdings.

Was Kessie da las, war so seltsam und aufschlussreich zugleich, dass er sich noch am selben Abend ins Werk aufgemacht hat und hinauf auf ihren Beobachtungsturm geklettert war.

Hätte er damit vielleicht lieber zuerst zu Georgie gehen sollen?

Im Augenblick war Kessie weit davon entfernt, sich in Partystimmung zu bringen. Lieber wollte er reden …reden über das, was sie vor vier Jahren erlebt hatten. Grauenvolles! Er wünschte sich die Jungs herbei, damit sie endlich den fälligen Plan schmiedeten.

Das alles muss ein für alle Mal erledigt werden!

Er wollte sich seelisch einstimmen auf ihren gemeinsamen Weg zurück ins Werk, wohin sie sich schon bald aufmachen mussten.

Da gab es keine Zweifel mehr.

Nein, zum Feiern war ihm nicht zumute.

Nachdem die Wertsachen und die sperrigen Möbel weggeschafft waren, wurden drei der sieben Zimmer verschlossen. Die Zimmer gehörten zum vorderen Teil der Wohnung, waren durch fensterlose Schiebetüren miteinander verbunden. Ein geräumiges Esszimmer, ein Wohnzimmer und das Arbeitszimmer.

Das Esszimmer war unverzichtbar. Nicht, weil Georgie konservativ war. Nein, er kochte gern und er bewirtete seine Freunde gerne.

Im Esszimmer protzten ein schwerer Eichentisch und sechs passende Holzstühle mit langen, schlanken und mit altrosa farbigem Samt gepolsterten Rückenlehnen.

Links und rechts des Fensters wuchsen zwei wuchtige Yuccapalmen.

Zwei riesige, gerahmte Fotokollagen dekorierten die Wand, von der keine Tür abging. Es waren Kollagen mit Werbefotos, die er in Zeitschriften und Magazinen gefunden hatte. Seine kreative Ader hatte unzählige Fotoschnipsel farblich angepasst. Wirkliche Kunstwerke!

Die drei Zimmer waren mit flauschigem, silbergrauem Velours verlegt.

EineEmpfangsdiele…der vordere Flurabschnitt entließ einen schlauchigen, schmalen Flur nach hinten zur Küche und zu drei weiteren Zimmern.

Von der Empfangsdiele ging linkerhand noch ein schmaler, türloser Garderobenraum ab.

„Bite Your Granny“vonMorning, Noon & Nightpumpte gnadenlos aus den selbstgebauten Lautsprecherboxen und bestimmt dreißig schwitzende Gestalten tanzten in dem zur Tanzfläche freigeräumten Zimmer. Zu der Zeit war„Bite Your Granny“in den Soul-Clubs auf der Reeperbahn der totale„Klopfer“.

Georgie hatte die Maxi-Single in einemUS-Import-Record-Shopam Pferdemarkt gekauft.

Seit fünf Jahren wuchs seine Schallplattensammlung unaufhaltsam schnell. Mittlerweile besaß er weit über fünftausend LPs und Maxis.

Phillysoundwar sein Ding, aber auchFunky Musicund natürlichMotown.

Sobald die neuesten US-Platten über den großen Teich schwappten, hatte er sie bereits in seine Sammlung eingereiht. Freitags warSoul-City-Record-Shop-Tag.

Deshalb waren seine Feten so beliebt und das sogar bis nach Langenhorn. Meist fand sich zweimal im Monat ein spontaner Anlass zum Feiern.

Kessie ging Richtung Küche, wo er Georgie vermutete, doch wider Erwarten kam er nicht bis dorthin.

Plötzlich stand Betty vor ihm …die Liebe seines Herzens …keine zwei Meter vor ihm. Und wie toll sie aussah!Schlagartig fühlte er unangenehme Hitze aufsteigen, glaubte, urplötzlich aus allen Poren zu dampfen. Kalter Schweiß flutete seine Stirn und er hatte das Gefühl, unter den Achseln entsetzlich zu riechen. Sogar seine Augen begannen zu tränen, obwohl es da nix zum Weinen gab. Sein Blick flackerte und die Knie schienen butterweich. Außerdem bemerkte er wieder das hässliche Zucken im rechten Mundwinkel.

Sekundenlang standen sie sich wortlos gegenüber, bis er sich zu einem Kuss auf ihre Wange durchrang. Und noch bevor sie darauf hätte reagieren können, tauchte er wieder in der Menge ab. Erst in der Küche kämpfte er sich an die Oberfläche zurück.

Für emotionale Gefühle, vermischt mit hilflos gestammelten Liebesschwüren, ist jetzt echt nicht der richtige Zeitpunkt …und noch weniger ist es der richtige Ort.

Mit dieser schwachen Ausrede wollte er zunächst sein angeschlagenes Selbstbewusstsein zurechtrücken, das gerade bedrohlich ins Wanken gekommen war.

In der Küche empfing ihn rettende Leere, die ihm schnell den Schweiß trocknete, und er konnte tief durchatmen.

Er entdeckte Georgie am „Colakisten-Thresen“ …ein breites, langes Brett, das mit einer glanzroten Plastikplane abgedeckt war.

Sein Freund Eddy stand bei ihm.

Mit hochrotem Kopf und klitschnassen Achselhöhlen ging Kessie auf die beiden zu und gerade, als er sich ein gequältes „Hallo“ entreißen wollte, drehte sich Georgie nach ihm um, als wüsste er, dass Kessie hinter ihm stand.

