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WEST GOLDEN - leicht zu hassen, unmöglich, ihm zu widerstehen
Blue Rileys Ruf ist zerstört, als das verhängnisvolle Video mit ihr und dem berüchtigten Quarterback der Cypress Prep School an die Öffentlichkeit gelangt. Und nicht nur das: Auch ihr Stipendium ist dadurch in Gefahr, während Wests Position als König von Cypress Pointe unangefochten bleibt. Doch Blue gibt nicht auf, sondern ist entschlossen, zurückzuschlagen und ihren Platz an der Eliteschule zu behalten. Für Blue ist West Golden gestorben, auch wenn es so scheint, als versuche er, sich mit ihr zu versöhnen, und der Verdacht aufkommt, hinter dem Leak könnte mehr stecken, als Blue ahnt ... oder?
»Ich liebe die Enemies-to-Lovers-Vibes zwischen West und Blue und das Hin und Her, während sie beide mit ihren Gefühlen füreinander kämpfen.« SUNNY SHELLY READS
Band 2 der KINGS OF CYPRESS POINTE-Reihe von den Bestseller-Autorinnen Rachel Jonas und Nikki Thorne
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Seitenzahl: 414
Titel
Zu diesem Buch
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Die Autorin
Die Bücher von Rachel Jonas und Nikki Thorne bei LYX
Impressum
RACHEL JONAS / NIKKI THORNE
Bitter Regrets
KINGS OF CYPRESS POINTE
Roman
Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer
Blue Riley hatte es geschafft: Trotz ihrer komplizierten Familienverhältnisse hat sie ein Stipendium für die Cypress Prep, eine Elite-Highschool, bekommen. Doch von Anfang an legt ihr West Golden, Star-Quarterback und unangefochtener König der Schule, Steine in den Weg und drangsaliert sie, wo er nur kann. Womit er nicht gerechnet hat: Blue ist eine Kämpferin und geht ihren Weg, sie ordnet sich West nicht unter, sondern bietet ihm Paroli. Eine völlig neue Erfahrung für König Midas, wie seine Anhängerschaft ihn nennt. Je öfter Blue seine Angriffe kontert, umso mehr merkt er, dass das Mädchen mit den blauen Augen ihn fasziniert. Und bei jedem Wortgefecht und jedem Aufeinandertreffen baut sich eine Spannung zwischen ihnen auf, die nichts mit Feindschaft zu tun hat, sondern sich in einer hitzigen Nacht entlädt. Umso entsetzter ist Blue, dass der Augenblick, in dem sie ihre Mauern hat fallen lassen, als Video geleakt wird und ihren Ruf zerstört. Und nicht nur das, auch ihr Stipendium ist damit in Gefahr, während Wests Ruf unantastbar scheint. Für Blue ist West gestorben, und doch kommen bald Zweifel auf, ob es wirklich West war, der das Video veröffentlicht hat, und ob nicht viel mehr dahintersteckt …
Gambling Hearts – Harrison Brome
Shelter – Harrison Brome
Come Together – Gary Clark Jr.
Gold – Kiiara
It was a Good Day – Ice Cube
There’s No Way – Lauv feat. Julia Michaels
Ruin – Shawn Mendes
Slow Dancing in the Dark – Joji
Falling For You – The 1975
Often – The Weeknd
She Wants – Metronomy
Crave You – Clairo
Time of the Season – The Zombies
Bad Things – Cults
I Found – Amber Run
Teeth – 5 Seconds of Summer
Novacane – Frank Ocean
We Can Make Love – SoMo
Losin Control – Russ
Who Needs Love – Trippie Redd
Body – Sinéad Harnett
Abandoned – Trippie Redd
Run – Joji
Candy Castle – Glass Candy
Yeah Right – Joji
I think I’m Okay – Machine Gun Kelly
Bad Things – Machine Gun Kelly
Tearing Me Up (Remix) – Bob Moses
Stuck in the Middle – Tai Verdes
Sweater Weather – The Neighbourhood
Broken – lovelytheband
Liebe Leser:innen,
bitte beachtet, dass dieses Buch neben sexuellen Inhalten und derber Sprache auch Elemente enthält, die triggern können.
Dies betrifft: Drogenmissbrauch, Gewalt, Mobbing, Vernachlässigung, Prostitution.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Es nimmt kein Ende.
Diese Demütigungen. Der Hass, den sie eifrig verbreiten, wo sie nur können – sichtbar für alle.
Und das Schlimmste ist, dass sie nicht nur hinter mir her sind. Eine Meute gehässiger Teens von der South Cypress High – Mädchen und Jungs – nehmen nun auch Scar ins Visier.
Ich habe nicht einmal den Mut, sie selbst anzurufen. Stattdessen spreche ich alle paar Stunden mit Jules, die nach ihr sieht, und vergewissere mich, dass Scar klarkommt. Jules sagt mir jedes Mal das Gleiche: Dass es ihr bestens geht und sie sich vor allem um mich Sorgen macht.
Ich vergrabe mein Gesicht im Kissen, als meine Augen eine Pause vom Handydisplay brauchen. Die Scham – mein ständiger Begleiter – rollt sich neben mir zusammen und lässt mich keine Sekunde vergessen, dass die Bilder immer da sein werden, egal, was ich tue.
Welche Gedanken sind Scar durch den Kopf gegangen, als sie das Video gesehen hat? Nachdem ich sie mit Shane ertappt habe, habe ich ihr mehr als deutlich klargemacht, dass wir aufpassen müssen, mit wem wir uns einlassen. Wie sich herausstellt, hätte ich mal besser auf meinen eigenen Rat hören sollen.
Ich bin eine solche Idiotin.
Jetzt bin ich offiziell als die Hure von der Cypress Prep abgestempelt. Nein, ich bin nicht Wests erste Eroberung, aber ich bin die Erste, die zugelassen hat, dass es gefilmt und anschließend geleakt wird, damit die ganze Welt es sieht. Ich bin ebenfalls die Erste, die sofort danach fallen gelassen wurde – vor aller Augen.
Mit dem Stolz ist das so eine Sache, denn ich glaube, dass es mein Stolz ist, der am meisten leidet. Es geht nicht so sehr darum, dass nun dieses Video kursiert, sondern dass West und ich uns dem nicht gemeinsam stellen.
Ich bin allein.
Mein Blick wandert zurück zum Handy, und ich bin nicht überrascht von den vielen neuen Kommentaren, eine Flut fieser Beschimpfungen und Sticheleien. Keine davon richtet sich gegen West, sondern alle nur gegen mich.
»Willst du den Mist nicht endlich weglegen? Du machst dich noch verrückt, B.«
Ein genervtes Schnauben, als das andere Bett hinter mir knarrt, ist der Beweis für Rickys Frustration, aber ich drehe mich nicht um, sondern meide seinen strengen Blick. Trotzdem kann ich ihn spüren. Mit diesem Blick beobachtet er mich nämlich schon seit zwei Stunden, während ich durch den Shitstorm in den sozialen Medien scrolle.
Ist mir bewusst, wie ungesund das ist? Natürlich, aber ich kann nicht damit aufhören. Nicht jeden Tag kann ein Mensch in Echtzeit dabei zusehen, wie die Welt um ihn herum einstürzt. Nicht jeden Tag bekommt man die ungefilterten Gedanken und Meinungen der anderen zu lesen, während sie sich auf der Plattform ihrer Wahl austoben.
