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Wer die KINGS OF NEW YORK mochte, wird die KINGS OF LONDON lieben
Als Chef-Stewardess einer Luxusjacht gehört es zu Avery Walkers Aufgaben, auch schwierigen Gästen jeden Wunsch zu erfüllen. Doch der englische Geschäftsmann Hayden Wolf stellt sie vor eine große Herausforderung, denn er macht ihr unmissverständlich klar, dass er mehr von ihr will als nur den nächsten Drink: Er will Sie! Auch Avery spürt die starke Anziehungskraft, die von dem attraktiven und selbstbewussten Briten ausgeht. Aber wenn Sie der unausgesprochenen Aufforderung nachgibt, die in jedem seiner Blicke und jeder seiner flüchtigen Berührungen liegt, würde Avery ihren Job riskieren - denn Beziehungen zu Gästen sind streng verboten!
"Louise Bay schreibt die besten britischen Geschäftsmänner" L.J. Shen
Auftakt des KINGS-OF-LONDON-Duetts von USA-TODAY-Bestseller-Autorin Louise Bay
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Seitenzahl: 483
Titel
Zu diesem Buch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
Epilog
Dank
Die Autorin
Die Romane von Louise Bay bei LYX
Impressum
Louise Bay
King of London
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anja Mehrmann
Als Chef-Stewardess auf einer Luxusjacht gehört es zu Avery Walkers Aufgaben, den anspruchsvollen Gästen auch ihre schwierigsten Wünsche zu erfüllen. Und sie ist sehr gut in ihrem Job. Doch der englische Geschäftsmann Hayden Wolf stellt Avery vor eine ganz besondere Herausforderung: Denn er verlangt nicht nach teuren Drinks oder gibt exklusive Partys – er will nur sie! Und Hayden, der das millionenschwere Unternehmen, das er leitet, selbst aufgebaut hat, ist es gewohnt, alles zu bekommen, was er will. Auch Avery spürt die starke Anziehungskraft, die von dem attraktiven und selbstbewussten Briten ausgeht. Aber wenn sie der Aufforderung nachgibt, die in jedem seiner Blicke und jeder seiner flüchtigen Berührungen liegt, würde sie ihren Job riskieren – denn Beziehungen zu Gästen sind streng verboten! Avery kann es sich jedoch auf keinen Fall leisten, gefeuert zu werden. Schließlich muss sie ihre Familie unterstützen. Doch Hayden Wolf ist die rücksichtsloseste und charmanteste Verführung, die ihr je begegnet ist, und die Versuchung, seinem Angebot nachzugeben, wächst mit jedem Tag, den sie zusammen auf der Jacht verbringen …
Wenn eine Krise droht, gibt es im Geschäftsleben zwei Sorten von Menschen: diejenigen, die behaupten, sie würden sich niemals kampflos geschlagen geben, und diejenigen, die die Möglichkeit eines Scheiterns von vornherein ausschließen. Ich gehörte eindeutig zur zweiten Kategorie.
Ich hatte mir meinen Ruf auf andere Art erarbeitet als viele Geschäftsleute in der City, dem Banken- und Finanzviertel von London. Anstatt mich auf familiäre Verbindungen zu verlassen oder bei einem Drink alte Freunde vom Internat zu beeindrucken, konzentrierte ich mich auf Zahlen. Ich bedachte jedes Detail und traf clevere Entscheidungen. Es gefiel mir, Geld zu verdienen. Viel Geld. Und ich dachte nicht daran, diese Tatsache in die Welt hinauszuposaunen.
Im Lauf der vergangenen zehn Jahre hatte ich Wolf Enterprises von einem Start-up-Unternehmen in einer besseren Abstellkammer am Stadtrand von London zu einer der größten Firmengruppen Europas gemacht. Ich war für Zehntausende Jobs und eine milliardenschwere Bilanz verantwortlich. Ein Jahrzehnt lang hatte ein Erfolg den anderen gejagt, aber in den zurückliegenden zwölf Monaten hatte sich etwas verändert. Ich war bei wichtigen Verkäufen leer ausgegangen, bei Vertragsabschlüssen unterboten und bei manchen Angeboten von vornherein übergangen worden. Mein Imperium schwankte.
Ich würde nicht zulassen, dass es zusammenbrach.
Ich musste lediglich meine Investoren bei einem Lunch davon überzeugen, dass ich das Steuer wieder herumreißen konnte.
Als ich den Eingang des Restaurants erreicht hatte, entdeckte ich Steven und Gordon am anderen Ende des Raums. Ich blickte auf die Uhr. Ich war auf die Minute pünktlich, was bedeutete, dass die beiden zu früh gekommen waren. Ein schlechtes Zeichen, denn normalerweise ließen sie die Leute gern warten. Sie meinten es ernst.
Aber das tat ich auch.
Die Kellnerin führte mich zu dem Tisch hinten im Lokal, und ich nahm den beiden gegenüber Platz. Diese Typen überließen nichts dem Zufall: ein Mittagessen in der Öffentlichkeit anstatt eines privaten Treffens. Zu früh kommen. Sofort Platz nehmen, um den Eindruck zu erwecken, dass zwei gegen einen gespielt wurde – all das war sorgfältig inszeniert, sollte eine Botschaft übermitteln, bevor überhaupt ein Wort gesprochen wurde.
»Gordon, Steven, freut mich, Sie zu sehen«, sagte ich und begrüßte zuerst Gordon, den älteren der beiden. Ich kannte die Hackordnung. Im Geschäftsleben spielen die kleinen Dinge oftmals die größte Rolle.
»Ich liebe die Aussicht hier«, sagte Gordon und eröffnete das Gespräch mit einer zwanglosen und doch leicht respektlos wirkenden Bemerkung, denn er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, mich zu begrüßen.
Ich blickte aus dem Fenster. Diese Quadratmeile im Osten Londons, allgemein als »die City« bekannt, war eines der ältesten Viertel der Hauptstadt, und in ihm ballten sich die größten Banken, Versicherer und Investmenthäuser des Landes. Die City galt als der finanzielle Dreh- und Angelpunkt Europas; dort waren die Anzüge todschick, der Verstand messerscharf.
In diesen Straßen regierte das Geld, und in den Augen dieser beiden Männer hatte ich zu wenig davon verdient.
Das wollten sie mir klarmachen.
Als wäre das nötig.
»Von hier oben haben Sie all Ihre Investitionen im Blick«, sagte ich und deutete mit dem Kinn auf die Aussicht.
Gordon lächelte, musterte mich dabei jedoch durchdringend. »In der Tat«, sagte er.
Sie glaubten, sie könnten mich aus dem Hinterhalt überfallen, aber ich war hervorragend vorbereitet. »Es wird Zeit, dass ich Sie bei einigen Dingen auf den neuesten Stand bringe.«
»Es heißt, Sie haben den Lombard-Deal verloren«, sagte Steven.
Nun war es so weit. Keine Nettigkeiten mehr. Die Schwerter waren gezogen.
Es wäre sinnlos gewesen, Steven zu fragen, woher er das wusste. Ich hatte die beiden unter anderem deshalb als Investoren ausgewählt, weil sie zu den bestvernetzten Leuten in der City gehörten.
Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und sagte: »Gestern Nacht habe ich erfahren, dass wir überboten wurden und ein anderer Käufer den Zuschlag erhalten hat.«
Schweigend warteten Steven und Gordon darauf, dass ich die Lücken füllte.
»Wissen Sie, wer Sie überboten hat?«, fragte Steven schließlich.
»Ja, Cannon.« Meine Miene blieb ausdruckslos, obwohl meine Hände vor Frustration zuckten. Am liebsten hätte ich die Fäuste geballt und auf etwas eingeschlagen. Heftig. Immer wieder. Verdammter James Cannon. Die letzten vier Unternehmen, die ich hatte übernehmen wollen, hatte ich an ihn verloren.
»Das ist die vierte Übernahme nacheinander, bei der Sie gescheitert sind«, sagte Steven. »Wir finden, Sie haben ganz schön nachgelassen.«
Der Vorwurf war berechtigt. Ich hatte als Geschäftsmann Karriere gemacht, indem ich kleine, zu niedrig bewertete Unternehmen entdeckt, aufgekauft und ihren Wert innerhalb von drei bis fünf Jahren verdreifacht hatte, um sie dann weiterzuverkaufen. Und das tat ich noch immer, allerdings überbot mich Cannon inzwischen bei jeder Firma, die ich ins Visier genommen hatte.
»Haben Sie sich bei denen Feinde gemacht?«, fragte Steven. »Es scheint ja etwas Persönliches zu sein.«
»Nein, an Verschwörungstheorien glaube ich nicht«, entgegnete ich. »Wenn man ganz oben ist, dient man automatisch als Zielscheibe.« Scheinbar gleichmütig zuckte ich mit den Schultern, obwohl ich wusste, dass es im Fall von Cannon tatsächlich um etwas Persönliches ging.
»Wie dem auch sei, Sie müssen herausfinden, was vor sich geht. Wir haben in Sie investiert, weil Sie bislang ein gutes Geschäft nicht nur erkennen, sondern es auch unter Dach und Fach bringen konnten«, erklärte Steven.
