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Mit nur einem Kuss stiehlt er ihr Herz
Für Francesca Rossi, die einzige Tochter eines Mafiabosses, stand immer fest, dass sie eines Tages ihren Kindheitsschwarm Angelo Bandini heiraten würde - bis der skrupellose Senator Wolfe Keaton ihr auf einem Maskenball nicht nur ihren ersten Kuss stiehlt, sondern auch all ihre Zukunftspläne zunichtemacht. Der attraktive Kussdieb hat eine Rechnung mit ihrem Vater offen und setzt ihn unter Druck: Entweder Francesca wird seine Frau oder er deckt dessen grausame Verbrechen auf. Plötzlich findet sich Francesca in einer arrangierten Ehe mit einem Mann wieder, den sie nicht ausstehen kann. Dennoch erwischt sie sich dabei, wie sie sich trotz allem danach sehnt, Wolfe noch einmal zu küssen ...
»L. J. Shen ist die Queen des Enemies-to-Lovers-Tropes. Ihre Bücher machen einfach süchtig.« NEUES_KAPITEL
Das neue Buch von SPIEGEL-Bestseller-Autorin L. J. Shen
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Seitenzahl: 544
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
Playlist
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von L. J. Shen bei LYX
Impressum
L. J. Shen
Kiss Thief
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anne Morgenrau
Schon als Mädchen stand für Francesca Rossi fest, dass sie eines Tages ihren Kindheitsfreund Angelo Bandini heiraten würde. Als Tochter eines Mafiabosses ist sie behütet und abgeschirmt aufgewachsen, deshalb will die Neunzehnjährige beim glamourösen Maskenball in Chicago von ihrem Schwarm endlich ihren ersten Kuss erhalten. Doch dann stellt sich heraus, dass hinter der Mask des Mannes, der sie mit solcher Leidenschaft geküsst hat, gar nicht Angelo steckt, sondern der skrupellose Senator Wolfe Keaton. Zwar ist der Kussdieb der attraktivste Mann auf dem Ball, aber mit seiner überheblichen Art raubt er Francesca den letzten Nerv. Und es kommt noch schlimmer: Wolfe hat sie nur benutzt und es eigentlich auf ihren Vater abgesehen, mit dem er noch eine Rechnung offen hat. Der Senator droht, dessen Verbrechen aufzudecken, wenn ihr Vater ihm nicht seinen wertvollsten Besitz überlässt: Francesca. Plötzlich findet sie sich in einer arrangierten Ehe mit einem Mann wieder, den sie nicht ausstehen kann. Dennoch sprühen bei jedem hitzigen Wortgefecht die Funken zwischen ihnen. Und Francesca erwischt sich dabei, wie sie sich danach sehnt, Wolfe noch einmal zu küssen …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für Brittany Danielle Christina, Jacquie Czech Martin und die starken Frauen überall.
Mögen wir sein wie sie, mögen wir sie großziehen und unterstützen.
Merkwürdig, wie leicht die Menschen der Illusion verfallen, dass Schönheit zugleich auch Güte sei.
Leo Tolstoi, Die Kreutzersonate
Lana Del Rey – Young and Beautiful
Hozier– Take Me to Church
Halsey– Young God
Public Enemy– Can’t Truss It
Amy Winehouse– Back to Black
Sinéad O’Connor– Nothing Compares 2 U
Tears for Fears– Everybody Wants to Rule the World
Dropkick Murphys– I’m Shipping Up to Boston
Was mich, Francesca Rossi, am meisten nervte, war die Tatsache, dass meine gesamte Zukunft in einem unscheinbaren alten Holzkasten verschlossen war.
Seit man mich im zarten Alter von sechs Jahren darauf hingewiesen hatte, wusste ich, dass mich das, was in diesem Kasten auf mich wartete, entweder umbringen oder retten würde. Darum war es kein Wunder, dass ich am Tag zuvor im Morgengrauen – die Sonne hatte gerade den Himmel geküsst – beschlossen hatte, dem Schicksal einen Schubs zu geben und den Kasten zu öffnen.
Eigentlich sollte ich gar nicht wissen, wo meine Mutter den Schlüssel versteckt hatte.
Ich sollte nicht wissen, wo mein Vater die Kiste aufbewahrte.
Aber so ist es nun mal, wenn man den ganzen Tag zu Hause sitzt und sich zu Tode pflegt, um den nahezu unerfüllbaren Ansprüchen seiner Eltern gerecht zu werden. Man hat Zeit im Überfluss.
»Halt still, Francesca, sonst steche ich dich mit der Stecknadel«, quengelte Veronica, die vor mir hockte.
Zum hundertsten Mal ließ ich den Blick über den gelben Zettel in meiner Hand huschen, während die Stylistin meiner Mutter mir ins Kleid half, als wäre ich ein Pflegefall. Ich prägte mir die Worte ein, legte sie in eine Schublade in meinem Gehirn, zu der niemand außer mir Zugang hatte.
Erregung raste durch meine Adern wie eine Jazzmelodie, in dem Spiegel vor mir sah ich meine Augen entschlossen funkeln. Mit zitternden Fingern faltete ich das Stück Papier zusammen und schob es mir in den Ausschnitt des noch nicht geschnürten Korsetts.
Erneut lief ich in dem Raum auf und ab, zu aufgeregt, um stillzustehen, und Mamas Frisörin und Stylistin schimpfte mit mir, während sie mir auf lustige Art durch das Ankleidezimmer nachjagte.
Ich bin Groucho Marx in Die Marx Brothers im Krieg. Fang mich doch.
Veronica bekam den unteren Teil meines Korsetts zu fassen und zog mich zum Spiegel zurück, als hinge ich an einer Leine.
»Aua, Mensch!« Ich zuckte zusammen.
»Halt still, hab ich gesagt!«
Es war nicht ungewöhnlich, dass mich die Angestellten meiner Eltern wie einen Pudel mit edlem Stammbaum behandelten. Obwohl das keine Rolle spielte. An diesem Abend würde ich Angelo Bandini küssen. Oder genauer gesagt: Ich würde mich von ihm küssen lassen.
Es wäre gelogen, zu behaupten, ich hätte nicht in jeder Nacht von Angelos Kuss geträumt, seit ich im Vorjahr aus dem Internat in der Schweiz zurückgekehrt war, in das meine Eltern mich gesteckt hatten. Als ich neunzehn war, hatten Arthur und Sofia Rossi offiziell beschlossen, mich in die High Society von Chicago einzuführen. Aus Hunderten geeigneter italo-amerikanischer Männer, die mit dem Outfit in Verbindung standen, sollte ich mir einen zukünftigen Ehemann aussuchen. Dieser Abend würde eine Abfolge von Events und Privatbesuchen in Gang setzen, und das, obwohl ich längst wusste, wen ich heiraten wollte.
Papa und Mama hatten mir mitgeteilt, dass ein College für mich nicht vorgesehen war. Meine Aufgabe bestand darin, den perfekten Ehemann zu finden, da ich das einzige Kind und die alleinige Erbin der Rossi-Unternehmen war. Ich hatte davon geträumt, als erste Frau in meiner Familie ein Studium abzuschließen, aber ich war nicht annähernd dumm genug, um meine Eltern herauszufordern. Clara, unsere Hausangestellte, sagte oft: »Du musst nicht deinem zukünftigen Ehemann gefallen, Frankie, sondern deinen Eltern.«
Womit sie nicht unrecht hatte. Ich war in einem goldenen Käfig zur Welt gekommen. Er war geräumig, aber trotzdem – er war abgeschlossen. Versuchte ich, ihm zu entkommen, riskierte ich den Tod. Es gefiel mir nicht, eine Gefangene zu sein, aber anderthalb Meter unter der Erde zu liegen, würde mir vermutlich noch weniger gefallen. Und darum hatte ich es bisher nicht einmal gewagt, zwischen den Stäben des Gefängnisses hindurch auf die Welt zu spähen, die sich auf der anderen Seite befand.
Mein Vater, Arthur Rossi, war der Boss des Chicago-Outfits.
Dieser Titel klang schmerzlich erbarmungslos für den Mann, der mir das Haar geflochten, mich Klavier spielen gelehrt und bei meinem Konzert in London, bei dem ich vor über tausend Menschen spielte, sogar heiße Tränen vergossen hatte.
Angelo – ihr habt es erraten – war in den Augen meiner Eltern der perfekte Ehemann. Attraktiv, finanzstark und gut betucht. Seiner Familie gehörte jedes zweite Gebäude im University Village, auch bekannt als Little Italy, und die meisten Immobilien nutzte mein Vater für seine zahlreichen illegalen Projekte.
Ich kannte Angelo von klein auf. Wir hatten einander auf die Art aufwachsen sehen, wie Blumen erblühen. Langsam und gleichzeitig schnell, während luxuriöser Sommerurlaube und unter der strengen Aufsicht von Bodyguards und Verwandten, allesamt Made Men – Männer, die formell als vollwertige Mitglieder in die Mafia aufgenommen worden waren.
Angelo hatte vier Geschwister, zwei Hunde und ein Lächeln, das einem das italienische Eis in der Hand schmelzen ließ. Sein Vater leitete die Steuerberatungsfirma, die für meine Familie arbeitete, und wir beide machten jedes Jahr gleichzeitig Urlaub in Syrakus, Sizilien.
