Klaus im Glück - Hans Dominik - E-Book

Klaus im Glück E-Book

Hans Dominik

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Beschreibung

"Klaus im Glück" ist ein 1928 veröffentlichter Roman des Autors Hans Dominik.

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Inhalt

Ein Stiergefecht mit gutem Ende

Das neue Leben beginnt

Ein Abenteuer im Sumpf und seine Folgen

Der Brückenbau bei Bodenberg

Die Schule des Lokomotivführers

Klaus wird Soldat

Klaus fährt nach Afrika

Der Überfall auf Kupriedfarm

Der Kampf mit den Wanderdünen

Diamanten im Wüstensand

Farmer in Südwest

Die schwarzen Steine im Riviere

Der Weltkrieg bricht aus

Ein Palaver

Zukunftspläne

In den Zinnbergen

Diamanten in der Retorte

Ausklang

Impressum

Ein Stiergefecht mit gutem Ende

»Halt! Nicht doch! Bande, verfluchte! Laßt nach!«

Eine helle Knabenstimme schrie die Worte und übertönte damit zeitweise den Lärm, der um diese Juli-Mittagsstunde in dem alten, dumpfen Klassenzimmer herrschte.

»Niederträchtige Bande, ihr sollt nachlassen!« schrie Klaus Kröning noch einmal aus der Mitte der Schulbank her. Aber Karl Kundtke und Fritz Lautensach, die beiden Jungen, die die Eckplätze der langen Bank innehatten, dachten gar nicht daran, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Fest stemmten sie sich mit den Füßen gegen die Wände des Klassenzimmers und preßten alles, was zwischen ihnen auf der langen Bank saß, immer dichter und enger zusammen.

»Saft machen« nannte man diese schöne Übung seit alters her in der Dorfschule von Seehausen, und Karl Kundtke und Fritz Lautensach, erprobte Meister in dieser Kunst, zeigten durchaus keine Neigung, sich bei ihrem Vergnügen durch irgendwelche Hilferufe der in der Bankmitte Zusammengepreßten stören zu lassen. Unentwegt drückten sie weiter. Irgendwie mußte die in der Bank eingepreßte lebendige Masse sich Luft machen, und jetzt entlud sie sich nach oben. Mit Gewalt war es Klaus Kröning gelungen, sich über die Schultern seiner Nebenmänner in die Höhe zu arbeiten. Mit einem letzten gewaltigen Ruck riß er sich ganz empor und sprang auf den Banktisch, während der so schön begonnene »Saft« unter ihm zusammenbrach.

»Ihr Schwefelbande!« Er betrachtete sich von allen Seiten, ob seine Kleidung bei der Gewalttour nicht zu Schaden gekommen sei. »Ihr kauft mir keinen neuen Rock, wenn mein alter dabei zerrissen wird. Ich will euch schon ...«

Heinz Hennicke schoß vom Flur her in die Klasse. »Pst! Der Alte kommt.« Im Augenblick ließen Kundtke und Lautensach von weiteren Unternehmungen ab. Klaus Kröning konnte gerade noch auf seinen Platz zurückschlüpfen, als der alte Kantor Justus Wendelmut in die Klasse trat.

Die letzte Schulstunde brach an, die letzte Stunde vor dem Beginn der großen Ferien. Rechnen stand auf dem Stundenplan.

Rechnen in der letzten Stunde vor den Ferien! Einfach ausgeschlossen. Kaum hatte der Kantor sich auf dem Katheder niedergelassen, als es ihm von vierzig Jungenstimmen entgegenbrummte und -summte.

»Vorlesen, Herr Kantor! ... Geschichten vorlesen! ... Letzte Stunde! ...«

Eine kleine kleine Weile ließ Kantor Wendelmut den Sturm über sich ergehen. Dann begann er mit seiner Kohorte zu verhandeln.

»Habt ihr was zum Lesen mitgebracht?«

Die Frage war das Signal zu einem neuen Sturm.

»Jawohl, Herr Kantor! Hier, Herr Kantor! Nein meins, Herr Kantor!« klang es von allen Bänken her. Fritz Lautensach schwenkte einen alten Lederstrumpf, Karl Kundtke hielt einen Band von Karl May in die Höhe, Heinrich Hennicke zeigte Schweinfurths Fahrt durch Afrika, und noch ein Dutzend anderer Bücher kamen zum Vorschein.

»Wer die Wahl hat, hat die Qual«, lachte Wendelmut. »Da hilft das nichts, Jungens, da müssen wir losen. Jeder von euch schreibt den Titel seines Buches auf einen Papierstreifen. Alle Streifen kommen hier in meinen Hut, und dann wird einer von euch mit geschlossenen Augen einen Streifen herausgreifen. Was er zieht, das lesen wir.«

Die Lose waren schnell fertiggemacht, und von Rechts wegen hätte die Ziehung jetzt vonstatten gehen können. Aber dem alten Kantor kamen, während er die Streifen einsammelte und die Buchtitel las, allerhand Gedanken. Prägten sich nicht in den verschiedenen Büchern, die seine Schüler da mitgebracht hatten, ganz bestimmte Interessen und Neigungen aus? Konnte man aus der Wahl dieser Lektüre nicht schon mancherlei Schlüsse auf den künftigen Werdegang des einzelnen ziehen? Unwillkürlich begann er beim weiteren Einsammeln zu fragen.

»Was willst du denn später mal werden?«

Das hätte Justus Wendelmut aber lieber unterlassen sollen, denn dabei wurde er das Opfer eines Komplottes.

»Schauspieler, Herr Kantor.« Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort Lautensachs.