»Für mich ist das genauso frustrierend wie für Sie«, antwortete ich und vermied es, den Fehdehandschuh aufzunehmen.
»Frustrierend? Diese Geschichte ist nicht frustrierend, sondern es geht ganz konkret um geplatzte Deals«, fuhr Steven fort. »Verlierer zu unterstützen fällt nicht in unseren Zuständigkeitsbereich.«
»Und meiner erstreckt sich nicht aufs Verlieren, darum habe ich mich um größere und bessere Deals gekümmert.«
Gordon räusperte sich. Er war absolut oldschool, von den gestickten Monogrammen auf den Hemdmanschetten bis zu dem Anwesen auf dem Land, das seiner Familie seit fünf Generationen gehörte. Er erhob nie die Stimme und ließ sich in der Öffentlichkeit niemals auf eine Auseinandersetzung ein. Er war derjenige, der hier das Sagen hatte.
»Wir möchten gern wissen, wie wir Ihnen helfen können«, erklärte Gordon. »Wir glauben, dass Sie in Ihrem Job hervorragend sind, und wir wollen Sie gern wieder ganz oben sehen.«
Obwohl Gordon mitfühlend und freundlich klang, überbrachte er mir dieselbe Botschaft wie zuvor schon Steven, nur tat er es auf völlig andere Art und Weise. Unsere Beziehung stand auf Messers Schneide.
Wenn Steven und Gordon jetzt gingen, wäre das eine klare Botschaft an die City – Hayden Wolf war ein lebender Toter. Meine Tage als erfolgreicher Geschäftsmann wären gezählt, und das Unternehmen, dass ich meinem Vater zu Ehren aufgebaut hatte, würde zerfallen.
Ich versuchte, ruhig zu wirken, obwohl das Adrenalin durch meine Adern rauschte. »Ich bin Geschäftsmann, aber ich kaufe nicht einfach, um zu kaufen. Cannon mag im Augenblick für Schlagzeilen sorgen, aber sie geben zu viel Geld für Übernahmen aus.« Wenn ihre Strategie darin bestand, mich zu schlagen, dann funktionierte das zwar, aber es geschah auf Kosten ihres eigenen Unternehmens. Um mich fertigzumachen, zahlten sie zu viel für Firmen, die zu wenig wert waren.
Gordon nickte. »Ich mache mir keine Sorgen um Cannons Profit oder Geschäftsgebaren. Ich mache mir Sorgen um Sie.«
»Wolf Enterprises ist nach wie vor auf Kurs«, sagte ich, um keine Schwäche zu zeigen. »Und meine nächste Übernahme wird Sie die vergangenen zwölf Monate vergessen lassen.«
Stille senkte sich über unseren Tisch, als die Kellnerin mit Drinks für Gordon und Steven auftauchte und wieder verschwand.
»Um das letzte Jahr auszugleichen, brauchen Sie einen größeren Deal als je zuvor«, stellte Steven fest.
»Das stimmt«, bestätigte ich.
»Und wir sollen Ihnen glauben, dass Sie nach einem Jahr größter Verluste alles mit einem einzigen Abschluss umdrehen können? Mit einem Deal, der jeden übertrifft, den Sie je zuvor getätigt haben?«
»Er wird nicht nur einen vorherigen Erfolg übertreffen«, korrigierte ich Steven, sah dabei aber Gordon in die Augen. »Sondern alle zusammen.«
Steven lachte mich unverblümt aus, Gordon jedoch verstummte und betrachtete mich mit demselben Blick wie an dem Tag, an dem er beschlossen hatte, in einen unbekannten jungen Burschen ohne Referenzen zu investieren, der nichts zu verlieren hatte.
»Sie glauben also, dass sie sich mit Phoenix aus der Asche erheben werden?«, fragte er und musterte mich aus schmalen Augen.
Ich hielt seinem Blick stand. »Genau«, sagte ich. Spiel, Satz und Sieg für mich. Phoenix hatte Jahrzehnte voller Erfolge hinter sich, es war der Juwel in der Finanzkrone der City. Bei unserem ersten Treffen zehn Jahre zuvor hatte ich Gordon versprochen, dass dieses Unternehmen mir eines Tages gehören würde. Er hatte nur gelacht, aber mir war es schon damals ernst damit gewesen, und nun würde ich mein Versprechen halten und Phoenix aufkaufen.
»Das darf auf keinen Fall publik werden«, sagte Gordon. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Sobald die Nachricht, dass sie verkaufen wollen, an die Öffentlichkeit gelangt, wird ein Chaos losbrechen, ein Bieterkrieg, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.«
»Das glaube ich auch«, sagte ich und beobachtete, wie Steven zu begreifen versuchte, wovon wir sprachen.
»Cannon hat es auf Wolf Enterprises abgesehen. Sie lassen Sie einen Deal klarmachen, und dann funken sie in letzter Minute dazwischen und überbieten Sie. Aber von irgendwem müssen sie diese Informationen ja haben«, sagte Gordon.
Seitdem der Lombard-Deal geplatzt war, dachte ich kaum noch an etwas anderes. Wie hatte Cannon mir diesen Abschluss vor der Nase wegschnappen können? Ich hatte nur wenigen Menschen, die noch dazu eng miteinander verbunden waren, von dem Deal erzählt. Alle Berater hatten wasserdichte Geheimhaltungsverträge unterschrieben. Ich war mir absolut sicher gewesen, das Geschäft bereits in der Tasche zu haben.
»Wirtschaftsspionage?«, fragte Steven.
Wahrscheinlich, obwohl ich das nur ungern zugab. Als der erste Deal geplatzt war, hatte ich das noch als unwichtig abgetan. Beim zweiten hatte ich meine Finanzberater gewechselt. Und beim dritten Mal und jetzt bei Lombard? Nachdem sie mir den dritten Deal vor der Nase weggeschnappt hatten, hatte ich dafür gesorgt, dass nur ein vertrauenswürdiges Viererteam – meine Assistentin eingeschlossen – von Lombard erfuhr. Was bedeutete, dass das Leck sich in meinem eigenen Büro befinden musste.
Der Gedanke machte mich krank.
Ich hatte mein Team selbst zusammengestellt. Jeder einzelne meiner Mitarbeiter hatte sich mein Vertrauen verdient, und ich vertraute nie jemandem leichtfertig.
Wenn ich weiterhin Geheimhaltung gewährleisten wollte, würde ich mich noch stärker isolieren müssen. Damit das funktionierte, durfte ich niemandem mehr vertrauen, musste von vornherein jeden verdächtigen. Mein Unternehmen, mein Ruf, alles, was ich im vergangenen Jahrzehnt so mühsam aufgebaut hatte, stand auf dem Spiel.
»Wenn ich diesen Abschluss rasch und ohne Aufsehen über die Bühne bringen will, muss ich verschwinden. Niemand darf erfahren, dass ich überhaupt an einem Deal arbeite. Wenn ich mich das nächste Mal an Sie wende, dann mit der Bitte um Finanzierung.«
»Verschwinden?«, fragte Gordon.
»Ein ausgedehnter Arbeitsurlaub. Vorzugsweise im Ausland. Meinetwegen können die Geier ruhig glauben, dass ich abgehauen bin, um nach dem letzten geplatzten Deal meine Wunden zu lecken.« Sollte Cannon sich doch einbilden, dass ich am Boden lag.
»Ich weiß, wie viel Ihnen dieses Geschäft bedeutet«, sagte Gordon, während Steven sich vorbeugte. »Und ich möchte, dass Sie erfolgreich sind. Tun Sie alles, was dafür nötig ist.«
»Ich bin bereit«, sagte ich und nickte.
»Sorgen Sie dafür, dass es funktioniert, Hayden.« Gordon erhob sich. »Denn wenn es nicht funktioniert, wird es das Ende von Wolf Enterprises bedeuten.«
Ich hatte einen heftigen Kater. Als Chefstewardess auf einer Superjacht war ich es gewöhnt, lächelnd mit jeder Zumutung fertigzuwerden, darum sah es für Außenstehende so aus, als wäre alles mit mir in Ordnung. Mein Make-up war perfekt, die langen, braunen Haare hatte ich zu einem glänzenden Pferdeschwanz zusammengebunden. Mein rebellierender Magen und die pochenden Kopfschmerzen sagten allerdings etwas anderes.
»Eigentlich erstaunlich, dass du uns daran hindern konntest, den ganzen Laden zu verwüsten«, sagte Leslie, ein Mitglied der Crew. Sie tauchte hinter mir auf, als wir den Hauptsalon der Jacht betrachteten, die in den vergangenen fünf Monaten unser Zuhause gewesen war. Die dunklen Ringe unter Leslies Augen, ihre zerknitterte Kleidung und die Art, wie sie sich ständig an die Stirn fasste, verrieten das Ausmaß unseres Alkoholkonsums am Abend zuvor. Wir hatten den letzten Gast verabschiedet und bereits zu trinken angefangen, als wir alles auf Vordermann brachten. Allerdings mochte unsere Gründlichkeit unter all dem Wein ein wenig gelitten haben.