Die Meinung ist einhellig. Sie halten mich für leicht zu haben und sehr naiv, weil ich das zugelassen habe. Offensichtlich ist es nicht gut für den Ruf eines Mädchens, mit einem Kerl zu schlafen, der einen gleich danach abserviert. Gedemütigt trifft nicht im Ansatz, was ich empfinde. Es gibt noch so viel mehr als das.
Verletzt.
Wütend.
Angewidert von mir selbst.
Ich habe die Nacht nur durchgestanden, weil ich mir ausgemalt habe, wie ich West Golden töten könnte. Ich habe mich für Genitalverstümmelung entschieden und die Folter damit abgeschlossen, ihn allein in einem dunklen Raum verbluten zu lassen, während er bereut, mir je begegnet zu sein.
Mein Telefon vibriert, als eine Nachricht von Jules eingeht. Ich lese die Nachricht, die erscheint, bevor ich sie wegwischen kann. Sie will, dass ich anrufe, aber ich kann nicht. Noch nicht.
Aus irgendeinem Grund ist Ricky die einzige Person, die ich gerade ertragen kann. Er verurteilt einen nie, was mich daran erinnert, dass ich ihm in den vergangenen Monaten diesen Luxus nicht gegönnt habe. Ohne Fragen zu stellen, ist er aufgetaucht und hat sich mit mir in diesem schäbigen Hotelzimmer verschanzt, und das jetzt schon seit etwas über vierundzwanzig Stunden.
Ich bin mir nicht sicher, was ich ohne ihn getan hätte.
Was West abgezogen hat, ist ätzend, aber vor mir brauchst du dich nicht zu verstecken, steht in Jules nächster Textnachricht. Erinnerst du dich noch daran, wie ich auf Maries Party mit diesem Typen rumgemacht habe? Und dann habe ich herausgefunden, dass er irgendwie mein Cousin ist? Wenn ich das überlebt habe, schaffst du das hier auch, BJ. Glaub mir.
Gegen meinen Willen entlockt sie mir damit ein Lächeln. Es fühlt sich an, als verdiente ich das nicht.
Bald, verspreche ich ihr. Ich brauche noch einen Moment, um einen klaren Kopf zu kriegen.
Na schön, aber ruf mich an, wenn dir danach ist.
Natürlich.
Rickys Bett knarrt erneut, und ich lasse das Telefon sinken und drehe mich zu ihm um.
Er hat die Arme hinter dem Kopf verschränkt, während er an die Decke starrt. Die Art und Weise, wie sein Kiefermuskel zuckt, zeigt mir deutlich, dass er nicht ganz er selbst ist, und zwar, seit er hier aufgetaucht ist. Er hat eingegriffen, um mich vor dem Getuschel, den Zeigefingern, dem Gelächter zu schützen, aber mir entgeht nicht, dass ihn das Video anders berührt als die anderen.
Vor langer Zeit war ich mal sein Mädchen. Daher weiß ich auch, dass er einen starken Beschützerinstinkt hat. Einmal hat er einem Typen die Nase gebrochen, weil der mich auf einer Party begrapscht hat, als er dachte, Ricky passt nicht auf. Ich kenne sonst niemanden mit einem solchen Temperament, weshalb ich darauf wetten würde, dass er auf der gesamten Fahrt hierher rotgesehen hat. Ein Teil davon war bestimmt seinem Ego geschuldet – weil er mich mit einem anderen sehen musste –, aber es ist mehr als das. Er macht sich Sorgen, und er weiß auch, dass ich verletzt bin.
Tief verletzt sogar.
Sein Telefon summt, und in der Dunkelheit starrt er entnervt auf das Display. Es hat heute Abend bestimmt schon fünfzigmal gesummt, und ich brauche nicht lange zu überlegen, wer ihn da belagert.
»Tut mir leid, dass ich dich hierhergeschleppt habe. Ich kann mir denken, dass Paul wahrscheinlich sauer ist, weil du nicht da bist«, sage ich leise.
Ich sehe seine Silhouette vor dem blassen, fluoreszierenden Licht, das von der Laterne am Gehsteig vor unserem Zimmerfenster hereinfällt.
»Schon okay. Ich habe nur ein paar Dinge nicht erledigt, und jetzt nervt er mich damit. Es war … viel los.«
Viel los.
Ich weiß, was das heißt, und es lässt mein Herz einen Schlag aussetzen. Es bedeutet, dass er auf Wunsch seines Onkels häufiger auf den Straßen unterwegs ist und sich in Gefahr begibt. Das wurde mir spätestens gestern Abend klar, als er sein Shirt ausgezogen hat, bevor er ins Bad ging, um zu duschen. Dabei kam eine Waffe zum Vorschein, die hinten in seinem Hosenbund steckte, und ein für mich unbekanntes Tattoo auf seinem Rücken. In kräftigen Farben und tadellos gestochen sah ich einen Schädel, der eine blutige Rose zwischen den Zähnen hielt, wunderschön und tragisch zugleich. Oberhalb des Bildes standen Worte, die ich schon gesehen und gehört hatte.
Justicia en la vida. Justicia en la muerte.
Gerechtigkeit im Leben. Gerechtigkeit im Tod. Die Maxime derjenigen, die in seinen »Familienbetrieb« involviert sind.
Es dort zu sehen, für immer auf seiner Haut, machte mir klar, dass er mittlerweile weitaus stärker darin verstrickt ist als zu der Zeit, da wir ein Paar waren. Es wäre nun sehr viel schwerer, da wieder rauszukommen – wenn es denn überhaupt möglich wäre.
Ich beschließe, mich nicht zu dem zu äußern, was er gerade über seinen Onkel erzählt hat. Es würde nur zu einem Streit führen, wofür ich nicht die Energie habe. Stattdessen liege ich still da und versuche, mir einzureden, dass dieser Albtraum von einem Leben nicht real ist.
Mike ist kein tobsüchtiger Alkoholiker.
Mom ist nicht abgehauen und hat mich und Scar vergessen.
Hunter ist nicht im Gefängnis.
Ricky ist nicht auf dem gleichen unseligen Pfad.
Und ich habe nicht gerade noch mehr Chaos in meinem Leben angerichtet.
Wann werde ich aufwachen? Wann wird der Albtraum ein Ende haben?
»Das wird nicht passieren.«
Ich erschrecke, als Ricky die vier Worte äußert, so als würde er meine Frage beantworten, die ich nicht laut ausgesprochen habe. Dann wird mir bewusst, dass er telefoniert.
»Das habe ich schon beim ersten Mal verstanden, und ich habe dir bereits gesagt, ich mache mir keine Sorgen.«
Bevor ich kapiere, worum es in dem Gespräch eigentlich geht, ist es zu Ende.
»Paul schon wieder?«, frage ich.
Ricky stößt einen langen Seufzer aus, bevor er antwortet. »Wer sonst?«
Einen Moment lang habe ich ein schlechtes Gewissen. Schließlich hat er alles stehen und liegen gelassen, um hier bei mir zu sein. Aber dann fällt mir wieder ein, wovon ich ihn abgelenkt habe, und schon fühle ich mich nicht mehr ganz so schlecht. Wenn er hier ist, ist er wenigstens in Sicherheit.
Die Stille zwischen uns zieht sich, ist jedoch nicht unangenehm. Allerdings macht sie mich neugierig auf das, was sie geschrieben haben, während ich in den vergangenen Minuten mit meinen Gedanken beschäftigt war.
Kurz bevor ich einknicke und nachsehe …
»Wir haben noch nicht darüber geredet«, sagt Ricky.
Es braucht nur einen kurzen Moment, bis mir klar wird, dass er das Video meint und alles, was daraufhin geschehen ist.