Im Lauf der Jahre hatte ich gesehen, wie Angelos weiche blonde Locken dunkler geworden und schließlich mithilfe eines Kurzhaarschnitts gezähmt worden waren. Wie der Ausdruck seiner funkelnden, ozeanblauen Augen weniger verspielt und finsterer, härter wurde durch all die Dinge, die ihm sein Vater zweifellos gezeigt und beigebracht hatte. Wie seine Stimme tiefer, sein italienischer Akzent stärker geworden waren, und wie seine schlanke, jungenhafte Gestalt sich in eine muskulöse, große, selbstsichere Erscheinung verwandelt hatte. Er wurde geheimnisvoller, weniger impulsiv, und er sprach seltener, aber wenn er es tat, ließen mich seine Worte innerlich schmelzen.
Sich zu verlieben war wirklich tragisch. Kein Wunder, dass die Leute dann so traurig waren.
Und während ich Angelo betrachtete, als könnte er Eiscreme zum Schmelzen bringen, war ich nicht das einzige Mädchen, das unter dem ständigen Stirnrunzeln dahinschmolz, mit dem er alle anschaute.
Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass er wieder in Chicago war, dort mit anderen Mädchen abhing, mit ihnen redete und sie küsste,während ich in meine katholische Mädchenschule zurückkehren musste. Aber er hatte mir immer das Gefühl gegeben, dass ich die Eine für ihn war. Er steckte mir Blumen ins Haar und ließ mich an seinem Wein nippen, wenn niemand hinschaute, und seine Augen lachten jedes Mal, sobald ich etwas sagte. Wenn seine jüngeren Brüder mich ärgerten, zog er sie zur Strafe an den Ohren. Und in jedem Sommer schaffte er es, einen Moment mit mir allein zu erhaschen und mir einen Kuss auf die Nasenspitze zu geben.
»Francesca Rossi, du bist ja noch hübscher als letzten Sommer.«
»Das sagst du jedes Mal.«
»Und ich meine es jedes Mal ernst. Ich mache keine überflüssigen Worte.«
»Dann erzähl mir etwas Wichtiges.«
»Du, meine Göttin, wirst eines Tages meine Frau sein.«
Ich pflegte die Erinnerung an diese Sommer wie einen heiligen Garten, umgab ihn mit einem Zaun aus Liebe und wässerte ihn, sodass er zu einer Sammlung märchenhafter Momente heranwuchs.
Besonders deutlich erinnerte ich mich daran, wie ich jedes Mal die Luft angehalten hatte, ehe er in mein Zimmer geschlichen kam. Ich erinnerte mich an den Laden, in den ich immer ging, und an den Baum, unter dem ich meine Bücher las. Wie er unsere »Momente« immer weiter ausdehnte, als die Jahre vergingen und wir in die Pubertät kamen, wie er mich mit unverhüllter Belustigung beobachtete, wenn ich mich – vergeblich – wie ein Junge zu benehmen versuchte, obwohl meine Weiblichkeit auf schmerzliche, ja brutale Weise zutage getreten war.
Ich schob den Zettel tiefer in die Korsage hinein, während Veronica mir die Kuppen ihrer Wurstfinger in meine helle Haut grub, die beiden Seiten des Korsetts zusammenführte und es straff um meine Taille schnürte.
»Ach, könnte ich noch einmal neunzehn Jahre alt und so wunderschön sein!«, rief sie mit theatralischer Stimme. Die cremefarbenen Seidenschnüre spannten sich, und ich keuchte. Nur die Königinnen des Chicago-Outfits setzten noch immer Stylistinnen und Hausangestellte ein, um sich auf gesellschaftliche Ereignisse vorzubereiten. Und soweit es meine Eltern betraf … waren wir die Windsors. »Kannst du dich daran noch erinnern, Alma?«
Schnaubend steckte mir die Frisörin den Pony zurück, um meine gewellte Hochsteckfrisur zu vollenden. »Schätzchen, komm runter von deinem hohen Ross. Mit neunzehn warst du höchstens so hübsch wie eine Grußkarte von Hallmark. Unsere Francesca ist dagegen Michelangelos Erschaffung Adams.Nicht dieselbe Liga. Nicht mal dieselbe Ballsportart.«
Vor Verlegenheit wurden meine Wangen heiß. Ich hatte das Gefühl, dass die Leute meinen Anblick genossen, aber den Gedanken an Schönheit fand ich demütigend. Sie war mächtig, aber irgendwie auch schlüpfrig. Ein hübsch verpacktes Geschenk, das ich eines Tages bestimmt verlieren würde. Ich wollte es nicht öffnen oder mich an seinen Vorzügen erfreuen. Das würde den Abschied am Ende nur noch schwieriger machen.
Der Einzige, der an diesem Abend auf dem Maskenball im Art Institute of Chicago von meinem Erscheinen Notiz nehmen sollte, war Angelo. Thema der Gala waren die Götter und Göttinnen der griechischen und römischen Mythologie. Ich wusste, dass die meisten Frauen als Aphrodite oder Venus verkleidet auftauchen würden. Vielleicht als Hera oder Rhea, wenn sie unbedingt originell sein wollten. Ich nicht. Ich war Nemesis, die Göttin der Vergeltung. Angelo hatte mich immer als Göttin bezeichnet, und an diesem Abend würde ich meinem Spitznamen die Ehre erweisen, indem ich als die mächtigste Göttin von allen erschien.
Vielleicht war es albern, im einundzwanzigsten Jahrhundert mit neunzehn Jahren eine arrangierte Ehe eingehen zu wollen, aber wir Frauen im Outfit beugten uns der Tradition. Die zufällig fest im neunzehnten Jahrhundert verankert war.
»Was steht eigentlich auf dem Zettel?« Veronica klemmte mir ein Paar samtiger schwarzer Flügel an, nachdem sie mir das Kleid übergestreift hatte. Es war ein trägerloses Abendkleid in der Farbe eines klaren Sommerhimmels, verziert mit prächtigen Bögen aus blauem Organza. Der Tüllrock bedeckte hinter mir einen halben Meter Boden und ergoss sich vor den Füßen der beiden Hausangestellten wie die Ausläufer eines Ozeans. »Du weißt schon, der, den du dir gerade ins Korsett gesteckt hast.« Kichernd hängte sie mir goldene Ohrringe mit gefiederten Flügeln in die Ohrläppchen.
»Das hier …«, ich lächelte dramatisch, als ich ihrem Blick im Spiegel begegnete, und legte mir eine Hand auf die Brust, an der die Notiz ruhte, »… ist der Beginn vom Rest meines Lebens.«
»Ich wusste gar nicht, dass Venus Flügel hatte.«
Vor der Tür des Art Institute of Chicago küsste Angelo mir die Hand. Mir sank der Mut, doch ich schob meine alberne Enttäuschung rasch beiseite. Er neckte mich nur. Außerdem war er an diesem Abend in seinem Smoking auf derart verwirrende Weise attraktiv, dass ich ihm jeden Fehler verziehen hätte, abgesehen von kaltblütigem Mord.
Anders als die Frauen war für die Männer bei dieser Gala eine Uniform vorgeschrieben, die aus Smoking und Augenmaske bestand. Angelo trug zu seinem Anzug eine mit vergoldeten Blättern verzierte venezianische Maske, die den Großteil seines Gesichts bedeckte. Unsere Eltern tauschten Höflichkeiten aus, während wir voreinander standen und begierig jede Sommersprosse und jeden Zentimeter Haut des anderen in uns aufnahmen. Ich erklärte ihm mein Nemesis-Kostüm nicht. Wir würden noch genug Zeit haben, um über Mythologie zu sprechen – ein ganzes Leben lang. Ich musste lediglich dafür sorgen, dass wir an diesem Abend einen weiteren magischen Moment wie im Sommer erleben würden. Nur dass ich diesmal den Kopf heben würde, wenn er mich auf die Nase küsste; diesmal würde ich unsere Lippen und unsere Schicksale miteinander verbinden.
Ich bin Amor und schieße meinen Pfeil direkt in Angelos Herz.
»Du bist noch schöner als bei unserer letzten Begegnung.« Angelo griff an der Stelle, an der sein Herz schlug, in den Stoff seines Hemds und tat so, als ginge er in die Knie. Alle Gäste um uns herum waren verstummt, und ich sah, dass unsere Väter sich verschwörerische Blicke zuwarfen.
Zwei mächtige, reiche italo-amerikanische Familien mit starken gegenseitigen Beziehungen.
Don Vito Corleone wäre stolz.
»Du hast mich doch erst vor einer Woche bei Giannas Hochzeit gesehen.« Ich unterdrückte den Drang, mir die Lippen zu lecken, als Angelo mir unverwandt in die Augen blickte.
»Hochzeiten stehen dir gut, aber noch besser steht es dir, mit mir allein zu sein«, sagte er nur, woraufhin mein Herz den fünften Gang einlegte, ehe er, an meinen Vater gewandt, fortfuhr: »Mr Rossi, darf ich Ihre Tochter zum Tisch begleiten?«
Mein Vater fasste mich von hinten an der Schulter. Ich war mir seiner Gegenwart nur undeutlich bewusst, denn ich war in einen dicken Nebel aus Euphorie eingehüllt. »Behalt deine Hände da, wo ich sie sehen kann.«
»Immer, Sir.«
Angelo und ich hakten uns unter und folgten einem von Dutzenden Kellnern, der uns zu unseren Plätzen an dem mit einem goldfarbenen Tuch verhüllten und mit edlem schwarzem Porzellan gedeckten Tisch führte. Angelo beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Jedenfalls, bis du offiziell mir gehörst.«
Die Rossis und die Bandinis waren nur wenige Stühle voneinander entfernt platziert worden … zu meiner großen Enttäuschung, aber nicht weiter überraschend. Mein Vater stand im Mittelpunkt jeder Party und zahlte ein hübsches Sümmchen, um überall die besten Plätze zu bekommen. Mir gegenüber regten sich der Gouverneur von Illinois, Preston Bishop, und seine Frau über die Weinkarte auf. Neben ihnen saß ein Mann, den ich nicht kannte. Er trug eine schlichte schwarze Halbmaske und einen Smoking, der angesichts des edlen Stoffs und des tadellosen Schnitts ein Vermögen gekostet haben musste. Er saß neben einer auffallenden Blondine in einem weißen Cocktailkleid aus französischem Tüll. Eine Venus wie zahlreiche andere, die in der gleichen Aufmachung erschienen waren.