Kessie erschrak.

„Kess’, alter Schwede“, lachte Georgie mit einer wedelnden Handbewegung, „amüsierst dich …Was? He, Mann, hast du Betty schon gesehen? Ho, ho, ho…“ Er war mit zwei Schritten bei ihm. „Sie macht Sinn, was?“ An der Schulter zog er Kessie zu sich heran und lachte wieder weiß: „Aber probier’erstmal die Bowle …“

Ein Augenzwinkern begleitete den Satz.

Kessie hielt ein missglücktes Lächeln dagegen.

„Tja, das macht dir doch nichts aus …“,drehte sich Georgie zu Eddy, „wenn du hier allein weitermachst.“Ansatzlos stieß er ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Kess’und ich haben etwas Wichtiges zu bekakeln.“

Noch im Weggehen fügte er hinzu: „Sieh’dich um …Hier bist du nicht lange allein!“ Beiläufig deutete er auf die beiden Mädchen, die zuvor in die Küche getänzelt waren und jetzt lässig an dem großen Kühlschrank lehnten.

Eddys schmerzverzerrter Blick ging hinüber zu ihnen und ruckartig verlagerte er das Gewicht auf sein Standbein und versuchte, sich gespielt lässig mit der rechten Hand abzustützen, ohne die Mädchen dabei aus den Augen zu verlieren. Eindringlich begann er sie zu taxieren, wobei er fortwährend an seinem wiedererlangten Lächeln herumwischte.

Hinter der fliehenden Pickelstirn konnte Kessie trotz der dröhnenden Musik deutlich das leise Pochen von Einfallslosigkeit wahrnehmen.

Beinahe väterlich schlug ihm Georgie auf die Schulter und meinte, Eddy sei ausreichend versorgt …Eine halbe Stunde wird er schon allein dazu benötigen, sich für eine der beiden zu entscheiden und dann nochmal ’ne gute Viertelstunde, um schließlich die „Auserwählte“ anzuquatschen.

„Lass’uns bloß nicht so lange warten“,lachte er, „oh, apropos warten …mal im Ernst, was du da am Telefon gesagt hast“,schlagartig wandelte sich sein Gesichtsausdruck, „ichhab’so was geahnt. An viele Dinge kann ich mich wieder erinnern.“ Ein alles durchdringender Blick schoss Kessie entgegen. „Ich weiß, dir geht es genauso, oder sehe ich das falsch?“

Er hielt inne. Nachdenklich sah er an sich hinab: „Wie konnten wir das alles bloß so komplett vergessen!“

„Ich …ich weiß nich’“,fusselte Kessie an seinen Lippen herum.

„Seit Jahren habe ich nicht mehr an Kahli gedacht.“

„Ich …ich auch nicht!“

„Aber gibt’s denn das“,schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn, dass es hell klatschte und er einige der herumstehenden Blicke auf sich zog.

Fassungslos sah ihn Kessie an, als Georgie ihn plötzlich mit beiden Händen an den Armen packte und mit fester Stimme sagte: „Ich habe daraufhin etwas Wichtiges erledigt gestern. Mir war etwas Entscheidendes eingefallen …Das muss der Schlüssel zu diesem Scheiß hier sein, Mann!“

Natürlich wusste Kessie nicht, was er darauf antworten sollte. Also blieb er still, wich aber Georgies Blick nicht aus.

„Komm’raus hier!“,drehte er sich blitzschnell um, griff nach einer Flasche Weinbrand, die neben einer Reihe anderer Flaschen auf einem Regal stand, und war im nächsten Augenblick im Gewühl verschwunden.

Wie angesaugt blieb Kessie für mehrere Sekunden in der Küche, verdaute Georgies letzten Worte, die ihm bleiern den Kopf schräg legten.

Entgeistert starrte er auf das Regal mit den Alkoholflaschen, zählte drei Flaschen Weinbrand, zwei Flaschen Scotch, zwei Flaschen Bourbon und vier Flaschen Bacardi.

Wie kann er so schnell nach der richtigen Flasche greifen, ohne vorher hinzusehen …und was verdammt nochmal ist der Schlüssel zu all dem! Klar, Georgie kann sich bestimmt eher an alles erinnern, weil er ja mit Ulli und den anderen tief in den Bunker hinabgestiegen war, trotzdem hab ich schon die ganze Zeit dieses merkwürdige Gefühl. Das ist so eine Ahnung, was Georgie betrifft, als kann ich ihn jetzt durchschauen. Bloß weiß ich nicht, was ich mit diesem Gefühl anstellen soll …Und Betty?

Irgendwas haben wir damals gesehen …wir beide zusammen und doch irgendwie getrennt voneinander.Diese Ungewissheit setzte ihm mächtig zu.Ist es vielleicht das, waser mir und den anderen gleich sagen will? Ob die anderen wohl schon da sind?

Er schüttelte den Kopf.

Eddy fiel ihm wieder ein. Er drehte sich nach ihm um, doch der steckte noch immer in der schwierigen Entscheidungsphase.

Beherzt griff Kessie nach zwei Sektgläsern, die er auf dem Kühlschrank erspähte, ohne die beiden blonden Schönheiten zu stören und ließ es vorerst dabei bewenden.