»Es gibt nicht viel zu reden. Ich habe gegen mein Bauchgefühl gehandelt, habe nicht aufgepasst, und jetzt bezahle ich dafür. Ganz einfach«, antworte ich.
Ich sehe ihn an, doch er starrt nur mit ausdrucksloser Miene auf das Stuckrelief über uns.
»Das letzte Mal, als das Thema aufkam, hast du gesagt, ihr hättet nichts miteinander. Du hast deine Meinung wohl geändert.« Sein Ton ist stoisch und kein bisschen verurteilend.
Es gibt keine einfache Erklärung dafür. Ich weiß nur, dass ich es vermasselt habe. Und zwar im ganzen großen Stil. Ich hätte klüger sein müssen, hätte es besser wissen sollen.
Also ist meine Antwort ein Fazit.
»West war ein Fehler, der sich vom ersten Tag an angekündigt hat. Jetzt weiß ich, wovor mich das Universum zu beschützen versucht hat, aber ich dumme Kuh habe nicht darauf gehört.«
»Du bist nicht dumm. Wir bauen alle Mist, den wir am liebsten ungeschehen machen würden.«
Ich verstehe ihn nur zu gut, was das betrifft. Allerdings stehen auf meiner Liste lauter Dinge, die vermeidbar gewesen wären, wäre da nicht meine Impulsivität.
Danke, Mom.
»Ich kann es einfach nicht fassen, dass ich ihn in meinen Kopf gelassen habe«, gestehe ich. »Nach allem, was er getan hat, habe ich ihn trotzdem reingelassen.«
Als ich die Worte ausspreche, erwacht das Feuer in mir zu neuem Leben. Ich bin seit Monaten Wests verbaler Punchingball, habe jedoch meine Zunge im Zaum gehalten, weil ich Angst vor den Folgen hatte, wenn ich zu heftig zurückschlage. Doch dann habe ich mich von ihm überzeugen lassen, dass er menschlich ist und unter dem kalten Alphatiergetue ein gutes Herz verbirgt.
Total dämlich.
»Ich will, dass er leidet. Ich will ihm wehtun, so wie er mir wehgetan hat.«
Der Klang meiner Stimme ist mir unangenehm, weil ich ehrlich nicht weiß, woher das gerade gekommen ist. Es ist, als hätten meine Gefühle in Form von Worten meinen Mund verlassen.
Ich spüre, wie Rickys Blick erneut auf mir landet, und ich atme tief durch.
»Das meinst du nicht ernst«, sagt er.
Und ob. Ich meine es ernst.
»Er hat es verdient.«
»Ich habe nichts anderes gesagt«, erwidert Ricky rasch. »Du weißt, dass ich in der Sache an deiner Seite stehe. Ich will nur sagen, dass Rache eine heikle Angelegenheit ist. Vertrau mir.«
Vor dieser Sache hätte das für mich eine Rolle gespielt, doch jetzt ist kaum noch etwas von Bedeutung. Ich habe mich nie so missbraucht, so schmutzig gefühlt. Und das habe ich West zu verdanken.
Erneut kommen mir die Tränen, dabei habe ich das Weinen so satt. Es bringt überhaupt nichts, und trotzdem kann ich anscheinend nicht damit aufhören.
Ricky steht auf, und ich folge ihm mit dem Blick, als er zur anderen Bettseite kommt. Dann quietscht die Matratze und senkt sich unter seinem Gewicht. Eine Sekunde später sorgt seine Wärme an meinem Körper dafür, dass ich angesichts des vertrauten Gefühls die Augen schließe. Sie lässt die Einsamkeit ein wenig schmelzen.
So war es schon immer.
»Du bist besser als er. Besser als die meisten von uns«, behauptet er. »So was Fieses wie Rache ist mehr mein Stil.«
Ich lache über den Witz und schmiege mich dichter an ihn, als er seinen Arm um meine Taille legt.
»Es ist nie zu spät für neue Tricks«, antworte ich.
»Nein, du gehörst zu den Guten. Lass nicht zu, dass der Fehler eines Arschlochs dich verändert.« Er verstummt, und ich spüre erneut seinen Blick auf mir. »Na ja … die Fehler von zwei Arschlöchern.«
Ich weiß, dass er sich selbst meint, dass er seine Lebensweise meint, die der Tod für unsere Beziehung gewesen ist.
Ohne groß darüber nachzudenken, lege ich meine Hand auf seine, die auf meinem Bauch ruht.
»Du findest immer die richtigen Worte. Warum ist das so?«
Er lacht leise, und sein Atem bewegt eine Haarsträhne in meinem Nacken. Ein kribbelnder Schauer läuft meinen Rücken hinunter.
»Ich sage nur die Wahrheit«, meint er leichthin.
Ich überlege, ob seine Worte allgemeingültig sind oder nur aus seiner Perspektive gelten. Ich habe mich selbst nie als »eine von den Guten« betrachtet, vor allem weil meine Eltern keine von »den Guten« sind.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, stimmt’s?
»Schlaf ein bisschen«, sagt er leise und löst mein Handy aus meinen Fingern.
Er lehnt sich für einen Moment mit seinem Gewicht auf mich, als er den Arm ausstreckt, um es auf den Nachttisch zu legen, und alles an ihm löst in mir einen nostalgischen Flashback aus. Sein Geruch, wie er sich anfühlt …
Wir haben mal gut zusammengepasst, und das kann ich nicht vergessen, auch wenn ich mich noch so sehr bemühe.
Er legt sich wieder neben mich, und da ist plötzlich ein Gefühl, das ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gespürt habe. Seit Mom abgehauen ist, seit Hunter eingebuchtet wurde.
Frieden.
Und … ich habe es vermisst.
»Schlaf«, sagt er erneut, bevor er gähnt.
Ich hebe den Kopf, als sein Arm mein Kissen ersetzt, und ich spüre bereits, wie ich mich entspanne. Wahrscheinlich habe ich das gebraucht, ich habe ihn gebraucht.
»Danke, dass du für mich da bist«, sage ich leise an seiner Haut. »Nicht viele Menschen würden das für mich tun.«
Ein sanfter Kuss auf meine Schulter kommt vor seinen Worten, deren Bedeutung mir auch bewusst gewesen wäre, wenn er sie für sich behalten hätte.
»Ich werde immer für dich da sein.«
Ich habe gewusst, dass es keine gute Idee war, Joss die Musik auswählen zu lassen, aber ich hab’s trotzdem zugelassen. Hätte ich mal besser auf mein Bauchgefühl gehört.
Wann zum Teufel sind Songs von traurigen Mädchen mit Akustikgitarren zu einem Musikgenre geworden? Eine endlose Reihe von Songs über Weicheier, die Schluss gemacht haben, ist das Letzte, was ich gerade hören möchte.
Sie ist den ganzen Tag schon bei uns zu Hause. Nachdem uns der Bus heute früh auf dem Schulparkplatz abgesetzt hat, war sie nur kurz zu Hause, um ihre Sachen abzuladen und sich bei ihren Eltern zurückzumelden. Eine halbe Stunde später rief unsere Security an, um Bescheid zu geben, dass sie auf dem Weg nach oben sei.
Doch wenn ich gewusst hätte, dass ich mir diesen Mist anhören muss, hätte ich sie ohne zu zögern von der Liste der erlaubten Besucher gestrichen. Freundin oder nicht.
Sie hat hauptsächlich mit Dane abgehangen, entweder in seinem Zimmer, um Musik zu hören, oder im Fernsehraum, wo sie eine schlechte Reality-TV-Show nach der anderen angeschaut haben. Doch wenn ihr langweilig wurde, ist sie zu Sterling oder zu mir gekommen. Sie hat uns nie ein Gespräch aufgedrängt – zum Glück, denn ich war absolut nicht in Stimmung.