Der Mann wirkte zu Tode gelangweilt. Er ließ den Whiskey in seinem Glas kreisen und schenkte der schönen Frau an seiner Seite keine Beachtung. Als sie sich zu ihm beugte, um ihn anzusprechen, wandte er sich ab und checkte sein Handy, ehe er auch daran das Interesse verlor und an die Wand hinter mir starrte.
Schmerz durchfuhr mich. Diese Frau hatte etwas Besseres verdient als das, was er ihr bot. Etwas Besseres als einen kalten, bedrohlich wirkenden Mann, der einem Schauer über den Rücken jagte, ohne einen auch nur anzusehen.
Ich wette, bei dem bleibt Eiscreme tagelang kalt.
»Du und Angelo, ihr scheint recht angetan voneinander zu sein«, bemerkte Papa beiläufig und starrte auf meine Ellbogen, die ich aufgestützt hatte. Sofort nahm ich sie höflich lächelnd vom Tisch.
»Er ist nett.« Ich hätte gern »supernett« gesagt, aber mein Vater hasste die moderne Umgangssprache wie die Pest.
»Er passt ins Bild«, schnitt Papa mir das Wort ab. »Er hat gefragt, ob er dich nächste Woche ausführen darf, und ich habe Ja gesagt. Natürlich unter Marios Aufsicht.«
Natürlich. Mario war einer von Dads zahlreichen Muskelprotzen. Er besaß die Form und den IQ eines Backsteins. Ich hatte das Gefühl, dass Papa mich an diesem Abend nicht aus den Augen lassen würde, denn er wusste genau, dass Angelo und ich uns ein bisschen zu gut verstanden. Im Allgemeinen unterstützte Papa mich, aber er bestand darauf, dass alles auf eine bestimmte Art ablief. Eine Art, die die meisten Leute in meinem Alter rückständig oder vielleicht sogar barbarisch fänden. Ich war nicht dumm. Ich wusste, dass ich mich selbst immer tiefer reinritt, indem ich auf mein Recht auf Bildung und eine lukrative Beschäftigung verzichtete. Ich wusste, dass ich es sein sollte, die entschied, wen ich heiraten wollte.
Aber ich wusste auch: Wenn ich nicht tat, was mein Vater sagte, würde er mich rauswerfen. Frei sein konnte ich nur um den Preis, meine Familie hinter mir zu lassen … und die bedeutete mir nun mal alles.
Abgesehen von der Tradition unterschied sich die Realität des Chicago-Outfits deutlich von der Art, wie sie im Film dargestellt wurde. Es gab keine finsteren Gassen, keine schmierigen Drogensüchtigen oder blutige Kämpfe mit der Polizei. Heutzutage drehte sich alles um Geldwäsche, Übernahmen und Recycling. Mein Vater hofierte die Polizei ganz offen, pflegte Umgang mich höchstrangigen Politikern und half sogar dem FBI, hoch gehandelte Verdächtige festzunehmen.
Tatsächlich war genau das der Grund unserer Anwesenheit hier an diesem Abend. Papa hatte sich bereit erklärt, einer neuen wohltätigen Stiftung mit dem Zweck, sozial benachteiligten Jugendlichen eine höhere Bildung zu ermöglichen, eine schwindelerregende Summe zu spenden.
Oh, Ironie, meine treue Freundin.
Ich nippte an meinem Champagner und blickte über den Tisch zu Angelo, der sich mit einem Mädchen namens Emily unterhielt, deren Vater das größte Baseballstadion in Illinois gehörte. Angelo erzählte ihr, dass er sich bald für einen Masterstudiengang an der Northwestern University einschreiben und gleichzeitig in die Steuerberatungsfirma seines Vaters eintreten würde. In Wahrheit würde er für meinen Vater Geld waschen und bis ans Ende seiner Tage im Dienst der Mafia stehen. Ich war gerade dabei, mich ganz in ihrem Gespräch zu verlieren, da richtete Gouverneur Bishop das Wort an mich.
»Und was ist mit Ihnen, kleine Miss Rossi? Gehen Sie aufs College?«
Alle um uns herum unterhielten sich und lachten, nur der Mann mir gegenüber nicht. Nach wie vor ignorierte er seine Begleiterin und sein Handy, auf dem ungefähr hundert Nachrichten pro Minute aufblitzten, und kippte lieber seinen Drink hinunter. Als er nun in meine Richtung schaute, blickte er auch durchmich hindurch. Ich fragte mich flüchtig, wie alt er wohl war. Er schien älter als ich, aber jünger als Papa zu sein.
»Ich?«, fragte ich überflüssigerweise, lächelte höflich und straffte den Rücken. Ich strich die Serviette auf meinem Schoß glatt. Meine Manieren waren tadellos, und ich war geübt in hirnloser Konversation. Latein, Etikette und Allgemeinwissen hatte ich mir in der Schule angeeignet. Ich war in der Lage, jeden zu unterhalten, von Weltpolitikern bis zu einem Stück Kaugummi. »Oh, ich habe vor einem Jahr erst meinen Abschluss gemacht. Jetzt arbeite ich daran, mein soziales Repertoire zu erweitern und Verbindungen hier in Chicago aufzubauen.«
»Das heißt im Klartext, dass Sie weder arbeiten noch studieren«, versetzte der Mann mir gegenüber, leerte rasch sein Glas und bedachte meinen Vater mit einem fiesen Grinsen. Ich spürte, wie ich bis zu den Ohren rot anlief, während ich hilfesuchend zu meinem Vater blickte. Offenbar hatte der den Kommentar nicht gehört, denn er reagierte nicht darauf.
»Herrgott noch mal«, knurrte die blonde Frau neben dem unhöflichen Mann und errötete. Er winkte ab.
»Wir sind unter Freunden. Nichts davon wird durchsickern.«
Durchsickern? Wer zum Teufel war dieser Typ? Jetzt war ich munter und nahm einen Schluck von meinem Drink. »Natürlich bin ich auch noch mit anderen Dingen beschäftigt.«
»Tatsächlich? Womit denn?«, fragte er spöttisch mit vorgetäuschter Faszination. Auf unserer Seite des Tisches herrschte plötzlich Schweigen. Es war ein grimmiges Schweigen. Die Art von Schweigen, die darauf hindeutet, dass einem ein wahnsinnig peinlicher Moment bevorsteht.
»Ich liebe Wohltätigkeitsveranstaltungen.«
»Das ist keine richtige Betätigung. Was tun Sie?«
Verben, Francesca. Denk an Verben.
»Ich reite und arbeite gern im Garten. Ich spiele Klavier. Ich … äh, erledige alle notwendigen Einkäufe.« Mir war klar, dass ich es nur schlimmer machte. Aber der Kerl würde nicht zulassen, dass ich das Gespräch auf ein anderes Thema lenkte, und niemand griff ein, um mich zu retten.
»Das sind Hobbys, reiner Luxus. Was ist Ihr Beitrag zur Gesellschaft, Miss Rossi, abgesehen davon, dass Sie die US-Wirtschaft unterstützen, indem Sie genug Kleider kaufen, um ganz Nordamerika zu versorgen?«
Besteck landete klirrend auf feinem Porzellan. Eine Frau schnappte nach Luft. Auch die letzten Plaudereien verstummten.
»Es reicht«, fauchte mein Vater. Seine Stimme war kalt, sein Blick wirkte erloschen. Ich zuckte zusammen, aber der Mann in der Maske saß gelassen und mit geradem Rücken da und schien sich köstlich über die Wendung zu amüsieren, die das Gespräch genommen hatte.
»Nun, Arthur, das sehe ich genauso. Ich glaube, ich habe alles erfahren, was es über Ihre Tochter zu wissen gibt. Und das in nur einer Minute.«
»Haben Sie außer Ihren Manieren auch Ihre politischen Aufgaben und Ihre Verpflichtung der Öffentlichkeit gegenüber vergessen?«, gab mein Vater zurück, höflich wie immer.
Der Mann grinste anzüglich. »Ganz im Gegenteil, Mr Rossi. Ich denke, zu Ihrer großen zukünftigen Enttäuschung erinnere ich mich sehr gut daran.«
Preston Bishop und seine Frau überspielten das gesellschaftliche Desaster, indem sie mir Fragen zu meiner Erziehung in Europa, zu meinen Konzerten und meinem Studienwunsch stellten (Botanik, obwohl ich nicht dumm genug war, darauf hinzuweisen, dass ein Studium für mich nicht infrage kam). Meine Eltern lächelten angesichts meines tadellosen Benehmens, und sogar die Frau neben dem unhöflichen Fremden schaltete sich zögerlich in die Unterhaltung ein, indem sie von der Europareise erzählte, die sie in dem Jahr zwischen Schule und Uni unternommen hatte. Sie war Journalistin und hatte die gesamte Welt bereist. Aber obwohl alle so nett zu mir waren, konnte ich die schreckliche Demütigung durch die scharfen Worte ihres Begleiters nicht abschütteln. Der starrte inzwischen übrigens wieder mit einer Miene, die tödliche Langeweile verriet, auf den Grund seines frisch gefüllten Whiskeyglases.