Bis auf Betty– und falls Ulli und die anderen schon da waren– kannte er keinen hier und er bezweifelte stark, ob Georgie all diese verrückten Typen kannte.

Als er auf den Flur hinaustrat, mit der Erwartung, Georgie noch zu erwischen, musste er feststellen, dass dieser sich bereits in Luft aufgelöst hatte. Eigentlich war es unmöglich, durch das Gedrängel so schnell durchzukommen.

Die Sektgläser schützend unter dem Arm, zwängte er sich mühsam durch den schwitzenden und zuckenden Menschenhaufen.

In Höhe des Garderobenraums sah er Betty. Ihm den Rücken zugekehrt, lehnte sie an der Wand und ging ihren Menschenstudien nach.

Beschwerlich kämpfte er sich zu ihr durch. Ein kräftiger Schubs von hinten erledigte, was er nicht imstande war, zu vollbringen.

Wie in einem schlechten Film flog er auf sie zu und im nächsten Moment lag sie fest in seinen Armen.

Empört wollte sie zunächst aufschreien, doch als sie Kessie als den Attackierer erkannte, schmiegte sie sich in seine Arme und entwaffnete ihn mit ihrem Glanz in den Augen, sodass es schon wieder aus ihm herausdampfen wollte.

Ihre dunkelblonden, schulterlangen Haare, ihre tiefdunklen Rehaugen wie Teiche so dunkel und tief, machten sie unwiderstehlich.

Zielsicher bohrte sie sich in sein trommelndes Herz und sie trocknete in Sekundenschnelle seine Kehle aus, ließ ihn schwer schlucken.

Wie geht’s jetzt weiter?,fragte er sich, während sein Unterbewusstsein bereits handelte und sie wie von Geisterhand geführt in den Garderobenraum bugsierte.

Der eiskälteste Schauer befiel ihn, obgleich er sie noch enger an sich drückte. Sie tauschten tiefe Blicke aus, wobei ein ungebetenes Zucken sein linkes Augenlid heimsuchte, ihn hindern wollte, ihrem sinnlichen Blick standzuhalten. Mit aller Entschlossenheit kämpfte er es nieder. Auch das Zucken im Mundwinkel. Seine linke Hand mit den Gläsern drückte sich tief in ihren blassgelben Rollkragenpullover. Ihre weichen Rundungen schienen die Sektgläser zu verschlingen. Sie flüsterte: „Ganz schön eng hier, oder?“

Als er ihre Stimme hörte, erschrak er, doch seine spontane Antwort passte: „Oh, ja …aber es reicht!“

Er grinste verlegen. Sein Kopf schien blutleer.

Die Gläser, der Weinbrand und …Georgie.Er war hin und hergerissen. Alles zerrte an seinem Verstand…Das hier ist der absolut falscheste Moment!

„Du, Betty …ich würd’ ja gerne so mit dir stehenbleiben hier …ehrlich, aber ich…ich muss …ich wollte gerade …“ Ein bohrender Zungenkuss stoppte seinen Redefluss und augenblicklich wollten ihm die Knie versagen. Sogar ein verhängnisvoller Würgereiz kündigte sich an.

Alles um ihn herum wollte sich in Watte verwandeln …so wie damals im WILLKONS-Haus.

„Na, geh’ schon zu deinem Busenfreund …“ Sie senkte den Blick. „Zu meinem wirst du ja wohl von ganz allein zurückfinden, oder?“

„Oh ja“, schluckte er trocken. Derweil tobten sämtliche Schwellgeister unterhalb seiner Gürtellinie, was ihr nicht entging.

„Ich warte auf dich, okay?“,hauchte sie bettfertig.

Es war wieder genauso, wie damals …Aber was genau war damals?

Vor vier Jahren hatte er sie zuletzt gesehen.

„Oh, Betty, ehrlich, das alles holen wir gleich nach. Ich bin gleich zurück!“ Ein missratener Kuss streifte ihre Wange und er ließ sie los. Die Hand mit den Sektgläsern glühte und eine aufrechte Haltung war im Augenblick nicht möglich, stattdessen entließ er ein verklärtes Lächeln.

„Nun hau’ schon ab“,hob sich ihre Stimme, wobei ein provokanter Blick seinen Hosenschlitz attackierte.

Im Gegensatz zu Kessie hatte sie längst die damaligen Geschehnisse vor Augen …Vielmehr waren sie zu keiner Zeit aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Ungeduldig hatte sie all die Jahre auf genau diesen Moment gewartet …Endlich würde es losgehen jetzt, endlich würde sie vollenden, was schon vor so vielen Jahren hätte vollendet werden müssen.

Nur wusste sie noch nicht, wann genau der Startschuss fallen würde. Wie viele von Georgies Freunden würden mit von der Partie sein?

Das sollte heute Nacht herausgefunden werden.

Es war also noch genug Zeit. Zeit für ein wenig Zerstreuung und in Kessie hatte sie die geeignete Person gefunden, bei der sie sich die körperliche Entspannung verschaffen konnte. Sollte er doch wenigstens einmal in den hohen Genuss der körperlichen Liebe kommen, bevor es auch mit ihm zu Ende ging.

Dafür werde ich schon sorgen!

Und es wurden dem Weibe zwei Flügel gegeben

Wie eines großen Adlers, dass sie in die Wüste

Flöge an ihren Ort, da sie ernährt würde eine

Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit vor

Dem Angesicht der Schlange.