Seit dem Ende des Spiels gestern bis vor zwei Stunden, als ich mein Handy endgültig auf stumm geschaltet habe, sind pausenlos Nachrichten eingegangen. Das explosionsartige Interesse hat nichts damit zu tun, dass das Team einen Schritt näher an der Meisterschaft ist. Die Geier kreisen über mir, weil ich Teil der Sensation bin, sie wollen Details und eine Antwort auf die Frage, die sie am meisten interessiert.
Wieso habe ich das Video gepostet?
»Bereit für ein Gespräch?«
Joss’ Stimme reißt mich aus meinen Gedanken, als ich links abbiege, nachdem die Ampel bereits auf Rot gesprungen war.
»Wenn ich reden wollte, wäre ich nicht gegangen, um von allen anderen wegzukommen«, knurre ich, während ich daran denke, wie sie darauf beharrt hat, mich zu begleiten, als ich verkündet habe, eine Runde um den Block zu fahren.
»Hat bei mir nicht geklappt«, witzelt sie.
»Oh ja, ist nicht zu übersehen.«
Hoffentlich hat sie sich nichts von dem, was ich in den letzten dreißig Stunden gesagt habe, zu Herzen genommen. Sie weiß, ich bin ein Arsch, wenn ich sauer bin. Noch mehr als sonst.
»Verdammt.«
Joss blickt zu mir herüber, nachdem das Wort als Ausdruck puren Frusts aus mir herausgebrochen ist.
»Weißt du«, sagt sie viel zu ruhig. »Ich habe ihre Nummer, falls du sie anrufen willst.«
Mein Herz macht bei dem Angebot einen Satz, und das gefällt mir überhaupt nicht. Doch ich lasse mir nichts anmerken. Stattdessen öffne ich das Fenster einen Spalt breit. Es sind nur um die fünf Grad draußen, aber es hilft gegen die Wut, die heiß in mir hochkocht.
Ich hab’s versaut. Keiner weiß das besser als ich. Direkt, indirekt – egal, wie man es betrachtet –, für alles, was passiert ist, bin allein ich verantwortlich. Und trotz der ganzen Scheiße, die gerade los ist, seit das Video online gegangen ist, liegt darin nicht mein größtes Problem. Vielmehr bedaure ich am meisten diese drei dummen Worte, die ich als Letztes zu Southside gesagt habe: Du solltest gehen.
Ich bin im Grunde ein Arschloch, das nicht aufhören kann, eins zu sein.
»Also … willst du nun die Nummer oder nicht?«
Sekunden vergehen, ohne dass ich etwas sage. Doch so wie Joss nun einmal ist, greift sie nach meinem Telefon, entsperrt es, weil das neugierige Biest immer meine Codes zu kennen scheint, und speichert Southsides Daten ein.
»Da«, schnaubt sie. »Jetzt hast du sie, falls du irgendwann genug Eier in der Hose haben solltest, um sie anzurufen. Und dann hast du besser eine gigantische Entschuldigung parat, denn mal ehrlich, was sollte das, West? Hast du den Verstand verloren?«, fährt sie mich an. »Das ist wirklich das kaputteste Machtspiel, das ich je erlebt habe, und selbst wenn sie dir egal ist, was ist mit Football? Mit der Meisterschaft? Mit nächstem Jahr? Die Coaches von der NCU kriegen das auf jeden Fall mit, weil jeder es weiterschickt. Davor kannst du dich nicht verstecken.«
»Denkst du, das weiß ich nicht?«, fauche ich und umklammere das Lenkrad fester.
Ihr Vorwurf und die Warnung lassen den Muskel an meinem Kiefer vor Zorn zucken, doch ich hüte meine Zunge – aus Angst davor, zu viel zu sagen.
»Warum gehst du dann dieses Risiko ein? Nur um dein albernes Spielchen weiterzuspielen, das du mit ihr am Laufen hast?« Joss hält inne und schüttelt vorwurfsvoll den Kopf. »Ich hätte dich zur Rede stellen sollen, als das alles angefangen hat. Gott weiß, dass sich das sonst niemand getraut hat. Hätte ich es getan, anstatt es zu ignorieren, hättest du vielleicht nicht deine gesamte Zukunft aufs Spiel gesetzt.«
Sie starrt mich von der Seite an, voller Zorn, den sie im Penthouse nicht gezeigt hat. Dort war sie neutral, wahrscheinlich weil sie sich mit Dane und Sterling in der Nähe in der Unterzahl gefühlt hat, doch jetzt ist davon nichts mehr zu spüren. Es ist offensichtlich, wieso sie mich unbedingt begleiten wollte. Sie hat auf die Gelegenheit gewartet, mir unter vier Augen den Arsch aufzureißen.
Joss stößt einen tiefen Seufzer aus und blickt wieder geradeaus, aber sie ist noch immer aufgebracht.
»Du hast schon früher schräge Sachen abgezogen, West, aber das ist ein völlig anderes Level«, fährt sie fort. »Wenn ich nur daran denke, Blue an dem Abend auch noch ermuntert zu haben, mit dir zu reden! Weil ich dumme Kuh geglaubt habe, dich zu kennen, weil ich geglaubt habe, dass du im Grunde ein anständiger Kerl bist. Nicht in einer Million Jahren hätte ich damit gerechnet, dass du so abgrundtief grausam sein kannst! Du bist …«
»Verdammt, Joss! Ich war das nicht!«, brülle ich mit dröhnender Stimme.
Einen Moment hallen meine Worte im Wageninneren nach, dann herrscht unnatürliche Stille. Kein anderes Geräusch als der Fahrtwind, der durch die leicht geöffnete Scheibe hereinströmt, ist zu hören.
»Verdammt!«
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder erschrocken sein soll, dass ich das laut ausgesprochen habe. Vielleicht ein wenig von beidem. Ich sollte meinen Mund halten. Ich habe mir tatsächlich geschworen, genau das zu tun, aber ich habe das Gefühl, einem Zusammenbruch nahe zu sein. Wegen dem, was jeder über mich denkt. Wegen dem, was Southside über mich denkt.
»Sagst du die Wahrheit?«
»Was zum Teu…« Ich reiße mich zusammen, als mein Jähzorn erneut aufflammt. »Ja, Josslyn Grace Francois, ich sage dir die verdammte Wahrheit.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie mit einem Finger auf mich zeigt und den Kopf schräg legt.
»Nein, tu das nicht«, warnt sie mich. »Nenne mich nicht bei meinem vollen Namen, West Xavier Golden! Ich bin nicht diejenige, die in der Patsche sitzt!«
Lieber Gott. Erlöse mich von Joss. Ich will mich nicht schuldig machen, sie am Straßenrand abzusetzen. Also bitte, bitte, bitte, lass mich eine sichere, hell beleuchtete Bushaltestelle finden, um sie rauszuschmeißen, bevor ich mit meiner Geduld am Ende bin.
Als hätte sie meine Gedanken gehört, verdreht sie die Augen so dramatisch, dass ich nicht einmal zu ihr hinschauen muss, um es zu sehen.
»Na schön«, schnaubt sie, »wenn du es nicht warst, wer dann?«
»Frag mich das nicht.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Du musst es jemandem sagen! Du darfst das nicht auf dich nehmen.«
Während ich auf den Lichtkegel auf der Straße starre, wandern meine Gedanken zurück zu der leichtsinnigen Entscheidung vor zirka anderthalb Jahren. Diese eine Sache gibt der Verantwortlichen für den Leak ein ausreichendes Druckmittel, damit ich den Mund halte.