»So, so, du willst Schauspieler werden? Na und du, Kundtke?«

»Seeräuber, Her Kantor.«

»Was, Kundtke, du bist wohl ganz und gar verrückt. Und du, Hennicke?«

»Schauspieler, Herr Kantor.«

In schöner Einträchtigkeit kamen die Antworten der nächsten. Immer abwechselnd Schauspieler oder Seeräuber. Wendelmut warf einen vielsagenden Blick in die Ecke, in der ein schlankes, spanisches Rohr stand.

»Und du, Kröning?« fragte er weiter.

»Briefträger, Herr Kantor.«

»Endlich mal ein vernünftiger Beruf«, brummte Wendelmut vor sich hin. »Na, dann komm mal her, Kröning, mach die Augen zu und ziehe einen Streifen. So, also ›Im Herzen von Afrika‹ von Schweinfurth. Gut, das werden wir lesen.«

Und dann zogen die vierzig Jungen in Gedanken mit dem kühnen deutschen Forschungsreisenden durch den schwarzen Erdteil. Sie wanderten durch die Länder der Kopfjäger und Menschenfresser. Sie kamen bis zu den unbekannten Quellen des Nilstromes und in die Gebiete geheimnisvoller Zwergvölker. Wie im Fluge verging der Rest der Stunde.

Jetzt noch eine kurze Schlußandacht, und dann stürmte die Klasse hinaus in den hellen Julitag ... in die großen Ferien.

Zusammen mit Fritz Lautensach und Karl Kundtke ging Klaus Kröning die Dorfstraße entlang. Die dichten Kronen mächtiger alter Linden boten hier Schutz gegen die glühende Sommersonne. Der Bach, der die Dorfaue entlang floß, um sich wenige Kilometer weiter in die Hörsel zu ergießen, gab ihnen eine willkommene Gelegenheit, in dem klaren Wasser langzutapsen. Das ging ohne weitere Umstände, denn Schuhe und Strümpfe trugen die drei im Sommer nur an Sonntagen. Jetzt blieb Fritz Lautensach stehen und stieß Klaus Kröning in die Seite.

»Sag mal, Klaus, das von dem Briefträgerwerden, das hast du doch nur gesagt, weil der Alte plötzlich so nach dem gelben Onkel schielte.«

Klaus Kröning blieb stehen und bohrte den rechten Fuß bis an den Knöchel in den weißen Bachsand.

»Da bist du aber mächtig im Irrtum, Fritz. Das war mein voller Ernst. Ich denke mir das prachtvoll. Eine schöne Uniform haben, zu allen Leuten in die Häuser kommen, ihnen Briefe bringen, das ist doch was Besseres, als hier bei den Bauern als Knecht arbeiten.

Karl Kundtke sprang auf, daß das Bachwasser in hellem Bogen spritzte.

»Hört doch, was der Klaus für ein feiner Mann ist. Briefträger will er werden. Kaiserlicher Reichspostbriefträger will der Älteste von unserem Gemeindehirten werden.«

Klaus Kröning runzelte die Stirn.

»Denkst du, ich werde dich erst um Erlaubnis fragen, wenn ich's werden will?«

»Brauchst du ja nicht«, antwortete Karl Kundtke wegwerfend.

»Kinder, vertragt euch«, suchte Fritz Lautensach zu beschwichtigen. »Die Sache hat ja noch ein paar Jahre Zeit. Du bist gerade vor vier Wochen 14 Jahre alt geworden. Also sei mal erst 20, dann kommst du zu den Soldaten, und wenn du 22 bist und den Kommiß hinter dir hast, dann kannst du ja Briefträger werden.« Er lachte laut auf. »Menschenskind! Das sind ja noch acht Jahre. Wer wird denn so weit vorausdenken.«

»Denkt ihr, was ihr wollt«, knurrte Klaus Kröning. »Und ich sage euch, ich werde doch Briefträger.«

Sie waren inzwischen bis zu den letzten Häusern des Dorfes gekommen, wo Kundtke und Lautensach wohnten. Klaus Kröning zog allein weiter. Das bescheidene Häuschen seiner Eltern – man hätte es eher Hütte als Haus nennen müssen – lag noch ein gutes Stück weiter, nur noch wenige hundert Meter von der Hörsel entfernt. Während er so fürbaß schritt, begannen seine Gedanken in die Runde zu gehen.

14 Jahre war er jetzt schon. Noch ein Vierteljahr bis Michaelis, dann hatte er die Schule hinter sich – was dann? Dann hieß es, sich bei einem Bauern des Dorfes eine Stelle suchen. Die ersten beiden Jahre als Hofjunge. Später als Jungknecht – und dann – ja, da hatte Fritz Lautensach vollkommen recht, dann kam man zu den Soldaten. Manchen gefiel es da. Die blieben dabei, wurden befördert. Andere gingen vom Militär ab, sobald ihre Zeit rum war, und blieben dann in der Stadt. Im Dorfe hörte man selten mehr von denen, und was man hörte, war nicht immer erfreulich. Und die wieder zurückkamen, die wurden dann wieder Knechte auf den Domänen oder bei den reichen Bauern – scharwerkten ihr Leben lang als Tagelöhner – nein! Klaus Kröning riß sich zusammen. Der Gedanke, Briefträger zu werden, war entschieden weit besser.

Er hatte erzählen hören, daß die Post schon damit anfing, den Landbriefträgern Fahrräder zu geben. Schöne goldgelbe Fahrräder, mit denen man schnell wie der Wind von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus flitzen konnte. Wie schön mußte das sein, wenn man den Leuten die Post zu Rade ins Haus brachte. Wie oft hatte er sehnsüchtig, fast neidisch den Radlern nachgeschaut, die auf den jetzt eben erfundenen Niederrädern durch Seehausen kamen.