Neues Testament, Offenbarung des Johannes

Kapitel 12, Vers 14

Erscheinungen

Irgendwann 1960

Kapitel 3

Bis dahin schlug er sich als Berufsmusiker durch, aber nach Georgies Geburt entschied er sich für einenordentlichenBeruf. Manfred Kirchner ging zurück in seinen erlernten Beruf und heuerte bei PHILIPS als Feinmechaniker im Versuchslabor für Elektronik an.

Georgies Mutter verließ das Theater und nahm eine freie Stelle bei der ILLOCA an, später wechselte sie zu WILKONS, wo man ihnen eine kleine Werkswohnung anbot, die sie natürlich sofort nahmen.

Zwei Zimmer und eine Küche.

Als Künstler lebten sie jahrelang aus ihren Koffern. Jetzt aber hatten sie endlich eine feste Bleibe. Die Räume lagen im Tiefparterre, was nicht weiter schlimm war, und als Georgie größer wurde, erhielten sie noch zwei weitere Zimmer ohne eine Mieterhöhung. Das größere Zimmer wurde das Wohnzimmer und bot Platz für ein riesiges Aquarium und Georgie bekam eine Mickey-Mouse-Tapete.

Allerdings lagen die Zimmer nicht beieinander. Sie gingen weit verstreut von einer großen Pausenhalle ab und von einem weiter hinten gelegenen Flur. In der Pausenhalle stand eine Tischtennisplatte, die mittags regelmäßig von den Arbeitern verdroschen wurde. Dort stank es ewig nach beißendem Männerschweiß.

Eine meterlange Reihe Spinds zog sich im hinteren Flur entlang. Linkerhand war das Zimmer seiner Schwester, gegenüber das Wohnzimmer. Der Betonboden glänzte in weinrotem Lack und sah immer aus, als würde ihn eine unscheinbare Wasserschicht bedecken.

Für Georgie waren diese großen Flure völlig normal. Er kannte es nicht anders.

Er konnte dort Fußballspielen, Dreiradfahren und Wettlaufen und er konnte sich verstecken und sich jederzeit unsichtbar machen, wenn er es darauf anlegte.

Doch die Flure verbargen auch eine für ihn bislang unbekannte Schattenseite, eine schwarze Seite, die man auch am Tage spüren konnte,wenn mandie Gabe hatte.

Die Pausenhalle sowie die hinteren Flure waren fensterlos. Tageslicht huschte lediglich hinein, wenn Türen geöffnet wurden oder mal offen standen.

Seine Angst wurde schlagartig gemästet, als er herausfand, dass ein unheimlicher Mann, dessen Werkstatt im hinteren Gebäudeteil lag, nachts oft durch ein Fenster einstieg, um dort seinen Rausch auszuschlafen. Er war eine scheußliche, gruselige Erscheinung, die abnorm nach Alkohol stank und deutlich das rechte Bein nachzog.

Seine spärlichen Haare glänzten gelbgrau, der Bart war spakig, das Gesicht vernarbt und seine aufgequollene Nase glühte puterrot. Hinter der dicken Hornbrille verschanzten sich geschlitzte Katzenaugen. Die verbogene Körperhaltung tat das Übrige, um der Erscheinung eines missratenen, fetten Molchs großen Ekel entgegenzubringen.

Ständig schlich er im Dunkeln umher und immer trug er diesen spakigen, grauen Arbeitskittel.

Bis zu der verhängnisvollen Nacht, in der Georgie, von einem angstbeladenen Traum gewürgt, schweißnass schreiend aufwachte und ihn sofort ein massiver Druck auf der Blase überfiel, was die bedrohliche Frage aufwarf:Toilette oderPinkelpott?

Die Toilette befand sich im finsteren, hinteren Flurbereich und obwohl er mit seinen vier Lenzen ein durch und durch mutiger Junge war und ihm die nächtlichen Geräusche und die Dunkelheit längst vertraut waren, wollte er seinen Mut des Nachts nicht unnötig unter Beweis stellen. Deshalb stand derPinkelpottunter seinem Bett bereit. Den benutzte er jedoch nicht oft.

Eigentlich schlief er gut durch …bis auf dieses eine Mal.

Die Taschenlampe lag wie die Pistole eines mexikanischenPistolerosunter dem Kopfkissen. Eilig zog er sie hervor und knipste sie an. Er legte sie aufs Bett, sodass das Zimmer schmal erhellt wurde. Fröstelnd kroch er in seinen flauschigen Bademantel, der ordentlich auf dem Stuhl lag, und schlüpfte in seine knallroten Fellpuschen, als sich der entsetzliche Traum von eben in sein Bewusstsein zurückkämpfte. Unsicher sprang sein Blick im Zimmer umher, doch schlurfte er zur Tür. Zittrig heftete sich der Strahl der Taschenlampe auf das hochglanzlackierte Holz und auf das Fenster oberhalb des Türgriffs, während sich der Lichtkegel verringerte, je näher er der Tür kam. Georgie griff nach dem Schlüssel, der rechts an einem Haken hing.

Die „Sicherheitsregeln“ hatte er schnell begriffen: Nach dem Gute-Nacht-Kuss und dem Lichtausmachen schloss seine Mutter die Tür von außen ab.