»Wieso solltest du deinen Namen nicht reinwaschen wollen? Du hast zu viel zu verlieren, wenn du den Mund nicht aufmachst, West.«
Joss blickt mich an, als ich seufze und zu einer bitteren Erkenntnis komme. »Ich habe zu viel zu verlieren, um es zu tun.«
Der letzte Mensch auf Erden, dem ich meine Zukunft anvertrauen würde, hat sie in seiner bösartigen kleinen Hand, und ich kann rein gar nichts dagegen tun.
Ich spüre weiterhin Joss’ durchdringenden Blick. »Was verbirgst du vor mir?«, fragt sie. »Ich meine, abgesehen von der Person, die dahintersteckt.«
Meine Brust brennt vor Zorn, weil ich das Geheimnis einer Person wahre, die ich hasse. Und ich bin mir nicht nur sehr bewusst, was es mich am Ende kosten könnte, sondern auch … was es mich auf jeden Fall jetzt schon kostet.
Wen es mich bereits gekostet hat.
Egal, wie sehr ich dagegen ankämpfe, egal, wie sehr ich mich davon zu überzeugen versuche, dass es keine Rolle spielt, alles, was ich sehe, wenn ich die Augen schließe, ist Southside auf dem Sozius von Rickys Bike. Dank Pandoras Handlangern, die wie Undercover-Paparazzi jeden stalken, entgeht uns nicht, was andere so treiben. Und was mich betrifft, so bin ich völlig fixiert darauf, wo Southside abgeblieben ist.
Wenn jemand weiß, dass ich kein Recht habe, darüber nachzudenken, wo sie ist und was sie als Nächstes macht, dann bin ich es. Und trotzdem tue ich es. Ich kann an nichts anderes denken.
Wo hat er sie hingebracht?
Hat er sie angefasst?
Würde sie mit ihm schlafen, um den Schmerz zu lindern, den ich ihr zugefügt habe?
… Scheiße.
Ich weiß nicht, wie oft ich die Einzelheiten jener Nacht durchgegangen bin. Der Streit, der dazu geführt hat, dass wir beide auf einmal nackt waren und unseren Frust aneinander ausgelassen haben, weil wir unbedingt herausfinden wollten, wo wir stehen würden, wenn sich der Staub gelegt hätte. Aber dann, nachdem ich wieder einen klaren Kopf hatte und ihr Geruch verschwunden und das Gefühl ihrer Haut auf meinen Fingerspitzen verblasst ist, denke ich an das, was ich gesagt habe, nachdem wir fertig waren.
Ich denke an die Worte, die ich am liebsten zurücknehmen würde.
Welcher Versager setzt ein Mädchen vor die Tür, nachdem sie ihm ihr Vertrauen geschenkt hat? Nun, ich bei vielen anderen Gelegenheiten, aber … niemals jemanden wie sie.
Niemals jemanden, der wichtig ist.
Diese Erkenntnis – dass sie mir wichtig ist – verursacht mir Übelkeit, und ich versuche es mit aller Kraft zu leugnen. Weil mir klar ist, weshalb ich mir selbst ins Knie geschossen habe, als es vorbei war. Weil ich der Sohn meines Vaters und verflucht bin, ein Arschloch zu sein. Aber es ist mehr als das.
Man könnte zwar glauben, es wäre Vins Warnung vor ihr gewesen, die mich auf eine falsche Fährte gelockt hat, aber tatsächlich waren es meine eigenen Worte, die mir den Rest gegeben haben. Als Southside an dem Abend aufgetaucht ist, habe ich eine dreiste Behauptung aufgestellt. Ich habe ihr gesagt, dass Menschen wie wir die Wahrheit nur im Bett finden würden. Und … sagen wir, ich habe sie gefunden. Tatsächlich habe ich die Wahrheit so klar und deutlich vor mir gesehen, als ich ihr in die Augen schaute, dass die Leere in meiner Brust zu verschwinden begann. Es war genau in diesem Moment, als ich jede Chance mit ihr in die Luft gejagt habe, indem ich sie weggestoßen habe.
Weil ich ein selbstzerstörerisches Arschloch bin, genau wie mein Vater.
Seine Behauptung, Southside würde mich benutzen, um ihm zu schaden, habe ich die ganze Zeit im Hinterkopf, aber nach dem, was ich mit ihr erlebt habe, als die Mauer zwischen uns eingestürzt ist, glaube ich, dass jede geheime Absicht, die sie womöglich hatte, nicht mehr existent und bedeutungslos ist.
Wenn sie überhaupt je existiert hat.
Ich gebe einen tiefen Seufzer von mir und muss anerkennen, wie gründlich ich alles vermasselt habe. Überlass es mir, ein Mädchen endlich dazu zu bringen, mir ihr Herz zu öffnen … damit ich es dann breche.
»West«, sagt Joss, ein wenig ruhiger diesmal, und erinnert mich daran, dass ich ihr noch eine Antwort schuldig bin. »Was verschweigst du mir?«, wiederholt sie.
Ich trage das Geheimnis noch nicht einmal so lange mit mir herum, und schon nagt es an mir. Ich war nie jemand, der sich groß darum gekümmert hat, was andere von meinen Taten halten, doch diesmal ist es anders. Obwohl mir die meisten Arschlöcher, die mich per Text- oder Direktnachricht kontaktiert haben, Respekt für die Nummer zollen, die ich angeblich abgezogen habe, spielen sie keine Rolle. Doch es stört mich maßlos, dass diese ganze Sache denjenigen Unbehagen bereitet, die mich in einem anderen Licht sehen. Meinen Brüdern, Joss, meiner Mom.
An die Unterhaltung mit ihr möchte ich lieber gar nicht denken. Es gibt ein paar wenige Dinge, die eine Mutter nicht über ihren Sohn wissen sollte, Dinge, bei denen sie ihren Sohn niemals in Aktion sehen sollte. Also kann ich wohl mit Sicherheit sagen, dass ich ihr erst wieder in die Augen schauen kann, wenn meine eigenen Kinder ihren Abschluss machen.
»West?«, sagt Joss erneut in dem tadelnden Ton, den Dane so mag und für eine Art Vorspiel hält.
Mir hingegen gefällt er überhaupt nicht.
»Wenn ich es dir erzähle, und du sagst auch nur ein Sterbenswörtchen zu irgendjemandem, Joss, dann war’s das für mich. Dann geht nicht nur mein Leben den Bach runter, sondern … das von jemand anderem auch.«
Ich spüre, wie sie mich beobachtet, doch ich halte den Blick auf die Straße gerichtet.
»Okay«, sagt sie feierlich. »Du hast mein Wort.«
Ich atme tief durch, und obwohl ich zweifle, ob ich es wirklich tun soll, gebe ich mir einen Ruck.
»Es war Parker«, gestehe ich und spüre, wie mein Herz doppelt so schnell schlägt.
Joss starrt mich an und holt ein paarmal tief Luft. Das heißt normalerweise, dass sie krampfhaft versucht, ihre Zunge im Zaum zu halten.
»Sie hat eine vage Textnachricht geschickt, bevor wir zu den Regionalwettkämpfen aufgebrochen sind. Dann noch eine, als wir im Hotel waren.«
»Hat sie den Wink nicht verstanden, als du auf dem Monster Bash die Sache beendet hast?«, fragt Joss.
»Wir reden über Parker«, sage ich seufzend.