»Unsere Arbeit soll schließlich nicht umsonst gewesen sein«, antwortete ich. Irgendwann hatten wir an Land weitergefeiert, und als wir wieder an Bord gegangen waren, hatte ich die Crew aufgefordert, in der Messe zu bleiben. Ich wusste, wie es war, auf einer Jacht anzukommen, auf der das Chaos herrschte. Dieses Erlebnis wollte ich der nächsten Chartercrew gern ersparen und mit reinem Gewissen nach Kalifornien zurückkehren, nach Hause.
Ich konnte es kaum erwarten, endlich einen ganzen Monat freizuhaben, denn an das letzte Mal erinnerte ich mich kaum noch. Dreißig Tage, um mit meinem Bruder und meinem Dad zusammen zu sein und alte Freunde zu treffen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diese fünfmonatige Karibiksaison durchgestanden hatte. Der Winter war hart gewesen, und die erste Woche in Sacramento würde ich vermutlich einfach durchschlafen.
»Avery, Avery, hier spricht der Captain«, schallte es aus meinem Funkgerät. Ich verdrehte die Augen. »Was will der denn von mir?«, sagte ich und blickte auf die Uhr. »Ich habe schon Feierabend.«
Die Saison in der Karibik war offiziell vorbei, und mein Flieger würde nicht auf mich warten. Aber ob im Dienst oder nicht – wenn der Captain mich anfunkte, meldete ich mich stets. Manche Kapitäne waren geborene Arschlöcher. Auf Captain Moss traf das nicht zu. Er war streng, aber fair, und ich konnte mir vorstellen, dass er dreißig Jahre zuvor, ehe das Wetter und sein Job ihren Tribut gefordert hatten, sehr attraktiv gewesen war.
Ich löste das Funkgerät von meiner Taille und drückte auf den Knopf. »Captain, hier spricht Avery.«
»Bitte zum Ruderhaus kommen.«
Ich ließ die Schultern sinken. Mein ganzer Körper kribbelte vor Verlangen, endlich dieses Schiff zu verlassen. Nach fünf Monaten auf diesem Ding war ich fix und fertig.
»Roger, Sir.«
Ich drehte mich zu Leslie, und wir umarmten uns. »Wir sehen uns in Frankreich.«
»Oder Italien.«
In Italien lagen einige meiner liebsten Hafenstädte – es war dort ruhiger als in Südfrankreich, und die Leute waren entspannter. Und natürlich gab es Pasta. »Ja, hoffentlich in Italien.« Wenn der Vertrag auf dem bisherigen Schiff nicht verlängert wurde, ließ sich die nächste Saison zwar kaum im Voraus planen, aber ich konnte immerhin auf eine hoffen, in der ich viel von Italien sehen würde. Und wenn es nur vom Wasser aus war.
Ich löste mich von Leslie und machte mich auf den Weg zum Ruderhaus, von dem aus der Kapitän das Schiff steuerte, Befehle erteilte und dafür sorgte, dass wir alle am Leben blieben, solange wir uns an Bord aufhielten.
»Avery, kommen Sie rein«, sagte er, als ich anklopfte. »Nehmen Sie Platz.«
Ich setzte mich auf einen der beiden Stühle, die auf dem Boden festgeschraubt waren. »Sie hatten eine gute Saison«, sagte er, während er mir gegenüber Platz nahm.
»Danke sehr, Sir.«
»Ich stelle gerade die Besatzung für die Mittelmeersaison zusammen, und ich möchte gern, dass Sie die erste Stewardess sind.«
»Ich fühle mich geschmeichelt. Welche Jacht?«
»Die Athena – vor zwei Jahren auf dem Trockendock instand gesetzt. Eine 47-Meter-Jacht. Ich habe bereits eine Saison auf ihr verbracht; es ist ein schönes Schiff.« Als spürte er, dass er mir das Angebot versüßen musste, fügte er hinzu: »Sie würden eine eigene Kabine bekommen.«
Ich runzelte die Stirn. »Tatsächlich?« Privatsphäre für die Besatzung einer Jacht, das war ungefähr so selten wie ein weißer Rabe.
Er lächelte. »Himmlisch, nicht wahr? Und das Grundgehalt ist gut – vierzig Prozent mehr als das, was Sie in der zurückliegenden Saison bekommen haben.«
»Im Ernst?« Die Gehälter für Chefstewardessen waren mehr oder weniger festgelegt und beruhten weitgehend auf der Größe der Jacht. »Wie kommt’s?«
Er zuckte mit den Schultern. »Die Anfrage kam vom Eigentümer der Jacht. Er hat jedes einzelne Besatzungsmitglied persönlich ausgewählt und ist bereit, gut zu zahlen, um seinen Willen zu bekommen.«
Ich hatte keine Ahnung, wo der Eigentümer auch nur meinen Namen gehört haben sollte. Normalerweise heuerten sie einfach einen Kapitän an und überließen es ihm, den Rest der Besatzung auszusuchen. »Vierzig Prozent mehr? Wo ist der Haken?« Es musste einen Grund dafür geben, dass der Jachtbesitzer so viel zahlte.
»Nun, die erste Reise der Saison ist lang, acht Wochen. Es wird also in den nächsten zwei Monaten kaum Freizeit geben. Ich glaube, er versucht, uns die bittere Pille ein wenig zu versüßen.«
Normalerweise hatte die Besatzung in der fünfmonatigen Saison zwischen zwei Charterreisen ein paar Tage frei, um ein bisschen abzuschalten und sich neu zu formieren. An diesen Tagen schlief ich immer wie eine Tote. Acht Wochen waren lang, wenn es keine Tage ohne Gäste gab. Aber eine Erhöhung um vierzig Prozent war bedenkenswert. Meine Ersparnisse waren so weit geschrumpft, dass sie praktisch nicht mehr existierten, und ich hatte vergessen, wann ich mir zuletzt neue Sandalen oder ein neues Outfit gekauft hatte. Ich schickte all mein Geld nach Hause, und trotzdem reichte es dort nur knapp zum Leben. Mehr Geld würde es mir erlauben, etwas für Notfälle zurückzulegen und bei Zara vorbeizuschauen, um meine Garderobe um ein paar Teile zu erweitern.
»Aber der Vorteil bei der Sache ist, dass es nur einen Gast gibt.«
»Wirklich?« Das klang zu gut, um wahr zu sein. »Auf einer 47-Meter-Jacht? Die muss doch mindestens sechs Kabinen haben.«
»Jep. Das Schiff bietet Platz für zwölf Personen.«
Ich runzelte die Stirn. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Der Gast ist offensichtlich auf Geheimhaltung bedacht. Er will Arbeitsurlaub machen.« Captain Moss zuckte mit den Schultern. »Vielleicht bekommt er ja Besuch, wenn er sich erst mal eingewöhnt hat.«
»Und wie viele Stewardessen gibt es?« Vielleicht landete ich mit dieser Charterreise ja einen Volltreffer. »Nur mich?«
»Sie bekommen zwei Kräfte. Die Besatzung bleibt also gleich, obwohl es nur einen Passagier gibt. Aber wenn jemand ausfällt, wegen Krankheit oder Unfähigkeit, gibt es keinen Ersatz. Er hat uns checken lassen.«
Das war zwar unüblich, aber Hintergrundprüfungen kamen durchaus vor. »Ist das ein Promi, der eine Detoxkur macht oder so?«
»Ich habe keine Ahnung. Man hat mir außerdem mitgeteilt, dass wir weder erfahren werden, um wen es sich handelt, noch welche Präferenzen der Gast beim Essen und Trinken hat.«
Der einzige Grund, warum ein Gast eine Charterreise buchte, bestand darin, dass all seine Marotten berücksichtigt wurden. Wenn wir aber nicht einmal wussten, was dieser Typ gern aß und trank, wie sollten wir ihn dann zufriedenstellen?
»Ist er Russe?« Es klang, als wäre der Knabe komplett paranoid. Reiche Russen waren immer paranoid und das nicht ohne Grund. Eine Freundin von mir hatte ein paar Monate auf Boris Kasanovs Sunset gearbeitet. Sie hatte geglaubt, es sei glamourös, auf der drittgrößten Jacht der Welt zu arbeiten, aber stattdessen hatte es dort offenbar vor finster dreinblickenden Ex-FSB-Agenten gewimmelt, die damit rechneten, jeden Augenblick jemanden niederschießen zu müssen. Sie war gegangen, nachdem jemand versehentlich einem Besatzungsmitglied ins Bein geschossen und man ihr befohlen hatte, entweder darüber hinwegzusehen oder zu kündigen. Sie hatte gekündigt.
»Nein, ein Brite. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist die Privatsphäre des Gastes wichtiger als jede Überlegung, was wir zum Dinner servieren. Mir ist nur gesagt worden, dass Geheimhaltung höchste Priorität hat, und eins ist klar: Wenn seine Forderungen nicht vollständig erfüllt werden, wird er die Jacht verlassen, und wir werden mit tödlicher Sicherheit kein Trinkgeld bekommen.«
Das Letzte, was wir wollten, war ein Gast, der auf einer achtwöchigen Charterreise das Schiff vorzeitig verließ – Last-Minute-Buchungen waren selten. Nicht mal eine vierzigprozentige Gehaltserhöhung würde das fehlende Trinkgeld ersetzen können. Es war ein Spiel, aber eins, bei dem ich durch großartigen Service die Chancen zu unseren Gunsten beeinflussen konnte.