Georgie hatte den zweiten Schlüssel. Für den Notfall hatte er gelernt, wie der Schlüssel zu benutzen war.

Nun war der Notfall eingetroffen.

In dieser Nacht beschloss er, die Mutprobe zu bestehen …den gespenstischen Weg zur Toilette.Und wieder drängte sich der Traum in sein Bewusstsein. Er hatte ein tragisches Ende genommen: Jemand stieß ihm etwas Spitzes in die Brust. Tief in den großen Herzmuskel. Er spürte den Einstich ganz genau und das höllische Brennen in der Wunde. Ganz deutlich hörte er sich schreien. Erst dann hatte er die Augen aufgerissen. Grauenhafte Angst legte sich wie ein Spinnennetz über sein Gesicht, doch er weinte nicht, rief nicht nach seinen Eltern, schrie nicht einmal um Hilfe. Da war nur der Angstschrei, den er im Traum ausstieß und der ihn in die dunkle Realität zurückstieß–aber …hab’ ich wirklich geschrien? Nein, wahrscheinlich nicht, sonst wäre Mutti ja längst da!

Seine Brust schmerzte.

Instinktiv presste er die Hand auf die Stelle.

So muss es sich anfühlen, wenn man von einer Kugel oder einem Pfeil getroffen wird,dachte er, dabei kamen ihm seine Lieblingsserien in den Sinn …RAUCHENDE COLTSundAM FUSS DER BLAUEN BERGE,in denen sich seine Helden schon die besten Kämpfe geliefert hatten. Unterdessen wuchs dunkle Angst in seiner Brust. Sie hielt ihn aber nicht von seinem Vorhaben ab …Auf keinen Fall wollte er in denPinkelpottmachen. Er war ja schließlich schon ein ganzer Kerl!

Vorsichtig drehte er den Schlüssel im Schloss herum.

Mit einem leichten, metallischen Knacken entriegelte er die Tür. Er öffnete sie.

Tiefste Schwärze empfing ihn, ummantelte den Taschenlampenstrahl, den Georgie reflexartig auf den Boden fixierte, als ihn das Entsetzen frontal ins Gesicht schlug. Für einen Moment setzte sogar seine Atmung aus. Auf dem Boden entdeckte er schlammige Schuhabdrücke. Sie kamen von rechts.

Erschrocken wich er ins Zimmer zurück. Der Lichtkegel folgte. Doch was der Lichtstrahl nun einfing, ließ Panik in ihm ausbrechen. Alle Haare standen ihm zu Berge und seine Blase wollte sich auf der Stelle entleeren. Auf dem schmalen Teppichläufer vor seinem Bett waren ebenfalls schlammigen Spuren. Nur mit allergrößter Mühe kämpfte er einen Angstschrei nieder.

Mit einer Drehung wich er zwei weitere Schritte zurück und taumelte rücklings gegen die Wand. Natürlich sah niemand sein eisgraues Gesicht und die entsetzt eweiteten Augen, selbst die Gänsehaut nicht, die über seine Arme und seinen Rücken stürmte.

Bleierne Sekunden schmolzen, bis er sich fing. Sein Blick jagte hastig durchs Zimmer.

Er war allein!

Entsetzt stellte er fest, dass die Spuren zwar an sein Bett führten, nicht aber zurück. Er entdeckte keine Abdrücke in die andere Richtung!

Er ist noch hier …hier im Zimmer! Unter dem Bett?

Wieder verspürte er den Druck auf seiner Blase.

Das lenkte ihn ab.

Er fasste sich an die Brust. Der brennende Schmerz strahlte aus dem großen Herzmuskel heraus und beförderte Teilsequenzen des Traums nach oben:Er war in einem Treppenhaus, rannte vor irgendetwas davon. Das Treppenhaus glich dem Eingangsportal dieses Gebäudes. Grüne Marmorwände und dunkle Stufen. Das Geländer und die Treppenabsätze waren aus Messing und von der hohen Decke hingen drei schnörkelige Messingleuchter herab.

Er flog die Stufen hinauf, öffnete Türen und im nächsten Moment fand er sich in rotem, schleimigem Morast wieder. Schwer hallten dumpfe Stiefeltritte in seinen Ohren. Sie wurden lauter und lauter. Er schrie, stolperte, versank knietief im schleimigen Morast und raffte sich immer wieder auf.

Seine Herzmuskeln pumpten gewaltige Blutwellen in die Hauptschlagadern. Er atmete flach. Nur merkwürdig, dass es in dem Traum schneite, obwohl es nicht kalt war.

Ganz in der Nähe bellten Hunde.

Im Treppenhaus verlor sich das Bellen in hässlichen Echos.

Wieder stolperte er. Er schlingerte und versuchte vergebens, sich auf den Beinen zu halten.

Die Schritte schlurften dicht an seine Ohren.

Noch im Fallen drehte er sich. Er starrte direkt in die grauenhafteste Fratze und in die wohl eisigsten Augen, die er bis dahin jemals erfasst hatte. Der Fratze fehlte die rechte Gesichtshälfte. Die linke war bis auf die Knochen verbrannt. Blutdurchtränkte Hautfetzen hingen herab und das linke Auge drohte herauszufallen. Haare konnte Georgie nicht erkennen, da die Fratze eine breite Kopfbedeckung mit Schirm trug, auf der ein kleiner, blitzender Kopf glänzte …und er erkannte eine dunkle, grauschwarze Uniform und lange, blitzende Stiefel.

