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Wir, die Kinder haben neues Leben in ein vom Krieg während der letzten Tage 1945 verwüstetes Gebiet im südöstlichen Teil Zehlendorfs gebracht, dass durch das nördliche Kanalufer zwischen Fritz-Schweitzer-Brücke und der Knesebeckbrücke im Süden, dem Teltower Damm im Westen und dem Laehrpark mit dem Gelände des Südbahnhofs der Zehlendorfer Eisenbahn, volkstümlich als Goerzbahn bezeichnet, begrenzt war. Wir, die Kinder der Goerzbahn, wohnten in den Arbeiter- und Angestellten Siedlungsblöcken rund um den Teltower Damm. Unser Territorium, ein unendlich vielseitiger und naturverbundener Spiel- und Tummelplatz, reichte bis zum Teltowkanal, der Grenze des amerikanischen Sektors Berlins zur russischen Besatzungszone Teltow und kontrollierten es ganz im Sinn unserer bestehenden Möglichkeiten. Das faszinierende Gebiet der Gleisanlagen, Gebäude und Lokomotivschuppen der Goerzbahn gehörte natürlich dazu, welche den Betrieb Anfang 1946 wieder aufgenommen hatte. Die Dampflokomotiven waren für uns Kinder das Symbol der Zukunft. Die heiteren aber auch traurigen Geschichten sollen einen Einblick in die Gedankenwelt, Erlebnisse und Taten unserer ungebundenen Kindheit während der schwierigen Nachkriegszeit Berlins vermitteln. Die einzigartige Bedeutung und historische Entwicklung des Südberliner Industriegebietes durch die Zehlendorfer Eisenbahn und den Teltowkanal sind der Schlussgeschichte und dem Epilog gewidmet.
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Seitenzahl: 71
für
Jenna, Nik, Mina, Lynn und Mats,
Raphael, Marilyn,
Georg, Andrea und Barbara
In
Gedenken
an die Berliner Kinder,
die in den schwärzesten Tagen
des zweiten Weltkrieges
ihr Leben
lassen mussten
Seit 1905 verbindet die Goerzbahn das Industriegebiet zwischen der heutigen Goerzallee in Berlin-Lichterfelde und dem Teltowkanal mit dem Netz der Staatsbahn (bzw. heute der Deutschen Bahn AG) am Bahnhof Berlin-Lichterfelde West. Seit jeher wurde sie als Privatanschlussbahn betrieben und hat sich über weit mehr als hundert Jahre gegen alle Widrigkeiten behauptet.
Zurzeit liegt der Betrieb still, und es wird nach Wegen gesucht, die traditionsreiche Strecke durch zeitgemäße Innovationen wiederzubeleben. Wann und wie das gelingen wird, steht jetzt (Frühjahr 2020) noch in den Sternen des Eisenbahnhimmels.
Auf den Gleisen der Goerzbahn betreibt die AG Märkische Kleinbahn seit 1981 ein Eisenbahnmuseum; auch Publikumsfahrten mit historischen Eisenbahnfahrzeugen sind dort zu bestimmten Zeiten möglich.
Vor diesem Hintergrund war es mir eine große Freude, als ich von der Entstehung dieses jetzt vorliegenden Buches Kinder der Goerzbahn erfuhr. Zuerst nur als kurze Vorausschau, verbunden mit der Bitte, einige Fotos aus dem Archiv der Goerzbahn und der AG Märkische Kleinbahn zur Verfügung zu stellen. Keine Frage, dass diese Bitte erfüllt wurde.
Und dann eines Tages – lag das fertige Buch in meinem Briefkasten. Ich habe es in einem Zuge durchgelesen ... es hat mir den Blick auf eine Zeit geöffnet, die ich selbst nicht erlebt habe, aber gleichwohl ist die Erzählung so bildhaft und packend geschrieben, dass das Geschehen wie ein Film vor dem inneren Auge abläuft. Dabei ist das Gelände der Goerzbahn immer wieder der Dreh- und Angelpunkt, was diesen Zugang sicher erleichtert, aber ich bin überzeugt, dass auch Leser, die aus eigenem Erleben nicht mit der Goerzbahn verbunden sind, genauso viel Lesefreude haben werden.
Herzlichen Dank an den Autor für diese sehr persönliche, bewegende Geschichte und doch zeitgeschichtlich gleichermaßen bedeutsame Erzählung.
Martin van der Veer
Vorstandsmitglied der AG Märkische Kleinbahn
im Mai 2020
Prolog
Wir, die Kinder der Goerzbahn
Spielzeug, was ist das?