Es war kein Zweifel. Der Gedanke war gut. Klaus mußte nur erst den Weg ausfindig machen, auf dem sich das bewerkstelligen ließ. Gewiß mußte man dazu irgendwie Bekanntschaften bei der Post haben. Mächtige Fürsprecher, die einem behilflich waren – Aber wie die bekommen?

Bisher kannte er von der ganzen großen Reichspost nur den einen alten Landbriefträger, der jeden Mittag von Waltershof her nach Seehausen kam, den Knotenstock in der Rechten, die große schwarze Brieftasche an der linken Seite. Und selbst den kannte er nur vom Ansehen, denn in das Haus der Eltern war der kaum jemals gekommen.

Ernst Kröning, der Gemeindehirt von Seehausen, bekam keine Briefe. Es hätte auch wenig Zweck gehabt, ihm welche zu schicken, denn der biedere Gemeindehirt konnte weder lesen noch schreiben. Daß er trotzdem seine Herde gut zusammenhielt und jeden Abend vollzählig nach Seehausen zurückbrachte, hatte mit der Schriftgelehrsamkeit nichts zu tun.

Jetzt hatte Klaus sein Ziel erreicht. Durch einen kleinen Vorgarten, in dem Phlox und Rittersporn in voller Blüte dufteten, schritt er in das Häuschen. Zwei Räume nur. Ein größerer, in dem der Herd stand und die Lagerstätten für die sechs Kinder des Hirten aufgeschlagen waren. Ein kleinerer Nebenraum, in dem die Eltern schliefen.

Die Mutter erwartete ihren Ältesten bereits.

»Bist du da, Klaus. Kannst gleich zum Vater gehen, ihm das Essen bringen, kannst draußen mit ihm essen.«

»Ja, Mutter.«

Klaus legte seine Bücher auf die Fensterbank, ergriff die Trage mit zwei Schüsseln und machte sich auf die Wanderschaft. Es war ein ziemliches Stück Weges durch die sonnenüberfluteten Wiesen, immer den Bach entlang, der hier schon viel breiter und tiefer als im Dorfe der Hörsel zuströmte. Jetzt sah er die Herde. Blanke, schwere Kühe. Nur noch wenige Stücke standen und weideten. Die Mehrzahl hatte sich in der Mittagshitze niedergelegt und käute in stiller Behaglichkeit wieder. Ein einzelner Baum in der Nähe des Bachufers, der Schatten gab. Dort erblickte Klaus seinen Vater und ging auf ihn zu.

»Tag, Vater! Ich bringe das Essen für uns beide.«

»Ist recht so, mein Junge. Was hat denn Mutter gekocht?«

»Kartoffeln und Hering, Vater!«

»Alle Wetter, Junge, Mutter hat einen Hering gekauft?«

»Zweie, Vater. Die anderen zu Hause haben auch davon.«

»Das ist fein, Klaus! Na, da wollen wir mal essen.«

Die beiden machten sich an das Mahl. Als Kartoffeln und Hering vertilgt waren, stopfte sich Vater Kröning die kurze Pfeife. Was er da rauchte, war sein eigenes, tiefstes Geheimnis. Waldmeister, Faulbaumblätter, Kirschblätter und zu alledem sogar noch ein wenig wirklicher, richtiger Tabak von der grobschnittigen Sorte, von der der Krämer im Dorf das Pfund für 2½ Groschen verkaufte. Der Rauch dieser Mischung war ein vorzügliches Abwehrmittel gegen die Bremsen und Schnaken, und das war gut, denn so konnte der Alte, während die Pfeife langsam weiterglimmte, in ein Mittagsschläfchen verfallen, während Klaus sich um die Herde kümmerte.

Das Amt war jetzt nicht schwer zu verwalten. Die ganze Herde lag und war mit Wiederkäuen beschäftigt. Es war keine Gefahr, daß einzelne Stücke weiterlaufen und etwa in die Rübenfelder übertreten würden. So konnte Klaus seine Gedanken da weiterspinnen, wo er beim Eintritt in das Elternhaus aufgehört hatte.

Was sollte er anfangen, wenn er Michaelis von der Schule kam? Seit Wochen schon quälte ihn die Frage. Zum erstenmal war es damals über ihn gekommen, als er seinen vierzehnten Geburtstag feierte. Seitdem wollte es ihn nicht wieder loslassen. – Was konnte er unternehmen? Ein gutes Handwerk lernen. Ja, wenn man reich wäre. Dazu gehörte Geld – viel mehr, als seine Eltern hatten. Vier Jahre mußte man in die Lehre gehen – dann freilich – dann stand einem die Welt offen. Wer Schlosser gelernt hatte, der konnte in die großen Fabriken gehen, dort eine Menge Geld verdienen – aber die lange Lehre. Das war ja nicht zu machen. Fünf Geschwister noch, für die seine Eltern sorgen mußten – es war ganz ausgeschlossen. Von Michaelis an mußte er für sich selber sorgen, auf eigenen Füßen stehen ...

Ein Schrei ließ ihn auffahren, dann aufspringen. Was er sah, erfüllte ihn mit Schrecken. Der Bulle, der bisher wie die übrigen Stücke ruhig gelagert hatte, war plötzlich wild geworden. Ein Fremder, der über die Weide daherkam, hatte wahrscheinlich durch seine helle Kleidung den Zorn des Stieres erregt. Der Mann hatte die Gefahr zu spät erkannt. Vergeblich suchte er sich jetzt durch rasende Flucht in Sicherheit zu bringen. Laut schreiend stürmte er auf den Baum zu, unter dem Klaus Kröning saß. Aber es war fraglich, ob er ihn noch erreichen würde. Und auch wenn er ihn erreichte, wenn es allen dreien gelang, sich rechtzeitig in die Krone zu retten, standen die Dinge immer noch schlimm genug. Dann konnten Stunden vergehen, bis das wütende Tier sich beruhigte, bis man es ohne Gefahr wagen konnte, wieder vom Baum hinabzusteigen.