Ich zog in Erwägung, ihm zu sagen, dass er keinen weiteren Drink brauchte, professionelle Hilfe hingegen wahre Wunder bewirken konnte.
Nach dem Essen wurde getanzt. Alle anwesenden Frauen hatten eine Tanzkarte, auf der die Namen derjenigen standen, die ein stilles Gebot abgegeben hatten. Alle Einnahmen kamen wohltätigen Zwecken zugute.
Ich ging zu dem langen Tisch mit den Karten, auf denen die Namen der teilnehmenden Frauen standen, und checkte, wer sich auf meiner Karte eingetragen hatte. Mein Herz schlug schneller, als ich Angelos Namen entdeckte. Das Hochgefühl verwandelte sich in Entsetzen, als ich feststellte, dass meine Karte randvoll mit italienisch klingenden Namen war, um die herum nur wenige andere Namen verteilt waren. Wahrscheinlich würde ich den restlichen Abend damit verbringen, zu tanzen, bis ich meine Füße nicht mehr spürte. Es würde schwierig werden, heimlich einen Kuss von Angelo zu erhaschen.
Als Erster tanzte ein Bundesrichter mit mir. Dann ein wütender italo-amerikanischer Playboy aus New York, der mir erzählte, er sei nur gekommen, um zu überprüfen, ob die Gerüchte über mein Aussehen stimmten. Wie ein Fürst aus dem Mittelalter küsste er mir den Rocksaum, ehe seine Freunde ihren betrunkenen Kumpel zurück an ihren Tisch zerrten. Bitte, frag meinen Vater nicht, ob du mit mir ausgehen darfst,stöhnte ich innerlich. Er schien die Sorte reiches Arschloch zu sein, die mein Leben in eine Version von Der Pate verwandeln würde. Der dritte Tanzpartner war Gouverneur Bishop, der vierte war Angelo. Der Walzer war ziemlich kurz, aber ich versuchte, mir davon nicht die Laune verderben zu lassen.
»Da ist sie ja.« Angelos Gesicht begann zu leuchten, als er auf mich und den Gouverneur zukam, um mich zum Tanz aufzufordern.
Kronleuchter hingen von der Decke, und der Marmorboden schien unter den klickenden Absätzen der Tänzer zu singen. Angelo senkte den Kopf, nahm meine Hand und umfing mit der anderen Hand meine Taille.
»Du siehst schön aus. Noch schöner als vor zwei Stunden«, flüsterte er, und ich spürte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht. Kleine, samtige Schmetterlingsflügel kitzelten mein Herz.
»Gut zu wissen, ich kann in diesem Ding hier nämlich kaum atmen.« Ich lachte, suchte verzweifelt Angelos Blick. Ich wusste, dass er mich in diesem Moment nicht küssen konnte, und eine Welle der Panik überschwemmte die Schmetterlinge und ertränkte sie in Angst. Was, wenn wir uns an diesem Abend überhaupt nicht allein erwischten? Dann wäre die Notiz nutzlos.
Dieser hölzerne Kasten wird mich entweder umbringen oder retten.
»Ich gebe dir jederzeit gern Mund-zu-Mund-Beatmung, falls du keine Luft mehr bekommst.« Er sah mir flüchtig ins Gesicht, sein Adamsapfel hüpfte beim Schlucken auf und ab. »Aber anfangen würde ich lieber mit einem schlichten Date nächste Woche, falls du Interesse hast.«
»Habe ich«, sagte ich viel zu schnell. Er lachte und senkte seine Stirn auf meine.
»Möchtest du wissen, wann?«
»Wann wir ausgehen?«, fragte ich dümmlich.
»Das auch. Am Freitag übrigens. Aber ich meinte eigentlich, an welchem Punkt ich wusste, dass du meine Frau sein wirst«, erklärte er, ohne zu zögern. Nur mit Mühe konnte ich nicken, denn am liebsten hätte ich geweint. Ich spürte, wie er die Hand fester um meine Taille schloss und ich das Gleichgewicht verlor.
»Es war in dem Sommer, in dem du sechzehn wurdest. Ich war zwanzig. Ich könnte dein Vater sein!«, scherzte er lachend. »Wir kamen ziemlich spät in unserer Hütte auf Sizilien an. Ich rollte meinen Koffer an dem Fluss hinter unseren nebeneinander liegenden Hütten entlang, da sah ich dich auf dem Steg sitzen und Blumen zu einem Kranz flechten. Du blicktest lächelnd auf die Blüten hinab, warst sehr schüchtern und sehr hübsch, und ich wollte den Bann nicht brechen, indem ich dich anspreche. Plötzlich hat der Wind die Blüten überall hin geweht. Ohne zu zögern bist du kopfüber in den Fluss gesprungen und hast jede einzelne Blüte herausgeholt, die sich aus dem Kranz gelöst hatte, obwohl du wusstest, dass er nicht mehr zu retten war. Warum hast du das gemacht?«
»Meine Mutter hatte Geburtstag«, erklärte ich. »Scheitern war keine Option. Der Geburtstagskranz ist dann übrigens sehr hübsch geworden.«
Ich senkte den Blick auf den nutzlosen Abstand zwischen unseren Oberkörpern.
»Scheitern ist keine Option«, wiederholte Angelo nachdenklich.
»Du hast mich damals im Waschraum des Restaurants auf die Nase geküsst.«
»Ich erinnere mich.«
»Stiehlst du mir heute auch einen Nasenkuss?«, fragte ich.
»Ich würde dir niemals etwas stehlen, Frankie. Ich würde den vollen Preis für einen Kuss von dir entrichten, bis auf den letzten Cent«, neckte er mich gutmütig und zwinkerte mir zu. »Aber ich fürchte, wegen deiner erschreckend vollen Karte und weil ich mich mit den Made Men beschäftigen muss, die eine Einladung zu diesem Ball ergattern konnten, werde ich das ein wenig verschieben müssen. Keine Sorge, ich habe Mario bereits ein großzügiges Trinkgeld versprochen, wenn er sich am Freitag beim Abholen des Autos vom Parkservice ein bisschen mehr Zeit lässt als üblich.«
Aus dem Rinnsal Panik wurde ein ausgewachsener Wolkenbruch an Entsetzen. Wenn Angelo mich an diesem Abend nicht küsste, würde die Prophezeiung auf dem Notizzettel ihre Gültigkeit verlieren.
»Bitte.« Ich versuchte, noch strahlender zu lächeln und mein Entsetzen hinter Ungeduld zu verstecken. »Meine Beine könnten eine Pause gut gebrauchen.«
Er hielt sich die Faust vor den Mund und lachte. »Das sind aber eine Menge sexueller Anspielungen, Francesca.«
Ich wusste nicht, ob ich vor Verzweiflung weinen oder vor Frust schreien wollte. Wahrscheinlich beides. Der Song war noch nicht zu Ende, wir wiegten einander noch in den Armen, eingehüllt in einen dunklen Zauber, da fühlte ich, wie sich eine starke Hand auf meinen nackten oberen Rücken legte.
»Ich glaube, jetzt bin ich dran«, hörte ich eine tiefe Stimme hinter mir dröhnen. Mit mürrischer Miene drehte ich mich um und stand dem unhöflichen Mann in der schwarzen Halbmaske gegenüber, der mir ins Gesicht starrte.
Er war groß – eins neunzig oder eins fünfundneunzig –, die tintenschwarzen, zerzausten Haare waren mit aufreizender Perfektion zurückgekämmt. Sein sehniger, hart wirkender Körper war schlank, aber muskulös. Seine Augen waren grau wie Kieselsteine, schräg und leicht bedrohlich, und sein äußerst kantiges Kinn bildete den perfekten Rahmen für ein Paar geschwungener Lippen, was seiner Erscheinung, die andernfalls fast zu attraktiv gewesen wäre, etwas Hartes, Draufgängerisches verlieh. Ein spöttisches, distanziertes Grinsen umspielte seine Lippen, und ich hätte es ihm am liebsten aus dem Gesicht gewischt. Offensichtlich amüsierte er sich noch immer über das, was ich bei Tisch von mir gegeben hatte und was er offensichtlich für einen Haufen Unsinn hielt. Und wir hatten eindeutig Publikum, denn inzwischen schaute uns der halbe Saal mit unverhülltem Interesse zu. Die Frauen starrten ihn an wie hungrige Haie die Fische im Aquarium. Die Männer grinsten belustigt.
»Passen Sie auf Ihre Hände auf«, knurrte Angelo, als ein neuer Song erklang und er mich nicht länger im Arm halten konnte.
»Passen Sie lieber auf sich selbst auf«, versetzte der Mann.
»Sind Sie sicher, dass Sie auf meiner Karte stehen?« Mit einem höflichen, aber distanzierten Lächeln wandte ich mich an den Mann. Ich war noch verwirrt von dem Wortwechsel mit Angelo, da zog mich der Fremde an seinen muskulösen Körper und legte mir besitzergreifend eine Hand auf den Rücken, tiefer als sozial verträglich, kurz davor, meinen Hintern zu betatschen.