Dschungelparadies Laehrpark
Die Schokoladenbahn
Mutproben auf dem Südbahnhof
Gewehre und Pulverspiele
Pusterohre, Flitzbogen und Katapulte
Tragödie im Löschteich der ’Spinne’
Der Teltowkanal, ein Nachkriegsbiotop
Experimentierzoo Balkon
Angeln aus Spaß, Fische zum Essen
Das Strandbad am Teltowkanal
Obstklau mit Brückenspringen
Schrottsammeln in Ruinen
Dem Eistod entronnen
Die Geschwister Goerzbahn und Teltowkanal
Epilog
Dank
Quellennachweis
Wir, die Kinder haben neues Leben in ein vom Krieg während der letzten Tage verwüstetes Gebiet im südöstlichen Teil Zehlendorfs gebracht, in dem Teile der Roten Armee die Umklammerung und Invasion Berlins mit der Überquerung des Teltowkanals am 24. April 1945 begannen.
Plan der Invasion der Roten Armee unter Marschall Konew von Teltow über den Teltowkanal nach Zehlendorf und Lichterfelde am 24. April 1945 nach intensivstem Artilleriefeuer aus mehreren hundert Kanonen je Kilometer. Sämtlicher Widerstand des Volkssturms (schwarz) wurde dabei total vernichtet. Alle Brücken waren am 21. Und 22. April von der SS gesprengt worden. Über rasch errichtete Pontonbrücken konnten russische Panzer und Infanterie (rot) widerstandslos vorrücken und erreichten in wenigen Stunden die Mitte Zehlendorfs.
Quelle: modifiziert nach Trumpa (1994) in Glatzel (2015)
Das schreckliche Kriegsgebiet war durch das nördliche Kanalufer zwischen den beiden von der Waffen-SS gesprengten Brücken (Fritz-Schweitzer-Brücke und der Knesebeckbrücke) im Süden, dem Teltower Damm im Westen, dem Laehrpark mit dem Gelände des Südbahnhofs der Zehlendorfer Eisenbahn (‘Goerzbahn’), und der Wupperstraße im Norden und Osten begrenzt.
April 1945 sowjetische Artillerie vor Berlin.
Quelle: Bundesarchiv Bild 183-E0406-0022-012, Wikimedia commens
Große Teile des Geländes, zur Spinnstofffabrik und zu den Zeiss-Ikon-Goerz-Werken gehörend, sind durch Gleisanlagen der Goerzbahn getrennt und waren durch Bombardierungen, massives Artilleriefeuer und Granatwerfer des 24. April teilweise zerstört worden. Die Bevölkerung Zehlendorfs bestand dieser Tage überwiegend aus Frauen, Müttern mit Kleinkindern und älteren Menschen. Wir, die Kinder im Schulalter von 6 bis 15 Jahren, gehörten auch zu den Übriggebliebenen.
Nach dem Ende des schrecklichen Weltkrieges, der sinnlosen Zerstörung Berlins, dem Abzug der russischen Besatzungssoldaten und der Übernahme Westberlins durch die alliierten Streitkräfte im Juli 1945, durften wir Kinder endlich wieder auf die Straße und in den naheliegenden Laehrpark.
Alle Frauen mussten irgendwie und irgendwo arbeiten. Männer waren kaum vorhanden oder kehrten erst sporadisch aus der Gefangenschaft zurück, meist jedoch nur aus amerikanischen Gefangenenlagern. Zwangsläufig waren wir Kinder meist allein zu Hause und hatten dadurch als Schlüsselkinder die uneingeschränkte Freiheit.
Wir, die Kinder der Goerzbahn, wohnten in den Arbeiter- und Angestellten Siedlungsblöcken am Laehr’scher Jagdweg zwischen Birkenknick und Rehwechsel direkt hinter dem Laehrpark. Bis zu Beginn des Krieges waren meine Eltern Angestellte der Firma Zeiss-Ikon im Goerz-Areal, daher unser Wohnort im Süden Zehlendorfs. Aber auch Kinder der Telefunkensiedlung gehörten zu den Kindern der Goerzbahn. Viele besuchten ab 1946 die Südschule an der Claszeile, wurden aber zwei Jahre später wegen Überfüllung der Klassen in die neu eingerichtete Schweizerhof Schule am Teltower Damm umgeschult.