In Bruchteilen von Sekunden war alles das Klaus Kröning durch den Kopf geschossen. Schon hatte er seine blaue Leinenjacke von den Schultern gerissen und rannte dem Stier entgegen. Klaus war für seine Jahre gut entwickelt, körperlich gewandt, ein vorzüglicher Springer und Läufer, öfter als einmal war er hier auf der Wiese mit kurzem Anlauf glatt über eine weidende Kuh hinweggesprungen. So konnte er das tollkühne Stück wagen, zu dem er sich jetzt anschickte.

In Riesensätzen hatte er den Stier erreicht. Der beachtete ihn nicht, stürmte in blinder Wut dem Fremden nach. Mit jähem Ruck schwenkte Klaus jetzt um, rannte dicht neben dem Stier her. Einen Moment nur, dann lag die Jacke über dem Stierkopf, die beiden Ärmel über die beiden mächtigen Hörner gezogen, das Jackentuch vor dem Gesicht des Bullen.

Und dann war es geschehen. In dem Moment, in dem das dunkle Tuch ihn blendete, schien alle Wut und Angriffslust von dem Stier abgefallen zu sein. Jählings blieb er stehen, schüttelte wild den Kopf, um das unbekannte Hindernis abzuwerfen. Aber Klaus hatte ihm die Jacke so gut verpaßt, die Ärmel so sicher über die Hörner gezogen, daß das nicht ging. Hilflos stand das mächtige Tier auf dem Rasen.

Ein neuer Schrei ließ Klaus Kröning auffahren. Bis jetzt hatte seine ganze Aufmerksamkeit dem Stiere gehört. Keinen Blick hatte er für den Fremden übrig gehabt. Jetzt wandte er sich nach dem um. Kaum zehn Meter von ihm entfernt war der gestolpert, hingestürzt. Hatte im Sturze noch einmal in höchster Todesangst aufgeschrien.

Klaus Kröning lief auf ihn zu. Der starrte ihn wie geistesabwesend an.

»Der Stier! ... Die Bestie! ... Wo ist der Stier?« kam es röchelnd von seinen Lippen.

»Dahinten, Herr! – Tut Ihnen nichts!«

Der Blick des Fremden ging nach der Richtung, in die Klaus deutete.

»So nah der Stier!« Entsetzt wollte er aufspringen, weiterfliehen. Klaus hielt ihn am Arm zurück.

»Der tut Ihnen nichts, Herr! ... kann nichts sehen ... das Tuch um die Augen ...«

Klaus stieß die Worte keuchend hervor. Auch sein Herz ging in wilden Schlägen. Es war ein Rennen auf Leben und Tod gewesen. Das letzte hatten die Muskeln und Sehnen dabei hergeben müssen. Um die Sekunde war es gegangen. Jetzt stand er und atmete in tiefen Zügen. Allmählich beruhigten sich seine Lungen. Er konnte wieder zusammenhängend sprechen, sich um den Fremden kümmern.

Den hatte das Abenteuer schlimmer mitgenommen. Als jetzt die Gefahr vorüber, kam die Reaktion. Mit einem Seufzer sank er ohnmächtig zusammen. Eine tiefe Blässe bedeckte seine Züge.

Klaus sprang auf und lief zum Bach. Schnell war er wieder zurück, trug eine wassergefüllte Schüssel in den Händen. Sorgsam bettete er den Fremden, daß dessen Kopf auf einer kleinen Bodenerhebung zu liegen kam. Begoß ihm Stirn und Schläfen mit dem kühlen Bachwasser und sah, wie nach langen Minuten die tödliche Blässe zu weichen begann und das Leben in die Gestalt des vor ihm Liegenden zurückkehrte. Jetzt versuchte er sich zu erheben. Von Klaus gestützt, gelang es ihm. Schritt um Schritt geleitete Klaus ihn bis zu dem Baume, ließ ihn dort wieder im Schatten niedersitzen.

»Erholen Sie sich, Herr!«

Er ging wieder zum Bache, holte eine neue Schüssel voll Wasser. In langen Zügen trank der Fremde. Das klare kalte Wasser tat ihm wohl. Zusehends kehrten ihm die Kräfte zurück.

»Erholen Sie sich, Herr. Wenn Sie sich kräftig genug fühlen, will ich Sie über die Weide zur Landstraße bringen, wo Sie in Sicherheit sind.«

Die Stimme Klaus Krönings ließ den Gemeindehirten aus seinem Schläfchen auffahren.

»Mit wem redest du da, Klaus? Ist jemand gekommen?«

»Ja, Vater, ein Fremder. Ich habe ihn hierhergebracht. Der Stier wollte wild werden.«

Der Hirt wandte sich zu dem Fremden.

»Ja, wie kann der Herr aber auch mitten durch die Herde über die Gemeindewiese gehen. Man weiß doch, daß mit dem Bullen nicht zu spaßen ist.«

»Weiß Gott, da habt Ihr recht, Alter. Es war kein Spaß. Ohne Euren Sohn hier stünde es jetzt wohl übel um mich. Ein kluger, tapferer Junge. Ist's Euer Einziger?«

»Nein, Herr, der Älteste von Sechsen.«

»Klaus heißt du?«

»Jawohl, Herr, Klaus Kröning.«

»Gut, Klaus, ich bin dein Schuldner. Du hast mir das Leben gerettet. Ohne dich ...« der Fremde bedeckte die Augen mit der Hand. Ein leises Schauern ging durch seinen Körper, als käme ihm erst jetzt die ganze fürchterliche Gefahr zum Bewußtsein.