»Sie wissen ja, wie solche Gäste sind. Wenn er erst an Bord ist, stellt er mit Sicherheit weitere Forderungen, und ich glaube, wir können davon ausgehen, dass der Kerl ziemlich wählerisch ist«, fuhr Captain Moss fort. »Es wird hart, aber die Bezahlung ist gut. Wir bringen einfach rasch in Erfahrung, was ihm gefällt, und stellen uns darauf ein. Sie sind schon mit viel Schlimmerem fertiggeworden, da bin ich mir sicher.«
Die Bedingungen kamen mir merkwürdig vor, waren aber nicht sonderlich schwer zu erfüllen. Irgendwo musste es einen weiteren Haken geben. Nie zuvor hatte ich kostenloses Mittagessen bekommen. Nicht einmal eine Speisekarte hatte uns zur Verfügung gestanden.
»Eine letzte Sache wäre da noch.«
Ich hatte gewusst, dass noch etwas kommen würde. So war es immer.
»Wir müssen in drei Tagen in Saint-Tropez sein.«
Ich stöhnte. Es war so verdammt typisch. Das konnte ich auf keinen Fall schaffen, also schüttelte ich den Kopf und sagte: »Mein Flug nach Sacramento geht heute Abend.«
»Sie wollen für ein bisschen Freizeit eine Saison mit eigener Kabine und vierzig Prozent mehr Gehalt ablehnen?«
Ich war nicht einfach nur müde. Vor allem wollte ich meine Familie sehen, ein bisschen Zeit mit meinem Bruder und meinem Dad verbringen. Ich hasste es, dass ich den Großteil des Jahres weit von ihnen entfernt verbringen musste. Wenn ich auf einer Jacht in Kalifornien genauso viel verdienen könnte, wäre ich auf jeden Fall zu Hause geblieben. So glamourös es auch klang, Segeln war harte Arbeit, und mir ging es dabei ausschließlich um das Geld.
Und genau darum war dieses Angebot so verlockend.
»Die Sonne in Europa wird Sie neu beleben. Und nicht vergessen: Zusätzlich zum Gehalt bekommen Sie Trinkgeld. Und Sie wissen doch: Wenn ein Gast sich die Mühe macht, unseren Background zu überprüfen, dann ist das Trinkgeld wahrscheinlich gut.«
Ich seufzte. Die Reise versprach, viel zusätzliches Geld einzubringen. »Ich muss erst mit meinem Dad reden.« Tatsache war, dass sich auch mein Vater auf eine Pause freuen würde. Ich kümmerte mich um reiche, anspruchsvolle Gäste, aber er verbrachte seine Zeit damit, sich um meinen fünfundzwanzigjährigen behinderten Bruder zu kümmern. Für meinen Vater gab es kein Entkommen, keine freien Tage, dabei wurde er für seine Arbeit nicht einmal bezahlt.
»Ich brauche Ihre Antwort noch heute. Das wird zweifellos eine herausfordernde Aufgabe, aber wenn jemand schnell reagieren und die seltsamsten Wünsche erfüllen kann, dann Sie.« Captain Moss stand auf, das Gespräch war beendet, und jetzt musste ich meine Entscheidung treffen.
»Danke. Ich rufe meinen Vater sofort an.«
Ich entschuldigte mich und ging zu den Schlafkabinen. Eine Erhöhung um vierzig Prozent und eine eigene Kabine hätten mich normalerweise dazu gebracht, den Champagner wieder auszuspucken, hätte ich welchen getrunken, aber die vergangenen fünf Monate der Karibiksaison hatten ihren Tribut gefordert. Ich hatte mich so sehr auf eine Pause gefreut, und bereits bei der Vorstellung, direkt die nächste fünfmonatige Reise anzutreten, noch dazu die ersten acht Wochen ohne einen einzigen freien Tag, fühlte ich mich vollkommen erschöpft.
Ich nahm mein Handy vom Nachttisch, legte mich aufs Bett und wählte die Nummer meines Vaters.
Es hörte auf zu klingeln, aber niemand meldete sich. »Dad, hier ist Avery«, sagte ich. »Hörst du mich?«
»Ja, Liebes, mir ist nur der Apparat runtergefallen.« Er klang atemlos.
»Bist du gerannt?«
»Nein, ich komme gerade aus der Küche.«
In meiner Herzgegend zog sich etwas zusammen. Dieser Mann hatte mich früher in die Luft geworfen wie einen Fußball, und jetzt kam er außer Atem, wenn er von der Küche ins Wohnzimmer ging. Wie lange würde er sich noch um meinen Bruder kümmern können?
»Wie ist die Lage in Sacramento?« Er hasste es, wenn ich Aufhebens um ihn machte, und er hätte einen Anfall bekommen, hätte er gewusst, wie schwer es für mich war, ihn jeden Tag anzurufen, weil unsere Schichten so lang und die Gäste so anspruchsvoll waren. Aber wenn ich seine Stimme hörte, kam es mir nicht mehr so vor, als hätte ich ihn im Stich gelassen.
»Nicht so sonnig wie in Florida.«
Trotz seiner siebenundsechzig Jahre war mein Vater noch nicht in Rente gegangen – die Arztrechnungen für meinen Bruder machten das unmöglich –, aber seitdem ich einen großen Teil der Ausgaben übernommen hatte, arbeitete er Teilzeit und hatte freitags immer frei. »Habe ich dich geweckt?«
»Nein, wir frühstücken gerade.«
Ich lächelte, als ich mir die beiden am Küchentisch vorstellte. Direkt nach dem Unfall hatte Michael seine Arme nicht bewegen können und musste gefüttert werden, aber nach einiger Zeit und viel Krankengymnastik hatte er oberhalb der Taille große Fortschritte gemacht, obwohl er immer noch nicht gehen konnte.
»Habt ihr gestern etwas Nettes unternommen?«, fragte ich.
»Wir haben uns ausgeruht und das Spiel angesehen.«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte. Wenn er Baseball-, Hockey- oder Footballspiele verfolgte – und nur dann –, begannen die Augen meines Bruders wieder zu leuchten wie früher.
»Habt ihr euch Pizza bestellt?«, fragte ich.
»Selbstverständlich haben wir das.«
Ich verdrehte die Augen. Natürlich, ich hätte es wissen müssen. »Daddy, du musst versuchen, gesund zu bleiben.« Wenn ich zu Hause war, liebte ich es, für die beiden zu kochen. Dinge wie Lebensmittel einkaufen, Suppe kochen, ja, sogar Sportsendungen im Kreis der Familie waren zu etwas Besonderem geworden, etwas, wonach ich mich sehnte, wenn ich auf See und weit weg von zu Hause war.
»Ach was, ich bin stark wie ein Ochse«, entgegnete mein Vater.
Ich lächelte, als ich ihn vor meinem geistigen Auge aufrecht und mit gereckter Brust dastehen sah. »Ich will ja nur, dass es auch so bleibt.«
»Hör auf, so ein Aufhebens um mich zu machen. Wir Walkers kommen schon klar. Erzähl mir lieber, was bei dir so los ist. Wie viele reiche, verwöhnte Hintern hast du heute wieder abgewischt?«
Ich lachte. »Die Gäste sind gestern alle abgereist.«
»Wie schön, dann gehst du also auf Sightseeing-Tour oder legst dich ein bisschen in die Sonne, ehe du nach Hause kommst?«
»Ja, so ähnlich. Ist die Physiotherapeutin gestern dagewesen?« Dreimal in der Woche kam jemand zu uns nach Hause, um mit Michael zu arbeiten.
»Klar, sie war hier. Michael hat die Muskeln in seinen Beinen schon sehr gut aufgebaut – die Gewichte sind sehr hilfreich«, sagte Dad, seufzte aber gleich darauf.
»Was ist?«
»Ach, sie ist wirklich nett und so. Aber sie redet ständig darüber, dass noch mehr Behandlungstermine nötig wären, und wenn Michael Fortschritte machen will, dann …«
Im Hintergrund hörte ich meinen Bruder murmeln, wahrscheinlich sagte er, dass wir nicht so einen Wirbel machen sollten.
»Mehr Behandlungstermine? Wie viele denn noch?«
»Ich weiß es nicht, Liebes. Sie hat etwas von sechs Monaten und sechs Terminen pro Woche gesagt. Aber sie weiß schon, dass wir uns das auf keinen Fall leisten können. Die Versicherung kommt dafür nicht auf.«
Michael wollte wieder gehen können. Auch mein Dad und ich wünschten uns das für ihn, und ich hatte mich mehr als einmal wegen der Physiotherapie mit der Versicherung angelegt. Nur deshalb bekam Michael nach wie vor drei Behandlungen pro Woche, obwohl der Unfall schon lange zurücklag. Sechs Termine pro Woche würden sie niemals bewilligen, das war völlig klar.
»Und sie glaubt, dass das so viel mehr bringen würde?«, fragte ich.
Mein Vater antwortete nicht. Das Kratzen des Stuhls auf dem Boden und das leise Stöhnen meines Vaters beim Aufstehen hallten durch den Hörer und verrieten mir, dass er den Raum wechselte, damit Michael ihn nicht hören konnte.