Glücklicherweise waren die meisten Wohnblöcke und der Laehrpark von den Bombenangriffen der Amerikaner und Engländer verschont geblieben. Diese Situation machte das gesamte Nachbargebiet für uns zu einem unendlich vielseitigen und faszinierenden Spiel- und Tummelplatz. Natürlich warnten uns alle Erwachsenen vor todbringenden Gefahren, viele Kinder durften nur in Sichtweite spielen, und die Verbote häuften sich. Dies betraf vor allem das Sammeln von zerstörten Waffen, Betreten von Ruinen, Abfallgruben und Schuttbergen.
Dennoch kannten wir bald unser gesamtes Territorium bis zum Teltowkanal, der Grenze des amerikanischen Sektors Berlins zur russischen Besatzungszone Teltow und kontrollierten es ganz im Sinn unserer bestehenden Möglichkeiten. Das faszinierende Gebiet der Gleisanlagen des Südbahnhofs, Gebäude und Lokomotivschuppen der Goerzbahn gehörte natürlich dazu, welche den Betrieb Anfang 1946 wieder aufgenommen hatte. Sommer wie Winter besuchten wir diese Anlagen; für uns alle bedeuteten die Dampflokomotiven ein Symbol der Zukunft und der Technik.
Anmerkung: Lageplan des Gebietes in Zehlendorf Süd, Seite →.
Spielzeug - der Kontrast zwischen Spielzeug von gestern und heute könnte nicht grösser sein. Das selbstständige Erleben und Erlernen und natürliche Heranwachsen der Fantasie und Kreativität des Menschen wird seit der technologischen Explosion vor 150 Jahren bis zum heutigen digitalen Zeitalter kontinuierlich zerstört. Das betrifft in krassester Form Spielzeug, das für Babys, Kinder und Jugendliche bis zum Erwachsenenalter produziert und perfektioniert in Form, Farbe und mit allen Funktionsmöglichkeiten als totale Massenproduktion vermarktet und verkauft wird. Es ermöglicht kaum noch eigene Fantasie und tötet alle Kreativität ab.
Spielzeug während des Krieges war rar und allenfalls begünstigten oder vom Krieg wenig betroffenen Familien vorbehalten. Die meisten jungen Väter mussten in den Krieg ziehen, die Mütter arbeiten. Meine Erinnerungen an die ersten Jahre meiner Kindheit sind vage, heute erlebe ich im Halbschlaf nur verschwommene Bilder eines Teddybären, eines Balls und einer Holzeisenbahn; vielleicht sogar nur deshalb, weil aus dieser Zeit einige Fotos existieren. Die Lust und jegliche Freude am Spielen wurden in der zweiten Hälfte des Krieges durch die Angst vor Bombardierungen und die Erlebnisse in Luftschutzkeller und Bunkern unterdrückt. Die gleiche Angst und das Verhalten meiner Mutter, Tante und Großeltern verstärkte die Unterdrückung des Spielens mit mir und anderen Kleinkindern.
Noch erschreckender waren die letzten Tage und Wochen vor Ende des Krieges während der Evakuierung außerhalb Berlins in der Niederlausitz, in denen wir auf der Flucht vor den russischen Kampf- und Besatzungstruppen waren. Erlebnisse wie auf alles schießende Tiefflieger über der Straße, Schutz suchen im Straßengraben, Panzer, Kanonen und russische Soldaten in Dörfern und auf Plätzen, die Flucht von Luckau nach Wünsdorf und Zossen bleiben ewig in meinem Gedächtnis.
Juni 1945 Rückkehr der Flüchtlinge nach Berlin. Quelle: akg-images/Sputnik
An ein einzig unvergleichliches schönes Erlebnis erinnere ich mich dennoch gern: An einen Ritt auf dem Pferd eines russischen Offiziers über einen Dorfplatz zwischen lachenden Soldaten hindurch, umgeben von Panzern. Lückenhaft bleibt mir die Erinnerung über die Rückkehr mit meinem Teddybären nach Zehlendorf auf dem Leiterwagen, den meine Mutter bis zum Laehr’scher Jagdweg zog, wo wir in der fast leeren Wohnung und im Keller auf Decken am Boden schlafen mussten.
Erst mit dem Einzug der amerikanischen Truppen nach Wochen durfte ich wieder auf die Straße und in den üppig grünen Park hinter dem Haus. An Spielen mit irgendwelchen Spielsachen erinnere ich mich nicht. Dann kam die Erlösung, die Amerikaner waren da. Wie aus dem Nichts kam auch mein Vater eines schönen Sommertags unbeschadet nach Hause und einige Tage später sogar unsere gestohlenen Möbel, welche ein von den Russen eingesetzter Blockwart entwendet hatte.