Die Fratze sagte etwas, bevor sie zustach.

Georgie drückte sich an die grüne Marmorwand, die Beine tief in dem schleimigen, roten Morast versunken.

Er schwitzte.

Er war nass bis auf die Haut.

Er schrie. Er fuchtelte mit den Armen, schlug um sich. Es half nichts.

„Du räudiger Hund! Endlich hab’ ich dich! Du bist …tot!“

Dann stach die Fratze zu.

„Aaaaaahhh!“

Aus tiefster Kehle brach der Schrei aus ihm heraus und er riss die Augen weit auf. Schweißgebadet schreckte er hoch.

In der Pausenhalle empfing ihn Totenstille.

Instinktiv erfasste seine Taschenlampe die Tischtennisplatte und weiter rechts die schmalen Sitzbänke. Er machte einen unsicheren Schritt nach vorn und gleich darauf noch einen zur Seite.

Unermüdlich pumpten beide Herzmuskel dicht unter seiner trockenen Kehle und hinter seinen Augen breiteten sich unzählige, rote Wellen aus. Den Schlüssel hielt er fest in der kleinen Hand, während er langsam die Tür heranzog und sie hinter sich schloss, aber nicht verriegelte. Reglos blieb er stehen und ließ den Lichtstrahl durch die Finsternis gleiten, bis er sich erneut von schlammigen Fußspuren anziehen ließ. Tatsächlich führten sie nur in eine Richtung und tatsächlich kamen sie von rechts–genau von da, wo ich hin muss!

Schockartig sackte sein Kreislauf in die Beine, sein Kopf schien blutleer und doch setzte er sich in Bewegung, erreichte den nächsten Flurabschnitt, während die dumpfen Schlurfgeräusche der Fellpuschen seine Trommelfelle strapazierten. Im Augenwinkel registrierte er die Spinde.

Dann stoppte ein Knacken das Schlurfgeräusch.

Beschreibungen

Die Clique der FÜNF

Kapitel 4

Nördlich vor den Toren Hamburgs befinden sich der Vorort Garstedt und die ruhige Siedlung, in der sechs Jungs unaufhaltsam ins Pubertätsalter hineinwachsen.

Zwei schmale Asphaltwege durchziehen die Siedlung: der Mozartweg und der Schubertring. Kleine Vorgärten und akkurat geschnittene Hecken zieren einheitliche Reihenhäuser. Flache, dunkelbraune Jägerzäune schließen den äußeren Ring und zweireihige Steinplattenwege führen bis zu den Haustüren.

Für großstadtmüde Familien ist das eine willkommene Alternative.

Sein vollständiger Name ist Hans-Peter Kesslin.

Nur Georgie und Betty dürfen ihn Kessie nennen.

Er wohnt nicht in der verschlafenen Siedlung, aber er ist am längsten mit Georgie befreundet. Sie waren schon im Kindergarten beste Freunde. Jedoch blieb er dort wohnen, dort in der Nähe des Kettenwerks, zusammen mit seiner Mutter. Kessie ist von normaler Statur, nicht wirklich sportlich, aber auch nicht dicklich, auch nicht zu groß. Er war immer einen halben Kopf kleiner als Georgie und tendierte mehr zu einem „Schwarzkopf“, wie Georgie ihn gerne ärgerte, weil er tatsächlich pechschwarze Haare hatte, dazu dunkelbraune Augen, aber dafür eine unpassend helle, fast schweinsfarbene Haut.

Die Jungs aus der Siedlung, die Clique der FÜNF, durften ihn nach längerem Hin und Her auch Kessie nennen, da ihm „Schwarzkopf“ so gar nicht behagte.

Nach dem Realschulabschluss bewarb er sich bei einem Maklerbüro in Hamburgs Innenstadt und wurde sofort genommen. Während der Lehrzeit arbeitete er sich schnell in die Materie ein. Er bewies Umsicht und zeigte einen wachen Verstand. Vornehmlich lag es aber an seinem Auftreten. Kunden trat er mit freundlicher Zurückhaltung entgegen. Er konnte gut zuhören, verlor niemals den Überblick. Stets behielt er das Ziel im Auge. Schon bald bekam er eigene Mandanten, wickelte Vermietungen ab und brachte Verkaufsabschlüsse ein. Durch die Provisionen machte er gutes Geld. Sein Spezialgebiet wurden Grundstücke, Reihenhäuser und Doppelhäuser. Schon nach zwei Jahren hatte er ein beachtliches Guthaben auf seinem Konto, sodass er größere Geldbeträge auf das Konto seiner Mutter überwies. So sparte er Steuern. Er machte wertvolle Anschaffungen, bezahlte die Miete und konnte seiner Mutter sogar einen Urlaub ermöglichen.

Kessie gehörte niemals wirklich zu der Clique der FÜNF.

Gleich im vorderen Abschnitt der Siedlung wohnen die Kahlerts. Der älteste von fünf Brüdern heißt Stefan. Kurz und knapp wird er Kahli genannt. Kahli ist beachtlich groß für sein Alter und er ist kräftig. Er hat dunkelbraune, halblange Haare und einen „Pony-Haarschnitt“ wie alle seine Brüder. Er gehört nicht wirklich zur Clique, da er nicht so oft mit den Anderen herumhängen darf. Seine Eltern sehen eine Gefahr im Umgang mit den Jungs aus der Siedlung. Oft hat er Stubenarrest. Er ist eben für etwas Besseres auserwählt, weil der Vater Professor an der Hamburger Universität ist. Also ziemt es sich nicht, mit solchen üblen Jungs zu verkehren. Doch bis kurz vor seinem Tod ist er für die Clique der FÜNF ein verlässlicher Kamerad.