»Oh, stimmt.«
»Zuerst wollte sie nur über uns reden, aber als ich nicht gesagt habe, was sie hören wollte und ich sie gedrängt habe, mir zu sagen, was es mit der kryptischen Nachricht auf sich hätte, die sie mir geschickt hat, ist sie endlich mit der Sprache herausgerückt.«
»Und das wäre?«
Ich blicke zu Joss hinüber, bevor ich ihre Frage so einfach wie möglich beantworte. »Sie wollte wissen, was mit Casey passiert ist.«
Als ich den Namen ausspreche, runzelt Joss die Stirn genau in dem Moment, als ich zu ihr hinüberblicke. Es ist ein Name, den wir nicht häufig laut aussprechen, weil er zu einer Vergangenheit gehört, an der nicht mehr gerührt werden sollte.
»Wie um alles in der Welt soll ausgerechnet Parker etwas darüber herausgefunden haben? Nur ich, Dane und Sterling wissen überhaupt Bescheid, stimmt’s? Ich meine, abgesehen von Casey selbst, aber sie würde es ganz bestimmt keinem erzählen.«
Als ich schweige, kommt Joss zu ihrem eigenen Schluss.
»Warte … Casey hat es erzählt?«, fragt sie und rutscht auf ihrem Sitz nach vorn, um mich anzuschauen.
Ich hole tief Luft und ignoriere das Engegefühl in meiner Brust.
»Sie sind sich kürzlich begegnet. Wenigstens ist das Parkers Version der Geschichte. Sie sagt, Casey habe einen über den Durst getrunken und ihr alles erzählt.«
Joss lässt sich wieder in ihren Sitz sinken und sagt dann etwas Unerwartetes.
»Die Party.«
Ich blicke zu ihr hinüber. »Welche Party?«
»Caseys neunzehnter Geburtstag. Weswegen ich früher aus den Ferien zurückgekommen bin«, erinnert sie mich. »Ein Haufen Mädels vom Cheerleading-Team der Cypress Prep waren eingeladen. Außerdem die meisten aus ihrem früheren Team von der Everly Prep und noch ein paar College-Freundinnen.«
So langsam ergibt die Sache einen Sinn.
»Ich habe mir gar nichts dabei gedacht, aber sie und Parker waren an dem Abend ein Herz und eine Seele. Und es gab auf jeden Fall eine Menge Alkohol, also …«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Nicht dass ich vor dieser Unterhaltung viel zu sagen gehabt hätte.
»Es tut mir so leid, West.« Joss legt ihre Hand auf meine und drückt sie. »Ich weiß, dass das ein Worst-Case-Szenario für dich ist.«
Alles, was ich bisher getan habe, geschah, um die negativen Konsequenzen eines Fehlers zu verhindern, den ich vor langer Zeit begangen hatte. Doch mit dieser Information jetzt in Parkers Händen war vielleicht alles umsonst. Ich kann mich nicht erinnern, je in einer so üblen Lage gesteckt zu haben.
Ich habe auf dem Feld doppelt so hart geackert, um ein Sicherheitsnetz zu knüpfen, in der Hoffnung, mir meinen Platz bei der NCU zu sichern, selbst wenn die Wahrheit über Casey und mich eines Tages ans Licht käme. Und noch viel wichtiger war zu verhindern, dass es zu den Verantwortlichen bei der NCU durchsickert, denn dann würde ich alles verlieren.
Ich selbst und sämtliche beteiligten Parteien.
Doch nach dem Video von mir und Southside ist vielleicht sowieso alles verloren.
»Warum veranstaltet sie diesen ganzen Ärger?« Joss’ Frage bringt mich zurück zu der Unterhaltung vor ein paar Tagen, und die Wut kehrt zurück.
»Die kurze Antwort? Weil Parker ein verbittertes Miststück ist«, knurre ich.
Uns verbindet eine stürmische Vergangenheit, eine »Beziehung«, die auf bedeutungslosem Sex und bedeutungslosen Worten fußte. Worte ohne Gefühl und Aufrichtigkeit von meiner Seite. Das Fehlen einer echten Verbindung machte es mir leicht zu übersehen, dass sie sich in mich verliebt hatte. Ich habe fatalerweise ignoriert, dass ich sie gebrochen habe, indem ich sie benutzt und ihr danach keine Beachtung mehr geschenkt habe. Sie war bestimmt niemals ein wirklich guter Mensch, aber Parker Holiday hat sich dank mir von schlecht zu noch schlechter gewandelt. Das muss ich auf meine Kappe nehmen.
»Ich verstehe noch immer nicht«, meldet sich Joss zu Wort.
»Was gibt es da nicht zu verstehen? Parker hat mich bei den Eiern. Ende der Geschichte.«
»Ich weiß, dass du die Wahrheit sagst, also versteh das nicht falsch, aber das passt trotzdem nicht zusammen«, stellt Joss fest. »Wie ist sie zum Beispiel an das Videomaterial von dir und Blue gekommen? Hat sie das die ganze Zeit geplant? Aber das ergibt auch keinen Sinn, denn du hast nicht einmal gewusst, dass Blue zu deinem Zimmer kommen würde.«
Joss spricht jetzt hauptsächlich mit sich selbst, während sie versucht, die Sache zu verstehen. Aber zu ihrem Glück hat Parker in ihrer großspurigen Art gestern Abend die meisten dieser Fragen beantwortet. Sogar ohne zu zögern. Anscheinend wollte sie mir die Tatsache unter die Nase reiben, dass es ihr irgendwie gelungen war, das Ding abzuziehen und ich rein gar nichts mehr dagegen unternehmen kann.
»Sie hat einen verdammten Videocall aufgezeichnet«, gebe ich schließlich knurrend zur Antwort. »Sie ist auf dem Weg hinaus bei der Kommode stehen geblieben, während ich mit Southside geredet habe. Sie hat uns eine Falle gestellt, ohne dass ich überhaupt etwas mitbekommen habe.«
Allein bei dem Gedanken, wie einfach das alles war, bin ich von Neuem stocksauer. Ein paar kleine Änderungen am Verlauf des Abends, und ich wäre gar nicht in diesen Schwierigkeiten.
Hätte ich nur daran gedacht, ein Auge auf Parker zu haben, während sie ihren Kram in meinem Zimmer zusammengesucht hat.
Wäre mein Telefon doch bloß nicht stummgeschaltet gewesen, als sie mich von ihrem aus angerufen hat, um uns über den Videocall zu verbinden.
Wäre ich nicht so naiv gewesen, wäre nichts davon passiert.
»Sie wollte also wissen, was in deinem Zimmer abgehen würde, nachdem sie gegangen war?«
»Keine Ahnung«, antworte ich mit einem Achselzucken. »Jedenfalls haben wir ihr eine Menge mehr gegeben als den Zugang zu unserem Gespräch. Sie hat am Ende alles gekriegt, was sie brauchte, um Southside zu demütigen und mich in die Pfanne zu hauen. Sobald das Video in Pandoras Händen war, war die Sache gegessen.«
»Alles nur, um dich und Blue auseinanderzubringen und dich anschließend fertigzumachen«, schließt Joss.
Ich nicke, weil sie genau richtig liegt. Denn es sieht so aus, als könnte ich mir eine Footballkarriere ab dem nächsten Jahr abschminken – entweder wegen des Videos oder wenn Parker beschließt, die Sache mit Casey auszuplaudern.
Joss schüttelt ungläubig den Kopf. »Dieses Miststück ist noch verrückter, als ich gedacht hätte.«
Ich nicke zustimmend. »Und ich bin der verdammte Idiot, der ihr alles gegeben hat, was sie braucht, um meine Zukunft zu zerstören.«
»Du konntest nicht wissen, dass sie so weit gehen würde«, sagt Joss, wahrscheinlich, um mich ein wenig aufzumuntern.