»Höre, Klaus. Bezahlen kann ich dir meine Schuld nicht. Ein Leben ist unbezahlbar. Aber man soll nicht sagen, daß Baumeister Jensen nicht wenigstens versucht hätte, nach Möglichkeit abzuzahlen. Also raus mit der Sprache! Was treibst du jetzt?«

Klaus sah den Fremden zweifelnd an.

»Jetzt ... jetzt, Herr Baumeister, gehe ich in die Schule von Seehausen und ... nein, jetzt sind ja Ferien ... und in meiner freien Zeit helfe ich dem Vater auf dem Acker und bei der Herde «

Baumeister Jensen musterte prüfend die kräftige, gut entwickelte Gestalt Klaus Krönings.

»Du siehst mir so aus, Klaus, als ob du in der obersten Klasse säßest und bald mit der Schule fertig wärst.«

»So ist's, Herr Baumeister. Zu Michaelis bin ich fertig.«

»Und was dann, Klaus? Hast du dir schon irgendeinen Plan gemacht?«

Klaus zuckte die Achseln. Sollte er dem Fremden erzählen, was er heute vormittag seinen Mitschülern gesagt hatte? Er setzte an und stockte wieder. Irgendwie erschien ihm der Plan, den er vor kurzem noch so eifrig verteidigt hatte, gar nicht mehr so erstrebenswert.

»Na! Raus mit der Sprache, Klaus. Irgend etwas scheinst du dir doch schon vorgenommen zu haben.«

Eine flüchtige Röte huschte über die Züge Klaus Krönings.

»Ja, Herr Baumeister, ich hatte wohl einen Plan. Ich wäre gern Briefträger geworden. Aber ich glaube, das ist sehr schwer. Wenn man keine Freunde bei der Post hat, kommt man da kaum an.«

Baumeister Jensen blickte amüsiert auf den Jungen.

»Weißt du, Klaus, das ließe sich am Ende schon machen. Ich habe einige gute Freunde bei der Post, die das vermitteln könnten.«

»Wirklich, Herr Baumeister, das wäre ja herrlich. Ich wäre Ihnen so dankbar.«

»Das mag ja alles ganz gut sein, Klaus. Gewiß ist Briefträger ein hübscher Beruf, aber eigentlich habe ich andere Pläne für meinen Lebensretter. Wir wollen es uns mal in aller Ruhe überlegen, ob sich für dich nicht am Ende etwas Geeigneteres findet und du eine höhere Stufe erklettern kannst.«

Noch etwas Besseres? Klaus starrte den Baumeister ganz verwundert an. Seine Gedanken und Wünsche begannen sich zu überschlagen. Welche Zukunftsaussichten deutete der Fremde ihm da an. Sollte ihm am Ende doch die Möglichkeit gegeben werden, eine ordentliche Lehre durchzumachen, ein tüchtiges Handwerk zu lernen?

Der Baumeister sprach weiter. »Du hast ja jetzt Ferien. Zeit in Hülle und Fülle, wir wollen uns das in aller Ruhe überlegen. Ich selbst habe noch die nächsten Wochen hier in der Gegend zu tun. Du sollst mich dabei begleiten. Dann, wenn ich dich kennengelernt habe, wollen wir unsere Entschlüsse fassen. Einverstanden, Klaus?«

»Ja, Herr Baumeister.«

»Dann schlag ein, Klaus.«

Baumeister Jensen streckte Klaus Kröning die Hand entgegen. Der legte seine Rechte hinein.

»Abgemacht, Klaus, wenn dein Vater nichts dagegen hat.«

Der Hirt nickte.

»In Gottes Namen, Herr.«

»Gut. Morgen ist Sonntag. Morgen arbeiten wir nicht. Frage morgen früh um acht in dem Gasthaus zur Post in Waltershof nach mir. Und jetzt bringe mich hier sicher von der Wiese weg auf die Straße.«

Das neue Leben beginnt

»Sag mal, Karl, was ist denn mit dem Ältesten von unserem Gemeindehirten los? Man bekommt ihn gar nicht mehr zu sehen.«

Fritz Lautensach stellte die Frage an Karl Kundtke, der gerade damit beschäftigt war, ein Stückchen roten Fries an eine Angelschnur zu knüpfen.

»Nanu Fritze, du weißt doch sonst alle Neuigkeiten. Hast du nichts davon gehört? Klaus hat eine Anstellung bekommen,« Während er das sagte, warf Kundtke das Ende der Schnur mit dem roten Lappen in das Bachwasser.

»Eine Anstellung bekommen? – Wo denn? Wie denn?«

»Ja, der Kerl hat mächtiges Glück gehabt. Irgendwie hat er die Bekanntschaft mit einem Baumeister von der Bahngesellschaft gemacht. Du weißt doch, daß wir hier eine Bahn herkriegen sollen. Und der Baumeister hat ihn ... hallo hopp! ...«

Karl Kundtke zog die Schnur aus dem Wasser heraus. Ein großer Frosch hatte nach dem roten Läppchen geschnappt, hielt es mit den Kiefern krampfhaft fest und ließ sich aus dem Wasser herausholen.

»So, da hätten wir wieder einen.«

»Laß doch den dummen Frosch.«

»Bist selber ein Frosch«, gab Kundtke schlagfertig zurück.

»Ach was, erzähle doch lieber. Was hat denn Klaus da zu tun, und vor allen Dingen, bekommt er was für seine Arbeit?«

Karl Kundtke steckte den Frosch in die Botanisiertrommel.