Im hinteren Teil wohnen die Holmers. Jens Holmer, genannt Holmi, ist ein hochgewachsener, kräftiger Junge von 13 Jahren und somit der älteste in der Clique der FÜNF. Er hat volle, dunkle, halblange Haare mit unbändigen Wellen, was eigentlich äußerst ungewöhnlich ist, da seine Eltern sehr streng sind und lange Haare eigentlich nicht dulden würden. Sie waren irgendwie anders streng …Georgie nennt es immer „bauernstreng“. Sie sind dick und einfältig, was Holmis Entwicklung jedoch keinen Abbruch macht. Also, lange Haare sind nicht das Thema. Zwar wird er wegen jeder Kleinigkeit bestraft, doch er ist hart im Nehmen. Früh hat er sich ein dickes Fell zugelegt. Er und Georgie gehen in den Sportleistungskurs und obwohl Holmi Unmengen von Süßigkeiten in sich hineinstopft, ist er nicht dick. Im Geräteturnen sind sie mit Abstand die Besten in der Schule und auch in der Leichtathletik haben sie immer Bestnoten. Schwimmen und Handball gehören natürlich ebenfalls zu ihren Favoriten.

Der Anführer derCliqueist Georg Kirchner, von allen Georgie genannt. Er ist ein aufgeweckter und scharfsinniger Junge von 12 Jahren, mittelgroß und kräftig. Er hat dunkelblonde, halblange Haare und auffallend angenehme Gesichtszüge.

Seine Augen stechen blaugrau von der dunkleren Hautfarbe ab, was ihm einen fast magischen Ausdruck verleiht. Er hat einen klaren, durchdringenden Blick, der in vielen Augenblicken töten könnte.

Im Sport hat er die besten Noten, während er in den übrigen Fächern eher schwächelt, was aber eher daran liegt, dass er nur etwas mit Hingabe und Erfolg erledigt, das ihn wirklich interessiert.

Vor zwei Jahren sind er und seine Eltern in die Siedlung gezogen. Schnell freundete er sich mit den Jungs an und bald darauf gründete sich die verschworene Clique der FÜNF …Holmi, Tommi, Ulli, Matjes und Georgie.

Die zwei Brüder Ulli und Matjes mit Nachnamen Palme, wohnen hinter der zweiten Biegung des kleineren Schubertrings. Sie wachsen ohne Vater auf, aber warum die Mutter alleine ist, interessiert niemanden. Dieser Umstand hat eher einen Vorteil. Sie dürfen einen Clubraum im Keller des Palme-Hauses einrichten.

Dort ist ihre Kommandozentrale. Poster von Led Zeppelin, Pink Floyd und Deep Purple hängen an den Wänden und an der Tür ein übergroßes Poster von Ian Anderson, dem Frontmann von Jethro Tull. Er spielt Querflöte und auf der Bühne steht er immer auf einem Bein.

Ian Anderson ist Matjes’ großes Idol, noch dazu sieht er ihm täuschend ähnlich. Matjes ist der Klügste von allen. Er geht aufs Gymnasium, ist ebenfalls 13, nur fünf Monate jünger als Holmi. Von allen hat er die längsten Haare, die in dichten Wellen über die Schultern fallen. Aber sportlich gesehen ist er ein totaler Tiefflieger, dafür ist er brillant im Ausarbeiten von Schlachtplänen. Mit Georgie teilt er den Hang zur Rock-Musik.

Ulli dagegen ist ein hoffnungsloser Witzbold und seine Eigenschaften sind breit gefächert –einige zeichnen ihn aus, andere sind weniger von Nutzen. Sein großes Interesse gilt der einfachen Elektronik, was die Mechanik zwangsläufig mit einbezieht, wobei seine Mutter kein Verständnis für dieses Interesse zeigt, da es den Verbrauch von Stromsicherungen ins Uferlose katapultiert.

Und er hat einen einzigartigen Tick: Überall trägt er einen hellbeigen Parka. Sogar im Sommer bei größter Hitze. Und dann setzt er noch die Kapuze auf. Allen Ernstes ist er davon überzeugt, dass der Parka sehr gut vor den Sonnenstrahlen schützt und er keineswegs schwitzen würde.Die Menschen in China würden das ja schließlich auch so machen.

Der Fünfte im Bunde ist Thomas. Thomas Koschinski. Der verfressene Fettmolch Tommi mit den 599 Sommersprossen, der rötlichen Schweinshaut und dem rostroten Krauskopf. Die Sommersprossen wurden einst in mühseliger Kleinstarbeit ermittelt …im Gesicht, am Hals, auf den Schultern, der Brust und den Armen …indem jede einzelne Sommersprosse mit Tinte markiert und gezählt wurde. Matjes war derjenige, der den Plan ausklügelte und diesen dann mit der Hilfe der anderen erfolgreich, wenn auch nervenaufreibend ausführte.