»Kann sein, aber ihr ist die Entscheidung, den Kram zu posten, bestimmt leichtgefallen, nachdem ich sie vor die Tür gesetzt habe, als Southside aufgetaucht ist.«
Ich klinge verbittert, und das bin ich auch, während ich überlege, wie die Dinge an dem Abend abgelaufen sind.
»Hat Casey vielleicht versucht anzurufen? Du weißt schon, seit das Video draußen ist?«, fragt Joss zögerlich. »Sie fragt immer noch nach dir, daher dachte ich, dass sie dir vielleicht schreibt.«
Mein Magen krampft sich zusammen bei der Vorstellung, dass sie über mich reden.
»Nein«, antworte ich mit einem Seufzen. »Und das wird sie wahrscheinlich auch nicht, wenn sie sich daran erinnert, dass sie Parker das alles erzählt hat. Wir hatten einen Pakt, und sie hat ihn gebrochen.«
Ich bin deswegen nicht sauer. Mit genug Alkohol habe ich in der Vergangenheit auch schon dummes Zeug angestellt, aber eine Warnung wäre nett gewesen. Wenigstens hätten dann die Karten offen auf dem Tisch gelegen, und ich hätte Vorkehrungen treffen können, um Parker daran zu hindern, die Oberhand zu gewinnen.
Joss schweigt, und ich kann hören, wie es in ihrem Kopf arbeitet.
»Du kannst es Blue also nicht erzählen«, schlussfolgert sie schließlich. »Du müsstest erklären, warum Parker nicht mit dem Video in Zusammenhang gebracht werden darf, und damit auch die Sache mit Casey ans Licht bringen.«
Mir ist ganz übel, denn Joss hat absolut recht mit dem, was sie gerade gesagt hat. Ich darf Parker nicht beschuldigen, um meinen Namen reinzuwaschen, aber ich bin nicht ansatzweise bereit, es auf sich beruhen zu lassen. Meine oberste Priorität sollte sein, unter Parkers Radar zu fliegen, doch stattdessen überlege ich, wie ich wenigstens teilweise in Ordnung bringen kann, was sie zerstört hat – ohne sie dabei zu reizen, sodass sie explodiert.
Viel Glück damit, Vollidiot.
»Ich werde mit ihr reden.« Ich platze absichtlich damit heraus, bevor ich mich selbst davon überzeugen kann, dass das eine bescheuerte Idee ist.
»Mit wem? Mit Blue?« Joss’ überraschter Tonfall ist nicht zu überhören. Offensichtlich hält sie das ebenfalls für eine schlechte Idee. Verdammt, wahrscheinlich lässt mich Southside nicht mal nahe genug an sich heran, um mit ihr zu sprechen.
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, fügt Joss hinzu, als ich ihre erste Frage nicht beantworte.
»Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es eine absolut beschissene Idee ist, aber ich muss irgendwas tun. Ich darf nicht zulassen, dass sie glaubt …«
Ich halte inne, weil ich Dinge fühle und denke, die ich noch nie gefühlt und gedacht habe.
Joss’ Blick durchbohrt mich geradezu, und ich weiß bereits, was sie gleich sagen wird.
»Du magst sie, stimmt’s? Ich meine, so richtig.«
Ich verdrehe die Augen, denn ich weiß, dass sie darüber herfallen wird wie ein Hund über einen Knochen.
»Entspann dich. Ich will nur nicht, dass sie denkt, ich bin der Teufel.«
»Aber … war nicht genau das dein Ziel, als sie an die CP gekommen ist? Und auf einmal willst du nicht mehr, dass sie dich für ein Monster hält?«
Sie grinst mich an, und ich würde mir am liebsten selbst in den Hintern treten dafür, dass ich so viel geredet habe.
»Lass es«, warne ich sie, aber es ist zu spät. Ihr Gesicht erstrahlt wie ein Weihnachtsbaum.
»Ich habe recht! Ich wusste es!«, kreischt sie. Ich kann praktisch Herzchen in ihren Augen sehen.
Ich sage nichts mehr, denn egal, was aus meinem Mund kommt, es wird ihre Fantasie nur noch weiter beflügeln. Als Nächstes redet sie dann wahrscheinlich über Liebe, Gefühle und so einen Kram, und das ertrage ich nicht. Stattdessen atme ich tief durch und lasse mich in meinen Sitz sinken. Mir ist bewusst, dass ich immer noch mit dem Rücken zur Wand stehe.
»Du hast recht«, sagt Joss schließlich. »Wenn du sie so sehr magst, wie ich glaube, kannst du das nicht einfach stehen lassen, aber … was ist dein Plan?«
Und da war sie: die Eine-Million-Dollar-Frage. Denn wie es aussieht, hat mich Parker mit einem Schlag zum herzlosen Mistkerl abgestempelt, der so was Ungeheuerliches wie ein privates Sexvideo online stellt. Das Schlimmste daran ist, dass es für Southside keinen Grund gibt zu bezweifeln, dass ich das getan habe.
Damit ist es tausendmal schwerer, zu ihr durchzudringen. Aber Joss hat recht.
Sie bedeutet mir etwas.
Wie zum Henker konnte ich das nur zulassen?
Der uralte Spruch: Es ist wichtig, sofort wieder aufs Pferd zu steigen, nachdem man heruntergefallen ist, ist ein Klischee. Aber er ist auch der Grund, warum ich jetzt hier bin.
Denn genau diese Worte schrieb mir Jules in einer Textnachricht um Mitternacht. Sie haben dafür gesorgt, dass ich heute Morgen aufgestanden bin und jetzt durch die Gänge der Cypress Prep laufe und so tue, als würde mir das Getuschel nichts ausmachen.
P. S.: Es macht mir etwas aus. Ich bin nur ein Profi darin geworden, so zu tun, als könnte mir nichts etwas anhaben, obwohl das Gegenteil der Fall ist.
Selbst diejenigen, die nicht hinter meinem Rücken tuscheln, verraten sich mit ihren strafenden Blicken. Wieso? Weil ich mich dummerweise an den größten Mistkerl unter Wert verkauft habe.
Ich bin nicht gerade stolz darauf.
Sie starren mich an, als wäre ich irgendein Museumsstück – der seltene Schlamposaurus Rex, der sich höchst lebendig und mutig der Meute stellt, vor der er erst zwei Tage zuvor weggerannt ist.
Nein, Leute. Eure Augen täuschen euch nicht. Ich habe mich aus dem Haus gewagt und bin in die Höhle des Löwen zurückgekehrt.
Während Jules denkt, ich bin wahnsinnig mutig, weil ich gleich wieder zur Schule gehe, neige ich mehr zu dem Urteil »total dämlich«.
Die Glocke läutet, und ich bereue es, bis zum allerletzten Moment in meinem Wagen geblieben zu sein. Es bedeutet nämlich, dass ich mich beeilen und durch einen Haufen Leute drängen muss, die zwischen mir und meinem Spind stehen, um nicht auch noch zu spät in den Unterricht zu kommen.
Ich bete dafür, dass ich … ihm nicht zufällig begegne.
Beinahe hätte ich mich krankgemeldet, um einer möglichen Begegnung mit West aus dem Weg zu gehen. Ich habe es geschafft, dem Drang nicht nachzugeben, stelle mir aber noch immer sein krankes Lächeln vor, das er seit der Veröffentlichung, die mein Leben gründlich ruiniert hat, wahrscheinlich im Gesicht trägt.