»Sie hat gesagt, wenn er sechs Mal pro Woche behandelt wird, kann sie uns in einem halben Jahr sagen, ob es eine realistische Chance gibt, dass er wieder laufen lernt. Wir würden dann sehen, was er in dieser Zeit für Fortschritte macht.«
Der Unfall meines Bruders sieben Jahre zuvor hatte das Leben unserer Familie völlig verändert. Unsere Mutter hatte uns kurz danach verlassen; sie war nicht damit zurechtgekommen, dass sich das Leben nur noch um ihren neuerdings behinderten Sohn drehte, und bald darauf begannen sich bereits die Rechnungen zu stapeln.
Ich hatte vorgehabt, im Herbst mein Studium an der UCLA aufzunehmen, aber plötzlich brauchte meine Familie mich. Ich musste Geld verdienen, und zwar schnell.
Die Freundin einer Freundin hatte einen Sommer lang auf einer Jacht in Miami gearbeitet und war nach ihrer ersten Saison mit einer Louis-Vuitton-Tasche zurückgekehrt. Es schien eine Möglichkeit zu sein, ohne Erfahrung oder besondere Fertigkeiten schnell und leicht viel Geld zu verdienen. Zum Teil stimmte das auch. Es ging tatsächlich schnell. Aber das Leben auf einer Superjacht war immer auf die Bedürfnisse der superreichen und gelegentlich auch berühmten Passagiere ausgerichtet, und das war alles andere als leicht. Ich vermisste meinen Vater, und meinen Bruder auch. Dennoch konnte ich mich nicht beklagen. Ich war nicht diejenige, die im Rollstuhl saß und der man die Zukunft gestohlen hatte.
Michael wollte wieder gehen können. Und wenn ich die Charterreise antrat, die Captain Moss mir anbot, konnte ich ihm das vielleicht ermöglichen oder zumindest herausfinden, ob das Ziel realistisch war.
»Ein halbes Jahr lang drei Sitzungen pro Woche zusätzlich?«
»Ja, es ist völlig unmöglich. Ich habe es ihr gesagt.«
In Gedanken überschlug ich den Betrag. Bei grober Schätzung belief er sich auf über zehntausend Dollar.
Mir sank der Mut.
»Ich wollte gerade zum Flughafen fahren, aber Captain Moss hat mir eine Last-Minute-Charter angeboten«, sagte ich und erklärte meinem Dad, dass der Captain speziell mich dafür ausgesucht hatte.
»Das ist ein Riesenkompliment«, antwortete mein Vater. »Allerdings hätte ich von meiner wunderbaren Tochter auch nichts anderes erwartet.«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich habe mich so darauf gefreut, dich und Michael wiederzusehen.«
»Wir haben uns auch auf dich gefreut, Liebes. Komm nach Hause. Wir beklagen uns zwar immer darüber, aber die Hektik, die du so gern veranstaltest, fehlt uns.«
Ich wusste, dass mein Dad mir für die finanzielle Hilfe dankbar war, aber ich wusste auch, dass sein Ego nur schwer damit zurechtkam. Darum taten wir beide gern so, als wäre mein Job glamouröser, als er tatsächlich war.
»Es ist viel Geld, Dad. Es wäre genug für die zusätzliche Therapie.« Ich würde die Therapeutin anrufen und mich erkundigen, ob sie uns einen Sonderpreis machen konnte, aber möglicherweise würde ich sogar den regulären Preis bezahlen können. »Andererseits würde es bedeuten, dass wir uns weitere fünf Monate lang nicht sehen.«
»Wenn du nicht willst, solltest du ablehnen. Ich möchte, dass du dein eigenes Leben lebst, Liebes. Um Michael und mich musst du dir keine Sorgen machen.« Dad sagte das, als wäre die Sorge ein Wasserhahn, den ich einfach zudrehen konnte. Ich war verdammt, wenn ich es tat, und wenn ich es nicht tat, war ich auch verdammt. Mehr Geld bedeutete bessere Pflege für meinen Bruder, aber wenn ich nach Hause fuhr, würde mein Vater eine Atempause und ich einen Monat Normalität bekommen. Es war eine Lose-lose-Situation.
»Ich glaube, ich sollte das Angebot annehmen«, sagte ich schließlich. Das war die vernünftige Entscheidung, die, mit der ich leben konnte. Denn wenn ich meinem Bruder nicht half, wieder gehen zu lernen, würde ich mir das nie verzeihen. Egal, wie erschöpft ich war. Egal, wie sehr ich mich danach sehnte, in meinem eigenen Bett zu schlafen, mich mit meinen Freundinnen auf einen Drink zu treffen und meine Familie zu bekochen.
»Ich finde, du solltest tun, womit du am glücklichsten bist.«
Ich starrte auf die Schlafkoje über mir. Glücklich wäre ich in Sacramento, aber meinen Bruder zu unterstützen war das Wichtigste für mich. Das Geld, das ich auf dieser Charterreise verdienen konnte, würde mich zwar nicht glücklich machen, aber es kam dem immerhin recht nahe.
»Ich wünschte nur, ich wäre näher bei dir und Michael.«
»Du bist eine gute Tochter und Schwester, Avery. Aber du musst dich mehr um dich selbst kümmern. Lass dich zur Abwechslung doch mal umsorgen. Du hast für deinen Bruder verdammt große Opfer gebracht, und du verdienst eine Pause.«
»Mir geht es sehr gut. Ich glaube, ich nehme das Angebot an, aber ihr werdet mir fehlen.«
»Bist du sicher? Du klingst müde, und wir vermissen dich.«
»Habe ich dir schon erzählt, dass ich eine eigene Kabine bekomme?« Ich musste mich auf das Positive konzentrieren. Eine eigene Kabine war ein riesiger Vorteil. »Wir können uns also jederzeit per Video-Chat unterhalten.«
»Ich wäre glücklicher, wenn ich wüsste, dass du drüben in Europa etwas nur für dich tun wirst. Du verbringst viel zu viel Zeit damit, dich um andere zu kümmern.«
Und was sollte das sein? Ein Shoppingtrip zu Zara war jetzt nicht mehr drin. Ein Date? Dating war unpraktisch, und es war unmöglich, jemanden zu finden, den ich lieben konnte. Die Gäste waren tabu, und Beziehungen mit anderen Besatzungsmitgliedern hielten nie lange, nachdem man die Füße wieder auf festen Boden gesetzt hatte. Ich wollte nichts Unverbindliches.
Genauso wenig, wie ich in zwei Tagen nach Frankreich aufbrechen wollte. Aber genau darauf schien es hinauszulaufen.
»Ich verspreche dir, dass ich drüben etwas Schönes machen werde«, sagte ich und verdrehte die Augen. Vielleicht zählten ja auch ein Teller Pasta und eine neue Flasche Selbstbräuner.
»Das ist mein Mädchen. Und versuch, nicht zu hart zu arbeiten.«
Harte Arbeit brachte mein Job nun mal so mit sich, aber noch lagen ein paar freie Tage vor mir. Ich würde in einem hübschen Hotel einchecken. Vielleicht konnten mich ein paar Nächte Schlaf und einige Tage Zimmerservice für weitere fünf einsame Monate auf See entschädigen.
Ein neuer Tag unter blauem Himmel, eine neue Superjacht. Als ich das Hauptdeck der Athena betrat, ein Glas Champagner und eins mit Orangensaft in der Hand, ließ ich den Blick über den Jachthafen von Saint-Tropez schweifen, der in der Ferne zu sehen war, und atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Die erste Charterreise einer Saison trat ich normalerweise ausgeruht an, und der Mai war in den Ländern rund um das Mittelmeer im Allgemeinen ein schöner Monat, aber ich hatte die Erschöpfung der zurückliegenden Saison noch nicht abgeschüttelt. Zusätzlich zu meiner Abgeschlagenheit belasteten mich die mangelnden Informationen über den ersten achtwöchigen Trip, denn es machte mich nervös, dass ich auf den Gast nicht vorbereitet war.
Wir stellten uns in einer Reihe auf, um den Gast willkommen zu heißen. Captain Moss als Erster, ich daneben, gefolgt von Bootsmann Eric, dann Küchenchef Neill und der Rest der Crew, abgesehen von den Maschinisten, die lieber im Maschinenraum verschwanden, als unseren Gast kennenzulernen.
Das blecherne Geräusch des Beiboots hinter uns wurde lauter, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass Stewardess August den Hals reckte, um etwas zu sehen. »Blick geradeaus«, sagte ich. Ich hasste es, wenn ich meiner Crew in den Hintern treten musste. Einige der Chefstewardessen, unter denen ich gearbeitet hatte, genossen es, Macht auszuüben, aber so war ich nicht. Ich wollte nur, dass die Arbeit gemacht wurde, die Gäste begeistert und die Trinkgelder hoch waren.
Auf der Treppe erklangen Schritte und kamen rasch näher. Ich setzte ein Lächeln auf, sorgfältig auf das Tablett in meinen Händen achtend.