»Dumme Frage! Natürlich bekommt er was dafür. Denk dir mal, eine blanke Mark pro Tag.«

»Donnerwetter, eine Mark, jeden Tag, da muß er ja reich werden. Was hat er denn dafür zu tun?«

Karl Kundtke hängte sich die Botanisiertrommel um und wickelte seine Schnur zusammen.

»Geschenkt bekommt er das Geld nicht. Er arbeitet bei einem Feldmesser, der hier die Bahnstrecke ausmißt. Wenn wir den Bach weiter runtergehen, können wir ihn vielleicht bei seiner Arbeit beobachten.«

»Gut, Karl, das wollen wir machen.«

Die beiden wanderten den Bach entlang und näherten sich den Hörselwiesen. Plötzlich blieb Kundtke stehen und deutete in die Ferne.

»Kannst du sehen? Da hinten.«

Fritz folgte der Richtung des ausgestreckten Armes. Da, weit hinten auf der Wiese war ein großer gelber Sonnenschirm aufgestellt. Darunter stand ein Mann vor einem dreibeinigen Stativ, das eine Tischplatte und darüber eine Art von Fernrohr trug. Der Mann machte mit beiden Händen abwechselnd Zeichen.

»Was hat denn der? Was bedeutet das?« fragte Fritz Lautensach.

»Das gilt unserem Freunde Klaus. Sieh mal da weiter, etwa zweihundert Meter nach rechts, da kannst du ihn wie einen Frosch auf der Wiese herumspringen sehen.«

Fritz Lautensach kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können. Es war in der Tat Klaus Kröning, der dort in weiter Ferne durch das Gras lief, eine Meßlatte in der Hand, ein weiteres halbes Dutzend davon unter dem linken Arm. Jetzt blieb er stehen. Ein neuer Wink von dem Manne unter dem Schirm her. Er stieß die eine Latte senkrecht in den Boden und trabte mit den anderen weiter.

Eine ganze Weile standen Karl Kundtke und Fritz Lautensach und beobachteten die Tätigkeit ihres Kameraden.

»Na Karl, sehr kurzweilig stelle ich mir das nicht vor, den ganzen Tag auf der Wiese rumlaufen und Stäbe in den Boden zu stecken. Frösche fangen macht mehr Spaß.«

Karl Kundtke bewegte nachdenklich den Kopf.

»Das schon, Fritz. Aber denke doch mal, eine Mark den Tag. Was der Klaus sich da zusammensparen kann. Der ist ja ein reicher Mann, wenn die Schule wieder anfängt.«

Karl Kundtke begann zu rechnen und genierte sich nicht, die Finger dabei zu Hilfe zu nehmen. Kantor Wendelmut wäre sicher entrüstet gewesen, wenn er es gesehen hätte.

»Ich sage dir, Fritz, er wird wohlhabend. Sechs Wochen Ferien, die Woche zu sechs Tagen, 6x6 ... Menschenskind, der hat ja 36 Mark, wenn die Ferien vorbei sind.«

Fritz Lautensach zuckte abweisend mit den Schultern. »Ach was, das Geld darf er ja nicht behalten. Das muß er doch seinem Alten abliefern. Dafür verdirbt er sich die ganzen Ferien und nachher ist's wieder so, wie's war.«

Karl Kundtke schüttelte den Kopf.

»Du, das glaube ich nicht. Der Klaus bleibt dabei. Der bleibt bei der Eisenbahn. Der geht nicht mehr zum Bauern, wenn wir die Schule hinter uns haben.«

Hätte Karl Kundtke in diesem Moment die Gedanken Klaus Krönings gekannt, er wäre nicht so fest davon überzeugt gewesen, daß der dabei bleiben würde. Klaus war jetzt fünf Tage dabei als Gehilfe des Landmessers Wendt, der ihn auf den Wunsch des Baumeisters Jensen angenommen hatte. Fünf Tage, in denen er mehr gelaufen und gesprungen war als früher in fünf Wochen. Schon am frühen Morgen begann die Arbeit. Da zogen die beiden aus und Klaus hatte einen leichten Handwagen zu ziehen, der mit dem ganzen Feldmeßgerät beladen war. An der letzten Latte, die sie am vorangegangenen Tage gesteckt hatten, machten sie halt. Hier wurde der Schirm aufgestellt und darunter der Stativtisch mit dem wunderlichen Fernrohr. Einen Theodolithen nannte Feldmesser Wendt das Ding. Dann ging die Arbeit los, eine Arbeit, die für Klaus hauptsächlich im Laufen bestand.

Aber wie mußte er laufen. Das hatte ihm Wendt gleich am ersten Tage beigebracht.

»Klaus, mein Junge«, hatte der zu ihm gesagt, »die Hauptsache ist, daß ein Feldmesser einen konstanten Schritt besitzt. Ja, du hast natürlich keine Ahnung, was das bedeutet. Also jetzt marschiere mal geradeaus auf die Pappel da zu und zähle dabei deine Schritte. Du mußt ganz natürlich marschieren, wie du immer zu gehen pflegst. Beim hundertsten Schritt bleibst du stehen und drehst dich zu mir um.«

Klaus hatte das getan. Dann war der Feldmesser ihm nachgegangen, wobei er die eigenen Schritte ganz automatisch zählte, hatte etwas in sein Notizbuch geschrieben, einen Bruch, soviel Klaus sehen konnte, und dann hatte sich das gleiche Experiment noch ein halbes Dutzend mal wiederholt. Darauf hatte Wendt ihn einen Blick in das Notizbuch tun lassen, in dem sechsmal hintereinander der gleiche Bruch geschrieben stand.