Auf dem ersten Blick gleicht Tommi einem Ferkel mit Haarteil. Meistens verbirgt er die Haare unter einer dunkelblauen Schirmmütze. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie auf seinem Kopf festgewachsen. Sie gehört zu ihm wie der Hammer zum Nagel. Sie verleiht ihm, wie er sagt, ein besseres Denkvermögen. Mit ihr fühlt er sich einfach sicherer. Sie gibt ihm Selbstvertrauen.

Wegen seiner Leibesfülle wird er von anderen Kindern und von den älteren Jungs natürlich gehänselt. Er ist nicht sportlich, aber dafür kräftig, wie ein Bär …nur weiß er diese Kräfte absolut nicht einzusetzen. Bei den Mädchen hat er schon gar keine Chancen.

Nur die Jungs derCliqueakzeptieren ihn so, wie er ist.

Deshalb sind dieFünffür ihn wie eine Familie.

Er wohnt mit seiner Mutter auf der Stirnseite des Mozartwegs.

Beide sind unverbesserliche Amerika-Fans.

Einmal war er schon dort …Verwandte in Chicago besuchen.

Natürlich war er auch in New York-City.

Erscheinungen II.

Irgendwann 1960

Kapitel 5

Aufgeschreckt fuhr Georgie herum. Der Lichtstrahl folgte zeitgleich, raste an den Blechspinden entlang, fing jedoch nichts ein, was dort nicht hingehörte. Sofort suchte der Lichtstrahl die schlammigen Fußspuren, als hoffte er, sie würden sich plötzlich in Luft auflösen –doch sie waren noch da. Bedrohlich hoben sie sich von dem weinroten Betonboden ab …Helle Lehmerde.Georgie kannte nur eine Stelle im Werk, wo man mit hellem Lehmboden in Berührung kam –hinten bei dem letzten Bunker …hinten in der Ecke rechts!

Angst pochte in seiner kleinen Brust. In jedem der Spinde vermutete er grässliche Monster und skrupellose Killer.Aber von wem waren die Fußspuren? Von dem gruseligen Kittelmann? Oder war es die Fratze aus seinem Traum? Oder war es ein und dieselbe Person?Zögerlich setzten sich die knallroten Fellpuschen wieder in Bewegung, schlurften an der Tür seiner Schwester vorbei.

Wenn jetzt etwas Schreckliches passierte, konnte er immer noch zu ihr flüchten!

Dann stand er vor der Tür, die in den hinteren Flur führte. Grellgebündelt heftete sich der Lichtstrahl an den Türgriff, jedoch schnellte er sofort auf den Boden zurück, um sich zu vergewissern, ob die Fußspuren bis hierher reichten.

Zittrig streckte er die Hand nach dem blanken Griff aus. Nichts geschah. Er wusste, dass die Tür nach außen aufschwang. Also trat er noch einen Schritt heran, um sich mit dem Körper dagegenzustemmen. Für Sekunden lauschte er.

Nichts war zu hören.

Endlich drückte er den Griff hinunter. Die Tür flog auf.

Sie saugte ihn förmlich über die zertretene Holzschwelle und jetzt ging alles rasend schnell. Alles spielte sich ab wie in einer Verfolgungsszene von„Tom und Jerry“, zudem konnte er dem Druck auf seiner Blase nichts mehr entgegenhalten. Mit wehendem Bademantel stürmte er um die Ecke in den großen Flur und zur hinteren Wand. Nur sein Mut und seine Taschenlampe trugen ihn bis dorthin und bis zu der Badezimmertür. Eilig sprang er die zwei Stufen hinauf und stieß auch diese Tür auf. Schnell fand er den Drehschalter für das Deckenlicht. Zunächst flackerte es, sprang ihm dann aber frontal ins Gesicht. Instinktiv kniff er die Augen zu, hielt abwehrend die Hand vor das Gesicht, wobei er das Toilettenbecken anvisierte.

Sein Blinzeln zog ihn mühelos hinauf auf den Brillenrand. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sich die Augen an das grelle Neonlicht gewöhnten, doch diese Zeit nutzte er, um seine Pyjamahose herunterzuziehen, indem er dabei auf dem Brillenrand hin- und her rutschte.

Endlich konnte sich der widerliche Druck lösen.

Dabei hielt er die Augen einfach geschlossen.

Der fensterlose Toilettenraum war ungewöhnlich groß.

Die Wände waren in mattem Gelb. Gegenüber stand eine klobige Badewanne mit geschwungenen Füßen, daneben ein rechteckiges, tiefes Waschbecken und darüber ein schlichter Spiegel. Eine Lüftungsklappe atmete hoch über dem Toilettenbecken und ließ eine Kette bis in Kopfhöhe herunterhängen. Selbst hier hatte der Betonboden den weinroten Lack. Tagsüber benutzten gleichwohl die weiblichen Arbeiterinnen das Badezimmer. Erst zum Abend ging Mutter Kirchner daran, alles für die Familie zu reinigen.

Doch Georgie wusste es besser, auch der unheimlicheKittelmannmachte in dieses Klobecken.

Momentan war das alles nicht wichtig. Jetzt quälte ihn der Gedanke an seinen Rückweg. Irgendwann musste er ihn antreten.

Überall würde er zuerst Licht machen, bis er den nächsten Flur erreicht hat, dann schnell zurücklaufen und hinten anfangen, das Licht wieder zu löschen. So wirds gehen.