Als der Gast erschien, verschlug es mir den Atem. Er war jung – um die dreißig, höchstens fünfunddreißig – und attraktiv mit dunkelbraunem Haar und breiten Schultern. Dieser Typ entsprach überhaupt nicht dem durchschnittlichen Gast eines Chartertrips. Aber das hier war schließlich auch keine normale Reise. Er war groß – deutlich über eins achtzig. Ausgeprägte Wangenknochen rahmten sein Gesicht ein und gingen in ein vollkommen glattrasiertes, kantiges Kinn über. Seine Augen waren dunkel, der Blick ernst. Wäre seine Nase nicht leicht gekrümmt gewesen, so als hätte er sie sich irgendwann einmal gebrochen, hätte ich ihn vielleicht sogar als schön bezeichnet, aber diese Unebenheit ließ ihn lediglich attraktiv aussehen. Vermutlich verbarg sich unter der allzu glatten Oberfläche ein rauer Charakter.
Ich schluckte. Nie zuvor hatte ich einen Gast attraktiv gefunden. Nicht mal ein bisschen. Andererseits hatten wir auch noch nie einen Passagier gehabt, der so aussah wie dieser Typ. Als Anfängerin hatte ich erwartet, die ganze Zeit von reichen, schönen Menschen umgeben zu sein. Und während es tatsächlich eine Menge Reichtum gab, waren normalerweise nur die Frauen schön. Ich war in vielerlei Hinsicht sehr flexibel, aber wenn es um meine Fantasien ging, interessierten mich nur Kerle.
Mit großen Schritten ging der Mann auf Captain Moss zu, und sie begrüßten sich per Handschlag. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte der Gast mit auffallend tiefer Stimme, die meinen ganzen Körper vibrieren ließ.
»Freut mich, Sie an Bord zu haben«, erwiderte Captain Moss.
»Ich bin Hayden Wolf«, sagte er, drehte sich um und spießte mich mit einem so durchdringenden Blick auf, als könnte er hellsehen. »Avery, nicht wahr?«
Woher kannte er meinen Namen? Vielleicht hatte er bei der Hintergrundüberprüfung ein Foto von mir gesehen. Und wie er meinen Namen aussprach … Mit britischem Akzent sollte sich Avery nicht viel anders anhören als sonst, aber die Art, wie er jede Silbe einzeln aussprach, dazu die dunkle Klangfarbe seiner Stimme, ließen ihn irgendwie bedeutsam klingen. »Ja, Sir«, antwortete ich.
Er nickte und lächelte mich an. Meine Nippel wurden hart. Fuck. Gott sei Dank trug ich einen T-Shirt-BH.
Die oberste Regel auf einer Jacht lautete: Überschreite niemals die Grenze zwischen Persönlichem und Beruflichem. Manchen Crews fiel das schwer, vor allem, wenn die Gäste locker drauf waren und wollten, dass die Besatzung sich mit ihnen amüsierte. Manchmal verwischte die Grenze, aber mir passierte das nie – es war nämlich die einfachste Art, gefeuert zu werden. Noch nie hatte ich in einem Gast etwas anderes als die Person gesehen, die für mein Trinkgeld verantwortlich war und dafür, dass ich meiner Familie Geld schicken konnte.
Aber Hayden Wolf?
Er hatte etwas an sich, das die rote Linie komplett auslöschte, und auf einmal stellte ich ihn mir nackt und verschwitzt vor. Hör auf damit, befahl ich mir selbst.
»Darf ich Ihnen ein Glas Champagner oder Orangensaft anbieten?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Mein Herz, das mir zuvor noch in der Brust gehüpft war, wurde schwer.
Bitte, lieber Gott, mach, dass er Alkohol trinkt.
Ein nüchterner Gast war das Schlimmste überhaupt. Jemand, der verlangte, dass all seine Laken aus Italien und sein Whiskey von einer Destillerie auf einer entlegenen schottischen Insel eingeflogen wurden, war mir immer noch lieber als jemand, der gar keinen Alkohol trank.
»Haben Sie das WLAN deaktiviert?«, fragte Hayden, an Captain Moss gewandt.
»Ja, wie Sie verlangt haben«, bestätigte der Captain.
Das WLAN war deaktiviert? Normalerweise lief das genau umgekehrt. Die Gäste verlangten immer eine bessere Verbindung und verstanden nicht, dass es auf See Dinge gab, die sich unserer Kontrolle entzogen – wie zum Beispiel der verdammte Ozean.
»Okay, ich brauche von allen die Mobilgeräte«, verkündete Hayden. »Handys, Tablets, Laptops.«
Niemand rührte sich, und ich spähte zu Captain Moss hinüber, der jedoch seine übliche undurchdringliche Miene zur Schau trug. Sollten die Geräte auf etwas Bestimmtes überprüft werden?
»Sie haben unseren Gast gehört«, sagte Moss. »Wir warten.«
Im Gänsemarsch gingen wir zurück ins Innere der Jacht und zu den Kabinen, in denen wir die wenigen persönlichen Dinge verwahrten, die wir mit an Bord genommen hatten. Ungewöhnlich schweigsam suchten wir unsere Geräte zusammen, unsicher, warum dieser Gast unsere persönlichen Gegenstände verlangte.
»Ist das alles?«, fragte Hayden, als Küchenchef Neill, der als Letzter wiederaufgetaucht war, Laptop und Handy auf den Teakholz-Tisch legte, der später für den Lunch gedeckt werden würde.
»Es ist von grundlegender Bedeutung für mich, dass nichts dieses Schiff verlässt. Keine Bilder, keine Telefonanrufe, keine E-Mails, gar nichts«, erklärte Hayden.
Verschwiegenheit war Regel Nummer zwei auf jeder Jacht. Wir alle wussten, wie man sich möglichst diskret verhielt. Niemand tratschte außerhalb der Jacht über seine Gäste. Na ja, das stimmt nicht ganz. Wir tratschten alle über die Gäste, aber wir nannten keine Namen. Die haarsträubenden Geschichten, die wir im Lauf unserer Karriere erlebt hatten, ordneten wir niemals einer konkreten Person zu.
»Mir ist klar, dass das eine Herausforderung für Sie darstellt, darum werden Sie als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme während meines Aufenthalts an Bord auch keinen Zugriff auf Ihre Kommunikationsgeräte haben«, sagte Hayden.
Die ganze Reise ohne Handy oder Laptop? Das musste ein Witz ein. August neben mir schnappte nach Luft, und ich ballte die Fäuste, während ich weiterhin zu lächeln versuchte.
»Acht Wochen lang nichts«, bestätigte der Captain, und ich erkannte, dass die gesamte Besatzung am liebsten lautstark protestiert hätte, aber niemand Captain Moss in Verlegenheit bringen wollte.
Die dritte Regel auf einer Jacht lautet, dass der Gast bekommt, was der Gast haben will. An befremdliche Wünsche war ich gewöhnt, aber acht Wochen lang kein Internet oder Handy zu haben, war mehr als unangenehm. Hätte ich das vor Beginn der Reise gewusst, hätte ich wahrscheinlich abgelehnt.
»Können Sie uns das bitte genauer erklären?«, fragte ich. Normalerweise erfüllte ich den Gästen klaglos jeden Wunsch, tat mehr für sie, als sie verlangten, aber jetzt konnte ich mich einfach nicht zurückhalten. »Wir werden zwei Monate lang nicht in der Lage sein, Kontakt zu unseren Familien aufzunehmen? Die persönliche Situation einiger von uns ist …«
»Nicht von dieser Jacht aus«, schnitt Hayden mir das Wort ab. »Ich stelle nur sehr wenige Forderungen, aber mein Bedürfnis nach absoluter Diskretion hat Vorrang vor allem anderen. Darüber werde ich nicht diskutieren oder verhandeln. Wenn Sie an Land gehen, können Sie sich mit anderen Leuten in Verbindung setzen, aber wenn Sie damit nicht einverstanden sind, werden Sie sich eine andere Jacht zum Arbeiten suchen müssen.«
Es war, als hätte mich die Kraft und Eindringlichkeit seiner Worte gegen eine Wand gedrückt. Dieser Idiot hatte mich nicht einmal aussprechen lassen. Ich hatte durchaus schon mit unverschämten Gästen zu tun gehabt, aber normalerweise konnte ich mein berufliches von meinem privaten Selbst trennen, und das Verhalten dieser Leute machte mir nicht das Geringste aus. Aber in diesem Augenblick wollte ich explodieren, ihn anbrüllen, dass ich auf keinen Fall zwei Monate lang auf diesem Schiff bleiben konnte, ohne Kontakt zu meinem Vater aufzunehmen. Ich wusste aber, dass ich damit ein Zeichen für Skylar und August, meine beiden Stewardessen, setzen würde. Ich musste ruhig bleiben und mir überlegen, was zum Teufel ich tun würde.
»Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen«, sagte Hayden, als hätte er uns gebeten, in den nächsten acht Wochen kein Kaugummi zu kauen oder kein Pink zu tragen. Was für ein Start in die neue Saison!
»Avery wird Ihnen das Schiff zeigen«, sagte Captain Moss.