»Antworten Sie mir«, fauchte ich.
»Mein Gebot war das höchste auf Ihrer Karte«, antwortete er trocken.
»Die Gebote sind anonym. Sie wissen nicht, wie viel andere bezahlt haben.« Ich schürzte die Lippen, um ihn nicht anzuschreien.
»Ich weiß, dass die Gebote nicht mal annähernd den Wert dieses Tanzes erreichen.«
Unglaublich …
Wir bewegten uns durch den Raum, während sich die Paare um uns herum nicht nur drehten, sondern uns auch verstohlen mit neidischen Blicken musterten. Nackte, unverhüllte Blicke, die mir verrieten, dass es sich bei der Blondine, mit der er auf dem Maskenball aufgetaucht war, nicht um seine Frau handelte. Und die mir sagten, dass ich beim Chicago-Outfits schwer angesagt sein mochte, dieser unhöfliche Mann aber ebenfalls äußerst gefragt war.
Steif und kalt lag ich in seinen Armen, aber er schien es nicht zu bemerken … oder es war ihm egal. Er tanzte besser als die meisten Männer, aber er war nur technisch perfekt, ihm fehlten Angelos Wärme und Verspieltheit.
»Nemesis.« Seine Stimme überrumpelte mich, unter seinem gierigen Blick fühlte ich mich nackt. »Verteilt Freude und Leid. Scheint mir ein Widerspruch zu dem unterwürfigen Mädchen zu sein, das bei Tisch Bishop und seine pferdegesichtige Frau unterhalten hat.«
Ich verschluckte mich an meinem eigenen Speichel. Hatte er die Frau des Gouverneurs gerade pferdegesichtig genannt? Und mich unterwürfig? Ich wandte den Blick ab, ignorierte bewusst den süchtig machenden Duft seines Eau de Cologne und das Gefühl seines marmorharten Körpers an meinem.
»Nemesis ist mein Krafttier. Sie war es, die Narziss an eine einsame Quelle gelockt hat, in der er sein eigenes Spiegelbild erblickte und an seiner Eitelkeit zugrunde ging. Stolz ist ein schlimmes Leiden.« Ich bedachte ihn mit einem spöttischen Grinsen.
»Manche Menschen könnten durchaus ein bisschen Stolz gebrauchen.« Er entblößte eine Reihe gerader weißer Zähne.
»Arroganz ist eine Krankheit. Mitgefühl ist das Heilmittel. Die meisten Götter verabscheuten Nemesis, aber das lag daran, dass sie Rückgrat hatte.«
»Und Sie?« Er zog eine dunkle Braue hoch.
»Ob ich …?« Ich blinzelte, mein zuvorkommendes Lächeln fiel in sich zusammen. Mit mir allein war er sogar noch unhöflicher.
»Ob Sie Rückgrat haben«, stellte er klar. Er musterte mich derart offen und vertraulich, dass es sich anfühlte, als bliese er mir seinen Feueratem in die Seele. Ich wollte mich seinem Griff entziehen und in einen Pool voller Eis springen.
»Natürlich habe ich das«, antwortete ich und straffte den Rücken. »Was haben Sie bloß für Manieren? Sind Sie von wilden Kojoten aufgezogen worden?«
»Geben Sie mir ein Beispiel«, sagte er, ohne meine Stichelei zu beachten. Ich machte Anstalten, mich von ihm zu lösen, aber er zog mich ruckartig wieder an sich. Der funkelnde Ballsaal verschwamm zu einer Kulisse, und obwohl ich bemerkt hatte, dass der Mann hinter der Halbmaske ungewöhnlich schön war, fiel mir in diesem Augenblick nur sein hässliches Benehmen auf.
Ich bin eine Lady und eine Kriegerin … und ein geistig gesunder Mensch, der mit diesem grauenhaften Typen fertigwerden kann.
»Ich mag Angelo Bandini wirklich sehr«, sagte ich leise, wandte den Blick von seinem Gesicht ab und schaute zu dem Tisch, an dem Angelos Familie versammelt war. Wenige Plätze weiter saß mein Vater und musterte uns mit kaltem Blick, umgeben von zwanglos plaudernden Made Men.
»Und wissen Sie, in meiner Familie gilt seit zehn Generationen ein Brauch. Vor ihrer Hochzeit muss jede Rossi einen Holzkasten öffnen, der in dem italienischen Dorf meiner Vorfahren von einer Hexe angefertigt und mit Schnitzereien verziert wurde. Sie muss drei Notizen lesen, die das zuletzt verheiratete Mädchen der Rossis für sie darin zurückgelassen hat. Es ist eine Art Glückszauber, gemischt mit einem Talisman und ein wenig Wahrsagerei. Ich habe den Kasten heute Abend gestohlen und eine der Prophezeiungen geöffnet, um dem Schicksal auf die Sprünge zu helfen. Darin stand, dass ich heute Abend von der Liebe meines Lebens geküsst werde, und … nun ja …« Ich sog die Unterlippe ein und spähte unter den Wimpern hindurch zu Angelos leerem Platz. Der Mann betrachtete mich ungerührt, als wäre ich ein Film in einer Sprache, die er nicht verstand. »Ich werde ihn heute Abend küssen.«
»Ist es das, was Sie unter Rückgrat verstehen?«
»Wenn ich etwas haben will, hole ich es mir.«
Seine Maske bog sich leicht, als er arrogant die Stirn runzelte, wie um mir zu sagen, dass er mich für eine komplette Idiotin hielt. Ich blickte ihm unverwandt in die Augen. Mein Vater hatte mir beigebracht, dass man mit Männern wie diesem am besten klarkam, wenn man sie konfrontierte, anstatt vor ihnen davonzulaufen. Denn dieser Typ würde Jagd auf mich machen.
Ja, ich glaube an diese Tradition.
Nein, mich interessiert nicht, was Sie davon halten.
Dann fiel mir ein, dass ich ihm im Lauf des Abends meine ganze Lebensgeschichte erzählt hatte, ohne ihn auch nur nach seinem Namen zu fragen. Ich wollte ihn zwar nicht wissen, aber die Etikette verlangte, dass ich wenigstens so tat, als ob.
»Ich habe vergessen zu fragen, wer Sie sind.«
»Ja, weil es Ihnen egal ist«, gab er zurück.
Er musterte mich mit derselben Verschlossenheit wie zuvor. Es war ein Widerspruch in sich, eine Art wütende Langeweile. Ich schwieg, denn er hatte recht.
»Senator Wolfe Keaton.« Seine Stimme klang scharf, als ihm die Worte über die Lippen kamen.
»Sind Sie nicht ein bisschen zu jung, um Senator zu sein?« Ich schmeichelte ihm mit seiner herausgehobenen Stellung in der Hoffnung, etwas von der dicken Schicht Arschloch abzutragen, die er um sich herum aufgebaut hatte. Bei manchen Leuten reichte dazu eine feste Umarmung. Um den Nacken herum. Moment mal … ich überlegte tatsächlich, ob ich ihn erwürgen sollte. Nicht ganz die Definition einer Umarmung.
»Dreißig. Im September gefeiert. Im November gewählt worden.«
»Gratuliere.« Nichts könnte mir gleichgültiger sein. »Sie sind bestimmt begeistert.«
»Ich bin im siebten Himmel, verdammt.« Er zog mich noch enger an sich, drückte mich fest an seinen Körper.
Ich räusperte mich. »Kann ich Sie etwas Persönliches fragen?«
»Nur wenn ich Sie auch etwas Persönliches fragen darf«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.
Ich dachte darüber nach.
»In Ordnung.«
Er senkte das Kinn zum Zeichen, dass ich loslegen konnte.
»Warum wollten Sie mit mir tanzen, ganz zu schweigen davon, dass Sie gutes Geld für dieses zweifelhafte Vergnügen gezahlt haben, wenn Sie offensichtlich der Meinung sind, dass alles, wofür ich stehe, geschmacklos und seicht ist?«
Zum ersten Mal an diesem Abend huschte etwas über sein Gesicht, das einem Lächeln ähnelte. Es wirkte unnatürlich, beinahe falsch. Ich kam zu dem Schluss, dass er es nicht gewöhnt war, zu lachen. Oder es überhaupt nie tat.
»Ich wollte selbst überprüfen, ob die Gerüchte über Ihr Aussehen der Wahrheit entsprechen.«
Das schon wieder. Ich widerstand dem Drang, ihm auf den Fuß zu treten. Männer waren wirklich schlichte Wesen. Aber, rief ich mir ins Gedächtnis, Angelo hatte mich auch früher schon hübsch gefunden. Als ich noch eine Zahnspange trug, Sommersprossen meine Nase und die Wangen bedeckten und ich noch nicht wusste, wie sich mein widerspenstiges, mausbraunes Haar zähmen ließ.
»Ich bin dran«, sagte er, ohne sein Urteil über mein Aussehen zu verkünden. »Haben Sie sich schon Namen für Ihre Kinder mit Bangini ausgesucht?«
Es war eine seltsame Frage, zweifellos eine, die nur dazu diente, sich über mich lustig zu machen. Ich wollte mich umdrehen und ihn einfach stehen lassen. Aber die Musik verklang, und es war dumm, das Handtuch zu werfen, wenn diese Begegnung sowieso gleich enden würde. Außerdem schien ihn jedes Wort zu stören, das aus meinem Mund kam. Warum also einen perfekten Treffer vergeben?