Das war schließlich die ganze Zeit sein Ziel, nicht wahr?
Er wollte mich so stark verletzen, dass ich daran zerbreche.
Nun, Mission erfüllt.
Ich habe Wut im Bauch, aber nicht nur auf West. Hauptsächlich richtet sie sich gegen mich selbst, weil ich so wahnsinnig dumm war. Ich bin in sein Zimmer gegangen, um zu reden, und anstatt zu bekommen, was ich wollte, habe ich ihm gegeben, was er wollte.
Tu das nicht, Blue. Du musst dich heute zusammenreißen.
»Morgen, du Schlampe!«
Ich war so konzentriert darauf, zu meinem Spind zu kommen und dabei nur geradeauszuschauen, dass ich die Gelegenheit versäumt habe, Parker auszuweichen. Doch als ich ihren funkelnden Blick bemerke – voller Zufriedenheit auf meine Kosten –, spüre ich, wie mir das Herz in die Hose rutscht.
Heidi und Ariana flankieren sie und starren mich an, erfüllt von fehlgeleitetem Hass. Diese Miststücke kennen mich nicht, und sie wollen sich ganz bestimmt nicht mit mir anlegen, solange meine Gefühle so verletzt sind. Das letzte Mal, als mich jemand an einem schlechten Tag erwischt hat, hatte sie am Schluss eine gebrochene Nase, und ich hatte den ganzen Sommer mit einem gebrochenen Fingerknöchel zu kämpfen.
»Nun, sind wir nicht mutig?« Parker strahlt. »Ich dachte, es würde mindestens eine Woche dauern, bis du deinen armseligen Hintern wieder hierherbewegen würdest.«
Ich umklammere die Riemen meines Rucksacks. »Lass … mich … in … Ruhe, Parker.«
Das letzte bisschen Selbstbeherrschung, das ich seit meiner Ankunft hier aufbringen konnte, ist fast aufgebraucht. Ich kann mich kaum noch zurückhalten, selbst wenn ich an die vielen Gründe denke, aus denen ich mir keinen Fehltritt erlauben sollte. Während der letzten paar Tage wollte ich nur Schmerz verursachen und jedem wehtun, der mir wehgetan hat.
»Oh! Sie ist wohl ein wenig kampflustig, Ladys!«, sagt Parker provozierend, während sie rasch einen Blick zu Heidi und Ariana wirft, bevor sie mich erneut anschaut.
Das Getuschel um uns herum wird lauter, als andere die Konfrontation mitbekommen.
»Und nur damit du’s weißt, du bist nicht allein hier«, sagt sie zuckersüß, obwohl jeder weiß, dass sie ein echtes Miststück ist. »Ich bin mir sicher, dass noch mehr Jungs im Footballteam auf einen schnellen Fick aus sind. Offenbar ist das ja dein Ding.«
Als das letzte Wort ihren Mund verlassen hat, habe ich so etwas wie ein außerkörperliches Erlebnis. Meine Faust schnellt in Richtung ihrer perfekten Nase, doch ich treffe nur auf Luft, als ich mit einer kraftvollen Bewegung zurückgerissen werde.
»Nein. Nicht in meiner Gegenwart«, sagt eine vertraute Stimme dicht an meinem Ohr. Sie kommt von jemandem, der mich wie ein Bär von hinten umschlingt. Von derselben Person, die Parker einen Besuch in der Notaufnahme erspart hat.
»Miss Holiday, müssen Sie nicht in Ihren Unterricht?«, fragt Dr. Pryor, während sie mich noch immer festhält.
Parker macht ein ungläubiges Gesicht, während sie die Arme vor der Brust verschränkt.
»Ähm, tut mir leid, Dr. Pryor, aber wollen Sie nicht etwas unternehmen?«, fragt Parker. »Ich meine, dieses Mädchen ist eindeutig gestört, sonst hätte es nicht versucht, mich zu schlagen. Sie haben es selbst gesehen.«
Mein Herz schlägt rasend schnell, während ich das Bedürfnis bezwinge, mich loszureißen und Parker fertigzumachen. Dabei bin ich mir der Tatsache mehr als bewusst, dass ich beinahe meine Chance hier vergeigt hätte, indem ich mich wie ein Hitzkopf benommen habe.
»Aus meiner Perspektive hat es ausgesehen, als hätte Miss Riley sie nur mit einem High-Five begrüßen wollen«, kontert Dr. Pryor. »Doch ich brauche sie leider in meinem Büro, um etwas Wichtiges zu besprechen, also wird das warten müssen.«
Natürlich erkenne ich, dass Dr. Pryor mit dieser dicken Lüge nur versucht, mich vor mir selbst zu schützen. Diese subtile Erinnerung daran, dass nicht jeder hier nervt, sorgt dafür, dass ich mich ein wenig beruhige.
»Aber …«
»Gehen Sie in Ihren Unterricht, Miss Holiday«, unterbricht sie Dr. Pryor.
Die beiden starren sich an, und der gehässige Glanz in Parkers Augen erlischt. Schließlich tritt sie mit ihren Freundinnen den Rückzug an. Sie wirft mir einen ihrer eisigen Blicke zu, den ich ebenso eisig erwidere.
»Trotzdem, Glückwunsch«, verkündet Parker und schenkt mir ein kurzes Lächeln. Dann fügt sie hinzu: »Du führst jetzt die Liste an, Schätzchen.«
Das sind ihre Abschiedsworte, und ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht, aber etwas sagt mir, dass ich es noch früh genug erfahren werde.
»Haben Sie sich wieder beruhigt?«, fragt Dr. Pryor, die mich noch immer festhält. »Ich werde nicht hinter Ihnen herrennen müssen, oder?«
»Mir geht’s gut.« Ich bin kurz angebunden und voller Zorn, aber es ist keine Lüge. Ich werde Parker nicht folgen.
Jedenfalls vorerst nicht.
Langsam lässt Dr. Pryor mich los und streicht ihren Blazer glatt. Ihr Blick begegnet meinem, und ich finde in ihm keine Enttäuschung oder sogar Verurteilung. Bei jedem anderen Erwachsenen wäre das normal, aber nicht bei ihr. Das bringt mich auf den Gedanken, dass sie vielleicht weiß, wie es hier für mich ist, und dass sie vielleicht versteht, womit ich es tagein tagaus schon vor dieser Videogeschichte zu tun hatte.
»Ich muss mit Ihnen in meinem Büro sprechen«, wiederholt sie. Dieser Teil ihrer Bemerkung gegenüber Parker war also keine Lüge.
Ich nicke, und sie zögert nur eine Sekunde, bevor sie vorangeht. Ich folge ihr, aber meine Augen sind fest auf Parkers Hinterkopf gerichtet, die ebenfalls den Flur entlanggeht. Sie ist beinahe so weit oben auf meiner schwarzen Liste wie West, aber er steht definitiv auf Platz eins.
Ich bin schon fast an der Tür des Beratungsbüros, als ich genau das Falsche tue und mein Blick abschweift, den Flur hinunter in Richtung einer Schüleransammlung. Und da ist er, umgeben von bewundernden Blicken, während er sich einen Weg durch die Menge bahnt – King Midas.
Seine Brüder und Teamkollegen umringen ihn, während andere wie begeisterte Fans auf ihn zulaufen. Ein paar verehren ihn bestimmt wegen seiner Performance bei den Regionalmeisterschaften – andere wegen einer ganz anderen Performance. Jedenfalls lieben sie ihn, und er kann in ihren Augen nichts Falsches tun.
Ihr Idol.
Ihr Gott.