Ich lächelte und versuchte, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf Mr Wolfs nahezu perfektes Gesicht und auf die Tatsache, dass ich ihn ebenso gern geküsst wie geohrfeigt hätte. Ich wusste, wenn jemand derart attraktiv war, gab es einen Haken – er war eindeutig extrem paranoid und ein Arschloch noch dazu. Aber ich war eine Problemlöserin, und vielleicht konnte ich ihn dazu bringen, seine Meinung zu ändern.
Ich gab Skylar, der zweiten Stewardess, mein Tablett. »Zuerst möchte ich Ihnen den Hauptsalon zeigen. Würden Sie bitte die Schuhe ausziehen?«, fragte ich, blieb an der automatischen Schiebetür stehen und deutete auf einen flachen Korb neben der Tür, den ich speziell für Schuhe dort platziert hatte.
»Im Ernst?«
Ich nickte. »Tut mir leid. Jachtdecks werden üblicherweise nicht lackiert, um die natürliche Farbe zu erhalten, darum können Schuhe das Teakholz schnell beschädigen. Das ist auf jeder Jacht so.«
Er warf einen Blick auf meine bestrumpften Füße, dann bückte er sich und löste seine Schnürsenkel. Ich betrachtete seinen breiten Rücken. Wer trug zu Beginn einer Urlaubsreise einen Anzug? Ich musste mehr über diesen Typen erfahren, außer, dass er gut aussah, Brite und sehr misstrauisch war. »Wie war Ihre Anreise?«, fragte ich. Vielleicht würde er sich entspannen und uns nach einigen Tagen unsere Handys zurückgeben. Ich wollte dieses schöne Schiff nicht verlassen und auf das höhere Gehalt verzichten, aber ich musste mit meinem Vater in Verbindung bleiben. Ich würde mir etwas einfallen lassen. Ich musste.
»Gut«, antwortete er und richtete sich aus der Hocke wieder auf. Er griff nach seinem Aktenkoffer, den er auf den Boden gestellt hatte.
»Darf ich den für Sie tragen?«, fragte ich und streckte bereits eine Hand aus.
Seine Fingerknöchel wurden weiß, als er die Faust fester um den Griff schloss. »Schon gut. Ich nehme ihn selbst.«
Seine knappe Antwort ließ vermuten, dass sich in diesem Aktenkoffer etwas Wichtiges befand. Zu unser aller Wohl hoffte ich nur, dass es keine Drogen waren. Beim Segeln galt für Drogenkonsum die Devise: null Toleranz. Wurde auch nur eine Spur illegaler Drogen an Bord gefunden, verlor der Kapitän sein Patent, und zwar für immer. Wenn Hayden Wolf Drogen in diesem Aktenkoffer hatte, musste Captain Moss die Charterreise absagen, und wir alle würden für die kommenden acht Wochen ohne Gäste und ohne Trinkgelder dastehen.
Ich blickte auf, als er über mir aufragte. Obwohl er die Reise mit einer völlig überzogenen Forderung begonnen hatte, fühlte ich mich in seiner Nähe leicht euphorisch. Niemand hatte mich je mit diesem Adjektiv beschrieben. Die meisten Leute hielten mich für fokussiert und fleißig, und wenn man meine Familie fragte, war ich lustig und loyal. Aber euphorisch war ich nie. Hör auf damit, hör endlich auf, trällerte es in meinem Kopf.
»Das hier ist der Hauptsalon. Wir haben hier eine Auswahl an Spielen«, sagte ich und zeigte auf das Schachbrett und den Kartentisch. Obwohl er allein natürlich nichts davon würde nutzen können.
Er schob die freie Hand in die Hosentasche. »Schach.«
Ich zögerte, wartete ab, ob er weitersprechen würde, aber er tat es nicht, sodass wir den Salon der Länge nach durchschritten.
Die Athena war eine schöne Jacht, genau wie Captain Moss versprochen hatte: eine schlichte Linienführung, elegant und leicht. Der gesamte Innenraum sah aus wie ein Sommerhaus in den Hamptons – sauber und frisch in Weiß-, Creme- und Grautönen dekoriert. Sämtliche Möbel wirkten edel, aber nicht übertrieben luxuriös. Manchmal waren Jachten ein wenig protzig ausgestattet, aber wenn ich selbst eine hätte, würde ich sie ähnlich wie die Athena einrichten – alles drückte nobles Understatement aus.
Hayden Wolf gab keinen Kommentar zur Ausstattung ab.
»Wir können jeden Cocktail zubereiten, den Sie mögen«, sagte ich und deutete auf die Bar in der Ecke. »Haben Sie einen Lieblingsdrink?«
Er schüttelte den Kopf. »Hin und wieder einen Whiskey.«
Wir hatten einige gute Whiskeys an Bord, und ich nahm erleichtert zur Kenntnis, dass er Alkohol trank. Hoffentlich konnten wir ihn mit einer Verkostung locken. »Haben Sie einen Lieblingswhiskey, den ich vielleicht für Sie auftreiben kann?«
Er blickte auf die Fenster, sah hinaus auf den Horizont. »Nein. Ich nehme, was Sie vorrätig haben, ist schon in Ordnung.«
»Und was Ihre Mahlzeiten betrifft: Neill ist ein hervorragender Koch. Er bereitet Ihnen gern alles zu, was Sie mögen. Lieben Sie Steak?«
Er zuckte mit den Schultern. »Gelegentlich.«
»Fisch?«, riet ich.
»Ich bin nicht wählerisch.«
Ich lächelte, während ich mir auf die Zunge biss, um ihn nicht einen Lügner zu nennen. Ein Milliardär, der nicht wählerisch war – so etwas gab es einfach nicht. Ich schaffte es, den Mund zu halten, und führte uns zum Treppenhaus. »Wir haben vier Etagen für die Unterbringung von Gästen. Die Schlafzimmer sind unten, ich würde also sagen, wir beginnen im oberen Stockwerk, gleich über uns.«
Die Reflexion des Wassers blendete uns fast, als wir die Tür öffneten und hinaus auf das Oberdeck traten. »Hier oben ist eigentlich nur der Whirlpool. Es gibt auch ein wenig Schatten«, sagte ich und deutete auf die beiden Liegesessel, wobei ich es vermied, Hayden anzusehen. Als Chefstewardess hatte ich es mir zur Pflicht gemacht, meine Gefühle nicht zu zeigen, und daran würde auch dieser Mann nichts ändern. »Die meisten Gäste benutzen gern die Liegestühle auf dem Hauptdeck. Auf dieser Ebene ist auch vorn auf dem Schiff noch Platz zum Sonnenbaden.« Ich deutete auf den Gang, der zu den Sonnenliegen führte. Bestimmt verbarg dieser Typ kräftige Oberschenkel und eine muskulöse Brust unter dem Stoff seines Anzugs. Nicht, dass ich genauer hinsehen würde. »Sie werden sicher bald wissen, welchen Platz Sie bevorzugen.«
Als er nicht antwortete, musterte ich ihn verstohlen. Er schürzte nur die Lippen und nickte. Er war nicht unhöflich, wirkte nur ein bisschen desinteressiert, so als empfinde er es als überflüssig, sich in den kommenden acht Wochen zu entspannen.
»Gut, dann sehen wir uns jetzt den zweiten Salon und das Speisezimmer an.« Ich ging ihm voran und führte ihn zwei Stockwerke tiefer. »Hier werden Sie essen, wenn es draußen zu windig ist«, sagte ich, als wir im kombinierten Wohn- und Essbereich ankamen. »Oder wenn Sie Abwechslung wünschen. Der Hauptsalon ist größer, aber hier gibt es einen Fernseher, und manche Leute finden es auch ein bisschen gemütlicher.«
Er lachte leise, und ich drehte mich rasch um, weil ich glaubte, mich verhört zu haben, aber das war nicht der Fall. Er lachte tatsächlich. Gut zu wissen, dass er dazu in der Lage war, und außerdem passte es zu ihm, ließ ihn jünger und weniger ernst wirken.
»Ich glaube, auf diesem Schiff gibt es nur wenige Dinge, die mir ein behagliches Gefühl vermitteln«, sagte er.
Da hatte er vermutlich recht. Er würde hier alles durcheinanderbringen. »Haben Sie vor, Gäste zu empfangen? Wir würden uns freuen, wenn weitere Passagiere an Bord kommen.«
Sein Lächeln erlosch. »Nein.«
Offenbar hatte ich einen wunden Punkt getroffen. Ich wusste nur nicht, welchen. Ich hatte nichts Brisantes angesprochen. Es war einfach unmöglich, diesen Kerl zum Reden zu bringen. »Okay, gehen wir zur Ebene mit den Schlafkabinen.«
Am Ende der Treppe zögerte ich. Der Raum war hier unten enger als überall sonst auf dem Schiff, und in dem quadratischen Korridor gab es keine Fenster. Er und ich waren allein an diesem dunklen, engen Ort, nur wenige Zentimeter trennten uns voneinander, und die Atmosphäre schien sich kaum merklich zu verändern. Er atmete durch, und ich ertappte mich dabei, dass ich ihm auf die sich weitende Brust starrte. Ich hob den Kopf und begegnete seinem Blick. Mist. »Ihnen stehen selbstverständlich sechs Kabinen zur Verfügung.« Hoffentlich hatte er nichts bemerkt.
»Und sind die alle geschützt?«, fragte er.