»Bandini. Und ja, das habe ich tatsächlich. Christian, Joshua und Emmeline.«
Okay, das Geschlecht hatte ich mir auch schon ausgesucht. So was passiert eben, wenn man zu viel freie Zeit zur Verfügung hat.
Nun grinste der Fremde mit der Halbmaske völlig ungeniert, und hätte ich vor Ärger nicht das Gefühl gehabt, dass mir reines Gift durch die Adern floss, hätte ich das werbereife Resultat seiner Zahnhygiene bestimmt zu schätzen gewusst. Anstatt den Kopf zu senken und mir einen Handkuss zu geben, wie es laut Prospekt bei diesem Ball vorgeschrieben war, trat er einen Schritt zurück und salutierte spöttisch. »Vielen Dank, Francesca Rossi.«
»Für den Tanz?«
»Für die Einblicke.«
Nach dem verfluchten Tanz mit Senator Keaton verlief der Abend immer schlechter. Angelo saß, in eine hitzige Diskussion vertieft, mit einer Gruppe Männer an einem Tisch, während ich von einem Paar Arme in das nächste geschubst wurde, mich lächelnd unter die Tänzer mischte und mit jedem Lied ein Stückchen Hoffnung und geistige Gesundheit verlor. Die Absurdität meiner Lage war einfach nicht zu fassen. Ich stahl den Holzkasten meiner Mutter – das Einzige, das ich in meinem ganzen Leben je gestohlen hatte –, um die Notiz für mich zu lesen und den Mut aufzubringen, Angelo zu zeigen, was ich für ihn empfand. Wenn er mich an diesem Abend nicht küsste – wenn mich an diesem Abend niemandküsste –, hieß das, dass ich zu einem Leben ohne Liebe verdammt war?
Drei Stunden nach Beginn des Maskenballs schaffte ich es, aus dem Museum zu schlüpfen. Auf den breiten Betonstufen davor blieb ich stehen und atmete die frische Luft der Frühlingsnacht. Mein letzter Tanzpartner hatte den Ball vorzeitig verlassen müssen. Bei seiner Frau hatten die Wehen eingesetzt. Zum Glück.
Ich umarmte mich selbst, um dem Chicagoer Wind zu trotzen, und lachte traurig vor mich hin. Ein einzelnes gelbes Taxi flitzte an den hohen Gebäuden vorbei, und ein aneinandergeschmiegtes Paar torkelte im Zickzack seinem Ziel entgegen.
Klick.
Es klang, als hätte jemand das Universum abgeschaltet. Plötzlich erloschen die Straßenlaternen entlang der Straße, und es wurde stockfinster.
Es war auf morbide Art schön; das einzige sichtbare Licht war der schimmernde Halbmond über meinem Kopf. Ich spürte, wie sich von hinten ein Arm um meine Taille legte. Die Berührung war stark und selbstsicher, umfing meinen Körper, als hätte der Mann, der sie ausführte, sie eine Weile geübt.
Jahrelang.
Ich drehte mich um. Angelos schwarz-goldene Maske starrte mich an. Schlagartig strömte die Luft aus meiner Lunge, und mein Körper verwandelte sich Gelee, als ich ihm erleichtert in die Arme sank.
»Du bist gekommen«, flüsterte ich.
Sein Daumen strich über meine Wange. Ein kaum merkliches wortloses Nicken.
Ja.
Er beugte sich über mich und drückte seine Lippen auf meinen Mund. Das Herz in meiner Brust quiekte förmlich.
Mach den Mund zu. Das hier passiert wirklich.
Ich packte ihn an den Aufschlägen seines Smokings und zog ihn an mich. Diesen Kuss hatte ich mir unzählige Male vorgestellt, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass er sich so anfühlen würde. Wie zu Hause. Wie Sauerstoff. Wie die Ewigkeit. Seine vollen Lippen streiften meine, sein heißer Atem drang in meinen Mund, und er erkundete mich, knabberte an meiner Unterlippe, ehe er meinen Mund mit seinem in Besitz nahm; den Kopf schief gelegt, beugte er sich zu einer wilden Liebkosung zu mir herab. Er öffnete den Mund, seine Zunge blitzte hervor und berührte meine. Ich tat ihm denselben Gefallen. Er zog mich an sich, verschlang mich langsam und genüsslich, legte mir eine Hand auf den unteren Rücken und stöhnte in meinen Mund, als wäre ich Wasser in der Wüste. Ich seufzte an seinen Lippen, erkundete mit der Zunge ungeschickt jeden Winkel seines Mundes, war verlegen, erregt und, wichtiger noch, frei.
Frei. In seinen Armen. Gab es etwas Befreienderes, als sich geliebt zu fühlen?
Ich wiegte mich in der Sicherheit seiner Arme und küsste ihn gut drei Minuten lang, ehe sich der Verstand in mein benebeltes Gehirn zurückschlich. Er schmeckte nach Whiskey, nicht nach dem Wein, den Angelo den ganzen Abend getrunken hatte. Er war bedeutend größer als ich, auch größer als Angelo, allerdings nicht viel. Dann wurde ich mir des Geruchs seines Aftershaves bewusst, und ich erinnerte mich an die eisigen Kieselaugen, die rohe Kraft und dunkle Sinnlichkeit, die Zorn in meinem Inneren aufflammen ließ. Langsam atmete ich durch und fühlte das Brennen in mir.
Nein.
Ruckartig löste ich mich von seinen Lippen und stolperte rückwärts über eine Stufe. Er packte mich am Handgelenk und verhinderte, dass ich stürzte, machte aber keine Anstalten, mich ein weiteres Mal zu küssen.
»Sie!«, rief ich mit zitternder Stimme. In perfektem Timing schalteten sich die Straßenlaternen wieder ein und beleuchteten die markanten Linien seines Gesichts.
Angelo hatte sanfte Züge über einem definierten Kinn. Das Gesicht dieses Mannes bestand nur aus Kanten und harten Schnitten. Er sah völlig anders aus als mein Schwarm, sogar wenn er eine Halbmaske trug.
Wie hatte er das gemacht? Warum hatte er es gemacht? Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich hielt sie zurück. Ich gönnte diesem Fremden die Genugtuung nicht, zu sehen, wie ich die Beherrschung verlor.
»Wie können Sie es wagen?«, sagte ich leise, und um nicht zu schreien, biss ich mir auf die Innenseite der Wange, bis der Geschmack von warmem Blut meinen Mund füllte.
Er trat einen Schritt zurück, nahm Angelos Maske ab – weiß der Himmel, wie er die in die Hände bekommen hatte – und warf sie auf die Treppe, als wäre sie verseucht. Sein unmaskiertes Gesicht wurde enthüllt wie ein Kunstwerk. Brutal und einschüchternd verlangte es nach meiner Aufmerksamkeit. Ich trat einen Schritt zur Seite, um Abstand zwischen uns zu bringen.
»Wie? Gar kein Problem.« Er war dermaßen respektlos; er flirtete mit offener Verachtung. »Ein cleveres Mädchen hätte eher nach dem Warum gefragt.«
»Nach dem Warum?«, wiederholte ich spöttisch und weigerte mich, wirklich zu begreifen, was in den letzten fünf Minuten passiert war. Ein anderer hatte mich geküsst. Entsprechend der Familientradition würde nicht Angelo die Liebe meines Lebens sein. Sondern dieser Idiot …
Nun war es Keaton, der einen Schritt zur Seite trat. Ein breiter Rücken hatte den Eingang zu dem Museum versperrt, darum hatte ich nicht gesehen, wer dort stand, mit hängenden Schultern und offenem Mund, das Gesicht prachtvoll entblößt, und die Szene in sich aufnahm.
Angelo warf einen Blick auf meine geschwollenen Lippen, drehte sich um und ging mit steifen Schritten wieder hinein. Emily folgte ihm.
Der Wolf war nicht länger als Schaf verkleidet, als er mir den Rücken kehrte und die Treppe hinaufstieg. Als er die Türen erreicht hatte, tauchte wie auf ein Stichwort seine Begleiterin auf. Wolfe hakte sie unter und führte sie die Treppe hinab; er würdigte mich keines Blickes, als ich mich auf die Betontreppe sinken ließ. Ich hörte, wie die Frau leise etwas zu ihm sagte, seine trockene Antwort darauf, und dann erklang ihr Lachen wie ein Windspiel, das sich in der Luft bewegt.
Die Tür ihrer Limousine schlug zu, und meine Lippen brannten derart heftig, dass ich sie berühren musste, um mich zu vergewissern, dass er sie nicht in Brand gesteckt hatte. Der Stromausfall war kein Zufall gewesen. Er hatte dafür gesorgt.
Er hatte die Energiezufuhr gekappt. Wegen mir.
Ich zog den Zettel aus meiner Korsage, warf ihn auf die Stufe und trampelte darauf herum wie ein zu Wutanfällen neigendes Kind.
Wolfe Keaton war ein Kussdieb.
In mir tobte ein Krieg, als ich in jener Nacht sämtliche Spinnweben und sonstigen Makel an meiner Zimmerdecke betrachtete und an einer Zigarette zog.
Es war nur eine dumme Tradition, die ich nicht ernst nehmen musste. Keine wissenschaftlich erwiesene Tatsache. Bestimmt würden sich nicht alle Prophezeiungen auf diesen Notizzetteln als wahr herausstellen. Wahrscheinlich würde ich Wolfe Keaton nie mehr wiedersehen.