»Du hast einen ganz guten Schritt, mein Junge. Vielleicht kann aus dir noch mal was werden. Aber merk es dir und beherzige es. Immer genau so gehen, wie du jetzt gegangen bist und immer die Schritte zählen ... genau zählen, sonst hat die Sache keinen Zweck.«

Und dann war die Arbeit angegangen. In einer bestimmten Richtung wurde Klaus ins Feld geschickt. Sobald er um ein geringes abwich, brachte ihn Wendt durch Zurufe wieder auf den richtigen Kurs. Alle hundert Schritt mußte er eine Latte stecken, während der Feldmesser dazu seine Eintragungen auf der Karte machte. Wenn dann wieder so eine Strecke von etwa einem Kilometer abgesteckt war, dann fing die Lauferei von Klaus erst so richtig an. Dann hieß es die Grenzsteine auf den Wiesen suchen, die jetzt im hohen Gras besonders schwer zu finden waren. Bei jedem Stein mußte er mit einer Latte Aufstellung nehmen und stramm stehen, während Wendt mit dem Theodolithen visierte, Winkel maß und seine Richtlinien auf der Karte eintrug.

Das strengte Sehnen und Muskeln ganz gehörig an. Wenn der Tag vorüber war, schmerzten Klaus alle Gelenke. So anstrengend hatte er sich seine Tätigkeit bei der Eisenbahngesellschaft doch nicht vorgestellt. Die ersten Tage wollte er fast verzweifeln. Aber schon in der zweiten Woche merkte er, wie sein Körper sich unter dieser Anstrengung zu kräftigen begann. Er lernte das kennen, was der Sportsmann als Training bezeichnet. Von Tag zu Tag wurde ihm die Arbeit leichter, und dann kam etwas dazu, was er bald gar nicht mehr missen mochte, die mittägliche Plauderstunde mit dem Feldmesser Wendt.

Die Trassierungsarbeiten mußten ja zum größten Teil in so weiter Entfernung von bewohnten Ortschaften ausgeführt werden, daß es nicht möglich war, zum Essen in irgendein Wirtshaus zu gehen. Da hieß es dann die mitgebrachten Vorräte im Freien verzehren, und während dieser einen Stunde wurde Wendt gesprächig und unterhielt sich gern mit seinem jungen Gehilfen. In den ersten Tagen hatte er sich nur über die Verhältnisse von Klaus erkundigt, nach seinen Eltern und seinem bisherigen Leben gefragt. Dann aber, als er sah, daß Klaus mit Lust bei der Sache war, begann er ihn in die Geheimnisse der Feldmesserkunst einzuweihen, und ohne daß er es recht merkte, lernte Klaus an jedem Tage von ihm.

Da war dieser geheimnisvolle Apparat auf dem Plantisch. Ein Fernrohr? – Gewiß! Wendt ließ ihn hindurchschauen, drehte das Rohr nach allen Seiten. Klaus staunte. War es doch das erstemal, daß er durch solch ein Rohr blickte. Immer wieder wunderte er sich darüber, wie handgreiflich nahe die fernen Dinge durch dies kleine Rohr herankamen.

Aber das war nur der Anfang. Wendt machte ihm bald klar, daß dies Fernrohr eigentlich nur ein nebensächlicher Teil des ganzen Apparates sei, daß man es zur Not auch durch einen einfachen Visierstab ersetzen könne. Und dann wies er ihm die Gradeinteilungen an dem Theodolithen. Zeigte ihm, wie man mit Hilfe der an dem Apparat montierten Magnetnadel den Winkel jeder Visierlinie mit der Nord-Süd-Linie messen könne. Wie man mit Hilfe der Libelle auch die Höhenunterschiede bis auf Zentimeter zu ermitteln vermöge. Schon in der zweiten Woche kannte Klaus den Theodolithen in allen seinen Einzelheiten, und in der dritten Woche hätte er es sich wohl zugetraut, selbst damit zu arbeiten.

Daran war ja nun vorläufig nicht zu denken, aber er wußte doch jetzt wenigstens, was es mit seinen verschiedenen Märschen und Gängen über die Felder auf sich hatte, was es zu bedeuten hatte, wenn er bald hier, bald dort Grenzsteine aufsuchen und markieren mußte. Und mit dem Verständnis wuchs die Liebe zur Arbeit.

Wie im Fluge vergingen die Tage. Schon war die letzte Ferienwoche angebrochen. Rüstig waren in dieser Zeit die Trassierungsarbeiten um viele Kilometer fortgeschritten. Immer länger und beschwerlicher wurde für Klaus der Weg zwischen dem Elternhaus und seiner Arbeitsstelle. Außerdem machte er sich Gedanken, wie es nun am Ende der Ferien weiter werden solle. Die Schule – morgens von 7 bis 11 – dazu zweimal in der Woche von 2 bis 4 – er sah keine Möglichkeit, wie er gleichzeitig die Schule besuchen und bei der Eisenbahn bleiben könne.

Gelegentlich hatte er seine Sorgen und Zweifel in der Mittagspause dem Feldmesser zu offenbaren versucht. Aber der war jedesmal mit ein paar Scherzworten darüber hinweggegangen.

»Laß nur, Klaus! Das findet sich alles beim Ausfegen. Das werden wir schon zur rechten Zeit ins Lot bringen. Du hast in Baumeister Jensen einen Freund, der dir wohl will.«

Ja, Baumeister Jensen – den hatte Klaus seit jenem Sonntag im Gasthaus zur Post nicht wiedergesehen. Wo mochte der jetzt wohl stecken?