»Ja, Privatsphäre ist ein Hauptmerkmal.« Ich betrat die zweite Kabine. Da Captain Moss erwähnt hatte, dass es sich um einen Arbeitsurlaub handeln würde, hatte ich die üblichen Möbel entfernen und durch einen großen weißen, modernen Schreibtisch, einen Bürodrehstuhl, zwei Lehnstühle und einen zusätzlichen Schreibtischstuhl ersetzen lassen. »Ich dachte, dass Sie diesen Raum vielleicht zum Arbeiten nutzen können. Wenn Sie noch etwas brauchen, lassen Sie es mich einfach wissen. Ich wusste nicht genau, was Sie möchten.«
»Das ist sehr hilfreich«, sagte er und sah sich in der Kabine um. »Haben Sie die Schlüssel?«
Ich holte den Schlüsselring aus der Tasche.
»Danke.« Er hielt mir eine große Hand hin, um ihn entgegenzunehmen, und ich nahm einen erdigen, maskulinen Duft wahr. Sein Äußeres – der Anzug, die Haare, sogar sein Gang – wirkte glatt, aber wenn er etwas sagte, war er vorsichtig und reserviert und schien sich jedes Wort genau zu überlegen. Unwillkürlich spürte ich, dass es unter der Oberfläche Dinge gab, die ich wissen wollte.
Ich ließ die Schlüssel in seine Hand fallen, wobei ich sorgfältig darauf achtete, ihn nicht zu berühren, und er schloss die Finger zur Faust.
»Ich will hier unten keine anderen Besatzungsmitglieder sehen, und niemand außer mir hat Schlüssel zu den Kabinen, ist das klar?«
Ich nickte und machte kehrt, um den Raum zu verlassen, denn ich wollte seinem Blick nicht begegnen. An meinem Schlüsselring hing ein weiterer Satz Schlüssel. Der Captain hatte erwähnt, dass außer Hayden niemand die Schlüssel bekommen sollte, aber das würde Moss auf keinen Fall zulassen. Er hatte mich angewiesen, einen Satz zu behalten. Ich hasste es zu lügen, aber ich tat, was der Captain mir befohlen hatte.
»Die Mastersuite ist nebenan. Ich nehme an, dass Sie dort schlafen möchten, aber Sie können sich natürlich auch für einen der anderen vier Schlafräume entscheiden.« Ich öffnete die Tür zum Hauptschlafzimmer. »Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Es war mein Lieblingsraum an Bord der Athena. Er war luxuriös, vermittelte aber durch das weiße Bettzeug, den silbergrauen Teppich und das mit Samt überzogene Kopfende des Bettes ein Gefühl von Klarheit und Frische, ganz zu schweigen von der frei stehenden Doppelbadewanne und der Dusche, in der gut und gern vier Personen Platz gehabt hätten. Es war die Art von Raum, in dem ich gern mit einem Liebhaber oder meinem Ehemann eine romantische Woche verbringen würde, wenn ich eine Jacht gechartert hätte oder bei jemandem wie Hayden Wolf zu Gast wäre.
Aber ich hatte diese Jacht nicht gechartert und war auch niemandes Gast. Ich war die Hilfskraft. Ich war Zimmermädchen und Kellnerin.
»Soll ich für Sie auspacken?« Eric hatte Mr Wolfs Taschen bereits in den Gepäckablagen verstaut.
Er runzelte die Stirn. »Ich kann meine Koffer selbst auspacken«, antwortete er, als wäre mein Angebot, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen, das Lächerlichste, das er je gehört hatte.
»Ganz wie Sie wünschen. Der Wandschrank ist hier. Wenn etwas gebügelt werden muss, geben Sie einfach mir oder einer der anderen Stewardessen Bescheid.« Ich hatte das Gefühl, nicht genug zu tun.
»Packen Sie immer die Koffer für Ihre Gäste aus?«, fragte er, als er den Reißverschluss des ersten Koffers öffnete.
»Ja, immer«, antwortete ich. »Es wäre mir ein Vergnügen.« Sicherlich war er diese Art von Service gewöhnt. Selbst wenn er nie zuvor auf einer Jacht gewesen war, hatte er mit Sicherheit in den besten Hotels übernachtet. Und er war Brite. Hatten reiche Briten nicht einen Butler oder so ähnlich?
Er drehte sich zu mir und blinzelte; seine langen Wimpern bewegten sich auf und ab. »Ein Vergnügen?« Seine Mundwinkel zuckten, und seine raue Stimme sorgte dafür, dass ich Gänsehaut bekam.
Ich nickte und versuchte, ruhig weiterzuatmen. »Absolut. Ich möchte, dass Sie Ihren Aufenthalt hier genießen.«
Er lachte in sich hinein. »Ich komme schon klar, aber trotzdem danke.«
Lachte er mich aus? Ich ging über seine Belustigung hinweg und erklärte: »Schiffskoch Neill bereitet den Lunch für Sie zu. Möchten Sie zuvor vielleicht einen Drink?«
»Ich muss noch einen Anruf erledigen. Danach komme ich wieder zu Ihnen rauf.«
»Betätigen Sie einfach den Summer neben dem Bett und dann …«
»… dann tauchen Sie aus einer Rauchwolke hier auf wie eine gute Fee?«, beendete er den Satz mit hochgezogenen Brauen.
Ich setzte zu einer Antwort an, aber ehe ich ein Wort herausbringen konnte, legte er mir seine große Hand auf die Schulter und sagte: »Danke. Es ist alles in Ordnung. Und jetzt erledige ich meinen Anruf.«
Ich versuchte, in normaler Tonlage zu sprechen. »Dann lasse ich Sie jetzt allein.« Ich schlüpfte aus der Kabine, zögerte aber an der Treppe. Meine Schulter war noch heiß an der Stelle, an der er mich berührt hatte, und ich legte die Finger auf den Stoff der Bluse und versuchte mich daran zu erinnern, wie sich seine Hand angefühlt hatte. Ich verstand diesen Kerl einfach nicht. Er war unglaublich attraktiv, aber trotzdem allein auf dem Schiff. Er war eindeutig wohlhabend, aber offensichtlich nicht daran gewöhnt, bedient zu werden. Schlimmer noch, er schien sich über meinen Wunsch, ihm zu helfen, auch noch lustig zu machen.
Vielleicht hielt er meinen Job für wertlos, und im Vergleich zu dem, womit er sich beschäftigte, war er das vielleicht auch, aber ich würde ihm zeigen, wie sehr ihm hervorragender Service das Leben erleichtern konnte. Auf dieser Reise mochte es für ihn nur ums Geschäft gehen, aber ich konnte dafür sorgen, dass er sie ein bisschen mehr genoss als erwartet.
Für acht Wochen mein Büro zu verlassen, um auf dem Mittelmeer dahinzusegeln, kam mir intuitiv nicht richtig vor. Mein Instinkt sagte mir, dass ich in London bleiben und um den Phoenix-Deal kämpfen sollte. Aber im vergangenen Jahr hatte mein Instinkt mir keine guten Dienste geleistet, darum bereitete ich mich nun darauf vor, den Kampf von einer Superjacht aus zu führen.
Ich zog den Reißverschluss eines der drei Gepäckstücke auf, die ich mitgebracht hatte, und holte ein Satellitenhandy heraus. Waren die Leute wirklich so faul und anspruchsvoll, dass sie jemand anders für sich auspacken ließen?
Kopfschüttelnd dachte ich an Averys Angebot. Ms Walker, geboren in Sacramento, arbeitete seit sieben Jahren auf Jachten, kein Collegeabschluss, obwohl sie beim SAT-Studierfähigkeitstest exzellent abgeschnitten hatte. Sie gehörte zu den wenigen, die den umfassenden Sicherheitscheck meines Bruders bestanden hatten. Ich kannte jeden in dieser Crew besser, als irgendeiner von ihnen mich kannte. Avery war attraktiv, womit ich nicht gerechnet hätte. Tatsächlich war sie sogar sehr attraktiv. Sie war schön, und als ich sie zum ersten Mal sah, ertappte ich mich dabei, dass mir die Luft wegblieb. Mein Bruder hatte Fotos zur Akte über die Besatzung besorgt, aber ich hatte sie nur überflogen und Averys Schönheit nicht bemerkt. Sie hatte ein ungezwungenes Lächeln und gab sich große Mühe, mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, was … nett von ihr war. Amüsant. Sexy. Und sie hatte einen hübschen Hintern.
Aber ich war nicht auf der Athena, um darüber nachzudenken, wie Avery Walker nackt aussah.
Ich tippte die Nummer meines Bruders in das Satellitenhandy, das er mir an diesem Morgen an meine Londoner Adresse hatte liefern lassen.
»Hayden. Bist du an Bord?«, fragte Landon.
Das Erste, was ich nach dem Scheitern des Lombard-Deals getan hatte, war, meinen Bruder anzurufen. Ich wusste, dass ich in Schwierigkeiten steckte, und in einer Krise war mein kleiner Bruder der einzige Mensch, der mir helfen konnte. Paranoid wie eh und je, hatte er mir ein persönliches Treffen vorgeschlagen, ehe ich ihm zu Ende erklären konnte, was passiert war.
»Yep, gerade angekommen.«