Aber Angelo würde ich sehr bald wiedersehen. Er hatte unser Date am kommenden Freitag zwar abgesagt, aber es gab in diesem Monat eine Menge Hochzeiten, Urlaube und gesellschaftliche Veranstaltungen, an denen wir beide teilnehmen würden.
Ich konnte ihm alles persönlich erklären. Ein einziger dämlicher Kuss würde unser jahrelanges verbales Vorspiel nicht auslöschen. Ich war sogar so weit gegangen, mir seine Zerknirschung vorzustellen, wenn ihm erst einmal klar geworden war, dass ich Senator Keaton nur deshalb geküsst hatte, weil ich ihn für Angelo gehalten hatte.
Ich drückte die Zigarette aus und zündete mir eine neue an. Mein Handy fasste ich nicht an. Ich musste dem Drang widerstehen, Angelo eine übertrieben rechtfertigende, hysterische Nachricht zu schreiben. Ich musste mit meiner Cousine Andrea über diese Sache reden. Sie wohnte auf der anderen Seite der Stadt, war Anfang zwanzig und darum meine einzige, wenn auch widerwillige Ratgeberin in Bezug auf das andere Geschlecht.
Ein Vorhang aus Rosa- und Gelbtönen senkte sich über den Himmel, als der Morgen heraufzog. Vögel sangen vor unserer Villa aus Kalkstein, hatten sich auf meiner Fensterbank niedergelassen.
Ich wischte mir mit dem Unterarm über die Stirn und zuckte zusammen, mein Mund schmeckte nach Asche und Enttäuschung. Es war Samstag, und ich musste aus dem Haus sein, ehe meine Mutter auf dumme Ideen kam. Ideen wie die, mit mir teure Kleider shoppen zu gehen und mich über Angelo Bandini auszufragen. Trotz all der protzigen Klamotten und Schuhe in meinem Schrank war ich für italo-amerikanische Verhältnisse ein ziemlich einfaches Mädchen. Ich spielte meine Rolle, weil ich es musste, aber ich hasste es wie die Pest, wie eine schwache, dümmliche Prinzessin behandelt zu werden. Ich trug wenig bis gar kein Make-up und mochte meine Haare am liebsten ungezähmt. Reiten und Gartenarbeit waren mir lieber als Shopping und Besuche im Nagelstudio. Abreagieren konnte ich mich am besten beim Klavierspielen. Stundenlang in einer Ankleidekabine zu stehen und von meiner Mutter und ihren Freundinnen begutachtet zu werden, entsprach hingegen meiner persönlichen Definition der Hölle.
Ich wusch mir das Gesicht und zog meine schwarze Reithose, Reitstiefel und eine weiße Schlupfjacke an. Ich ging in die Küche hinunter, holte meine Schachtel Vogue heraus und zündete mir eine an, während ich einen Cappuccino trank und zwei Ibuprofen-Tabletten einwarf. Eine blaue Rauchwolke wuchs aus meinem Mund, während ich mit meinen abgekauten Fingernägeln auf dem Esstisch herumtrommelte. Innerlich verfluchte ich schon wieder Senator Keaton. Am Tag zuvor hatte er beim Dinner die Unverfrorenheit besessen, davon auszugehen, dass ich mir meine Art zu leben nicht nur selbst ausgesucht hatte, sondern sie auch noch genoss. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass ich mich vielleicht einfach damit arrangiert und beschlossen hatte, mich nur noch auf Kämpfe einzulassen, aus denen ich als Siegerin hervorgehen würde – und nicht auf solche, die von vornherein verloren waren.
Ich wusste, dass ich keine Karriere machen durfte. Ich hatte mich mit dieser herzzerreißenden Tatsache abgefunden, warum also konnte ich nicht die einzige Sache bekommen, die ich mir nach wie vor wünschte? Ein Leben mit Angelo, dem einzigen Mann im Chicago-Outfit, den ich tatsächlich mochte.
Ich hörte die Absätze meiner im Obergeschoss herumhantierenden Mutter klappern, dann öffnete sich quietschend die alte Tür zum Büro meines Vaters. Ich hörte, wie mein Vater am Telefon jemanden auf Italienisch anschnauzte und wie meine Mutter in Tränen ausbrach. Meine Mutter war kein Mensch, der spontan zu weinen anfing, und mein Vater erhob normalerweise nicht die Stimme, deshalb weckten beide Reaktionen meine Neugier.
Ich ließ den Blick durch das Erdgeschoss mit der offenen Küche schweifen, die in einen riesigen Vorbau überging, und erblickte Mario und Stefano, die laut auf Italienisch miteinander flüsterten. Als sie mich sahen, verstummten sie.
Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. Kurz vor elf.
Kennt ihr das Gefühl, dass eine Katastrophe unmittelbar bevorsteht? Das erste Beben des Bodens unter den Füßen, das erste Klirren des Kaffeebechers auf dem Tisch vor dem heftigen Sturm? Genauso fühlte ich mich in diesem Moment.
»Frankie!«, rief Mama mit hoher Stimme, »wir erwarten Gäste. Nicht weggehen.«
Als könnte ich einfach aufstehen und gehen. Das hier war eine Warnung. Meine Haut begann zu kribbeln.
»Wer kommt denn?«, rief ich zurück.
Keine Sekunde später tauchte die Antwort auf meine Frage auf, denn es klingelte an der Tür, als ich gerade die Treppe hinaufsteigen und Mama fragen wollte, was los war.
Ich öffnete und erblickte Wolfe Keaton, meinen neuen Intimfeind, der mit einem boshaften Grinsen im Gesicht vor der Tür stand. Ich erkannte ihn auch ohne die Maske, die er am Vorabend fast ständig getragen hatte. So sehr ich diesen Mann auch hasste – sein Gesicht war unvergesslich.
Betont unnahbar und aufreizend elegant kam er in einem karierten Anzug im Regent-Stil mit maßgeschneidertem Sakko in den Flur gestürmt. Er wischte sich bereits den Morgentau von den Slippern, als seine Bodyguards ihm ins Haus folgten.
»Nemesis.« Er stieß das Wort aus, als wäre ich diejenige, die ihm unrecht getan hatte. »Wie geht es dir heute Morgen?«
Beschissen,undzwarwegendir.Natürlich sollte er nicht wissen, dass er Einfluss auf meine Stimmung hatte. Es war schlimm genug, dass er mich um meinen ersten Kuss mit Angelo gebracht hatte.
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schloss ich die Tür hinter ihm und begrüßte ihn mit derselben Begeisterung, mit der ich den Sensenmann willkommen geheißen hätte.
»Es geht mir fantastisch, Senator Keaton. Tatsächlich wollte ich mich bei Ihnen für den gestrigen Abend bedanken«, sagte ich und setzte ein übertrieben höfliches Lächeln auf.
»Ach ja?« Skeptisch zog er eine Braue hoch, legte sein Jackett ab und drückte es einem der Bodyguards in die Hand, als ich keine Anstalten machte, es ihm abzunehmen.
»Ja. Sie haben mir gezeigt, wie sich ein echter Mann nicht benehmen sollte, und mir bewiesen, dass Angelo Bandini der Richtige für mich ist.« Der Security-Typ hängte Wolfes Jackett auf einen Bügel an die Garderobe, ohne meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Keatons Bodyguards waren anders als Dads. Sie trugen richtige Uniformen und waren höchstwahrscheinlich früher beim Militär gewesen.
»Als Gentleman haben Sie mich enttäuscht. Aber als Betrüger verdienen Sie eine Eins plus. Wirklich, sehr beeindruckend.« Ich hob beide Daumen.
»Du bist lustig.« Seine Lippen waren zu einer Linie zusammengepresst.
»Und Sie sind …«, setzte ich an, aber er schnitt mir energisch das Wort ab.
»… Staatsanwalt und als solcher extrem ungeduldig, wenn es um leeres Geschwätz geht. Ich würde ja gern hier stehen und über unseren glanzlosen Kuss reden, Francesca, aber ich habe ein paar dringende Angelegenheiten zu erledigen. Ich rate dir, zu warten, bis ich damit fertig bin, denn unser kurzes Geplauder heute war nur die Vorschau.«
»Eine ziemlich schlechte Vorschau. Würde mich nicht wundern, wenn der Film floppt.«
Er beugte sich vor, drang in meinen persönlichen Bereich ein und tätschelte mir den Hals. Seine silbergrauen Augen begannen zu leuchten wie ein Weihnachtsbaum.
»Sarkasmus ist ein ungebührlicher Wesenszug für ein wohlerzogenes Mädchen, Miss Rossi.«
»Kussdiebstahl steht auch nicht auf meiner Liste der Dinge, die ein Gentleman tut.«
»Du hast mich sehr bereitwillig geküsst, Nemesis.«
»Bevor ich wusste, wer Sie sind, Schurke.«
»Es wird weitere Küsse geben, und um keinen davon werde ich dich bitten müssen, ich würde also keine Versprechen geben, die sowieso gebrochen werden.«
Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass er lieber mal seine geistige Gesundheit checken lassen sollte, aber ehe ich etwas sagen konnte, stieg er bereits die Treppe hinauf und ließ mich im Flur stehen, wo ich heftig blinzelte, um den Schock zu verdauen. Woher wusste er, wohin er gehen musste? Aber die Antwort lag auf der Hand.
Er war schon einmal hier gewesen.
Er kannte meinen Vater.
Und er konnte ihn nicht ausstehen.
Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich Kette rauchend in der Küche, wo ich auf und ab tigerte und mir Cappuccinos zubereitete, die ich nach dem ersten Schluck in die Spüle goss. Rauchen war die einzige schlechte Angewohnheit, die mir erlaubt war. Meine Mutter sagte, es helfe mir, meinen Appetit zu zügeln, und mein Vater gehörte noch zu der Generation, die Rauchen als elegant und weltläufig betrachtete. Es gab mir das Gefühl, erwachsen zu sein, obwohl ich wusste, dass ich ansonsten wie ein Kind behandelt und behütet wurde.
Zwanzig Minuten, nachdem Wolfe die Treppe hinaufgestiegen war, betraten zwei Anwälte meines Vaters und zwei weitere Männer, die ebenfalls wie Rechtsbeistände aussahen, unser Haus.
Auch Mama benahm sich seltsam.
Zum ersten Mal, seit ich denken konnte, ging sie während eines geschäftlichen Treffens in Dads Büro. Und kam zweimal wieder heraus. Einmal, um Erfrischungen zu besorgen … eine Aufgabe, für die normalerweise unsere Hausangestellte Clara zuständig war. Beim zweiten Mal ging sie auf den Flur im Obergeschoss hinaus, murmelte hysterisch vor sich hin und stieß versehentlich eine Vase um.
Als sich die Bürotür gefühlt nach Tagen endlich mit einem Klicken öffnete, war Wolfe der Einzige, der die Treppe herunterkam. Ich stand da, als wartete ich auf eine lebensbedrohliche Diagnose. Seine letzte Bemerkung wühlte in meinem Magen wie Schlangen, deren giftige Bisse tödlich waren. Er glaubte, ich würde ihn erneut küssen, aber wenn er meinen Vater um ein Date mit mir bat, würde er bitter enttäuscht werden. Er war kein Italiener, stammte nicht aus einer Familie des Outfits, und ich konnte ihn nicht ausstehen. Drei Dinge, die mein Vater würde berücksichtigen müssen.
Wolfe blieb an der Biegung der Treppe stehen, noch auf der letzten Stufe, um seine Größe und Herrlichkeit zu demonstrieren. Und auch, wie klein und unbedeutend ich dagegen war.
»Bist du bereit, das Urteil entgegenzunehmen, Nem?« Er verzog auf sündhafte Art die Mundwinkel.
Die Härchen an meinen Armen richteten sich auf, und ich fühlte mich wie in einer Achterbahn kurz vor der Schussfahrt. Zitternd atmete ich durch, um den Wellen der Angst zu trotzen, die gegen meinen Brustkasten krachten.
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte ich und verdrehte die Augen.
»Folg mir nach draußen«, befahl er.
»Nein, danke.«
»Das war keine Bitte«, versetzte er.
»Zum Glück, ich würde sie Ihnen nämlich nicht erfüllen.« Ich kam mir brutal vor, als ich diese harschen Worte von mir gab. Nie zuvor war ich derart unhöflich zu jemandem gewesen. Aber Wolfe Keaton hatte meinen Zorn redlich verdient.
»Pack deinen Koffer, Francesca.«
»Verzeihung?«
»Pack. Deinen. Koffer«, wiederholte er so langsam, als bestünde das Problem nicht in der Absurdität seiner Worte, sondern darin, dass ich sie nicht verstand. »Du bist seit einer Viertelstunde offiziell mit mir verlobt. Die Hochzeit findet Ende des Monats statt, was bedeutet, dass eure alberne Tradition mit der Kiste erhalten bleibt. Vielen Dank übrigens für die Story, sie hat meinem Antrag einen hübschen Dreh verliehen«, teilte er mir kaltblütig mit, während der Boden unter meinen Füßen zu beben und aufzubrechen begann und ich in einen Strudel aus Ärger und Empörung geriet, in dem ich mich selbst vergaß.
»So etwas würde mein Vater mir nicht antun.« Meine Füße schienen am Boden zu kleben vor lauter Angst, nach oben zu gehen und den Wahrheitsgehalt meiner eigenen Worte zu überprüfen. »Er würde mich niemals an den Meistbietenden verkaufen.«
Langsam breitete sich ein Grinsen in Wolfes Gesicht aus. Völlig ungeniert genoss er meine Wut.
»Wer sagt, dass mein Gebot das höchste war?«
Ich stürzte mich mit aller Kraft auf ihn.
Ich hatte noch nie jemanden geschlagen … Mir war beigebracht worden, dass es ordinäres Unterschichtverhalten war, eine Szene zu machen. Darum kam meine Ohrfeige nicht mit der erhofften Wucht. Es war eher ein Klaps, der sein kantiges Kinn auf nahezu freundliche Art streifte. Er zuckte nicht einmal zusammen. Mitleid und Gleichgültigkeit wirbelten in seinem bodenlosen silbergrauen Blick herum.
»Ich gebe dir zwei Stunden Zeit, um deine Sachen zu packen. Was danach noch hier ist, wird für immer hierbleiben. Und stellen Sie mich in Sachen Pünktlichkeit nicht auf die Probe, Miss Rossi.« Erneut drang er in meinen persönlichen Bereich ein, diesmal, indem er eine goldene Armbanduhr um mein Handgelenk schloss.
»Wie können Sie so etwas tun?« Innerhalb einer Sekunde forderte ich ihn nicht mehr heraus, sondern versetzte ihm schluchzend einen Stoß gegen die Brust. Ich konnte nicht mehr denken. Ich wusste nicht einmal, ob ich noch atmete. »Wie haben Sie meine Eltern überredet, ihre Zustimmung zu geben?«
Ich war ein Einzelkind. Meine Mutter neigte zu Fehlgeburten. Sie nannte mich ihr kostbares Juwel … und nun stand ich da, von einem Fremden mit einer Uhr von Gucci markiert, die offensichtlich nur einen kleinen Teil einer sehr viel größeren Mitgift darstellte, die versprochen worden war. Meine Eltern nahmen jeden Bewunderer, der sich mir bei öffentlichen Veranstaltungen näherte, genau unter die Lupe, und sie waren berüchtigt für ihre übermäßig behütende Haltung, wenn es um meine Freundinnen ging. Tatsächlich waren sie dermaßen kritisch, dass ich überhaupt keine eigenen Freundinnen mehr hatte, nur noch Frauen, die denselben Nachnamen trugen wie ich.
Wenn ich Mädchen in meinem Alter kennenlernte, fanden meine Eltern sie immer entweder zu aufreizend oder nicht niveauvoll genug. Diese Szene wirkte surreal. Aber aus irgendeinem Grund zweifelte ich keine Sekunde daran, dass sie stimmte.
Zum ersten Mal in meinem Leben betrachtete ich meinen Vater nicht mehr als eine Art Gott. Auch er hatte Schwächen. Und Wolfe Keaton hatte sie allesamt herausgefunden und nutzte sie zu seinem Vorteil.
Er schlüpfte in sein Sakko und schlenderte zur Tür hinaus, seine Bodyguards folgten ihm auf dem Fuß wie treue Labradorwelpen.
Mit vor Adrenalin brennenden Beinen stürmte ich in den ersten Stock hinauf.
»Wie konntet ihr nur!« Die erste Person, auf die ich meine Wut richtete, war Mama, die mir versprochen hatte, mir in Sachen Heirat den Rücken zu stärken. Ich rannte auf sie zu, aber mein Dad hielt mich zurück, und Mario griff nach meinem anderen Arm. Es war das erste Mal, dass Männer mir gegenüber handgreiflich wurden … das erste Mal, dass er Hand an mich legte.
Ich trat um mich und schrie, als sie mich aus Dads Büro zerrten, während meine Mom dastand und ihr Tränen in die Augen traten, die sie nicht vergoss. Die Anwälte hockten allesamt gebeugt in einer Ecke des Raums, studierten irgendwelche Unterlagen und taten so, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert. Ich wollte schreien, bis das ganze Haus in sich zusammenfallen und uns alle unter seinen Trümmern begraben würden. Um sie zu beschämen, um gegen sie zu kämpfen.
Ich bin neunzehn. Ich kann weglaufen.
Aber wohin? Ich stand völlig allein da. Außer meinen Eltern kannte ich nichts und niemanden. Und außerdem, auf welche Mittel sollte ich zurückgreifen?
»Francesca«, sagte Dad im Tonfall steinerner Entschlossenheit. »Es spielt zwar keine Rolle, aber deine Mutter ist nicht schuld daran. Ich habe Wolfe Keaton ausgesucht, weil er die bessere Wahl ist. Angelo ist nett, aber er ist im Grunde nur ein gemeiner Bürger. Der Vater seines Vaters war ein einfacher Metzger. Keaton ist der begehrteste Junggeselle in Chicago und möglicherweise der zukünftige Präsident der Vereinigten Staaten. Außerdem ist er sehr viel wohlhabender, älter und dem Outfit auf lange Sicht zuträglicher.«
»Ich bin nicht das Outfit!« Ich spürte, wie meine Stimmbänder zitterten, als ich die Worte ausstieß. »Ich bin ein Mensch.«
»Du bist beides«, versetzte er. »Und als Tochter des Mannes, der das Chicago-Outfit von Grund auf neu erschaffen hat, musst du Opfer bringen, ob du willst oder nicht.«
Dad und Mario brachten mich in mein Zimmer am Ende des Flurs. Mama folgte uns, Entschuldigungen murmelnd, die ich nicht verstand, weil ich viel zu aufgebracht war. Ich glaubte keine Sekunde lang, dass mein Vater Keaton ausgesucht