Als die Arbeit an diesem Tage vollendet war, machte sich Klaus auf den Heimmarsch. Reichlich zwei Meilen hatte er zu marschieren. Jetzt sah er den Kirchturm von Seehausen, jetzt hatte er die Dorfstraße erreicht. Unwillkürlich ging er schneller, wie ein Pferd, das die Nähe des Stalles wittert. Nun noch eine letzte Wegbiegung, und das Haus lag vor ihm. Da plötzlich stutzte er, blieb stehen, beschattete die Augen mit der Hand, blickte schärfer. Standen dort nicht zwei Männer im Vorgarten – nein, drei sogar, der eine davon sein Vater. Der andere, das war doch sein Lehrer, der alte Kantor Wendelmut. Und der dritte ... Klaus stieß einen Freudenschrei aus und lief auf das Haus zu. Der dritte, das war ja der Baumeister Jensen, der da mit den beiden anderen sprach. Klaus trat in den Garten. Beim Eintritt bemerkte er ein funkelnagelneues Fahrrad, das an der Wand lehnte. Offenbar war Jensen damit gekommen.

»Hallo Klaus, da bist du ja!« Der Baumeister streckte ihm die Hand entgegen.

»Herr Baumeister, wie freue ich mich, Sie zu sehen.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, mein Junge. Ich habe gehört, daß dir's bei der Eisenbahn gefällt und daß du deine Sache gut machst.«

Klaus wurde rot bei dem Lob.

»Ja, Herr Baumeister, ich bin gern dabei ... aber ...« Er warf einen Seitenblick auf den Kantor. Baumeister Jensen fing ihn auf und lachte.

»Ich kenne deine Sorgen, Klaus. Herr Wendt hat mir davon erzählt. Nun wird's Zeit, daß wir die Sache ins reine bringen. Was meinen Sie, Herr Kantor?«

Justus Wendelmut schob die Brille auf die Stirn und blickte Klaus prüfend an.

»Es ist so, wie ich's Ihnen sagte, Herr Baumeister. Der Junge ist ein guter Schüler und sitzt schon das zweite Jahr in der ersten Klasse. Viel lernen kann er bei mir nicht mehr. Wenn Sie ihm Gelegenheit geben, sich neben seiner Arbeit weiterzubilden, so will ich ihn schon jetzt in Gottes Namen von der Schule dispensieren.«

Klaus Krönings Augen leuchteten auf. Mit einem Schlage sah er die Sorge, die ihn die letzten Wochen bedrückt harte, schwinden. Baumeister Jensen sprach weiter.

»Dann sind wir also einig, Klaus, daß du bei der Eisenbahn bleibst. Schlag ein.«

Freudig schlug Klaus in die dargebotene Hand.

»So, mein Junge, das wäre abgemacht. Nun zu Punkt zwei unserer Tagesordnung. Die Trassierung geht immer weiter, die Wege werden für dich immer länger.«

»Oh, Herr Baumeister, ich laufe gerne.«

»Du hast genug bei der Arbeit zu laufen. Zeit ist Geld. Auf dem Rade kommst du in 15 Minuten so weit wie zu Fuß in einer Stunde. Also da schau her, das Rad dort ist deins.«

Seine Freude war so groß, daß er erst nach einiger Zeit Worte des Dankes finden konnte. Jensen wehrte lächelnd ab.

»Laß gut sein, Klaus. Das geschah im Interesse unserer Gesellschaft. Es liegt uns daran, daß du frisch bei der Arbeit bist und nicht schon halb kaputt ankommst. Die Hauptsache ist jetzt, daß du auch fahren lernst. Das Rad allein tut's ja nicht.« – – –

Der Sommertag ging zur Neige. Schon war die Sonne hinter den Bergkämmen im Westen versunken, und die Schatten begannen zu wachsen.

»Sieh mal, da!« Während er die Worte ausstieß, packte Karl Kundtke seinen Freund Fritz Lautensach am Arm, daß er am nächsten Tage blaue Flecke hatte. Ärgerlich riß er sich los.

»Was soll ich denn sehen? Meinst du den Radfahrer da? Die sind doch keine Seltenheit mehr.«

»Radfahrer da? ... Mensch, sperr doch die Augen auf. Hast du nicht gesehen, wer's war?«

»Keine Ahnung. Woher soll ich jeden Radfahrer kennen?«

»Na, dann paß jetzt auf. Dahinten kommt er zurück. Sieh ihn dir ordentlich an.«

In der Ferne tauchte ein blinkendes Rad auf und kam schnell näher. Wie ein Wirbelwind sauste der Fahrer an ihnen vorüber. Fritz Lautensach stand da und sperrte Mund und Nase auf.

»Ist das? ... war das nicht ...?«

»Klaus Kröning war's! Hast du's endlich begriffen?«

»Ja, aber ... wie kommt der zu einem Rad? ... Wo hat er fahren gelernt?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es sowenig wie du.«

Fritz Lautensach kratzte sich bedenklich hinterm Ohr.

»Na, wenn wir ihn nicht vorher sehen, in vier Tagen fängt ja die Schule an. Da muß der Duckmäuser mit seinen Geheimnissen rausrücken.«

Ein Abenteuer im Sumpf und seine Folgen

Die Wochen summten sich zu Monden. Schon flog der Altweibersommer durch das Thüringer Land, und die Kastanien begannen zu vergilben.

Einmal hatte der alte Landbriefträger doch den Weg in die Hütte des Gemeindehirten gefunden. Als Klaus am Abend von der Arbeit nach Haus kam, hielt sein Vater einen Brief in der Hand.

»Klaus, mein Junge, ich habe hier einen Brief bekommen. Weiß der Himmel, wo Mutter wieder meine Brille verkramt hat. Lies du mir mal vor.«

Klaus unterdrückte ein Lächeln.

»Gerne, Vater, gib nur her.« Er ergriff den Brief, las die Aufschrift: An Herrn Klaus Kröning.

Er stutzte. Der Vater hieß doch Ernst.